Franziska Gehm

Das Hexenkraut

Ein Abenteuer aus der Zeit der Hexenverfolgung

Mit Illustrationen
von Peter Knorr und Doro Göbel

 

 

© 2010 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

 

eBook ISBN 978 - 3 - 423 - 41240 - 7 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978 - 3 - 423 - 76008 - 9

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website

www.dtv.de/​ebooks

Inhalt

Eine gefährliche Bitte

Menschenaugen und Mumienhand

Aufbruch ins Höllengebirge

Nachtgestalten

Auf der Flucht

Der unheimliche Verfolger

In der Todesschlucht

Der Hexenturm

Ein verzweifelter Plan

Die Wasserprobe

Ein Zeichen Gottes

Eine gefährliche Bitte

Jakob hatte fast die ganze Nacht wach gelegen. Er hatte auf den flachen, unregelmäßigen Atem seiner Mutter gehört. Seit nunmehr zwei Wochen hatte sie das Bett nicht mehr verlassen. Sie war blass, die Wangen waren eingefallen. Ihre einst glänzenden, braunen Haare waren strähnig und klebten an ihrer Stirn. Die immer freundlichen, großen, dunkelbraunen Augen, die Jakob von ihr geerbt hatte, wirkten matt und müde. Meistens jedoch hielt Jakobs Mutter die Augen geschlossen. Seit ein paar Tagen war sie sogar zu schwach, um alleine den Kopf zu heben.

»Jakob?«, drang eine leise Stimme durch die Kammer, die noch im Halbdunkel der Morgendämmerung lag.

Sofort war Jakob auf den Beinen. Mit zwei großen Schritten war er bei der Bettstatt seiner Mutter. Er kniete sich hin und nahm ihre Hand. Sie war kalt und kraftlos. »Was ist?«

»Geh –«, Jakobs Mutter atmete schwer, »geh zur Schwarzleiberin.«

Jakob sah seine Mutter verstört an.

Sie schloss einen Moment die Augen. »Geh zu ihr. Sie allein kann uns jetzt noch helfen. Meine Kräfte verlassen mich. Wir haben sonst keine Hoffnung mehr.«

Jakob zog die Augenbrauen zusammen. »Aber die Schwarzleiberin … sie bringt Unheil.«

»Mag sein«, sagte Jakobs Mutter. »Sie hat jedoch auch vielen Kindern auf die Welt geholfen und versteht sich auf Kräuter und Tinkturen. Geh zu ihr, Jakob. Sonst bin ich gewiss des Todes.«

Jakob legte seine Wange auf die Hand seiner Mutter. Einen Moment verharrte er so. Dann stand er auf und nickte. »Ist gut, Mutter. Ich hole die Schwarzleiberin.«

Jakobs Mutter lächelte kaum merklich.

Niemals würde Jakob ihr eine Bitte ausschlagen. Auch wenn sie ihm noch so abwegig vorkam. Er zog sich das Wams über und verließ die Hütte. Obwohl der Mai sich schon dem Ende zuneigte, war es noch kühl. Die Bauern in den umliegenden Dörfern fürchteten, dass es auch dieses Jahr keine gute Ernte geben würde. Bereits in den letzten Jahren waren die Winter lang und die Sommer so nasskalt gewesen, dass das Getreide auf den Halmen verfaulte. Jakob fasste sich an den Bauch. Sein Magen knurrte. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er zum letzten Mal richtig satt gewesen war. Seit Monaten gab es nur noch Brei aus Hirse, Hafer oder Buchweizen.

Zielstrebig lief Jakob durch die Gassen seiner kleinen Heimatstadt Harzenstein. Die Schwarzleiberin wohnte am Rand der Stadt. Hinter ihrer Hütte hatte sie einen kleinen Kräutergarten. Daran schloss direkt ein dichter Tannenwald an. Kurz bevor er die Hütte der Schwarzleiberin erreichte, verlangsamte er seine Schritte. Er kniff die Augen zusammen und musterte die Hütte argwöhnisch. Über die Schwarzleiberin hatte er schon viel gehört. Nicht nur Gutes.

Plötzlich flog neben ihm eine Tür auf. Die Frau des Schuhmachers trat mit einem Nachttopf in der Hand hinaus. »Jakob! Wo willst du denn so früh hin?« Die Schuhmacherin leerte den Nachttopf schwungvoll am Gassenrand aus, bevor sie sich ihre Haube zurechtrückte.

Jakob zögerte. Am liebsten wäre ihm, dass niemand erfuhr, zu wem er gerade unterwegs war. Er kratzte sich hinter dem Ohr und dachte angestrengt nach, was er der Schuhmacherin antworten sollte. Er sah die Gasse entlang, zum Himmel hinauf, zum Haus der Schwarzleiberin und auf seine abgewetzten Füßlinge. Aus dem linken ragte seine schmutzige große Zehe heraus.

Die Schuhmacherin beobachtete ihn genau. »Willst du etwa zu der?« Sie zeigte auf das Haus der Schwarzleiberin.

Jakob nickte. Er war kein guter Lügner. »Meine Mutter liegt im Sterben.«

»Das tut mir leid.« Die Schuhmacherin strich Jakob über das zerzauste Haar. »Möge Gott ihr beistehen.« Dann richtete sie den Blick auf die Hütte der Schwarzleiberin. »Aber die wird dir nicht helfen. Im Gegenteil. Mag sein, dass die Schwarzleiberin besondere Kräfte hat. Aber ich sage dir, Jakob, es sind böse Kräfte. Die Schwarzleiberin wendet Unheil nicht ab, sie bringt es.«

Jakob sah die Schuhmacherin mit großen Augen an. »Wieso sagen Sie so etwas? Hat die Schwarzleiberin nicht bei der Geburt Ihrer Kinder geholfen?«

Die Schuhmacherin sah Jakob fest in die Augen. »Ja. Das hat sie. Aber von meinen sechs Kindern sind vier wenige Tage nach der Geburt gestorben.«

Jakob blickte zu Boden.

»Ich weiß, wie sehr du dir wünschst, deine Mutter möge gesund werden. Und ich weiß, dass die Schwarzleiberin so manchen Todkranken kuriert haben soll.« Die Schuhmacherin beugte sie sich zu ihm und flüsterte: »Aber weißt du, was ich glaube?«

Jakob schüttelte den Kopf.

»Ich glaube, dass jemand, der heilen kann, auch krank machen und den Tod bringen kann.« Die Schuhmacherin nickte energisch und richtete sich wieder auf.

»Trotzdem. Die Schwarzleiberin ist unsere letzte Hoffnung«, erwiderte Jakob.

Die Schuhmacherin sah Jakob mitfühlend an. »Gott ist eure Hoffung. Bete für deine Mutter, Jakob«, sagte sie leise und ging zurück ins Haus.

Jakob atmete tief ein. Natürlich betete er für seine Mutter. Jeden Tag. Mehrmals. Das hatte er auch für seinen Vater, seinen Bruder und seine beiden Schwestern getan. Bei ihnen hatte es nicht ausgereicht. Nein, Jakob konnte nichts unversucht lassen. Er würde zur Schwarzleiberin gehen. Auch wenn ihm die vielen Geschichten, die man sich über sie in der Stadt erzählte, Angst machten. Auch wenn sie eine Hexe war.