Johannes Wilkes

Der kleine AD(H)S-Therapeut

Illustriert von Norbert Pautner

 

 

Originalausgabe 2009
© Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

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eBook ISBN 978 - 3 - 423 - 40480 - 8 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978 - 3 - 423 - 34554 - 5

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Inhaltsübersicht

Vorwort

THEORETISCHER TEIL

Von der Filterfunktion unseres Gehirns oder Warum Ihr Mann nicht zum Abendessen erscheint

In welchem Alter kann man die Diagnose AD(H)S stellen?

Ist AD(H)S tatsächlich eine Krankheit?

»Warum habe ich die blöde AD(H)S?«

PRAKTISCHER TEIL

Chaos am Morgen

Erste Hilfe bei Wutanfällen

Ärger auf dem Spielplatz

Schädliche Süßigkeiten

Wer räumt das Kinderzimmer auf?

Keine Panik vor dem Kindergeburtstag

Welcher Sport ist der richtige?

Beim Einkauf oder Einstürzende Cornflakespyramiden

Pestalozzi kann nicht still sitzen

Tim will ein Fahrrad

Wie viel Fernsehen ist gesund?

Wohin in den Urlaub?

Tischsitten

Ach, du Schrecken, lauter blaue Flecken!

Wenn Sie telefonieren wollen

Hilfen zum Entspannen

Wie finde ich den richtigen Kindergarten?

Auf der Suche nach der passenden Schule

Was muss ich dem Lehrer sagen?

Immer Ärger mit den Hausaufgaben

Gestern gelernt, heute bereits wieder vergessen

Tricks gegen die Vergesslicheit

Herumlaufen beim Lernen?

Wenn wieder ein Schulheft verschwunden ist

Der Sechser im Diktat

Letzter Ausweg Nachhilfe

Das erste Schulzeugnis

Angeln?

Kann mein Kind nicht oder will es nicht?

Hört mein Kind schlecht?

»Ihr habt mich ja gar nicht lieb!«

Die Mama-Siesta

Wenn Papa seine Ruhe will

Auf dem Baugerüst

Das Zu-Bett-Geh-Durcheinander

Belohnerprogramme

Tantenbesuch

Mama ist der Chef

Rückfall? Keine Panik!

Der Hund von Konrad Lorenz oder Wenn Trauer wütend macht

Stille Nacht, heilige Nacht? Tipps für das Weihnachtsfest

PROFESSIONELLE HILFEN

Elterntraining

Was ist Verhaltenstherapie?

Neurofeedback oder Wie steuere ich die Maus mit meinem Gehirn?

Eltern-Kind-Kur

Reif für die Supernanny

Braucht unser Kind ein Medikament?

Von Risiken und Nebenwirkungen

Fischölkapseln und andere Behandlungsalternativen

Habe ich selbst eine AD(H)S?

Wächst sich eine AD(H)S aus?

ANHANG

Zugelassene Medikamente

Internetseiten

Vorwort

Tim ist ein großartiger Junge. Er sprüht nur so vor Energie und Fantasie, ist kein langweiliger Stubenhocker, meidet keinen Schmutz, keine Gefahren, stürmt immer voraus, geht keinem Abenteuer aus dem Weg und ist von einer erfrischenden Offenheit.

Tim ist Ihr Sorgenkind. Er kommt nicht zur Ruhe, muss ständig zappeln und herumspringen, kann nicht bei einer Sache bleiben, macht mit seiner Sprunghaftigkeit seine ganze Umgebung nervös, eckt an, kommt in der Schule nur schwer zurecht, gibt ständig Anlass zu Beschwerden.

Lea ist ein wundervolles Kind. Liebevoll und anschmiegsam, eine gute Freundin, voller Mitgefühl und Hilfsbereitschaft.

Lea ist eine Alltagschaotin. Ständig scheinen ihre Gedankenspazieren zu gehen, vergisst sie die einfachsten Dinge, muss sie an alles erinnert werden. In ihrer Schultasche sieht es aus wie in einer Restmülltonne. Ihre Hausaufgaben dehnen sich wie Kaugummi und dennoch fehlt hinterher die Hälfte. Wichtiges kann sie nicht von Unwichtigem unterscheiden, sie ist verträumt, unkonzentriert, durch jede Kleinigkeit ablenkbar.

Tim hat eine Aufmerksamkeitsdefizit- und hyperaktive Störung. Dieses Wortungetüm kürzt man ab und nennt es ADHS. Früher hat man HKS dazu gesagt, hyperkinetisches Syndrom. Oder Zappelphilipp-Syndrom. Lea hat eine ADS. ADS bedeutet Aufmerksamkeitsdefizit-Störung. Ohne Zappeligkeit. Zwei recht unterschiedlich aussehende Störungsbilder, die dennoch Geschwister sind.

ADHS und ADS sind keine seltenen Diagnosen. Bei etwa fünf Prozent aller Kinder können sie gestellt werden, bei Jungen häufiger als bei Mädchen. Um Kinder wie Tim und Lea macht man sich als Eltern besonders viele Gedanken. Oft ist man am Ende seines Lateins, sehnt sich nach Rat und Hilfe.

Dieses Buch stellt nach einem kurzen theoretischen Teil, in dem Hintergrundwissen vermittelt wird, typische Alltagssituationen vor und erklärt, was in Kindern wie Tim und Lea vorgeht. Denn nur, wenn man die Kinder wirklich versteht, wenn man weiß, wie sie empfinden und wie sie »ticken«, kann man ihnen auch helfen. Den Verhaltensanalysen folgen konkrete Tipps, praktische Hinweise, die sich im Alltag vielfach bewährt haben. Ergänzt wird der Ratgeber durch einen Überblick über professionelle Hilfsangebote wie Verhaltenstherapie und Medikamente sowie durch einen Anhang, in dem sich nützliche Adressen finden.

THEORETISCHER TEIL

Von der Filterfunktion unseres Gehirns oder Warum Ihr Mann nicht zum Abendessen erscheint

Jetzt werden Sie langsam sauer. Drei Mal haben Sie schon zum Essen gerufen, haben den Abendbrottisch besonders schön gedeckt, aber niemand kommt. Klar, bei Ihrem Sohn sind Sie das gewöhnt, aber dass Ihr Mann nicht reagiert, macht Sie ärgerlich. Wo steckt er denn? Sitzt im Wohnzimmer und liest Zeitung. Als Sie neben ihn treten und sich beschweren, springt er erschrocken auf und entschuldigt sich. Er habe nichts gehört, beteuert er. Dabei haben Sie doch laut und deutlich in seine Richtung gerufen. Wie ist das möglich?

 

Die Fenster zur Welt sind unsere Sinne. Ständig melden sie uns, was um uns herum passiert. Das ist gut und wichtig, sonst könnten wir auf veränderte Situationen nicht reagieren. Ebenso wichtig aber ist es, bestimmte Sinnesreize unterdrücken zu können. Ein Beispiel: Sie haben sich einen neuenDrucker gekauft. Um ihn richtig anzuschließen, studieren Sie die Gebrauchsanweisung. Gebrauchsanweisungen sind maximale Herausforderungen an unser Konzentrationsvermögen, die keinerlei Störung vertragen. Während Sie lesen, sind Ihre Sinne jedoch keineswegs ausgeschaltet. Fährt draußen ein Laster vorbei oder tönt aus der Nachbarwohnung Musik, so werden die Schallwellen über Ihr Trommelfell an die Ohrschnecke weitergeleitet, dort in Nervenimpulse übersetzt und über den Hörnerv an das Gehirn weitergeleitet. Genauso wie immer. Einen Unterschied aber gibt es. Indem Sie beschlossen haben, sich mit der Gebrauchsanweisung zu beschäftigen, haben Sie einen Filter im Gehirn aktiviert. Dieser Filter unterdrückt die Wahrnehmung aller im Moment störenden Informationen. Das ist eine aktive Leistung Ihres Gehirns.

Bei Menschen, bei denen dieser Filter nicht funktioniert, dringen alle Sinnesreize mit unverminderter Intensität in die Großhirnrinde ein – so, als würde man Ihnen beim Studium der tückischen Gebrauchsanweisung Beethovens Neunte in Konzertlautstärke um die Ohren blasen. Wie lange, glauben Sie, würden Sie unter solchen Bedingungen für das Anschließen des Druckers brauchen?

Gefiltert werden aber nicht nur die von außen auf uns eindringenden Reize. Auch Gedanken und Gefühlsregungen, Reize, die aus unserem Inneren kommen, stören und müssen unterdrückt werden. So gelingt es Ihnen beim Studieren der Druckeranleitung erfolgreich, die Bilder des letzten ›Tatort‹ zu verdrängen und den bevorstehenden Besuch der Großtante. Menschen mit AD(H)S tun sich damit unendlich schwer. Die Filterfunktion ihres Gehirns ist unreif und unzuverlässig. Sie stehen unter einem permanenten Ansturm innerer und äußerer Reize. So kommt es, dass sie sich leicht ablenken lassen, sprunghaft reagieren, zu konzentriertem Handeln nicht in der Lage sind.

Die Wissenschaft versucht seit längerer Zeit herauszufinden, wie dieser Wahrnehmungsfilter funktioniert und was im Gehirn von Menschen, die sich nicht konzentrieren können, anders läuft. Noch gibt es hierzu kein gesichertes Wissen, doch behelfsmäßig hat die Wissenschaft Erklärungsmodelle für AD(H)S entwickelt. Die gängigste Erklärung ist die, dass bei AD(H)S die Kommunikation zwischen den Nervenzellen in bestimmten Hirnarealen nicht richtig funktioniert. Unsere Nervenzellen stehen miteinander in enger Verbindung. Wenn eine Nervenzelle der benachbarten eine Information weitergeben will, dann stößt sie zu diesem Zweck einen Botenstoff aus. Diese Botenstoffe werden auch als Neurotransmitter bezeichnet. Adrenalin ist einer dieser Neurotransmitter, ein anderer das Dopamin. Man vermutet, dass bei Menschen mit AD(H)S bestimmte Nervenzellgruppen, die für unsere Konzentrationsfähigkeit verantwortlich sind, zu wenig Dopamin produzieren.

Wenn es also wieder einmal vorkommen sollte, dass Ihr Mann beim Zeitunglesen Ihre Rufe, zu Tisch zu kommen, ignoriert, dann wissen Sie, das ist kein böser Wille, sondern lediglich Ausdruck einer guten Filterfunktion aufgrund eines gesunden Dopaminspiegels.

In welchem Alter kann man die Diagnose AD(H)S stellen?

Wann zeigen sich die ersten Symptome einer AD(H)S? Manche Mütter berichten, ihr Kind habe sich schon während der Schwangerschaft so wild bewegt, als springe es auf der mütterlichen Bauchdecke Trampolin. Im Säuglingsalter dann fallen viele Kinder mit ADHS dadurch auf, dass sie schlecht schlafen, oft schreien und ständig Aufmerksamkeit fordern. Aber Vorsicht: Nicht jeder unruhige Säugling hat gleich eine AD(H)S. Umgekehrt gibt es auch äußerst pflegeleichte Säuglinge, die erst, wenn sie zu laufen beginnen, also mit gut einem Jahr, ihren enormen Bewegungsdrang zeigen. Für die ersten Lebensjahre kann man, von Extremfällen abgesehen, auf keine zuverlässige Untersuchungsmethode zurückgreifen, die mit Sicherheit voraussagen lässt, ob das Kind eine AD(H)S entwickelt.

 

Mit dem Kindergartenalter wird das anders. Durch die Gruppensituation werden hyperaktive Kinder meist schnell auffällig. Schwierig ist für sie bereits der morgendliche Sitzkreis, bei dem es darauf ankommt, ruhig auf dem Stuhl zu bleiben. Auch fällt es ihnen schwer abzuwarten, eine Fähigkeit, die in einer Gruppe oft verlangt wird. ADHS-Kinder neigen zu wilden Spielen, akzeptieren gesetzte Regeln nicht und sind deshalb häufiger in Konflikte verwickelt. Durch ihre Neigung zu plötzlichen Reaktionen wirken manche aggressiv und unberechenbar, sodass sich Freunde abwenden können. Auch lieben es ADHS-Kinder, im Mittelpunkt zu stehen.

Bei Kindern vom »Träumerle«- Typ, Kinder mit einer ADS, liegt die Sache anders. Hier kann man die Diagnose oft erst im Schulalter stellen. Jedoch zeigen manche von ihnen auch im Kindergarten schon bestimmte Auffälligkeiten. Kennen Sie das Spiel »Feuer, Wasser, Sturm«? Ein Klassiker! Ruft man »Feuer«, müssen alle Kinder in eine bestimmte Ecke laufen. Ruft man »Wasser«, springen alle auf Bänke und Stühle, um nicht zu ertrinken. Ruft man »Sturm«, müssen sich die Kinder flach zu Boden werfen, damit sie nicht umgepustet werden. Wer aber lässt sich bei »Wasser« auf den Boden fallen? Wer springt bei »Feuer« auf den Stuhl? Wer scheidet meistens als Erster aus? Richtig, das Kind, das mit seinen Gedanken ständig woanders ist. ADS-Kinder wirken oft verlangsamt, sind oft die Letzten, die eine Sache beenden, müssen viele Dinge zwei Mal gesagt bekommen, verlieren ständig irgendetwas.

Warum ist die frühe Diagnosestellung einer ADHS manchmal schwierig? Das liegt an der Eigentümlichkeit des Menschen bezüglich seines Bewegungsdrangs. Als Faustregel gilt: Je jünger der Mensch ist, desto mehr bewegt er sich (von dem Jogger, der gegen seine Midlife-Crisis anläuft, mal abgesehen). Andersherum: Die Fähigkeit, stundenlang auf einem Fleck zu sitzen, nimmt mit dem Älterwerden kontinuierlich zu. Wenn man messen würde, wie viele Stunden der Mensch sitzend verbringt, so würde man einen eindeutigen Zusammenhang mit seinem Alter feststellen (bis hin zu dem Greis, der sich den ganzen Tag nicht mehr aus seinem Lehnstuhl bewegt). Junge Kinder sind Bewegungsweltmeister. Deshalb fällt ein unruhiges Kind in diesem Alter nicht so schnell auf. Auch dürfen sich die Kinder in den meisten Kindergärten zum Glück nach Herzenslust bewegen. Mit Beginn der Schule aber erfolgt ein scharfer Einschnitt. Schule bedeutet nämlich, auf einem Stuhl sitzen bleiben zu müssen. Und zwar nicht nur für wenige Minuten, sondern über Stunden. Dann baumeln die Beine des ADHS-Kindes hilflos in der Luft, denn sie sind aufs Weiterlaufen programmiert, dann fällt die Unruhe schnell auf. Spätestens jetzt sollte eine fachkundige Abklärung der Verdachtsdiagnose erfolgen.

Ist AD(H)S tatsächlich eine Krankheit?

Als Ihnen der Arzt die Diagnose Ihres Kindes mitteilt, sehen Sie ihn bestürzt an. Nein, es gebe keine Zweifel, bei Ihrem Kind bestehe ADHS, hören Sie ihn sagen. Alle Hauptsymptome seien vorhanden, es sei hyperaktiv, konzentrationsgestört und impulsiv. Zwar hatten Sie mit diesem Ergebnis insgeheim gerechnet, aber als der Doktor diese vier Buchstaben nun ausspricht, erschrecken Sie dennoch. Ist ADHS denn tatsächlich eine Krankheit?

 

Im Prinzip nicht. Verhaltenswissenschaftler behaupten sogar, nur weil es bei unseren urzeitlichen Ahnen schon Menschen gegeben hat, denen wir heute die Diagnose ADHS stellen würden, ist die Menschheit nicht ausgestorben. Warum? Nun, während der Stamm in der schönsten Steinzeit bequem um das abendliche Feuer saß, um sich mit mythischen Geschichten oder dem Zuspitzen von Pfeilen zu unterhalten, gab es einen, dessen Blick ständig umherschweifte, der alles mitbekam, der  sah, was sich in den Büschen bewegte, der es nicht lange im Sitzen aushielt und der herumstreifen musste und dabei die Gegend erkundete. Schlich sich ein Säbelzahntiger an, wer entdeckte das gierige Monstrum? Zuckte ein Blitz in der Ferne auf, wer warnte die anderen vor dem drohenden Gewitter? Plante ein Nachbarstamm eine feindliche Höhlenübernahme, wer stieß den rettenden Alarmruf aus?

Wir sehen, wir müssen den Begriff der Aufmerksamkeitsstörung präzisieren. In gewisser Hinsicht sind ADHS-Kinder sogar aufmerksamer als andere. Sie bemerken den Vogel, der am Fenster vorbeifliegt, hören die Schritte draußen auf dem Gehweg, bekommen mit, wenn sich im Garten eine Katze aufhält. Schwierig hingegen ist es für sie, ihre Aufmerksamkeit längere Zeit auf eine bestimmte Handlung zu richten, insbesondere, wenn es sich dabei um eine ruhige und wenig abwechslungsreiche Sache handelt. Dummerweise werden aber gerade solche Fähigkeiten in unserer heutigen Zeit immer mehr verlangt, während die Stärken des ADHS-Kindes in Ermangelung von Säbelzahntigern und anderen (Fress-)Feinden kaum noch gefragt zu sein scheinen.

Also, eine Krankheit im klassischen Sinn ist eine ADHS nicht in jedem Fall. Durch die veränderten Ansprüche an unsere Kinder erst wird sie zum Problem, wird zur Behinderung und bekommt damit Krankheitscharakter.

»Warum habe ich die blöde AD(H)S?«

Tim ist zornig. In Ruhe haben Sie versucht zu erklären, was ADHS heißt und dass sie die Ursache dafür ist, dass er oft so schlecht aufpassen kann. »Warum habe ich die blöde ADHS?«, schimpft er.

 

Die Frage nach der Ursache von AD(H)S ist bis heute noch nicht sicher geklärt. Familienuntersuchungen, insbesondere an Zwillingskindern, ergeben aber deutliche Hinweise darauf, dass genetische Faktoren eine große Rolle spielen. Dabei folgt jedoch die Wahrscheinlichkeit für eine AD(H)S keinem einfachen Erbgang, wie etwa bei dem Gen für die Eigenschaft des Zungenrollens. Bei AD(H)S ist es komplizierter. Ein bestimmtes Puzzle aus verschie denen Genen muss vorhanden sein, damit AD(H)S entsteht. Wie genau dieses Puzzle aussieht, weiß man allerdings noch nicht. So kann man selbst bei sorgfältigster genetischer Untersuchung die Diagnose zurzeit noch nicht durch einen Bluttest stellen. Auch sind keine sicheren Aussagen möglich, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Geschwisterkind betroffen sein wird.

Man vermutet, dass die Gene des Puzzles verantwortlich sind für die Produktion eines bestimmten Verkehrsmittels im Stoffwechsel unserer Nervenzellen. Dieses Verkehrsmittel ist zuständig für den Abtransport von Botenstoffen, unter anderem des Dopamins. Die Transporter sind wichtig, sonst würden die Nervenzellen ständig »feuern«, und es entstünde ein Chaos im Gehirn. Gibt es jedoch durch einen Produktionsfehler zu viele dieser Transporter und werden deshalb zu viele Dopaminteilchen weggeräumt, kommt es zu einem Mangel derselben, wodurch die Aufmerksamkeit reduziert wird und eine AD(H)S entsteht.

Neben genetischen Faktoren können auch – seltener – Risikofaktoren während der Schwangerschaft oder der Geburt eine AD(H)S auslösen: ein starker Sauerstoffmangel etwa, eine schwere Mangelgeburt oder Zellgifte wie Nikotin und Alkohol. Ganz wichtig: AD(H)S ist nicht die Folge schlechter Erziehung! Den Begriff »Aufmerksamkeitsdefizit-Störung« verstehen viele falsch. Gemeint ist nicht, dass den Kindern zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, sondern dass die Kinder zu wenig Aufmerksamkeit aufbringen können. Gerade ein Kind mit AD(H)S stellt besondere Anforderungen an die Eltern, und man muss im Umgang und in der Erziehung viele Besonderheiten berücksichtigen. Dies soll in den nun folgenden Fallbeispielen illustriert werden.

PRAKTISCHER TEIL