Malte Korff

Johannes Brahms

Leben und Werk

 

 

 

Originalausgabe

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

© 2008 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

eBook ISBN 978-3-423-40144-9 (epub)

 

 

 

 

Für Christine, Uta-Johanna und Frieder

Inhaltsübersicht

Vorbemerkung

Kindheit und Jugend

Aufbruch

Die Katastrophe

Detmold, Agathe und d-Moll-Konzert

Zurück in Hamburg

Zwischen Hamburg und Wien

Durchbruch: Konzertreisen und ›Ein Deutsches Requiem‹

Etablierung in Wien und künstlerischer Direktor

Der Weg zum Sinfoniker

Im Zenit des Ruhms

Der späte Brahms

Die letzten Jahre

Anhang

Zeittafel

Weiterführende Literatur

Werkverzeichnis

Personenregister

Vorbemerkung

Als Robert Schumann im Jahre 1853 in der ›Neuen Zeitschrift für Musik‹ den jungen Brahms ankündigt und prophezeit, dass dieser berufen sei, »den höchsten Ausdruck der Zeit … auszusprechen«, hat der damals gerade 20-Jährige noch einen schweren Weg vor sich. Die ersten Stücke, seine Klaviersonaten op. 2, 3 und 5, sind zwar geniale Würfe, doch darauf folgt ein langjähriger, mühseliger Aufstieg. In Detmold, wo er als Pianist, Dirigent und Chorleiter beginnt, arbeitet er an seinem ersten Klavierkonzert, in dem sich die Erschütterungen über den Tod Robert Schumanns und die unglückliche Liebe zu Schumanns Frau Clara widerspiegeln, und die Uraufführung gerät zum Fiasko. Groß ist auch die Enttäuschung darüber, dass es ihm nicht gelingt, in seiner Heimatstadt Hamburg eine Anstellung zu erlangen. Stattdessen findet er Anerkennung in Wien, wo er 1863 zum Chormeister der Singakademie berufen wird und den Wienern seine ersten Stücke präsentiert. Brahms ringt um ein sinfonisches Werk, macht sich als Pianist einen Namen und nimmt dann den Weg zur Chormusik bis zum ›Deutschen Requiem‹, das ihm den Durchbruch zum anerkannten Komponisten bringt.

Doch erst 1876 ist die erste Sinfonie vollendet. Das Werk, das an Beethoven anknüpft, ist schwer zugänglich, und die düsteren Stimmungen, die eigenwillige musikalische Sprache und die schwierigen formalen Konstruktionen sind fremd und gewöhnungsbedürftig. Hinzu kommen die heftigen Angriffe der fortschrittlichen »Neudeutschen« Franz Liszt und Richard Wagner, für die die Gattung »Sinfonie« überlebt ist, und die sich zum Ziel gesetzt haben, die Musik mit der Symphonischen Dichtung und dem Musikdrama voranzubringen. Doch Brahms, dessen ›Erste‹ auch Zustimmung findet, schreitet nun unbeirrt fort und komponiert in den folgenden Jahren seine bedeutendsten Werke: die zweite, die dritte und die vierte Sinfonie, das kraftvolle, romantisch-naturnahe zweite Klavierkonzert und das berühmte Violinkonzert, das zu den schönsten Solokonzerten überhaupt gehört. In dieser Zeit ist der typische Brahms-Ton längst ausgeprägt: der tiefe Ernst und die Schwermut, Trotz und kämpferische Energie einerseits, sowie andererseits der lyrische Volksliedton, tiefe Innerlichkeit und warme Klangsinnlichkeit. Dies alles gehört zusammen, besonders in solchen Werken, in denen die Melodik des Volkslieds die dunklen Stimmungen überwindet und das erlösende Bekenntnis zu Glück und Schönheit schließlich doch errungen wird.

In seinem Werk bewahrt Brahms einerseits das klassische Erbe, und andererseits weist er weit in die Zukunft. Im Gegensatz zu den »Neudeutschen«, die nach dem Modernen streben, bemüht er sich um eine Musik, die gleichsam »dauerhaft«, dem historischen Wandel entzogen ist. Dabei lässt er sich von den Komponisten der Wiener Klassik, vor allem von Beethoven, aber auch von den älteren Meistern Bach und Palestrina inspirieren. Dies führt dazu, ihn »altmodisch«, »konservativ« zu sehen, ein Bild, das erst Arnold Schönberg revidiert. Seitdem wird immer deutlicher, wie zukunftweisend die Brahms’sche Melodie und ihre musikalische Verarbeitung ist, z. B. in der »entwickelnden Variation« (Schönberg), in der ein Motiv immer weiter fortvariiert wird, bis daraus die große Gestalt entsteht. Von Brahms stammt auch die Technik der »durchbrochenen Arbeit«, bei der die führende Melodie auf die verschiedenen Stimmgruppen des Orchesters verteilt wird und so der gleichsam schwebende Klang entsteht. Doch nicht nur die Sinfonik, sondern auch die großen Solokonzerte und die Kammermusik stehen im Zentrum des Brahms’schen Schaffens. Die Konzerte sind in ihrem Charakter ebenfalls »sinfonisch«, d. h. nicht auf virtuose Brillanz, sondern auf die motivisch-thematische Entwicklung orientiert, an der sich der Solist und das Orchester gleichermaßen beteiligen. Die Kammermusik ist dagegen von besonderer Intimität und zeichnet sich durch intensive motivische Verarbeitung sowie eine hochartifizielle Durchbildung des Tonsatzes aus. Demgegenüber gibt sich die Klaviermusik oft poetisch, während das Lied von der Schlichtheit des Volkslieds lebt, andererseits jedoch auch in differenziertere Ausdrucksbereiche vordringt.

Bereits 1883, nach Wagners Tod, ist Brahms der berühmteste lebende Komponist. Die Werke, die er meist im Sommer, in der Steiermark, am Thuner See und in Bad Ischl schreibt, setzt er im In- und Ausland durch, wobei sich sein Ruf als Dirigent und Pianist festigt. In dieser Zeit gehört er zur Elite der großbürgerlichen Welt Wiens. Längst ist er finanziell unabhängig, zu seinen Anhängern zählen Gelehrte, Dichter, Musiker und Maler. Doch Brahms ist ein Einzelgänger. Er strebt zwar die Festanstellung an, kündigt jedoch, wenn er sein musikalisches Schöpfertum beengt sieht. Nicht anders ist es in der Liebe, der er sich hingibt und dann die Flucht ergreift, da er die Bindung scheut. Den Ausgleich bieten ihm gute Freundschaften, z. B. zu dem Geiger Joseph Joachim, dem Maler Max Klinger und dem Arzt Theodor Billroth, die für ihn von existenzieller Bedeutung sind. Im Umgang mit Menschen kann Brahms rau sein, und die Eigenart seines Humors, der bis zum Sarkasmus reicht, verletzt manchmal diejenigen, die ihn verehren. Doch die schroffe Art verdeckt nur seine Güte, die sich in Hilfsbereitschaft, wenn es um die Förderung junger Musiker geht, finanzieller Großzügigkeit, Elternfürsorge und nicht zuletzt in seiner ausgeprägten Liebe zu Kindern äußert. Über Brahms schrieb der tschechische Komponist und Musikkritiker Josef Bohuslav Foerster nach dessen Tod: »Brahms war ein Lamm, dem eine Löwenmähne gewachsen war«, und er zitiert den Dirigenten Hans von Bülow, Brahms sei »das dritte große B, neben Bach und Beethoven«.

Kindheit und Jugend

Johannes Brahms wird am 7. Mai 1833 in Hamburg geboren. Die väterlichen Vorfahren des Komponisten stammen aus Holstein. Brahms’ Großvater, der Sohn eines Tischlers, zieht als Gastwirt und Händler nach Wöhrden, das in der Nähe des Städtchens Heide liegt. Hinrich, sein ältester Sohn, führt die Geschäfte des Vaters fort, doch wichtiger ist der 13 Jahre später, 1806, in Heide geborene Bruder Johann Jakob – Brahms’ Vater. Dieser ist offenbar aus der Art geschlagen, denn er will Musiker werden. Natürlich, die Familie will das verhindern, denn Musik gilt in ländlich-rückständigen Gebieten nicht viel. Die Möglichkeiten, den späteren Lebensunterhalt zu sichern, sind gering, und auch die soziale Absicherung fehlt. Doch Johann Jakob lässt sich nicht beirren: Ohne die Eltern zu fragen, nimmt er Instrumentalunterricht in einem der Nachbarorte, wobei es ihm darauf ankommt, das Spiel möglichst vieler Instrumente zu erlernen, um später bei Umzügen, Hochzeiten und der Kirchweih mitspielen zu können. Freilich dauert es nicht lang, bis dem Vater die heimlichen Bemühungen des Sohns zu Ohren kommen. Der aber lässt nicht locker und setzt sogar durch, dass er fünf Jahre Unterricht in Flöte, Horn, Violine, Bratsche und Violoncello erhält.

Mit dem Gesellenbrief des Musikers in der Tasche kommt der 20-jährige Johann Jakob 1826 nach Hamburg, wo er als Straßenmusikant sowie in den Vergnügungsstätten von St. Pauli auftritt, einer Vorstadt, die erst 1833 diesen Namen erhält. Bereits 1830 beginnt der Aufstieg, denn nun wird er Hornist beim Hamburger Bürgermilitär mit der Aussicht auf eine spätere Pension. Dann, ab 1840, spielt er als Kontrabassist im Sextett des Alsterpavillons, eines vornehmen Kaffeehauses an der Binnenalster, in dem das gehobene Bürgertum, vor allem die Kaufmannschaft verkehrt, und wo die damals beliebten Unterhaltungsmelodien, z. B. die neuesten Opernpotpourris und die Wiener Walzer von Johann Strauß gespielt werden.

Zu der Zeit, als Johann Jakob nach Hamburg kommt, ist das Musikleben der Hansestadt nicht gerade bedeutend. Die große Ära der Oper, die um 1700 mit Reinhard Keiser, Johann Mattheson und Händel im Opernhaus am Gänsemarkt ihren Höhepunkt erlebte, ist vorüber, und seitdem orientiert man sich am zeitüblichen Stücke-Repertoire. Doch nun, 1828, wird die Philharmonische Gesellschaft gegründet, ein Orchester, das aus Berufsmusikern besteht. Der Leiter ist der 1791 in Hamburg geborene Friedrich Wilhelm Grund, der sich intensiv um ein reges Konzertleben bemüht und auswärtige Dirigenten mit interessanten Programmen verpflichtet. Grund ist auch Mitbegründer und Dirigent der Hamburger Singakademie und engagiert sich für die Beethoven-Pflege. Das Publikumsinteresse an neuen, zeitgenössischen Werken ist jedoch nur gering. Gerade Mendelssohn, der gebürtige Hamburger, wird toleriert, und selbst Franz Liszt findet ausschließlich als Klaviervirtuose Anerkennung, wie auch Clara Schumann. Neben der Philharmonischen Gesellschaft spielt ebenfalls die Pflege der Chormusik eine nicht unbeträchtliche Rolle. So gibt es in Hamburg einen Chorverein, der in der Michaeliskirche u. a. Händels ›Messias‹ und Mozarts Requiem zur Aufführung brachte, sowie ein namhaftes Männerquartett, die ›Hamburger Liedertafel‹.

Doch zurück zu Johann Jakob, der nun im sogenannten »Gängeviertel«, das an den Wegen der Vorstadtgärten errichtet wurde, Quartier beziehen muss. Die kleinen Leute wohnen hier: nicht nur die Handwerker, die mit Fleiß und Beharrlichkeit versuchen, der Armut zu entkommen, sondern auch die immer mehr zuströmende mittellose Landbevölkerung, die bestrebt ist, sich eine neue Existenz aufzubauen. Das Gängeviertel gehört zu Hamburgs älteren und ärmeren Gegenden. Die Gassen sind eng und dunkel, so dass die Fuhrwerke kaum hindurch kommen. Im Parterre der Häuser gibt es winzige Lädchen und bescheidene Werkstätten, daneben kleine Lokale sowie die eine oder andere verrufene Kneipe. Um den nötigen Wohnraum zu schaffen, wird in die Höhe gebaut, mit fünf, sechs vorspringenden Stockwerken, und so fehlt es an Licht, an Luft, insbesondere, wenn vom Hafen die feuchten Nebel herüber ziehen. Im Gängeviertel macht der neunjährige Brahms die schlimmste Erfahrung seiner Jugendjahre, als der große Hamburger Stadtbrand ausbricht, bei dem die Gegend um die Familienwohnung evakuiert wird und die Brandhelfer eine ganze Häuserzeile niederreißen, um das Übergreifen des Feuers zu verhindern.

Johann Jakob, der ein junger, gutaussehender Mann ist, hat schon mehrmals das Quartier gewechselt, als er 1829 in die Nähe des Dammtorwalls gerät, um sich nach einer neuen Bleibe umzusehen. Hier, in der Ulricusstraße 15, betreibt die 39-jährige Christiana Friederika Detmering, geb. Nissen, die Frau eines Hafenarbeiters, einen Kurzwarenladen. Daneben vermietet sie Schlafstellen zusammen mit der zwei Jahre älteren Schwester Johanna Henrike Christiane, die Näherin ist und das Essen für die Mieter zubereitet. Wir wissen nicht, welche Erfahrungen Johann Jakob gemacht hatte, bevor er die Schwestern Nissen kennenlernt, doch ist bekannt, dass er sich bei diesen nun sehr wohl fühlt, und noch mehr: dass er Christiane nach acht Tagen einen Heiratsantrag macht! Der Entschluss des jungen adretten Musikers, die Einundvierzigjährige, die gehbehindert ist, zu ehelichen, muss zunächst verwundern. Doch Christiane versteht es offenbar, dem Heimatsuchenden Geborgenheit zu geben. Ihre Vorfahren, die als Schulmeister, Pastoren, Ratsherren und Kaufleute tätig waren, gehören dem Intelligenzbürgertum an. Sie interessiert sich für Literatur, Geschichte und Poesie, und Johann Jakob, der zunächst nur musikalisch-handwerklich orientiert ist, spürt, dass sie ihm auf diesem Gebiet viel geben kann. Wir wissen, dass sie zahlreiche Gedichte kannte, mit denen der junge Brahms aufwächst, und die die Wurzel für seine Liebe zum Volkslied bilden. Darüber hinaus ist ihr Wesen von Gemütstiefe und Herzensgüte geprägt, Eigenschaften, die nicht nur für ihren Mann, den Zugezogenen, Entwurzelten, sondern später auch für Johannes Brahms von großer Bedeutung sind.

Nach dem Erhalt des Hamburger Bürgerrechts, das Johann Jakob 1830 zugesprochen bekommt, und der Trauung mit Christiane am 9. Juni des Jahres 1830 bezieht das frisch verheiratete Paar die erste Wohnung im Bäckerbreitergang Nr. 78. Das Domizil liegt, nun schon standesgemäßer, am Rande des Gängeviertels. Bereits am 11. Februar 1831 kommt das erste Kind, die Tochter Louise Elisabeth (genannt Elise) zur Welt. Doch der Ausbruchsversuch in die bessere Wohngegend ist nicht von Dauer: Johann Jakob und die Familie müssen am 11. November ins Gängeviertel, in das Hinterhaus des Specksgangs Nr. 24, zurückziehen. Hier im »Schlüterhof«, in einem sechsgeschossigen Fachwerkhaus, einer Wohnung mit Stube, Schlafzimmer und Küche, kommt 1833 Johannes Brahms zur Welt.

Bis zur Einschulung hat Johannes, ein blasses, einzelgängerisches Kind, drei Umzüge zu überstehen. Immer wieder wird er aus der vertrauten Umgebung herausgerissen, muss sich mühsam neu orientieren. Bereits im Herbst geht’s in die Ulricusstraße, wo 1835 der zweite Sohn Fritz zur Welt kommt – dann herrscht neuerlich Enge, und der nächste Umzug steht bevor. Die Tatsache, dass die Familie Brahms so oft, d. h. achtmal die Wohnung wechselt, hat jedoch nun nichts mehr mit Armut, sondern mit dem kontinuierlichen Aufstieg zu tun. Die Einkommensverhältnisse des Vaters, der nach dem Erlernen des Kontrabassspiels zum ständigen Mitglied des Alsterpavillon-Sextetts aufrückt und ab 1853 sogar im Städtischen Theaterorchester mitwirkt, steigen, und so drängt er vom Gängeviertel fort zu immer besseren Wohn- und Lebensverhältnissen. Dabei neigt er nicht zur Sparsamkeit, sondern legt Wert auf repräsentative Wohnungseinrichtung und kauft, was ihm gefällt. Die Mutter freilich, die anspruchslos ist, vermag die neue Lebenseinstellung nie zu akzeptieren, was zu immer größeren Spannungen führt. In ihrem letzten Brief, den sie kurz vor ihrem Tod (1865) an Brahms schreibt, klagt sie: »… was hat nun alles Umziehen und alle Wohnungen, aufs Beste in Ordnung machen lass(en) für Geld gekostet, … und was hat er für vieles Geld für Instrumente ausgegeben und die vielen Noten und überhaupt er kaufte alles, was ihm gefiel.«

Mit sechs Jahren besucht Johannes Brahms die Elementarschule, in der die Kinder des Gängeviertels das Notwendige mitbekommen: Lesen, Schreiben, die Grundrechnungsarten und Religion. Der Vater drängt, nachdem er die handwerkliche Perfektion errungen hat, zur Kunstmusik, spielt Kammermusik von Beethoven und musiziert in den Häusern musikliebender Kaufleute. Johannes’ Begabung scheint evident gewesen zu sein, denn der Vater fasste schnell den Plan, dem Jungen Instrumentalunterricht zu geben. Doch auch der hat bestimmte Vorstellungen: Nicht irgendein Instrument will er spielen, sondern das Klavier! Der Vater akzeptiert den Wunsch, und auch die Wahl des jungen, fähigen Klavierlehrers Willibald Cossel demonstriert väterliche Weitsicht. Dieser wohnt im Hamburger Vorort St. Georg, für Johannes, der vom Gängeviertel dorthin gelangen muss, ein beträchtlicher Fußmarsch. Der Lehrer, der Anhänger des poetischen Klavierspiels ist, macht ihn zunächst mit den bekanntesten Vertretern des Virtuosentums, Johann Nepomuk Hummel und Sigismund Thalberg, vertraut, lenkt ihn jedoch ebenso auf Bach, z. B. auf dessen ›Wohltemperiertes Klavier‹. Wichtig ist, dass Cossel den Schüler dazu anhält, mit dem Spiel auszudrücken, »was das Herz empfindet«, und so wird er frühzeitig auf den Weg gebracht, den Mozart und Beethoven vorbereiteten und Schubert, Weber und Schumann fortsetzten.

Johannes ist elf Jahre alt, schmächtig, schweigsam und verträumt, als er in das »Institut für Knaben des mittleren Bürgertums« aufgenommen wird, eine solide, fortschrittliche Bildungsstätte, in der er in naturwissenschaftlichen Fächern und Französisch unterrichtet wird. Hinzu kommt der Konfirmandenunterricht, in dem ihn der Pastor Johann Geffken mit den kraftvollen Bildern der Luther-Bibel vertraut macht, und wo er den protestantischen Choral kennenlernt, der in seinem Schaffen noch eine wichtige Rolle spielen wird. Daneben macht Johannes immense Fortschritte im Klavierspiel. Zwischen Cossel und der Familie Brahms entwickelt sich ein freundschaftliches, ja herzliches Verhältnis, und der idealistisch gesinnte Klavierpädagoge zieht sogar in die Nähe der Familie, um dem Jungen die Zeit des Anmarschs zu verkürzen. Bereits für den Zehnjährigen arrangiert der Vater das erste Privatkonzert im Gesellschaftszimmer des Gasthofs »Zum alten Raben«. Das Programm der Konzertveranstaltung ist sorgfältig ausgewählt: Zu Gehör kommen Klavierquintette von Mozart und Beethoven (op. 16, die Bläserfassung), bei denen Johannes Klavier spielt und die Kollegen des Vaters ihn begleiten. Das Konzert ist so erfolgreich, dass sich daraufhin ein geschäftstüchtiger Künstleragent an Johann Jakob wendet und ihm den Vorschlag macht, der Junge solle doch mit auf eine Tournee nach Amerika reisen, um dort als Wunderkind aufzutreten. Die Versuchung ist groß, und auch die Mutter, die mit Nähen, dem Geschäft und der inzwischen fünfköpfigen Familie überlastet ist, stimmt freudig zu. Doch Cossel ist entsetzt: Soll der Zehnjährige in solch einem Konzertbetrieb ruiniert werden? Er gerät in heftigste Diskussionen mit dem Vater und durchschaut schließlich, dass den nur eines von dem Vorhaben abbringen könne: die Vermittlung des Jungen an den berühmten Hamburger Klavierpädagogen und Komponisten Eduard Marxsen. Cossel sucht Marxsen auf und bestürmt diesen geradezu, das junge Talent zu unterrichten. Doch Marxsen, der ein kritischer Mann ist, hält nichts von »Wunderkindern«, und so dauert es eine Zeit lang, bis er gewillt ist, den Jungen zu empfangen. Offenbar beeindrucken nun dessen pianistische Fähigkeiten sowie sein feinfühliges, frühreifes Wesen, und so verspricht er ihm schließlich die Betreuung – sogar ohne Honorar.

12-, 13-jährig, entwickelt Johannes den Willen, sich das gesamte klassische Klavier-Repertoire zu erarbeiten, eine Leistung, die für uns heute kaum vorstellbar ist. Bach und Beethoven stehen vornan, während er den Werken des schwärmerischen Schumann distanziert begegnet. Marxsen legt Wert auf das Vom-Blatt-Spiel, mit dem der Schüler befähigt wird, die musikalischen Vorgänge schnell zu erfassen. Doch das Wichtigste: Nun bekommt Brahms Unterweisung in Komposition und Kontrapunkt. Bereits bei Cossel hatte er mit dem Komponieren begonnen, und jetzt ist er dazu angehalten, die ersten Stücke zu schreiben, mit anschließender Auswertung. Hinzu kommt die Analyse klassischer Klavierwerke, bei der ihm bewusst wird, welch immense Rolle das Volkslied bei der musikalischen Themenwahl spielt. Doch das Klavierspiel, das nun zu künstlerischen Dimensionen aufsteigt, und das Üben des Vaters, der in Kammermusikveranstaltungen mitwirkt, bringen Probleme: Nicht nur die Mutter, sondern auch die kränkelnde, oft von Kopfschmerzen geplagte Schwester und die Hausnachbarn fühlen sich gestört. Immer wieder mahnt Christiane den Gatten zu gedämpfterem Spiel, was diesen allerdings wenig kümmert: »Jehann, schlut de Dör aff, de Olsch kümmt!« Das Üben gehört nun mal zum Beruf. Johannes ist rücksichtsvoller und übt in Klavierhandlungen sowie bei einem Klavierhersteller. Die Pianistin Luise Langhans-Japha, die damals neunzehn Jahre alt ist, schreibt in einem Brief über den jungen Pianisten: »Brahms Bekanntschaft machte ich zuerst in Hamburg. … Ich traf ihn beim Pianofortefabrikanten Schröder in der Katharinenstraße und forderte den Kleinen auf, mir etwas vorzuspielen. Er tat dies artig und sagte, es sei eine Sonate eigener Komposition; soviel ich mich erinnere, war sie in g-Moll und für das kindliche Alter sehr gut. … Sehr herbe im Wesen war er; trotzdem wir uns recht gut miteinander verstanden, habe ich ihn oft über sein abweisendes Wesen andern gegenüber ausgescholten. Er hatte damals keinen großen Kreis musikalischer Freunde … und wollte mir nicht glauben, wenn ich ihm versicherte, er gehe einer großen Zukunft entgegen.«

Die Biografen von Brahms unterstellten früher, dass Johannes oft in Matrosenkneipen und Hafenkaschemmen spielen musste, da der Vater, der nur ans Geldverdienen dachte, dies gefordert habe. Das Bild des blauäugigen, unverdorbenen Knaben wurde gezeichnet, der übernächtigt, gleichgültig-traumverloren am Klavier sitzt, mechanisch Tänze und Märsche spielt und »sich dabei in die blühenden Träume der romantischen Phantasie« (Max Kalbeck) verliert. Dies sind Legenden. Dass Johannes in gutbürgerlichen Wirtshäusern spielt, um den Familienetat mit aufzubessern, ist sicher richtig. Doch ebenso ist Johann Jakob daran interessiert, dem Sohn den Berufsweg zu ebnen, und so versucht er, ihn in dem einen oder anderen Musizierensemble mitspielen zu lassen. Belegt ist, dass der 13-Jährige an den Wochenenden in einem beliebten Gasthof in Bergedorf bei Hamburg Klavier spielt, und dies pro Nachmittag für lukrative zwei Taler, die etwa 70 Euro entsprechen. Darüber hinaus tritt er in einem Ausflugslokal auf, das in Nähe des Landstädtchens Winsen an der Luhe liegt. Zu den dortigen Sonntagsunterhaltungen gesellt sich der Männergesangverein, der aus Lehrern und Handwerkern besteht, und den er dirigieren darf. Doch der Ort hat auch seine Tücken: die Dorfjugend. Die achtet den jungen Künstler, der sich abseits hält und mit dem Notizbuch umherläuft, nur gering, so dass man ihn eines Tages überfällt, ihn ausplündert und ihm hinterhergrölt: »Du bist kein Jung, du bist ’ne Deern!« Nur dank »Lieschen«, einer 13-Jährigen, mit der er sich angefreundet hatte, und die mit den Radaubrüdern umzugehen versteht, bekommt er seine Habseligkeiten zurück – nicht ohne einige Verwirrung.

Wie der 17-jährige Brahms auf seine Mitmenschen wirkt, schildert auch Walter Hübbe, der Sohn eines Hamburger Großkaufmanns: »Das äußerlich Imponierende fehlte noch gänzlich. Er hatte etwas Schüchternes, Verlegenes, Unfreies an sich. Noch sehe ich deutlich in der Erinnerung, wie … die schlanke Figur unser Haus … verließ und nicht gerade festen Schrittes mit etwas vorgebeugter Körperhaltung und etwas wackelndem Cylinderhut über die Wiese am Stadtgraben entlang dem Steinthor zuging. Die respektlosen bösen Buben des Hauses erfanden alsbald für ihn einen Übernamen. Nach einem Ausdruck des uns durch unsern Großvater geläufigen ›Hamburger Ausrufs‹ nannten wir ihn vorzugsweise ›Bramsbessen‹ (Ginsterbesen). Trotzdem beseelte uns aber ganz im stillen doch eine Art von ehrfurchtsvoller Scheu; denn daß man es mit etwas Anderem als einem gewöhnlichen Klavierpädagogen zu thun hätte, entging mir wenigstens nicht.«

Mit vierzehn Jahren hatte Brahms die Schule abgeschlossen. Er wird konfirmiert, und nun ist er verpflichtet, sich zielstrebig um seinen Beruf zu kümmern. Die Situation ist eindeutig: Für ihn kommt nur die Musik infrage. Doch zuvor fährt er noch einmal nach Winsen. Hier verbringt er die Sommermonate bei dem Mühlenbesitzer Giesemann, der mit dem Vater bekannt ist und dessen Tochter – natürlich – Lieschen ist. Brahms spielt im »Krug« zum Tanz auf und leitet den Männerchor-Verein. Mit dem Skizzenblock streift er glücklich, unbeschwert durch die Wiesen und Felder, entlang den Ufern des Flüsschens Luhe. Wieder zu Hause, gibt er Lieschen Klavierunterricht und sie sehen zusammen den ›Figaro‹: Brahms’ erstes Opernerlebnis. Doch auch kompositorisch ist er nicht untätig: Inspiriert von Hochgefühl, schreibt er nun die ersten vierstimmigen Lieder, die daraufhin mit »seinem« Chor zur Aufführung kommen.

Zurück in Hamburg, wird Brahms zum ersten Mal aufgefordert, in zwei Konzerten mitzuwirken. Das erste, am 20. November 1847, findet im Hamburger Apollo-Saal statt. Der Konzertgeber ist der Geiger Carl Birgfeld, ein Musiker-Kollege des Vaters, der ihm so die Möglichkeit gibt, sich dem Publikum vorzustellen. Das Programm ist nach den damaligen Gepflogenheiten gemischt: Neben Solo-Liedern und Kammermusik spielt Brahms die Klavierfantasie über Bellinis Oper ›Norma‹, ein hochvirtuoses Stück von Thalberg. Der Beifall ist enorm, und in Marxsens Rezension liest man später: »Besonders wird der Vortrag einer Fantasie … durch einen kleinen Virtuosen, namens J. Brahms, gerühmt, der nicht allein schöne Fertigkeit, Präcision, Reinheit, Kraft und Sicherheit zeigt, sondern auch, was das Geistige, die Auffassung anbelangt, allgemein überrascht.« Doch nun verlangt der Vater, dass der Junge mitverdienen soll, und so spielt er noch mehr als früher in Lokalen zum Tanz auf, komponiert Unterhaltungsmusik, begleitet Sänger und gibt sogar schon Klavierunterricht.

Brahms ist sechzehn, als er den ersten größeren Konzerterfolg verbucht. In einem Auftritt am 14. April 1849 im Thalia-Theater spielt er die berühmte ›Waldsteinsonate‹ von Beethoven und dazu die von ihm selbst geschriebene ›Fantasie über einen beliebten Walzer‹, die verschollen ist. Der Triumph ist durchschlagend: Die Veranstaltung ist so stark besucht, dass das Publikum nur noch in einem der Vorräume Platz findet, und dies bei doppelt so hohen Eintrittspreisen wie üblich! Mit der spieltechnisch schwierigen, inhaltlich bedeutsamen Beethoven-Sonate, der eigenen Komposition und Thalbergs hochvirtuosem Klavierwerk ›Fantasie über Motive aus Don Juan‹ hat Brahms den ersten Durchbruch geschafft, und das heißt: Nun könnte er die nächsten Konzerte im Hinblick auf eine zukünftige Pianistenkarriere vorbereiten. Doch Brahms ist nicht daran interessiert, denn es widerstrebt ihm, dem modischen Klavierstil zu huldigen, der sich kaum an substanzieller, ernster Musik orientiert, sondern dem Prinzip »Virtuosität als Selbstzweck« folgt. Auch die Vorstellung, die Klassiker neu zu beleben, scheint in dieser Zeit nur schwer realisierbar, und so nimmt er sich vor, mit Marxsen weiterzuarbeiten, um später – vielleicht – Komponist zu werden. Bereits im folgenden Jahr, im März 1850, sieht der 17-Jährige die erste Möglichkeit, das inzwischen Komponierte einer Musikerpersönlichkeit von höchstem Rang zu zeigen: Robert Schumann. Der Musikdirektor aus Düsseldorf hält sich in Hamburg auf und beabsichtigt, Konzerte zu geben. Brahms, der voller Erwartung ist, bringt die Kompositionen in das Hotel, doch umsonst: Der Meister schickt das Paket zurück, da er zu sehr beschäftigt ist. Brahms ist tief verletzt und will daraufhin von dem Musikgewaltigen nichts mehr wissen.

Zu Brahms’ ersten Kompositionen gehören Klavierwerke, Lieder und Chöre, von denen er jedoch vieles wieder vernichtet. Die ersten Werke, von denen er etwas hält, sind das Scherzo für Klavier es-Moll op. 4 und die drei Klaviersonaten C-Dur op. 1, fis-Moll op. 2 und f-Moll op. 5, die 1852 / 53 entstehen. Die Sonaten sind schon ganze Meisterwerke. Bereits in der Sonate fis-Moll, einem kraftvollen, klanglich herben Werk, das durch rhythmische Brisanz beeindruckt, steht der junge Komponist auf der Höhe der Zeit. Der erste Satz ist durch jugendlichen Überschwang, Leidenschaft und Trotz gekennzeichnet, doch im Gegensatz dazu stehen der innige Volksliedton und die empfindsamen Stimmungsbilder. Hier tobt der Kampf zwischen rigoroser musikalischer Folgerichtigkeit, die sich in klassischer Formenstrenge äußert, sowie einem romantisch-drängenden Gefühl, dazu großzügiger, geradezu üppiger Fantastik. Klassisch im Sinne Beethovens ist z. B. die motivisch-thematische Arbeit, d. h. die konsequente Fortentwicklung der Themen, doch auch schon die Substanzgemeinschaft zwischen den Sätzen. Dem langsamen poetischen zweiten Satz liegt in dreimaliger Abwandlung das schlichte, elegische »Winterlied« des Minnesängers von Toggenburg zugrunde:

Mir ist leide

Daß der Winter beide

Wald und auch die Heide

Hat gemachet kahl.

Die fis-Moll-Sonate zeigt auch schon die Beherrschung der Variationskunst – eine Technik, die der Komponist bis ins Alter einsetzen und immer mehr perfektionieren wird.

Neben den Klaviersonaten, die schon von größter Bedeutung sind, entstehen nun auch die ersten Lieder, die später in den 18 Gesängen für eine Singstimme und Klavier op. 3, 6 und 7 publiziert werden. Bereits das erste Lied aus op. 3, ›Liebestreu‹, gehört mit seiner volksliedhaft-einfachen und doch tief empfundenen Melodie zu den berühmten. Mit dem Text, der auf ein Gedicht des Spätromantikers Robert Reinick zurückgeht, greift der 20-Jährige nun schon ein Thema auf, das er später immer wieder nutzt: das Liebesleid eines Menschen, der die erloschene Leidenschaft des Anderen wachzuhalten versucht. Dabei geht es um eine Mutter, die ihre Tochter darum bittet, unglücklicher Liebe zu entsagen. Die Stimmung wird in der dunklen Tonart es-Moll gezeichnet, dazu mit gedämpfter Triolenbewegung und ruhelos bohrender Bassstimme. Im Kontrast antwortet die Tochter leise, gedankenverloren in lichten, nach Ces-Dur führenden Harmonien, bis sie zum Schluss die Melodie der Mutter aufnimmt und diese ins heroische Es-Dur versetzt: »O Mutter, und splittert der Fels auch im Wind, meine Treue, die hält ihn aus.« Das Lied ist ein Beispiel dafür, wie es dem jungen Komponisten gelingt, die Dichterworte dramatisch, expressiv umzusetzen. Darüber hinaus zeigt es, wie meisterhaft er schon versteht, die inneren Seelenregungen nachzugestalten: Das Mädchen erwidert die Warnung der Mutter nicht mit einer neuen eigenen, sondern mit deren Melodie, so, als wolle sie die Ältere ihrer Argumente berauben. In der Zeit, als die ›Liebestreu‹ entsteht, hat Brahms schon eine ganze Anzahl von Liedern komponiert, die auch verdeutlichen, wie er bereits mit der romantischen und zeitgenössischen Literatur vertraut ist. Zu den frühen Liedschöpfungen gehören die beiden Lieder ›Liebe und Frühling‹ I und II nach Gedichten von Heinrich Hoffmann von Fallersleben. Das erste, das lyrisch, sanft-versponnen ist, weckt frühlingsselige Gedanken, während das zweite ›Ich muß hinaus, ich muß zu dir‹ schon manche erotische Schwärmereien evoziert. Hier singt und jubiliert es, und die Melodien sind in einen reichen harmonischen Satz eingebettet. Dagegen dominiert in Opus 6, mit Liedern nach Paul Heyse, Jean-Baptiste Rousseau und Alfred von Meißner, das ›Spanische Lied‹ Nr. 1 mit punktiertem Bolero-Rhythmus, der den spielerischen, tänzerischen Charakter vorgibt. Doch schon in den sechs Liedern des Opus 7 überwiegt wieder das Schmerzliche: In der epischen, balladenhaften ›Treuen Liebe‹ (Eduard Ferrand) trauert ein Mädchen am Meeresstrand um den ertrunkenen Liebsten, dem sie erst dann wiederbegegnet, als sie selbst den Tod in den Fluten sucht. Die Klavierbegleitung malt die Wellenbewegung des Meeres nach, besonders wenn dies aufschwillt und so verdeutlicht, dass die Trauernde nun in den Tiefen versinkt. Schmerzliche Stimmung begegnet ebenfalls in dem Lied ›Anklänge‹ (Joseph von Eichendorff), in dem eine Braut, die einsam im Walde wohnt, ihr Hochzeitskleid näht, doch der Zukunft seltsam beklommen entgegensieht. Brahms nutzt hier die tiefen Lagen, dazu schwebende, synkopisch nachschlagende Moll-Harmonien und sogar die fremd klingende äolische Kirchentonart, die die bangen Empfindungen noch untermalt. Zu den ergreifendsten Liedern gehört schließlich die ›Heimkehr‹ (Ludwig Uhland), die in einem fast explosiven, nur aus 21 Takten bestehenden Gefühlsausbruch in hell aufflammendem H-Dur kulminiert: »Welt, geh nicht unter, Himmel, fall nicht ein, bis ich mag bei der Liebsten sein!« – ein Allegro agitato, das mit seinen klopfenden Triolen, leidenschaftlich dahinstürmenden Bässen und heftigen Fortissimo-»Aufschreien« geradezu an eine Opernszene erinnert.

In den Jahren 1852 / 53 kommt es zwischen Brahms, der noch immer bei den Eltern wohnt, und dem Vater immer wieder zu Spannungen. Der Sohn soll in die Welt hinaus ziehen, wie das die Handwerkstraditionen fordern, und sich um eine Anstellung kümmern. Seine Beweggründe sind nicht ganz uneigennütziger Natur, denn Johann Jakob ist der Ansicht, der Sohn solle nun für sich selber sorgen. Die Entschlossenheit, ihn hinauszudrängen, muss die Familie stark erschüttert haben, denn im letzten Brief der Mutter (1865) heißt es: »… und, da must ich es dir sagen Vater wolte du solltest machen das du in die Welt kamst er wollte Dich nicht länger ernähren, Du wurdest so aufgeregt, und wir weinten beide, und legten uns spät zu Bette und Elise lag im Bett und konnte keine Luft kriegen, da holtest Du noch den Doctor …« Doch der 19-Jährige denkt über seine Zukunft nach, und dann fasst er den Plan, die Heimat zu verlassen. Bereits 1849 hatte er in einem Konzert den ungarischen Geiger Eduard Hoffmann, der sich Reményi nannte, kennengelernt. Der junge, selbstbewusste Virtuose, der sich nach der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands 1849 in Hamburg aufhielt, spielte damals u. a. ›Ungarische Nationalmelodien‹, die Brahms faszinierten, und die ihn später zur Komposition der ›Ungarischen Tänze‹ anregen. Dann – im Dezember 1852 – trifft er den Ungarn, der von Paris nach Hamburg zurückgekommen war, wieder. Die beiden sprechen miteinander, schmieden Pläne und erarbeiten sich ein Tournee-Programm, bei dem Brahms als Klavierbegleiter mitwirken soll.

Brahms ahnt, dass er nun die Heimat für längere Zeit verlassen muss. Und so gehören nicht nur Noten ins Reisegepäck, sondern auch seine Lieblingsbücher, meist antiquarisch Erworbenes, das er sich mühsam vom Verdienst abgespart hatte. Hierzu zählen Jean Paul und die Romantiker E. T. A. Hoffmann, Novalis und Eichendorff, Dichter, in die er sich inbrünstig versenkt, und die nicht nur die Grundlage für sein literarisches Interesse bilden, sondern auch die Inspirationsquelle für sein späteres Schaffen. Ins Gepäck gelangt zudem ein Heft mit Aussprüchen von Dichtern, Philosophen und Künstlern, die er in seinem »Schatzkästlein des jungen Kreisler« sammelt, und die einen tiefen Einblick in seine Geistesart vermitteln. Der Titel ist charakteristisch für Brahms’ höhere fantastische Welt und nimmt Bezug auf den exzentrischen, in sich widersprüchlichen Kapellmeister Kreisler, der in Hoffmanns ›Kater Murr‹ auftaucht und mit dessen Lebenshaltung sich der 19-Jährige mit Vorliebe identifiziert. Auch Brahms hält sich für gegensätzlich und spricht von zwei Seiten in seinem Wesen: »Brahms« und »Kreisler«. Beide stellen extrem entgegengesetzte Charaktere dar: »Brahms« ist still, scheu, diszipliniert, »Kreisler« – der andere Brahms – dagegen leidenschaftlich, ungezügelt, unkalkulierbar. Sogar die Kompositionen, die aus dieser frühen Zeit stammen, tragen das »Pseudonym« »Johannes Kreisler der Jüngere« – Zeichen der inneren Verbundenheit.