Anne Brontë

Agnes Grey

Roman

Neu übersetzt und mit einem Nachwort von Michaela Meßner

 

Deutscher Taschenbuch Verlag

Titel der Originalausgabe:

›Agnes Grey‹

London 1847

Neuübersetzung 2012

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

© für die deutschsprachige Ausgabe:

2012 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen

Umschlagbild: ›Étude: tête de jeune fille‹ (1898) von William Adolphe Bouguereau

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Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,
KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

eBook ISBN 978-3-423-41320-6 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-14101-7

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Kapitel 1

Das Pfarrhaus

In allen wahren Geschichten steckt eine Lehre; in einigen mag der Schatz allerdings schwer zu finden sein, und hat man ihn denn gefunden, ist er mitunter so erbärmlich klein, dass der dürre, verhutzelte Kern die Mühe des Nussknackens kaum lohnt. Ob dies auch auf meine Geschichte zutrifft, vermag ich nur schwer zu beurteilen. Bisweilen denke ich, sie könnte für den einen nützlich, und für wieder andere unterhaltsam sein, doch das mögen die Leser selbst beurteilen. Dank des schützenden Umstandes, dass niemand mich kennt, etliche Jahre vergangen sind und ich ein paar Namen erfunden habe, scheue ich nicht das Wagnis, der Öffentlichkeit freimütig zu unterbreiten, was ich meinem engsten Freund nicht verraten würde1.

Mein Vater war Geistlicher in Nordengland, genoss die verdiente Achtung aller, die ihn kannten, und hatte in jüngeren Jahren durch die doppelten Einkünfte aus einer mageren Pfarrpfründe2 und einem eigenen hübschen kleinen Anwesen ein recht angenehmes Auskommen. Meine Mutter, die ihn gegen den Willen ihrer Familie heiratete, war die Tochter eines Gutsherrn und eine charakterstarke Frau. Vergeblich führte man ihr vor Augen, als arme Pfarrersfrau müsse sie auf Kutschwagen und Zofe verzichten und auf all den Luxus und die Eleganz der Wohlhabenden, die sie geradezu für lebensnotwendig hielt. Eine Kutsche und eine Zofe seien große Annehmlichkeiten, aber, dem Himmel sei Dank, habe sie Füße, die sie trügen, und Hände, mit denen sie für ihre eigenen Bedürfnisse sorgen könne. Ein vornehmes Haus und weitläufige Außenanlagen seien gewiss nicht zu verachten, dennoch wolle sie lieber mit Richard Grey in einer Hütte leben, als mit irgendeinem anderen Mann auf der Welt in einem Palast.

Als er sah, dass keines seiner Argumente sie überzeugen konnte, sagte ihr Vater den Liebenden schließlich, sie könnten schon heiraten, falls sie das wünschten, aber seine Tochter werde damit ihr gesamtes Vermögen in all seinen Teilen einbüßen. Er dachte, dies werde ihr Verlangen abkühlen, doch da irrte er. Mein Vater kannte die überragenden Vorzüge meiner Mutter sehr wohl, und wusste genau, dass sie selbst ein kostbarer Besitz war, und wäre sie bereit, sein schlichtes Heim zu verschönern, dann würde er sie um jeden Preis heiraten, sie dagegen wollte lieber von der eigenen Hände Arbeit leben, als von dem Mann getrennt zu sein, den sie liebte, den sie so gern glücklich machen wollte, und mit dem sie bereits ein Herz und eine Seele war. So sollte ihr Reichtum denn den Beutel einer klügeren Schwester schwellen lassen, die einen reichen Nabob3 geehelicht hatte, und sie vergrub sich zum Erstaunen und tiefen Bedauern all derer, die sie kannten, in der bescheidenen Dorfpfarrei in den Hügeln von … Und doch bin ich mir sicher, dass sich, trotz des Übermuts meiner Mutter und der Marotten meines Vaters, in ganz England kein glücklicheres Paar hätte finden lassen.

Von sechs Kindern4 waren meine Schwester Mary und ich die einzigen beiden, die die Gefahren des Säuglingsalters und der frühen Kindheit überlebten. Da ich fünf oder sechs Jahre jünger war als sie, wurde ich immer als das Kind angesehen und war der Liebling der ganzen Familie. Vater, Mutter und Schwester verhätschelten mich allesamt – nicht etwa durch dumme Nachsicht, die mich aufsässig und unbezähmbar gemacht hätte, sondern durch fortwährende Freundlichkeit, die mich hilflos und abhängig machte, ganz und gar unfähig, den Sorgen und Wirren des Lebens zu trotzen.

Mary und ich wuchsen in vollkommener Isolation auf. Meine Mutter, die zugleich viele Talente und eine hervorragende Ausbildung hatte und sich gerne beschäftigte, nahm unsere Erziehung vollkommen selbst in die Hand, nur den Lateinunterricht nicht – den erteilte mein Vater –, sodass wir nie zur Schule gingen5. Und da wir keinen Umgang mit der Nachbarschaft hatten, fand unsere einzige Berührung mit der Welt beim Besuch einer gelegentlich stattfindenden vornehmen Teegesellschaft mit den wichtigsten Gutsherren und Kaufleuten statt, zu der wir nur erschienen, damit man uns nicht des Hochmuts bezichtigte, wir würden unsere Nachbarn schmähen, sowie einem jährlichen Besuch im Hause unseres Großvaters väterlicherseits, wo er selbst, unsere liebe Großmutter, eine unverheiratete Tante und zwei oder drei ältliche Damen und Herren die einzigen Menschen waren, die wir je zu Gesicht bekamen. Manchmal heiterte unsere Mutter uns mit Geschichten und Anekdoten aus ihrer Jugend auf, die uns nicht nur vortrefflich unterhielten, sondern auch – zumindest in mir – den unbestimmten und geheimen Wunsch weckten, etwas mehr von der Welt zu sehen.

Ich glaube, sie ist sehr glücklich gewesen, aber der Vergangenheit schien sie nie nachzutrauern. Mein Vater dagegen, der weder ein ausgeglichenes noch heiteres Gemüt hatte, war oftmals zutiefst betrübt über die Opfer, die seine liebe Frau für ihn gebracht hatte, und wälzte in seinem Kopf endlose Pläne, wie er, zu ihrem und unserem Nutz und Frommen, sein kleines Vermögen mehren könnte. Vergebens versicherte ihm meine Mutter, sie sei vollauf zufrieden, und wenn er nur ein wenig für die Kinder auf die hohe Kante legen würde, hätten sie doch alle genug, jetzt und in kommenden Tagen – aber Sparen war nicht die starke Seite meines Vaters. Er machte keine Schulden (zumindest hatte meine Mutter ein Auge darauf, dass er das nicht tat), aber hatte er Geld, so gab er es auch aus. Er hatte es im Hause gerne gemütlich und wollte seine Frau und seine Töchter gut gekleidet und betreut sehen; außerdem war er ein freigebiger Mensch und half gerne den Armen, je nach seinen Mitteln oder, wie manche urteilten, auch darüber hinaus.

Doch schließlich machte ihm ein guter Freund einen Vorschlag, wie er sein Privatvermögen auf einen Schlag verdoppeln und anschließend bis zu einem nicht genannten Betrag vermehren könnte. Dieser Freund war Kaufmann, ein Mann mit Unternehmergeist und von unbestrittenem Talent, dessen kaufmännischer Ehrgeiz vom Kapitalmangel ein wenig gezügelt wurde, der jedoch meinem Vater großzügig einen fairen Gewinnanteil anbot, falls dieser ihm so viel gab, wie er entbehren konnte; er glaubte ihm sicher versprechen zu können, es werde ihm, ganz gleich, welche Summe mein Vater ihm anvertrauen wollte, hundert Prozent Gewinn einbringen. Das kleine Erbteil wurde flugs verkauft und der gesamte Erlös in die Hände dieses freundlichen Kaufmanns gelegt, der ebenso geschwind seine Ware verschiffte und Reisevorbereitungen traf.

Mein Vater war, wie wir alle, entzückt über diese glänzenden Aussichten. Zwar waren wir fürs Erste auf die spärlichen Einkünfte aus der Pfarrei angewiesen, aber mein Vater dachte offenbar, es bestünde keine Notwendigkeit, unsere Ausgaben an diese anzupassen, sodass wir mit einer laufenden Rechnung bei Mr. Jackson, einer weiteren bei Smith und einer dritten bei Hobson sogar ein angenehmeres Auskommen hatten als zuvor, obwohl meine Mutter meinte, wir sollten uns besser einschränken, schließlich seien unsere Aussichten auf Reichtum noch ungewiss, und wenn mein Vater nur alles in ihre Hände legen würde, werde er auch nicht den Eindruck bekommen, wir müssten knausern, aber in diesem Punkt war nicht mit ihm zu reden.

Wie viele glückliche Stunden saßen Mary und ich mit unserer Handarbeit am Feuer oder wanderten über die heidebewachsenen Hügel oder lagen müßig unter der Trauerbirke (dem einzigen größeren Baum in unserem Garten), sprachen über das Glück, das uns und unsere Eltern erwartete, darüber, was wir tun und sehen und besitzen wollten; und dabei stand unsere prächtige Konstruktion auf keinen solideren Fundamenten als den Reichtümern, die uns, so erwarteten wir es, aus den erfolgreichen Spekulationen des biederen Kaufmanns zufließen sollten. Unser Vater war fast genauso unvernünftig wie wir, nur tat er so, als sei es ihm nicht recht ernst damit, indem er seine strahlenden Hoffnungen und zuversichtlichen Erwartungen in Späße und Scherze verpackte, die mir immer überaus witzig und erheiternd vorkamen. Unsere Mutter lachte vor Freude, ihn so zuversichtlich und glücklich zu sehen; und doch fürchtete sie, er nehme die Sache ein wenig zu ernst, und eines Tages hörte ich, wie sie aus dem Zimmer ging und dabei flüsterte:

»Gebe Gott, dass er nicht enttäuscht wird! Ich weiß nicht, wie er das überstehen würde.«

Enttäuscht wurde er, und zwar bitterlich. Wir waren alle wie vom Donner gerührt: Das Schiff, das unser Vermögen mit sich führte, erlitt Schiffbruch, sank mit der ganzen Ladung auf den Grund, zusammen mit einem Teil der Mannschaft und dem glücklosen Kaufmann selbst. Ich grämte mich seinetwegen; ich grämte mich, weil all unsere Luftschlösser eingestürzt waren. Aber mit der Spannkraft der Jugend erholte ich mich bald von dieser Erschütterung.

Reichtum war zwar anziehend, aber Armut barg keinen Schrecken für ein so unerfahrenes Mädchen wie mich. Um die Wahrheit zu sagen, die Vorstellung, in die Enge getrieben zu sein und selbst einen Ausweg finden zu müssen, hatte sogar etwas Beschwingendes für mich. Ich wünschte nur, Papa, Mama und Mary würden das genauso sehen wie ich; dann könnten wir, statt über vergangenes Unheil zu klagen, uns fröhlich ans Werk machen und Abhilfe schaffen. Je größer die Schwierigkeiten, je härter unsere Entbehrungen, desto größer sollte unsere Freude sein, Letztere zu ertragen, und unsere Kraft, gegen Erstere anzukämpfen.

Mary jammerte nicht, aber sie brütete beständig über dieses Unglück und versank in solcher Niedergeschlagenheit, dass keine meiner Bemühungen sie aufrichten konnte. Ich konnte sie unmöglich dazu bringen, zu erkennen, dass das Ganze auch sein Gutes hatte, wie ich es tat; außerdem hatte ich solche Angst, man möge mir kindliche Leichtfertigkeit oder dumme Gefühllosigkeit vorwerfen, dass ich die meisten meiner brillanten Ideen und lustigen Einfälle für mich behielt, wohl wissend, dass keiner sie zu würdigen verstand.

Meine Mutter dachte nur daran, meinen Vater zu trösten, unsere Schulden zu begleichen und unsere Ausgaben auf jede erdenkliche Art zu beschränken, mein Vater dagegen war von diesem Unglück völlig überwältigt. Seine Gesundheit, seine Kräfte und seine Lebensgeister litten sehr unter dem Schlag, und er erholte sich nie mehr ganz davon. Vergeblich versuchte meine Mutter, ihn aufzuheitern, indem sie an seine Frömmigkeit, seine Tapferkeit, seine Liebe zu ihr und zu uns appellierte. Gerade diese Liebe war ja der Grund für seine Qual: Um unseretwillen hatte er so glühend gehofft, sein Vermögen zu mehren – der Gedanke an unseren Vorteil hatte seine Hoffnungen so strahlend gemacht und seinen gegenwärtigen Kummer so bitter. Jetzt quälte er sich mit Schuldgefühlen, dass er nicht auf den Rat meiner Mutter gehört hatte, der ihm wenigstens erspart hätte, dass ihn jetzt auch noch Schulden drückten; er warf sich unsinnigerweise vor, sie um die Würde, die Annehmlichkeiten und den Luxus ihres früheren Standes gebracht zu haben, um jetzt mit ihm die Sorgen und Plagen der Armut zu erdulden. Es war ein bitterer Wermutstropfen für seine Seele, diese herrliche, hochgebildete, einst so umworbene und bewunderte Frau in eine emsige, geschäftige Hausfrau verwandelt zu sehen, deren Hände und Gedanken ständig mit Hausarbeit und Haushalten beschäftigt waren. Gerade die Bereitwilligkeit, mit der sie diesen Pflichten nachkam, die Heiterkeit, mit der sie die Rückschläge ertrug, und die Güte, die sie davon abhielt, ihm auch nur die geringste Schuld zu geben, wurden allesamt von diesem erfindungsreichen Selbstquäler in etwas gewendet, das sein Leiden noch vergrößerte. Und so setzte der Geist dem Körper zu und griff das Nervensystem an, die Nerven wiederum verschlimmerten die Geistesqualen, bis seine Gesundheit nach dem Prinzip der Wechselwirkung ernsthaften Schaden nahm; und keine von uns konnte ihn überzeugen, dass es um unsere Geschäfte nicht halb so düster und nicht gar so hoffnungslos stand, wie seine kranke Phantasie es ihm vorgaukelte.

Der nützliche Ponywagen wurden verkauft, zusammen mit dem stämmigen, wohlgenährten Pony, diesem alten Freund, der – wie es einst unser fester Entschluss gewesen war – seine Tage in Frieden beschließen und nie in fremde Hände gelangen sollte. Die kleine Wagenremise und der Stall wurden vermietet, der junge Diener und die tüchtigere (weil teurere) der beiden Dienstmägde entlassen. Unsere Kleider wurden ausgebessert, gewendet und bis an die Grenzen der Schicklichkeit gestopft; unsere Mahlzeiten, die immer reichlich gewesen waren, wurden bis zu einem nie gekannten Maß karg gehalten, außer wenn es das Lieblingsgericht meines Vaters gab. Wir sparten drastisch an Kohle und Kerzen – statt zweier Kerzen gab es nur noch eine, und auch die wurde kaum benutzt; mit der Kohle in dem halb leeren Feuerrost wurde äußerst sparsam umgegangen, besonders, wenn mein Vater außer Hause seinen Gemeindepflichten nachging oder Krankheit ihn ans Bett fesselte – dann saßen wir, die Füße auf dem Kaminrost, kratzten hin und wieder die erlöschende Glut zusammen und streuten gerade so viel an Staub und Kohleresten darüber, dass sie nicht ausging. Was unsere Teppiche betraf, so wurden sie mit der Zeit fadenscheinig und in sogar noch größerem Maße als unsere Garderobe geflickt und gestopft. Um einen Gärtner einzusparen, hielten Mary und ich den Garten selbst in Ordnung, und die ganze Kocherei und Hausarbeit, die von einem einzigen Dienstmädchen nicht hätte bewältigt werden können, erledigten meine Mutter und meine Schwester, wobei ich ihnen gelegentlich ein wenig half, aber nur ein wenig, denn hielt ich mich auch selbst für eine Frau, so war ich doch in ihren Augen noch ein Kind; und meine Mutter war, wie die meisten emsigen Frauen, die alles in der Hand haben, nicht mit allzu emsigen Töchtern gesegnet, und das aus folgendem Grund: Da sie selbst so gescheit und fleißig war, war sie nie versucht, ihre Arbeit an andere abzugeben, sondern ganz im Gegenteil bereit, für andere zu handeln und zu denken, ganz wie für sich selbst. Gleich, um was es ging, sie neigte zu der Ansicht, niemand könne es so gut erledigen wie sie selbst, daher bekam ich, wann immer ich meine Hilfe anbot, etwa Folgendes zur Antwort: »Nein, mein Liebes, das kannst du wirklich nicht … hier gibt es nichts für dich zu tun. Geh und hilf deiner Schwester oder bitte sie, einen Spaziergang mit dir zu machen – sag ihr, sie soll nicht so viel herumsitzen und immerzu in der Stube hocken, wie sie es tut. Kein Wunder, dass sie so dünn und jämmerlich aussieht.«

»Mary, Mama sagt, ich soll dir helfen oder dich dazu bewegen, mit mir spazieren zu gehen. Sie sagt, es sei kein Wunder, dass du so dünn und jämmerlich aussiehst, wenn du immer nur in der Stube hockst.«

»Du kannst mir nicht helfen, Agnes. Und ich kann dich nicht begleiten, ich habe viel zu viel zu tun.«

»Dann lass mich dir helfen.«

»Das kannst du wirklich nicht, mein liebes Kind. Geh und mach deine Musikübungen oder spiel mit dem Kätzchen.«

Es gab immer viel zu nähen, aber man hatte mir noch nicht beigebracht, wie man ein Kleidungsstück zuschneidet, und außer einfachen Nähten und Säumen gab es, selbst auf diesem Gebiet, kaum etwas, das ich beherrschte, denn sie behaupteten beide, es sei viel einfacher, die Arbeit selbst zu tun, als sie für mich vorzubereiten, und außerdem sähen sie es lieber, wenn ich mit dem Lernen vorankäme oder die Zeit mit Spielen zubrächte – es wäre noch früh genug, mich wie eine würdevolle Matrone über meine Handarbeit zu beugen, wenn mein kleines Kätzchen eine behäbige alte Katze geworden wäre. Unter diesen Umständen hatte ich für meine Untätigkeit doch so manche Entschuldigung, wenngleich ich nicht viel nützlicher war als das Kätzchen.

In der ganzen sorgenvollen Zeit beklagte meine Mutter nur ein Mal unseren Geldmangel. Als es wieder Sommer wurde, bemerkte sie zu Mary und mir:

»Was wäre das doch schön, wenn Papa ein paar Wochen an einem Badeort verbringen könnte. Ich bin überzeugt, die Seeluft und der Ortswechsel wären für ihn von unschätzbarem Wert. Aber es ist ja nun mal kein Geld da«, setzte sie mit einem Seufzer hinzu.

Wir wünschten beide inständig, der Plan möge in die Tat umgesetzt werden, und bedauerten sehr, dass es nicht möglich war.

»Nun denn«, sagte sie, »Klagen ist sinnlos. Es muss sich doch irgendwie bewerkstelligen lassen, unser Vorhaben zu verwirklichen. Mary, du kannst doch so wundervoll zeichnen. Was hieltest du davon, wenn du noch ein paar Zeichnungen anfertigen würdest, in deiner besten Manier, und sie rahmen lässt, zusammen mit den Aquarellen, die du schon gemacht hast, dann kannst du versuchen, sie einem aufgeschlossenen Händler zu verkaufen, der ihren Wert zu schätzen weiß?«

»Mama, wie schön, dass du glaubst, man könnte sie wirklich verkaufen; noch dazu zu einem Preis, für den es sich lohnt.«

»Ein Versuch lohnt sich in jedem Fall, mein Schatz: Du lieferst uns die Zeichnungen, und ich bemühe mich, einen Käufer zu finden.«

»Ich wünschte, ich könnte auch etwas tun«, sagte ich.

»Du, Agnes! Na ja, wer weiß? Du zeichnest auch ganz hübsch. Wenn du ein einfaches Motiv wählst, kannst du durchaus etwas schaffen, das wir alle voller Stolz vorzeigen können.«

»Aber ich habe da einen anderen Plan im Kopf, Mama, und zwar schon lange … ich wollte euch nur nichts davon sagen.«

»Ist das denn die Möglichkeit! Dann sag uns schnell, worum es geht.«

»Ich möcht so gern Gouvernante werden.«

Meine Mutter stieß einen überraschten Schrei aus und lachte. Meine Schwester ließ vor Erstaunen ihre Handarbeit fallen und rief: »Du und Gouvernante, Agnes! Wie kommst du nur darauf?«

»Na ja, ich finde das gar nicht so außergewöhnlich. Ich behaupte ja gar nicht, dass ich große Mädchen unterrichten könnte; aber den kleinen Kindern hätte ich gewiss etwas beizubringen … und das würde mir solchen Spaß machen! Ich mag Kinder so sehr! Ach bitte, Mama!«

»Aber mein Schatz, du hast doch noch gar nicht gelernt, auf dich selbst aufzupassen, und die Erziehung kleiner Kinder erfordert mehr Urteilsvermögen und Erfahrung als die der größeren.«

»Aber Mama, ich bin schon über achtzehn und kann sehr wohl auf mich selbst aufpassen, und auf andere auch. Du ahnst ja gar nicht, wie klug und vernünftig ich bin, denn ich musste mich noch nie beweisen.«

»Denk doch ein bisschen nach«, sagte Mary, »was würdest du denn in einem Haus voller fremder Menschen anfangen, wenn ich und Mama nicht für dich sprechen und handeln können, du müsstest auf dich selbst und noch auf einen Haufen Kinder aufpassen, das alles ohne einen Menschen, den du um Rat fragen könntest? Du wüsstest ja nicht einmal, was du anziehen sollst.«

»Du denkst wohl, weil ich immer getan habe, was ihr wolltet, hätte ich keine eigene Meinung; ihr könnt mich ja auf die Probe stellen – das ist alles, worum ich euch bitte –, dann werdet ihr schon sehen, wozu ich fähig bin.«

In diesem Augenblick kam mein Vater ins Zimmer, und es wurde ihm erläutert, worüber wir uns stritten.

»Was, meine kleine Agnes eine Gouvernante!«, schrie er auf, und trotz aller Niedergeschlagenheit musste er bei dieser Vorstellung lachen.

»Ja Papa, jetzt sag du nicht auch noch etwas dagegen; es würde mir solchen Spaß machen, und ich bin mir sicher, ich komme ganz wunderbar zurecht.«

»Aber mein Schatz, du würdest uns viel zu sehr fehlen.« Und eine Träne glänzte in seinem Auge, als er hinzufügte: »Nein, nein, mögen wir auch in großer Bedrängnis sein, zu solchen Maßnahmen müssen wir noch nicht greifen!«

»Oh nein«, sagte meine Mutter. »Nichts, aber auch gar nichts zwingt uns zu einem solchen Schritt; es ist nur eine ihrer Launen. Halte bloß deine Zunge im Zaum, du böses Mädchen, denn so gerne du uns auch verlassen würdest, weißt du doch genau, dass wir uns nicht von dir trennen können.«

Das brachte mich für diesen Tag zum Schweigen, und für viele weitere Tage, aber meinen lieb gewonnenen Plan gab ich nicht völlig auf. Mary holte ihre Zeichensachen und machte sich unermüdlich an die Arbeit. Auch ich holte die meinen; aber während ich zeichnete, dachte ich an anderes.

Wie herrlich musste das sein, als Gouvernante zu arbeiten. In die Welt hinauszugehen, ein neues Leben anzufangen, selbstständig zu handeln, meine ungenutzten Fähigkeiten zum Einsatz zu bringen, ungeahnte Kräfte zu erproben, meinen eigenen Lebensunterhalt zu verdienen, und darüber hinaus meinem Vater, meiner Mutter und meiner Schwester ein Trost zu sein und ihnen helfen zu können, zumal ich sie damit von der Bürde befreien könnte, mich zu ernähren und zu kleiden; ich könnte Papa zeigen, was seine kleine Agnes so alles kann, könnte Mama und Mary davon überzeugen, dass ich nicht das hilflose, gedankenlose Geschöpf war, für das sie mich hielten. Und außerdem, wie herrlich wäre es, mit der Erziehung von Kindern betraut zu sein! Mochten die anderen sagen, was sie wollten – ich fühlte mich der Aufgabe ganz und gar gewachsen, denn die klare Erinnerung an die Gedanken und Gefühle, die ich selbst als kleines Kind gehabt hatte, würde mich sicherer leiten als alle Lehren der weisesten Person. Ich müsste nur meine kleinen Schüler beobachten und dann überlegen, wie ich selbst in ihrem Alter gewesen bin, und dann wüsste ich sofort, wie ich ihr Vertrauen und ihre Zuneigung gewinnen könnte; wie ich die Reue derer wecken müsste, die gesündigt hatten; wie ich die Schüchternen ermutigen und die Betrübten trösten könnte; wie ich ihnen die Tugend nahebringen, das Lernen für sie erstrebenswert und die Religion verlockend und verständlich machen könnte.

 

Ein herrlicher Auftrag!

Den jungen Ideen das Sprießen zu lehren!6

 

Die zarten Pflänzchen großzuziehen und dabei zuzusehen, wie ihre Knospen sich Tag um Tag entfalten! All diese Beweggründe bekräftigten meinen Entschluss, weiter an meinem Vorhaben festzuhalten; doch die Befürchtung, meiner Mutter zu missfallen oder meines Vaters Gefühle zu verletzen, hielten mich etliche Tage davon ab, das Thema noch einmal anzusprechen. Schließlich hatte ich doch mit meiner Mutter eine Unterredung unter vier Augen, und auch wenn es nicht ganz leicht war, so rang ich ihr doch das Versprechen ab, mich tatkräftig zu unterstützen. Als Nächstes erhielt ich die zögerliche Einwilligung meines Vaters, und dann, obgleich Mary noch immer in Seufzern ihre Missbilligung kundtat, begann meine liebe, gute Mutter, sich nach einer Stelle für mich umzusehen. Sie schrieb den Verwandten meines Vaters und las die Zeitungsannoncen mit ihrer eigenen Familie pflegte sie schon lange keinen Kontakt mehr –, ein formeller Wechsel gelegentlicher Briefe war seit ihrer Heirat alles gewesen, und sie hätte sich niemals, zu keiner Zeit, in einem solchen Fall an sie gewandt.

Aber meine Eltern hatten sich schon so lange und so gründlich von der Welt zurückgezogen, dass etliche Wochen vergingen, bis eine geeignete Stelle gefunden war. Schließlich wurde zu meiner großen Freude verfügt, ich solle mich um die Kinder einer gewissen Mrs. Bloomfield kümmern, die meine liebe, wenn auch etwas spröde Tante Grey in ihrer Jugend gekannt hatte und von der sie versicherte, sie sei eine sehr liebenswerte Person. Ihr Mann war ein Kaufmann im Ruhestand, der ein recht ansehnliches Vermögen gemacht hatte, aber nicht dazu bewegt werden konnte, der Erzieherin seiner Kinder ein höheres Gehalt als fünfundzwanzig Pfund zu zahlen. Ich schlug jedoch mit Freuden ein, statt diese Stellung auszuschlagen – was meine Eltern im Grunde für die bessere Lösung hielten.

Aber dann gingen noch ein paar Wochen für die Vorbereitungen ins Land. Was kamen diese Wochen mir lang und eintönig vor! Und doch waren es alles in allem glückliche Wochen – voll strahlender Hoffnung und glühender Erwartung. Welch unvergleichliches Vergnügen war es mir doch, bei der Herstellung meiner neuen Kleider zu helfen, und anschließend beim Packen meiner Koffer! Letzterem war allerdings auch ein wenig Wehmut beigemischt, und als alles getan war, als alles für meine Abreise am folgenden Tag bereitstand und die letzte Nacht zu Hause näher rückte, schien mein Herz plötzlich voller Furcht zu sein. Meine Eltern und meine Schwester sahen so traurig aus und waren so freundlich zu mir, dass ich Mühe hatte, meine Tränen zurückzuhalten; aber ich tat, als sei ich froh. Ich war ein letztes Mal mit Mary über die Heide gewandert, war ein letztes Mal in den Garten und ums Haus gegangen, hatte mit ihr zusammen zum letzten Mal unsere Lieblingstauben gefüttert – diese hübschen Geschöpfe, denen wir beigebracht hatten, uns aus der Hand zu fressen. Ich streichelte allen ein letztes Mal über den seidigen Rücken, als sie sich in meinem Schoß drängten. Zärtlich hatte ich meine Lieblinge geküsst, das Paar schneeweißer Pfautauben; ich hatte mein letztes Stück auf dem lieben alten Klavier gespielt und Papa mein letztes Lied gesungen; nicht das letzte, hoffte ich, aber das letzte für eine, wie mir schien, sehr lange Zeit. Und vielleicht würde ich all das, wenn ich es einst wieder tun würde, mit ganz anderen Gefühlen tun; die Umstände könnten sich geändert haben, und vielleicht würde ich in diesem Haus nie wieder mein festes Zuhause haben.

Meine liebe, kleine Freundin, das Kätzchen, würde dann gewiss eine andere sein; sie wäre bereits zu einer prächtigen Katze herangewachsen, und wenn ich dann wiederkäme, und sei es nur für einen kurzen Besuch zu Weihnachten, würde sie wahrscheinlich ihre Spielgefährtin ebenso vergessen haben wie ihre lustigen Tollereien. Ich war ein letztes Mal mit ihr herumgetollt; und als ich ihr weiches, glänzendes Fell streichelte, während sie sich auf meinem Schoß in den Schlaf schnurrte, wurde ich mit einem Mal so traurig, dass ich es nur schwer verbergen konnte. Als es dann Schlafenszeit war und ich mich mit Mary in unser stilles kleines Zimmer zurückzog – in dem meine Schubladen bereits ausgeräumt waren und meine Hälfte des Bücherregals frei war, und wo sie künftig allein würde schlafen müssen, in trostloser Einsamkeit, wie sie es nannte, da wurde mir das Herz so schwer wie nie: Ich hatte das Gefühl, es sei eigennützig und unrecht von mir gewesen, als ich darauf bestanden hatte, sie zu verlassen; und als ich noch einmal neben unserem kleinen Bett niederkniete, betete ich mit größerer Inbrunst denn je zu Gott, er möge ihr und meinen Eltern seinen Segen geben. Um meine Gefühle zu verbergen, vergrub ich das Gesicht in den Händen, die sogleich in Tränen gebadet waren. Als ich mich wieder erhob, sah ich, dass auch sie geweint hatte, aber keine von uns sprach ein Wort, und schweigend begaben wir uns zur Ruhe und rückten eng aneinander, denn uns war bewusst, dass wir uns sehr bald trennen mussten.

Doch der Morgen brachte neue Hoffnung und neuen Mut. Ich musste früh losfahren, damit das Gefährt, das mich mitnahm (ein zweirädriger Einspänner, den wir uns von Mr. Smith, dem Tuch-, Gemüse- und Teehändler des Dorfes, ausgeliehen hatten) noch am gleichen Tag wieder zurückfahren konnte. Ich stand auf, wusch mich, kleidete mich an, schlang hastig ein Frühstück herunter, ließ mich von meinem Vater, meiner Mutter und meiner Schwester herzlich drücken, gab zum großen Entsetzen von Sally, unserem Dienstmädchen, der Katze einen Kuss, schüttelte Sally die Hand, stieg in den Wagen, schlug den Schleier übers Gesicht und dann, aber erst dann, brach ich in Tränen aus.

Der einachsige Kutschwagen fuhr los, ich blickte zurück – meine liebe Mutter und meine Schwester standen noch immer an der Tür, sahen mir nach und winkten zum Abschied. Ich erwiderte ihren Gruß und betete aus ganzem Herzen zu Gott, er möge sie segnen. Dann fuhren wir den Hügel hinunter, und ich konnte sie nicht mehr sehen.

»Da hamse aber 'n ganz kalten Morgen erwischt, Miss Agnes«, bemerkte Smith, »und 'n düstern noch dazu; aber vielleicht komm wir ja hin, wo Sie hinwollen, bevor's so richtig schüttet.«

»Das hoffe ich auch«, antwortete ich so ruhig ich konnte.

»Gestern Abend hat's ja nun auch ganz schön was gegeben.«

»Ja.«

»Aber wo der Wind so kalt weht, vielleicht treibt's da ja den Regen weg.«

»Ja, vielleicht.«

Hier endete unser Gespräch. Wir fuhren durchs Tal und dann auf der anderen Seite wieder auf den Hügel. Während wir uns mühevoll hinaufquälten, drehte ich mich noch einmal um: Man sah die Turmspitze der Dorfkirche und dahinter das alte graue Pfarrhaus, von einem schrägen Sonnenstrahl beschienen – der Strahl war nur kümmerlich, doch das Dorf und die umliegenden Hügel lagen alle in tiefem Schatten, und ich begrüßte diesen wandernden Strahl als glückliches Omen für mein Zuhause. Ich faltete die Hände und bat mit Inbrunst um den Segen für seine Bewohner – dann wandte ich mich schnell ab, denn ich sah die Sonne verschwinden und hütete mich sehr, noch einmal einen Blick zu werfen, aus Angst, ich könnte es in düsterem Schatten liegen sehen, ganz wie die übrige Landschaft.

Kapitel 2

Erste Lektionen in der Kunst des Unterrichtens

Wie wir so dahinfuhren, fasste ich frischen Mut und malte mir voller Freude das neue Leben aus, das ich nun beginnen würde. Doch obwohl es nicht lange nach Mitte September war, sorgten die schweren Wolken und der starke Nordostwind dafür, dass der Tag überaus kalt und düster war; die Reise kam mir sehr lang vor, denn die schlammigen Straßen waren, wie Smith bemerkte, »sehr zäh« – und sein Pferd lief gewiss auch sehr zäh; es quälte sich die Hügel hinauf, kroch sie anschließend wieder hinunter und bequemte sich nur dann zu einem die Flanken schaukelnden Trab, wenn die Straße topfeben war oder nur sanft anstieg, was in diesen bergigen Gegenden selten der Fall war – und so war es fast ein Uhr, als wir unseren Zielort erreichten. Doch als wir durch das hohe Eisentor fuhren, als wir gemächlich den glatten, gut gewalzten Fahrweg entlangrollten, mit dem grünen, von jungen Bäumen bestandenen Rasen zu beiden Seiten, und zu dem neuen, aber stattlichen Herrenhaus Wellwood gelangten, das sich vor pilzartig aufsprießenden Pappelwäldchen7 erhob, blieb mir schier das Herz stehen, und ich wünschte mir, dass wir noch ein oder zwei Meilen weiter entfernt wären. Zum ersten Mal in meinem Leben musste ich allein zurechtkommen – es gab keinen Weg zurück. Ich musste dieses Haus betreten und mich bei diesen mir fremden Bewohnern vorstellen, aber wie sollte ich das anstellen? Sicher, ich war fast neunzehn, aber ich wusste genau, ich hatte ein so zurückgezogenes, von Mutter und Schwester behütetes Leben geführt, dass so manches fünfzehnjährige oder noch jüngere Mädchen besser dazu in der Lage war, sich wie eine Dame zu geben, und mehr Leichtigkeit und Selbstbeherrschung besaß als ich. Sollte Mrs. Bloomfield jedoch eine freundliche, mütterliche Person sein, würde ich meine Sache vielleicht ganz gut meistern; mit den Kindern würde ich mich sicher sehr bald wohlfühlen, und mit Mr. Bloomfield hoffte ich möglichst wenig Umgang zu haben.

›Bleib ruhig, ganz ruhig, was auch immer geschehen mag‹, sagte ich im Stillen zu mir; und ich befolgte diesen Vorsatz auch wirklich so gewissenhaft und war so ganz und gar damit beschäftigt, die Nerven zu bewahren und das rebellische Flattern meines Herzens zu besänftigen, dass ich, als ich in die Eingangshalle gebeten wurde und plötzlich Mrs. Bloomfield gegenüberstand, beinahe vergaß, ihre höfliche Begrüßung zu erwidern. Im Nachhinein wurde mir bewusst, dass die wenigen Worte, die ich gesprochen hatte, wie die einer Halbtoten oder Halbschlafenden geklungen haben mussten. Außerdem war mir die Dame ein wenig frostig erschienen, wie ich im Nachhinein feststellte, als ich Zeit hatte, darüber nachzudenken. Sie war eine große, hagere, stattliche Frau mit schwarzem Haar, kalten grauen Augen und einem sehr wächsernen Teint.

Indes wies sie mir mit der gebotenen Höflichkeit mein Schlafzimmer und ließ mich dort allein, damit ich meine Reisekleidung ablegen konnte, und bat mich bei der Gelegenheit, gleich im Anschluss zu einer kleinen Stärkung nach unten zu kommen. Ich war nicht wenig entsetzt, als ich in den Spiegel sah: Meine Hände waren vom kalten Wind geschwollen und gerötet, die Lockenpracht dahin, das Haar zerzaust und das Gesicht bläulich angelaufen; zudem war mein Kragen abscheulich zerknittert, mein Kleid mit Dreck bespritzt, die Füße steckten in klobigen neuen Stiefeln, und da niemand die Koffer heraufgebracht hatte, konnte ich auch keine Abhilfe schaffen. Nachdem ich mein Haar, so gut es ging, geglättet und den aufmüpfigen Kragen mehrfach zurechtgezupft hatte, machte ich mich mit philosophischem Gleichmut daran, die beiden Treppen hinunterzustapfen, und fand mit einiger Mühe den Weg dorthin, wo Mrs. Bloomfield mich erwartete.

Sie führte mich in das Speisezimmer, wo der Mittagstisch für die Familie gedeckt war. Ich bekam Rindersteaks und lauwarme Kartoffeln vorgesetzt; und während ich diese verspeiste, saß sie mir gegenüber, beobachtete mich (wie ich dachte) und bemühte sich, so etwas wie ein Gespräch in Gang zu halten – das im Wesentlichen aus einer Reihe banaler, mit kalter Förmlichkeit hervorgebrachter Bemerkungen bestand –, nur war dies vielleicht mehr mein Fehler als der ihre, denn ich konnte unmöglich Konversation treiben. Eigentlich war meine ganze Aufmerksamkeit auf das Abendessen gerichtet; nicht, weil ich einen so unbändigen Appetit gehabt hätte, sondern weil ich mit den zähen Rindersteaks zu kämpfen hatte und meine Hände so taub waren, geradezu gelähmt von den fünf Stunden in dem bitterkalten Wind. Gerne hätte ich die Kartoffeln gegessen und das Fleisch nicht angerührt, aber da ich von Letzterem ein großes Stück auf dem Teller hatte, konnte ich nicht so unhöflich sein, es liegen zu lassen. Nach vielen ungeschickten und erfolglosen Versuchen, es mit dem Messer zu schneiden oder mit der Gabel zu zerpflücken oder mit beiden auseinanderzureißen, immer in dem Bewusstsein, dass die schreckliche Dame mir bei der ganzen Prozedur zusah, packte ich schließlich verzweifelt wie ein zweijähriges Kind Messer und Gabel mit den Fäusten und machte mich mit der wenigen Kraft, die ich besaß, an die Arbeit. Doch das verlangte eine Entschuldigung, und mit dem schwachen Versuch zu lachen sagte ich: »Meine Hände sind so steif von der Kälte, dass ich Messer und Gabel kaum halten kann.«

»Das hab ich mir gedacht, dass sie es kalt finden würden«, erwiderte sie mit kühlem, unerschütterlichem Ernst, der nicht dazu angetan war, mich zu beruhigen.

Als die Zeremonie beendet war, führte sie mich ins Wohnzimmer zurück, klingelte und schickte nach den Kindern.

»Sie werden sehen, in ihren Kenntnissen sind sie noch nicht weit fortgeschritten«, sagte sie, »denn ich hatte nur wenig Zeit, mich persönlich um ihren Unterricht zu kümmern, und bislang hielten wir sie für zu jung für eine Gouvernante; aber ich halte sie für sehr kluge und lernfähige Kinder, vor allem den Jungen. Er ist meiner Ansicht nach die Zierde der kleinen Schar – ein großzügiger, edelmütiger Junge, einer, der Führung braucht, aber nicht gedrängt werden möchte, und das Erstaunliche ist, dass er stets die Wahrheit spricht. Andere zu täuschen ist ihm offenbar ein Graus.« (Das war eine gute Nachricht.) »Auf seine Schwester Mary Ann wird man schon eher ein Auge haben müssen«, fuhr sie fort, »aber im Ganzen ist sie ein sehr gutes Kind; dennoch wäre es mir recht, wenn sie sich so wenig wie möglich im Zimmer ihrer kleinen Geschwister aufhalten würde, denn sie ist jetzt schon fast sechs Jahre alt und könnte sich von den Kindermädchen schlechte Gewohnheiten abschauen. Ich habe ihr Bettchen zu Ihnen ins Zimmer bringen lassen. Wenn Sie so gut sein könnten, sie beim Waschen und Anziehen zu beaufsichtigen und sich um ihre Kleidung zu kümmern, dann müsste sie künftig nichts mehr mit der Kinderfrau zu schaffen haben.«

Ich erwiderte, das wolle ich sehr gern tun, und genau in dem Augenblick traten meine jungen Schüler in Begleitung ihrer beiden kleinen Schwestern ins Zimmer. Master Tom Bloomfield war ein hochgeschossener Siebenjähriger von recht sehnigem Körperbau, flachsblondem Haar, blauen Augen, einer kleinen Himmelfahrtsnase und blassem Teint. Mary Ann war auch groß und wie ihre Mutter recht dunkel, hatte aber ein rundes, volles Gesicht und rosige Wangen. Ihre kleine Schwester Fanny war ein sehr hübsches Mädchen. Mrs. Bloomfield versicherte mir, sie sei ein bemerkenswert sanftes Kind und brauche Ermunterung: Sie habe bisher noch nichts gelernt, werde aber in ein paar Tagen vier Jahre alt, und da sollte sie doch mit dem Abc beginnen und Zugang zum Schulzimmer bekommen. Und dann war da noch Harriet, ein kräftiges, pummeliges, fröhliches und verspieltes Kind von nicht einmal zwei Jahren, das ich reizender fand als alle anderen, mit der ich aber nichts zu tun haben würde.

Ich sprach mit meinen kleinen Schülern, so gut ich konnte, und versuchte ihnen angenehm zu sein; doch nur mit mäßigem Erfolg, wie ich fürchte, denn in Anwesenheit ihrer Mutter fühlte ich mich schrecklich befangen. Die Kinder dagegen waren erstaunlich frei von Schüchternheit. Sie wirkten unerschrocken und lebhaft, und ich hoffte, schon bald Freundschaft mit ihnen zu schließen – vor allem mit dem Jungen, dessen Charakter seine Mama mir so vorteilhaft geschildert hatte. Mary Ann lächelte immer etwas affektiert, und ich musste mit Bedauern feststellen, dass sie einen starken Geltungsdrang hatte. Aber ihr Bruder nahm meine ganze Aufmerksamkeit gefangen: Er pflanzte sich keck zwischen mir und dem Feuer auf, die Hände im Rücken, und schwang sich zum großen Redner auf, wobei er seinen Vortrag ab und an durch eine scharfe Rüge an seine Schwestern unterbrach, wenn sie ihm zu laut wurden.

»Ach Tom, was bist du nur für ein Schatz!«, rief seine Mutter. »Komm und gib der lieben Mama einen Kuss –– und willst du danach Miss Grey nicht euer Schulzimmer und eure schönen neuen Bücher zeigen?«

»Einen Kuss mag ich dir nicht geben, Mutter, aber mein Schulzimmer und meine neuen Bücher möchte ich Miss Grey gerne zeigen.«

»Und mein Schulzimmer und meine neuen Bücher, Tom«, sagte Mary Ann. »Sie gehören mir genauso.«

»Mir gehören sie«, erwiderte er kategorisch. »Kommen Sie, Miss Grey, ich bringe Sie hin.«

Nachdem man mir das Zimmer und die Bücher gezeigt hatte, unter großem Gezänk zwischen Bruder und Schwester, das zu schlichten ich mich nach Kräften mühte, brachte Mary Ann mir ihre Puppe und fing an, wortreich von ihren feinen Kleidern zu plappern, ihrem Bettchen, dem Schubladenschrank und anderem Zubehör; doch Tom sagte ihr, sie solle aufhören mit dem Geplapper, Miss Grey wolle sicher das Schaukelpferd sehen, das er dann voller Eifer aus der Ecke in die Mitte des Zimmers zerrte, während er mich unter großem Geschrei aufforderte, mein Augenmerk darauf zu richten. Dann befahl er seiner Schwester, die Zügel zu halten, setzte sich in den Sattel und ließ mich zehn Minuten lang dastehen und bestaunen, wie männlich er mit Peitsche und Sporen umzugehen wusste. Dazwischen bewunderte ich noch Mary Anns hübsche Puppe und deren Habe; dann sagte ich zu Master Tom, er sei ein trefflicher Reiter, ich hoffe jedoch, er werde beim Reiten auf einem echten Pony von Peitsche und Sporen nicht so ausgiebig Gebrauch machen.

»Und ob ich das werde!«, sagte er und legte sich doppelt ins Zeug. »Ich werde es durchpeitschen wie nichts! Ehrenwort, ich werde es Blut und Wasser schwitzen lassen!«

Mich empörte das, doch hoffte ich, ihn mit der Zeit zur Raison zu bringen.

»Jetzt müssen Sie Ihre Haube aufsetzen und sich einen Schal umlegen«, sagte der kleine Held. »Ich werde Ihnen meinen Garten zeigen.«

»Und meinen«, sagte Mary Ann.

Tom hob die Faust zur Drohgebärde, sie stieß einen lauten, schrillen Schrei aus, brachte sich hinter mir in Sicherheit und schnitt ihm ein Gesicht.

»Du würdest deine Schwester bestimmt nie schlagen, Tom! Ich hoffe doch, das niemals erleben zu müssen.«

»Das werden Sie aber, ich muss das hin und wieder tun, um sie im Zaum zu halten.«

»Aber es ist nicht deine Aufgabe, sie im Zaum zu halten, weißt du – das muss …«

»Jetzt gehen Sie schon und setzen Sie Ihre Haube auf.«

»Ich weiß nicht recht – es ist so kalt und bewölkt, es sieht nach Regen aus –, und du weißt ja, ich habe eine lange Fahrt hinter mir.«

»Das ist egal – Sie müssen kommen; ich will keine Entschuldigungen hören«, erwiderte der wichtigtuerische kleine Herr. Und da es der erste Tag unserer Bekanntschaft war, dachte ich, ich könnte ihm den Gefallen wohl tun. Für Mary Ann war es draußen zu kalt, also blieb sie bei ihrer Mama, zur großen Erleichterung ihres Bruders, dem es gefiel, mich ganz für sich zu haben.

Der Garten war groß und geschmackvoll angelegt; neben ein paar prächtigen Dahlien standen noch andere schöne Blumen in voller Blüte, aber mein Begleiter ließ mir keine Zeit, sie zu betrachten: Ich musste mit ihm über das nasse Gras bis zu einem abgeschiedenen Winkel laufen, wo sich der bedeutendste Teil des Anwesens befand, nämlich sein Garten. Es gab dort zwei runde, mit verschiedenen Gewächsen bepflanzte Beete. In einem stand ein hübscher kleiner Rosenstock. Ich blieb stehen, um seine zauberhaften Blüten zu bewundern.

»Ach, damit brauchen Sie sich nicht abzugeben!«, sagte er verächtlich. »Das ist nur Mary Anns Garten. Aber schauen Sie hier, das ist MEINER!«

Nachdem ich mir jede Blüte angesehen und einen langen Vortrag über jede Pflanze angehört hatte, durfte ich wieder gehen; aber zunächst pflückte er wichtigtuerisch eine Schlüsselblume und überreichte sie mir, als handle es sich um eine außerordentliche Gunst. Ich bemerkte im Gras seines Gartens ein paar Vorrichtungen aus Stöcken und Schnüren und fragte ihn, was das sei.

»Vogelfallen.«

»Warum fängst du sie?«

»Papa sagt, sie richten Schaden an.«

»Und was machst du mit ihnen, wenn du sie gefangen hast?«

»Das kommt drauf an. Manchmal gebe ich sie der Katze; manchmal zerschneide ich sie mit dem Taschenmesser; aber den Nächsten möchte ich bei lebendigem Leib rösten.«

»Und warum möchtest du etwas so Schreckliches tun?«

»Aus zwei Gründen: erstens, um zu sehen, wie lang er am Leben bleibt – und dann, um zu sehen, wie er schmeckt.«

»Aber weißt du denn nicht, dass es ganz furchtbar böse ist, solche Sachen zu tun? Denk daran, Vögel haben Gefühle genau wie du, und überleg doch mal, wie dir so etwas gefallen würde.«

»Ach, das ist egal! Ich bin kein Vogel und fühle ja nicht, was ich ihnen antue.«

»Aber irgendwann wirst du das müssen, Tom – man hat dir bestimmt schon erzählt, wohin böse Menschen kommen, wenn sie sterben; und wenn du nicht aufhörst, unschuldige Vögel zu quälen, denk dran, dann wirst du da hinkommen und dasselbe erleiden, das du ihnen angetan hast.«

»Ach was! Ganz bestimmt nicht. Papa weiß, was ich mit ihnen mache, und er schimpft mich nie deswegen. Er sagt, genau dasselbe hätte er als kleiner Junge auch

»Ach, ihr ist das einerlei – sie findet, es ist ein Jammer, wenn ich hübsche Singvögel totmache, aber mit den lästigen Spatzen und Mäusen und Ratten kann ich anstellen, was ich will. Sie sehen also, Miss Grey, es ist nicht böse.«

Als Nächstes führte er mich über den Rasen, um mir die Maulwurfsfallen zu zeigen, und dann in den Heuschober zu den Wieselfallen, von denen in einer, zu seiner großen Freude, ein totes Wiesel lag, und dann in den Stall, aber nicht etwa, um mir die schönen Kutschpferde zu zeigen, sondern ein kleines struppiges Hengstfohlen, das man seinen Worten zufolge eigens für ihn aufgezogen hatte, auf dem er aber erst reiten dürfte, wenn es richtig zugeritten wäre.