Renate Welsh

Großmutters Schuhe

Roman

 

 

Ungekürzte Ausgabe 2011
© Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

 

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eBook ISBN 978-3-423-40632-1 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-25312-3

 

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Inhaltsübersicht

Also ich finde, ...

David, 20

Die Frau im Rollstuhl ...

Marie, 81

Alban verlagerte sein ...

Anna, 48

Lisa füllte die Salatschüsselchen, ...

Patricia, 21

Lisa erklärte den Gästen, ...

Raffael, 43

Sophie, 93

Es amüsierte Lisa, ...

Friederike, 69

Hanka hatte die Frage ...

Theresa, 41

F. T., 75

Jetzt ist bestimmt eine ...

Veronika, 25

Lisa stellte fest, ...

Elvira, 86

Die Tischgesellschaft bemühte ...

Roland, 39

Nach der Runde um ...

Thomas, 46

Der hatte vielleicht ...

Alex, 47

Stefanie, 72

Lisa setzte sich auf ...

Andreas, 61

Louise, 80

Hanka räkelte sich, ...

Eberhard, 73

Alban betrachtete kopfschüttelnd ...

Alfred Schreiber, 91

 

Also ich finde, zu einem anständigen Leichenschmaus gehört ein Menü und nicht diese À-la-carte-Esserei. Bei uns daheim war es immer eine gute Rindssuppe mit Frittaten und kleinen Leberknöderln und eine Semmel dazu, die der Bäcker nur für die Begräbnisse gebacken hat, dreimal so groß wie eine normale. Zu Hochzeiten gab es Schweinsbraten mit Kraut und Knödeln oder Schnitzel mit Erdäpfel- und Gurkensalat. Krapfen gab’s im Fasching und zum Kirtag, aber die Kirtagskrapfen waren anders als die Faschingskrapfen.« Die Köchin wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Aber heute, das totale Durcheinander, und wie soll man bitte schön zehn und mehr verschiedene Gerichte gleichzeitig fertig haben? Da warten die einen noch auf die Suppe und die anderen schreien schon nach dem Kaffee. Kein Wunder, wenn die Ehen nicht halten, wo doch schon bei der Hochzeit jeder tut, was ihm gerade einfällt und worauf er Lust hat. Wie soll es da eine Treue geben. Und beim Leichenschmaus ist die Ordnung genauso wichtig, ich meine, das soll doch mit Anstand und Würde über die Bühne gehen, ist schließlich oft das letzte Mal, wo die Familie vollzählig beisammen ist, nach der Testamentseröffnung sind meistens sowieso alle bös.«

Der Kellner nickte, er nickte grundsätzlich zu allem, was die Köchin sagte, erstens weil er keineswegs alles verstand, wenn sie in Fahrt kam, zweitens weil er mit dem, was er sich aus ihren oft langen und verschlungenen Sätzen zusammenreimte, ohnehin einverstanden war, und drittens weil er sie liebte. Es gab noch ein viertens, das ihm aber nicht bewusst war: Die Köchin erinnerte ihn an seine Lieblingstante, sie machte das Fremdsein in Wien erträglicher. Ein Saal voll lästiger, anspruchsvoller, ungeduldiger Gäste, von denen man schon beim Hereinkommen genau wusste, wie knickrig ihr Trinkgeld ausfallen würde, konnte Alban nicht aus der Ruhe bringen, je mehr sie schimpften, umso bedächtiger wurden seine Bewegungen, umso sanfter sein Lächeln. Er redete wenig, was er sagte, war oft grammatikalisch so originell, dass man lange nachdenken musste, um den Sinn zu verstehen, aber das Nachdenken lohnte sich. Die Köchin liebte ihn, er war der Einzige, der das nicht merkte, und er umwarb sie weiter mit einer hoffnungslosen Ritterlichkeit, die Lisa rührte. Lisa, die Studentin, die geholt wurde, wenn eine Trauergesellschaft angesagt war, die ständige Aushilfe. Fest angestellt war nur die Köchin. Mehr trage der Laden nicht, behauptete der Wirt, und Lisa sei noch so jung, viel zu jung, um an die Rente zu denken, und außerdem wisse ja doch kein Mensch, ob es überhaupt noch eine Rente geben werde, wenn sie einmal alt genug wäre. Was Alban betreffe, so werde er doch gewiss wieder in sein Kaff auf dem Balkan zurückkehren, freiwillig oder unfreiwillig, also wozu dem Finanzminister unnötig Geld in den Rachen werfen? Ohne Arbeitsgenehmigung habe er Alban angestellt, aus reiner Nächstenliebe, und Lisa müsse gar nicht so blöd grinsen. Lisa hatte versucht, dem Kellner klarzumachen, dass eine Arbeitsgenehmigung im Gastgewerbe leicht zu bekommen wäre, zumindest auf Zeit, aber Alban reagierte ungewohnt heftig. Lieber Zahnziehen ohne Spritze als Amt, erklärte er, tut weniger weh, und nein, er wolle ganz sicher nicht darüber reden. Lisa war erschrocken, als sie sah, wie verzweifelt er das Zittern zu unterdrücken versuchte, das in den Beinen begann und nach oben wanderte, wie seine Kiefer mahlten, seine Lider flackerten. War er nicht viel zu jung, um die Schrecken erlebt zu haben, die seine Reaktion erklären würden? Sie gab es auf, das Thema anzusprechen, nicht aber, darüber nachzudenken. Am besten wäre es für ihn, gemeinsam mit der Köchin ein eigenes Gasthaus aufzumachen. Vielleicht sogar dieses zu übernehmen, wenn der Wirt endlich in Rente ging. Nicht, dass der auch nur einen Finger rührte, aber das Sagen hatte er noch immer, nur über seine Leiche würden sie irgendwelche Neuerungen einführen dürfen. Nein, es war entschieden besser, die beiden machten sich auf die Suche nach etwas anderem. Lisa war überzeugt, dass Bärbel und Alban ein ideales Paar abgaben. Immer wieder überlegte sie, ob sie der Köchin sagen sollte, sie müsse selbst die Initiative ergreifen. Bärbel aber schien allen Ernstes zu glauben, Alban sei verliebt in die blonde Hanka, an der alles kullerte, ihre Augen, ihr Lachen, ihre milchkaffeebraunen Brüste. Alban zog manchmal an ihrem dicken Zopf, aber es war mit Händen zu greifen, dass er in ihr eine kleine Schwester sah. Jeden Mann, der sie von der Arbeit abholte, unterzog er einer so gründlichen wie offensichtlichen Musterung, stand dabei plötzlich nicht schmalbrüstig, sondern mit breit nach hinten gezogenen Schultern, und Hanka hielt es nicht für nötig, den Irrtum aufzuklären, wenn eben noch überhebliche Knaben Alban beinahe kleinlaut versprachen, auf seine Schwester aufzupassen. Sie bestärkte die Kerle noch in ihrem Glauben, stellte sich neben Alban auf die Zehenspitzen und streifte seine linke Wange mit einem Hauch von einem Busserl. Eine Art Tanz war es, was die drei aufführten, kompliziert choreographierte Schritte, jede Rolle so besetzt, dass die Erwartungshaltungen der Zuseher sie automatisch in die Irre führten. Wenn der Wirt ausnahmsweise nicht nur auftauchte und sich mit einem Stammgast in der Fensternische einrichtete, sondern sich in die Arbeit einmischen zu müssen glaubte, geriet alles durcheinander und es konnte sogar vorkommen, dass Alban einen Tisch mit einer Bewegung abwischte, als wollte er eine besonders lästige Fliege erschlagen. War der Wirt nicht da und auch sonst wenig Betrieb, dann konnte Lisa an dem kleinen Tisch in der Küche ihre Arbeiten korrigieren und Alban schaffte es immer, sie rechtzeitig zu warnen, bevor der Wirt bis zur Küche vordrang. Das Gasthaus, fand Lisa, war eine perfekte Ergänzung zu den Theorien in Seminaren und Vorlesungen. Heute bestand allerdings keine Chance für eine ungestörte Viertelstunde am Computer. Eben war die erste Trauergesellschaft gegangen. Drei Fiakergulasch, ein Herrengulasch, zwei Würstel mit Saft, eine serbische Bohnensuppe, zweimal saure Wurst, drei Blunzengröstl, fünf Apfelkuchen, dreimal mit, zweimal ohne Schlag, neun Krügel, fünf Seitel Bier, viermal Weiß gespritzt, sechs Kaffee Melange, fünf Obstler. »No jo«, sagte Alban, als er das Trinkgeld abzählte.

»Nach Mittag hat er Wetterbesserung versprochen«, erklärte die Köchin.

Er, der Meteorologe, oder vielleicht sogar er, der Radioapparat. In jedem Fall »er«, selbst dann, wenn eine Frau die Wettervorhersage lieferte.

Die Glocke an der Eingangstür bimmelte. Hanka ging hinaus, um den Gästen die Mäntel abzunehmen. »Alles Mantel superschick«, berichtete sie, als sie in die Küche zurückkam. »Erste Klasse.«

Bärbel lachte. »Das heißt noch lange nicht, dass auch die Trinkgelder erste Klasse sein werden.«

Alban goss Prosecco in die bereitgestellten Gläser, Lisa nahm einen Stapel Speisekarten unter den Arm. Bärbel grinste. Normalerweise wurde in diesem Beisel nicht Prosecco vor dem Essen serviert, aber so war es bestellt worden, so wurde es serviert, und so würde es bezahlt werden.

Die junge Frau in einer sonnengelben Seidenbluse wirkte wie eine Fremde unter all den schwarz Gekleideten. Trauergäste trugen Schwarz, das war normal, das Schwarz dieser Familie wirkte schwärzer, weil die gelbe Bluse so hervorleuchtete. Und der Nehru-Anzug des großen Braungelockten, hochgeknöpft bis zum Stehkragen, ließ an ein Fest denken, nicht an Trauer.

Die Leute standen verlegen herum, das war nicht nur die Beklommenheit, die jeden überfiel, der gerade sein Schäufelchen Erde auf einen Sarg geworfen und in die dunkle Grube seiner eigenen Zukunft geblickt hatte, es war die Verlegenheit von Menschen, die sonst damit rechnen durften zu wissen, was von ihnen erwartet wurde, die ihre Rolle so gut gelernt hatten, dass sie besser passte als die eigene Haut, die aber jetzt plötzlich ohne Skript und ohne Regisseur dastanden. Das Einzige, woran sie sich halten konnten, waren ihre Proseccogläser. Der große Dicke wird gleich den Stiel abbrechen, dachte Lisa, der ist offenbar gewöhnt, dass immer jemand neben ihm steht, oder besser gesagt einen halben Schritt hinter ihm, und ihm das Glas abnimmt, sobald er getrunken hat. Die Frau, die ihm ein Fädchen oder ein Haar vom Revers gepflückt und es mit spitzen Fingern weggeschnippt hat, denkt gar nicht daran. Es sieht fast aus, als weide sie sich an seiner Hilflosigkeit.

»Gibt es eine Tischordnung?« Die Stimme der Frau war überraschend tief und angenehm.

Es gab keine, sie warteten unschlüssig, und als sie endlich saßen, wünschten ganz offensichtlich die meisten, sie hätten andere Nachbarn. Lisa bekam Mitleid mit ihnen und verteilte die Speisekarten. So waren sie wenigstens beschäftigt und konnten sich hinter Brillensuchen und intensivem Menüstudium verstecken.

David, 20

Da sitzen sie, die Töchter, Enkel und Enkelinnen, Schwiegersöhne, Schwiegerenkel, eine Kusine mit einer riesigen Serviette um den faltigen Hals, die Zipfel stehen links und rechts ab wie im Comic. Den Prosecco haben sie zu schnell getrunken, ihre Wangen zeigen eine fleckige Röte, als hätte alle gleichzeitig eine heftige Allergie befallen.

Meine Frau Großtante Rieke tupft mit einem Batisttuch an ihren Augen herum, aber nicht vorsichtig genug, die Wimperntusche ist verschmiert, schwarze Schlieren in den Falten, Lachfältchen, dass ich nicht lache, sie sieht nicht aus, als hätte sie je gelacht, mit schiefem Mund vielleicht oder aus Schadenfreude. Wozu hat sie sich überhaupt geschminkt? Damit jeder sieht, dass sie geweint hat? Für Tränen und Schluchzen ist sie zuständig in der Familie, immer schon. Großmama hat ihren viktorianischen Blick. She is not amused. Natürlich nicht, ein Begräbnis ist keine Gelegenheit für Amüsement. Sie ist selten amused. So leicht es ist, sie zu beleidigen, so schwer ist es, sie zu amüsieren. Ich verstehe sie nicht, sie will wohl auch nicht verstanden werden, und eigentlich habe ich es längst aufgegeben, mich darum zu bemühen. Jede Kränkung, egal wie alt, hält sie an ihrem Busen warm. An ihrem Busen warm, ist das nicht eine Liedzeile? Was einem im Kopf stecken bleibt und warum, eigentlich immer nur ein Gefitzel, nicht einmal ein ordentlich geschnittenes Puzzleteilchen, ein Bruchstück ohne Zusammenhang, aber unverrückbar wie ein Felsen. So unverrückbar sind Felsen gar nicht. Die herausgerissenen Wurzelstöcke und die Felsblöcke nach dem Murenabgang, ein Weltuntergangsszenario, und mittendrin der Waldarbeiter, der mit seiner Axt die Äste abgehackt hat, eine ganz regelmäßige Bewegung, es sah aus, als würde er so weiter hauen bis in alle Ewigkeit, und ich hab mich dabei erwischt, wie ich die Arme eng an den Körper presste. Kalt ist es geworden, sagte Hannah, gab mir einen Klaps auf die Schulter und rannte vor. Fang mich! Wie sie sich dann an den Baum gelehnt hat. Geräkelt hat sie sich, und dabei ein Gesicht gemacht, ganz unbehaglich wurde mir, schließlich war der Waldarbeiter ganz in der Nähe. Jetzt hab ich’s: Wie hab ich oft so süß geträumt/an ihrem Busen warm/Wie freundlich schien des Herdes Glut/ lag sie in meinem Arm. Von wem ist das? Schubert. Muss Schubert sein. Aber wie fängt es an? Wie hab ich oft so süß geträumt … In dieses Atemholen bevor es weitergeht hat der gute Schubert alles hineinkomponiert, wovon ein Mensch träumen kann. Warum denk ich »der gute Schubert«? Er ist nicht mein guter Schubert, er ist niemandes guter Schubert, was für eine Frechheit, wie kommt er dazu, sich von Hinz und Kunz duzen zu lassen, und dann noch als mein Guter apostrophiert, mit dieser widerlichen und ganz und gar unangebrachten Herablassung? Bloß weil er tot ist und sich nicht wehren kann? Keine Achtung, kein Respekt. Menschenrechte für die Toten müsste man fordern. Warum zum Teufel reg ich mich auf? Meine Frau Großmutter hat bereits herübergeblickt. Wo ich bin und was ich tu. Nein, da geht’s um Gott Vater, nicht um Großmütter, und überhaupt ist es paranoid oder egozentrisch oder beides, wenn man ständig glaubt, alle Blicke gelten nur einem selbst. Wo ich bin und was ich tu, sieht mir meine Oma zu?

Lieber Busen warm. Wie hab ich oft so süß geträumt 

»Findest du es nicht unpassend, bei einem Leichenschmaus zu summen?«

Tante Riekes Brillengläser sprühen Blitze, die tödlich wären, wenn man sich nicht längst an sie gewöhnt hätte. »Wo du doch immer der erklärte Liebling deiner Urgroßmutter warst. Schämen solltest du dich.«

Aber ja. Wenn es dich beruhigt, kann ich mich auch schämen. Wahrscheinlich sollten wir uns alle schämen, alle, die wir dasitzen, angeblich ihr zu Ehren. Edith Karmann geborene Voyac, genannt Ditta, gestorben im 93. Jahre ihres Lebens. Das ist auch so eine Phrase. Darf man gar nicht anfangen, darüber nachzudenken. Im 93. Jahre ihres Todes kann keine sterben, würde sie sagen. Sie würde mir zuzwinkern, unter irgendeinem Vorwand mit mir hinausgehen auf die Terrasse und ein bisschen lästern. Sie hat ein so feines Ohr für falsche Töne. Hatte ein so feines Ohr für falsche Töne, und überhaupt ein perfektes Gehör. Bei Onkel Manfreds Begräbnis hat sie mir zugeflüstert: »Jetzt werden sie gleich anfangen zu seufzen und zu fragen, wer wohl der Nächste sein wird.« Wie auf das Stichwort hat Großmama ihren Busen in wogende Bewegung versetzt, zuerst himmelwärts, dann auf ihre gefalteten Hände geblickt und genau das gesagt. Worauf wir beide, Dittaoma und ich, einander anschauten, gleichzeitig zu lachen anfingen und nicht mehr aufhören konnten. »Aber Mama!«, sagte Oma, »Mutter«, stöhnte Tante Rieke, wobei jedes T einen Sprühregen auslöste. Uroma presste beide Hände vor ihren Mund, aber das half nicht, sie prustete, stand auf, reichte mir mit königlicher Geste den Arm und ließ sich hinaus zur Toilette führen. Als sie zurückkam, sagte sie: »War leider schon ein bisschen zu spät, aber nur ein bisschen«, worauf wir beide wieder zu kichern anfingen. Oma und Tante Rieke ließen ihre üblichen gegenseitigen Sticheleien und sprachen halblaut voll töchterlicher Anteilnahme darüber, dass Uroma in letzter Zeit Besorgnis erregend abbaue und wie schändlich es sei, dass ausgerechnet ich sie in ihrer Verrücktheit noch unterstütze. Uroma sagte, sie brauche frische Luft und mich als Stütze. Als wir auf der Straße standen, fragte sie: »Hast du die Blicke im Rücken gespürt? Ich fühl mich gespickt wie ein Rehbraten.« Sie tätschelte meinen Arm. Langsam gingen wir den Hügel hinauf, der Ahorn leuchtete gelb, die Buchen goldbraun, die Früchte der Ebereschen waren rot mit einem ganz leichten Stich ins Orange. Die Luft war voll von fallenden Blättern, die mit dem Wind tanzten, dadurch bekam die Landschaft eine ungeheure Tiefe. Zwei strubbelige weiße Wolken ließen den Himmel noch blauer erscheinen. Mit lautem Knall schlug eine Kastanie auf den Asphalt. Uroma blieb stehen, ich hob die Kastanie auf und reichte sie ihr. Als kleine Mädchen hatten sie und ihre Freundin säckeweise Kastanien gesammelt und für die Wildschweinfütterung in den Lainzer Tiergarten gebracht, auf dem Leiterwagen. Das rechte Rad eierte ganz furchtbar, sagte sie, obwohl der Hausmeister immer wieder versuchte, es zu richten. Alle Leute drehten sich nach den Kindern um, sie machten auch genug Krach, besonders auf dem Kopfsteinpflaster. Unter dem Craquelé ihrer Falten sah ich plötzlich das Gesicht der Achtjährigen, die sie einmal gewesen war. Sie rieb die Kastanie zwischen den Fingern, bis die braune Schale noch satter glänzte, drehte sie hin und her und zeigte mir den kleinen Stern, den ein Sonnenstrahl darauf zeichnete. »Den schenk ich dir«, sagte sie und drückte mir die Kastanie in die Hand, so fest, dass ein rotes Mal in meiner Handfläche erschien. Wenn ich wüsste, wo die Kastanie geblieben ist, vielleicht hab ich sie selbst weggeworfen. Kastanien verlieren ja so schnell Farbe und Prallheit, werden matt und schrumpelig. Wenn man wüsste, das ist die letzte Kastanie, die ich von diesem Menschen bekomme, würde sie kostbar. Aber man weiß ja fast nie, wann man etwas zum unwiderruflich letzten Mal tut. Würde man achtsamer, wenn einem bewusst wäre, es könnte das letzte Mal sein, der letzte Apfel, das letzte Winken aus dem Fenster? Eigentlich hat sie mir ja den Stern geschenkt, nicht die Kastanie, wenn man’s genau nimmt. »Den«, sagte sie, nicht »die«. Manchmal schafft diese unsere komplizierte Sprache mit ihren Geschlechtszuordnungen doch tatsächlich etwas wie Klarheit.

Da steht sie und winkt mit erhobenen Händen, ein bisschen übertrieben, damit man es auch sieht, in dem Winken ist fast eine Geste des Segnens, nein, bitte, ich fang gleich an zu heulen, hier doch nicht. Später. Später denk ich an dich.

Großtante Rieke und ihr Schwiegersohn reden seit mindestens einer Viertelstunde über alles, was sie nicht essen können, weil es ihnen aufstößt, Magendrücken, Zwerchfellhochstand, Sodbrennen verursacht, dazu das ewige Problem mit dem Knoblauch, »heutzutage stinkt ja alles nach Knoblauch«, und dazu noch die Liste des Verbotenen. Wenn ich ihr Arzt wäre, würde ich aus schierer Boshaftigkeit alles verbieten, was sie gern essen. Warum muss ich überhaupt zuhören, was sie sagen, es macht mich nur wütend, ist doch völlig egal, und was geht’s mich an? Einen feuchten Dreck. Mit solchen Leuten muss man verwandt sein. Komisch, unverwandt hat mit verwandt gar nichts zu tun. Oder wahrscheinlich doch. Hat ja alles mit allem zu tun. Aber ich nichts mit denen. Warum regen sie mich auf? Wenn sie etwas gefunden haben, das sie beide verabscheuen, lächeln sie einander an wie Verschwörer, nein, beinahe wie heimliche Liebhaber. Feucht. Na, was sag ich? Beide entscheiden sich seufzend für Schnitzel. Streng verboten. Hoffentlich in altem, stinkendem Öl ausgebraten.

Die Kusine dreht ständig den Kopf nach der Tür. Puppet on a string. Ist die Frau neben ihr ihre Tochter oder eine Pflegerin? Für eine Tochter ist sie zu jung, glaube ich, aber da kann man sich irren. Außerdem weiß ich nicht, ob sie überhaupt eine Tochter hat. Wie klein ihre Hände sind, mit runden, kurz geschnittenen Nägeln, sie flattern wie die Hände einer Katakali-Tänzerin.

Der Ober hat die Runde um den langen Tisch endlich geschafft, hat alle Bestellungen aufgenommen. Einen Augenblick lang sind alle ruhig, mitten in die Stille schneidet die scharfe Stimme der Kusine: »Wo bleibt denn Ditta schon wieder? Immer kommt sie zu spät, rücksichtslos ist das! Mama hat immer schon gesagt, auf Ditta ist kein Verlass.«

Köpfe fahren in die Höhe, senken sich sofort, so viele Doppelkinne, Blicke irren zum Nachbarn, zur Nachbarin, hinauf zur Decke, hinunter auf die eigenen Hände. Großtante Rieke räuspert sich, öffnet den Mund, schließt ihn wieder. Großmama putzt sich die Nase. Eine Fliege surrt laut zwischen Glühbirne und Schirm der Lampe über der Anrichte. »Aber die ist doch tot«, sagt einer von den zwei Buben, die bisher stumm und reglos dagesessen waren, wahrscheinlich von strengen Erwachsenenblicken hypnotisiert.

Die Kusine stopft ein Stück Semmel in ihren Mund. Jetzt fällt mir doch ihr Name ein, Elvira. »Typisch«, murmelt sie. »Keine Spur von Respekt. Die werden alle noch sehen, wohin ihre sogenannte Erziehung führt. Ich werde es ja Gott sei Dank nicht mehr erleben.« Ich bin schwer in Versuchung, ihr zu sagen, dass ein gut eingeweichtes Semmelbrösel an ihrer Unterlippe klebt, direkt über dem einen dunklen Haar in der Falte zwischen Mund und Kinn. Großtante Rieke wendet sich an die Kusine. »Elvira, wir haben Ditta eben begraben.«

Elvira macht eine Bewegung, als wollte sie Fliegen verscheuchen, ihr Blick sucht irgendwo in der Ferne Halt, leise und flehentlich sagt sie: »Mit solchen Dingen macht man keine Scherze!«

»Tut mir leid, Elvira, das ist kein Scherz. Ditta ist vor einer Woche gestorben.«

Die Falten am Hals der Kusine beginnen zu zittern, ihr kleiner Mund schrumpelt ein zum Blütenansatz einer Kletzenbirne. Zwei gläserne Kuppeln bilden sich über ihren Augen, platzen, rinnen in die Mundwinkel, sie leckt die rechte Träne weg, dann die linke. Plötzlich kichert sie. »Ich hab’s ja immer gesagt. Ditta kommt zu ihrem eigenen Begräbnis zu spät.«

»Zum eigenen Begräbnis kommt niemand zu spät.« Dieser Triumph in Großtante Riekes Stimme, in dem Blick, mit dem sie die Kusine taxiert, und im Vorübergleiten auch noch meine Großmama. Sie lebt, und neben der Kusine fühlt sie sich groß und stark, im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte. Elvira schnäuzt sich laut in die Serviette, die man ihr um den Hals gebunden hat. Die junge Frau neben ihr löst den Knoten, fasst mit zwei Fingern die Serviette, weiß nicht wohin damit. Wenn ich jetzt aufstünde, könnte ich ihr die Serviette abnehmen und hinaustragen, die nette Kellnerin würde mir bestimmt eine neue geben. Ich bleibe sitzen, schaue zu, wie die junge Frau die Serviette zusammenballt, sich umsieht, sie in das Netz am Rollstuhl steckt. Gewiss ist sie erst seit kurzem Betreuerin der Kusine, es ist ihr offenbar noch furchtbar peinlich, wenn sich die alte Frau danebenbenimmt, ganz als wäre sie dafür verantwortlich. Was Großmama anscheinend auch findet, sie erwürgt gerade ihr Taschentuch.

Dieses seltsame Lächeln auf dem wächsernen Gesicht, ganz anders als das Lächeln, das ich an ihr kannte. Sehr fremd, abgehoben. Als wüsste sie etwas, das sie uns nie verraten würde. Wer hat die Falten auf Stirn und Wangen geglättet, eigentlich ein junges Gesicht, aber aus Alabaster geschnitten. Ganz außerhalb der Zeit, und sonst haben doch Gesichter so etwas wie eine Generationenähnlichkeit, die liegt nicht nur an den Frisuren. Schön war sie, so schön, dass es wehtat. Es hätte sie gefreut, sich so zu sehen. Einmal sagte sie zu mir: »Du hältst mich vielleicht für eitel, aber ich finde es einfach ärgerlich, wie viele Dinge an mir meinen Schönheitssinn beleidigen.« Sie spreizte die Finger. »Schau dir das an, eine Schildkröte ist nichts dagegen.« Nie zuvor waren mir die Altersflecke und die vielen Falten auf ihren Händen aufgefallen. »Mir gefällst du«, erklärte ich, da lachte sie schallend. »Du hast aber auch gar keinen Geschmack, mein Lieber.«

Am anderen Ende des Tisches wird jetzt gelacht, verhalten noch. Gehört wahrscheinlich dazu, ist mir lieber als diese falsche Betroffenheit. Vielleicht ist sie auch gar nicht so falsch, wie sie mir vorkommt. Der Tod war da, aber er hat eine andere geholt. Grund zum Feiern. Noch einmal davongekommen. Für wie lange? Großmutter und Großtante Rieke stehen jetzt in der vordersten Reihe, aber die können kaum den kalten Wind von den anderen abhalten, wie das die Uroma getan hat. Ich weiß nicht einmal, ob sie an ein Leben nach dem Tod geglaubt hat. An ein Leben vor dem Tod hat sie geglaubt, das ist sicher. Vom Sterben hat sie nie gesprochen, oder doch, ein oder zwei Mal, und dann hat sie gelacht und erklärt, sie hält es nicht aus, wenn ich so betropetzt dreinschaue. Nie wieder wird jemand betropetzt zu mir sagen. Das Wort gehört zu ihr: Woher kommt es eigentlich? Ich hätte sie fragen können, sie hatte einen so ungeheuren Vorrat an sinnlosem Wissen, wie sie immer sagte. Nur von dem, was sie gerade brauche, habe sie leider keine Ahnung, erklärte sie nicht ohne Koketterie. Fragen kann ich wie eine Dreijährige, setzte sie einmal hinzu. Aber die Antworten werden immer weniger, die jedenfalls, die ich glauben kann.

Wer schießt hier mit Brotkügelchen? Die Buben waren es nicht, die stehen unter der strengen Aufsicht ihrer Mutter. Die Blonde gegenüber grinst mich an, beugt sich vor, da klafft der Ausschnitt ihrer gelben Bluse, als ginge ein Vorhang auf. Braune kleine Brüste hat sie. Ob ich sie nicht mehr kenne? Sollte ich?, frage ich zurück. Ein neues Brotkügelchen trifft mich mitten auf der Stirn. Eine vage Erinnerung taucht auf, eine lange Tafel, ein Mädchen ganz in Rosa, Trinkhalme, meiner ist blau-weiß gestreift, das Mädchen zeigt mir, wie man den Trinkhalm als Blasrohr verwendet. Ich schaffe es beim dritten oder vierten Versuch, treffe Tante Rieke am Ohr. Sie packt und schüttelt mich, meine Mutter und meine Großmutter schimpfen auf mich ein, mich kann man nirgendwohin mitnehmen, es ist eine Schande, ich soll mir ein Beispiel an meiner Kusine nehmen, die dasteht, als ginge sie das alles nichts an, ein Bilderbuchmädchen. Ich bin wütend auf sie, aber ich verrate sie nicht, ihre braunen Haare fallen so weich, ihr Mund ist so rot und so groß. Als sie den Raum verlässt, dreht sie sich halb um, küsst ihren Zeigefinger und pustet in meine Richtung. Ich schlucke, atme ein, bis die Luft mich zu sprengen droht. Später sehe ich sie im Garten auf der Schaukel eng umschlungen mit einem Buben, der einen Kopf größer ist als ich. »Seit wann färbst du dir die Haare?«, frage ich. Sie lacht, bis sie husten muss und die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Wann kann ich endlich weggehen. Ich sehe sie vor mir in ihrem rosa Kleid mit dem Gänseblümchenkranz in den Haaren, aber ihren Namen weiß ich nicht, will ich gar nicht wissen.

Nach dreizehn Jahren sehen wir uns wieder, und mir fällt nichts anderes ein, als zu fragen, ob sie ihre Haare färbt. Sie gluckst schon wieder, legt ihr ganzes kleines Gesicht in ernsthafte Falten. Was ich studiere, will sie wissen und kann sich gar nicht einkriegen, dass ich ausgerechnet Indologie studiere, wenigstens fragt sie nicht, was ich einmal damit anfangen will, beruflich, stellt allerdings fest, das müsse auch der Grund sein, warum ich nicht rede wie ein normaler Mensch, was immer das in ihren Augen sein mag. Übrigens heiße sie jetzt nicht mehr Pipsi, sondern Patricia, das soll ich mir bitte schön merken. Und ob ich schwul bin, möchte sie wissen. Die Frau macht mich krank. Nicht, dass sie etwas gegen Schwule hätte, fügt sie noch hinzu. Natürlich nicht. Some of my best friends are … Hier lässt sich einsetzen, was du willst, und was du nicht willst auch. Einige von den anwesenden Damen ziehen klebrige Blicke von mir zu ihr, von ihr zu mir. Altweibersommer. Schneckenfäden. Ich stehe auf und gehe hinaus.

 

Von da an nannte ich sie manchmal Schmuddeloma, aber nur, wenn wir allein waren. Meine Mutter hatte keine Einwände gegen meine Besuche, im Gegenteil. Sie selbst ging allerdings nur zu besonderen Anlässen hin, schon als ich noch sehr klein war, fiel mir auf, dass sie in Uromas Gegenwart dasaß wie ein artiges Mädchen, die Knie zusammengepresst, den Rücken gerade. Ja bitte, nein danke, viel mehr sagte sie nicht. Am ersten Geburtstag nach der Scheidung von Papa brachte sie mich mit einem Blumenstrauß zu Uroma. Ich sehe noch die brüske Bewegung, mit der Uroma das Fenster aufriss. »Lilly!«, schrie sie. »Komm sofort herauf!« Kurz darauf klingelte es, Uroma ging selbst zur Tür, als Mama mich sah, riss sie mich an sich und hielt mich so fest, dass ich zu schreien anfing. »Lilly«, sagte Uroma streng, »was zwischen meinem verrückten Enkel und dir schiefgelaufen ist, geht mich nichts an, für mich bist du die Mutter meines Urenkels, zerdrück den Buben nicht. Du bist und bleibst Familie, ob du willst oder nicht, und jetzt sag, ob du Kaffee willst oder Sekt oder beides.« Da fing Mama an zu weinen und Uroma gab ihr eines von ihren riesigen Taschentüchern, weiß mit dunkelrotem Rand und dem aufgestickten Monogramm meines Urgroßvaters, FK, Friedrich Karmann. Das waren die ersten Buchstaben, die ich lesen konnte, ich begrüßte sie wie alte Bekannte auf jedem Schild, auch unter den Schmierereien an den Wänden der Bahnunterführung. Dort versuchte Mama mich immer wegzuziehen, wenn ich mit lauter Kinderstimme stolz las: F…K. Mama und Urgroßmama mochten einander, auch wenn es meist nicht so aussah. Vielleicht waren sie sich zu ähnlich, beide stur wie sonst was, die eine wie die andere. Jede wusste genau, was für die andere gut wäre. Es war richtig, Mama nicht zu verständigen. Hoffentlich geht es ihr besser in diesem Krankenhaus in Ougadougou. Sie wäre imstande gewesen, mit dem Riesengips zu Urgroßmamas Begräbnis zu kommen. Typisch für sie, dass sie sich geweigert hat, mit der Flugrettung heimgebracht zu werden. Eine neue Erfahrung, in einem afrikanischen Krankenhaus Patientin zu sein, hat sie mir ausrichten lassen. Ich glaube, auf manche Erfahrungen kann ich verzichten. Morgen werde ich sie anrufen, nein, ich schreibe ihr besser, obwohl auch das schwierig ist. Warum frage ich mich, ob sie je zurückkommen wird, jetzt, wo Urgroßmama nicht mehr auf sie wartet? Ich muss zurück zu dieser grässlichen Trauergesellschaft. Trauergesellschaft? Wer trauert da? Urgroßmama hat alle zusammengehalten. Ihre bissigen Bemerkungen haben alle genervt, besonders wenn Fremde dabei waren, wanden sich vor allem ihre Töchter vor Peinlichkeit, bis sie total verknotet waren, nur Urgroßmama strahlte. Zum letzten Geburtstag hab ich ihr einen Stock geschenkt, einen richtigen altmodischen Damenstock mit Silbergriff, und hab gesagt, sie könnte eine Kerbe hineinritzen für jede gut platzierte Bosheit. Da hat sie mir mit dem Stock gedroht.

Wie kann man mit zwanzig so müde sein.