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Titelseite

 

Für Rich, meinen Barcelona-Beachboy

Ein weiterer Tod steht bevor, ich kann es spüren.

Vielleicht habe ich ja so etwas wie einen sechsten Sinn entwickelt, seitdem ich beschlossen habe, dass ich der letzte Mensch sein würde, der Meggie Forster im Arm hält. Der letzte Mensch, der ihre Haut berührt, der letzte Mensch, der ihr das Haar bürstet.

Es war kein Mord. Ich habe es nur zu ihrem Schutz getan, vor all jenen, die sie ausnutzen wollten, um Gewinn aus ihrem Gesicht, ihrem Namen, ihrer Seele zu schlagen.

Und doch hieß es in den Schlagzeilen, sie sei kaltblütig ermordet worden. Das ist nicht wahr! Sie hat die Welt auf ganz sanfte Weise verlassen, dafür haben ich und das weiche Kissen gesorgt.

Diese ungerechten Behauptungen lassen in mir eine brennende Wut aufsteigen, auch wenn ich mir Mühe gebe, ruhig zu bleiben. Alice hilft mir dabei. Sie ist genauso schön wie ihre große Schwester, aber anders als Meggie hat Alice keine Ahnung, wie einzigartig sie ist. Was sie natürlich nur noch wunderbarer macht.

Doch ihre besessene Suche nach der Wahrheit bringt uns beide in Gefahr. Ein unschuldiges Mädchen wie Alice begreift einfach nicht, dass in dieser grausamen Welt eine Milliarde Versionen der Wahrheit existieren. Wenn sie meine nicht akzeptieren kann, lässt sich ein weiterer Tod wohl nicht vermeiden.

1

Das Glück ist etwas so Simples. Alles, was man dafür braucht, sind die Menschen, die man liebt.

Nach Meggies Tod habe ich geglaubt, ich könnte nie wieder glücklich sein. Und doch bin ich jetzt hier am Strand, an diesem absolut himmlischen Ort. Ich höre meine Schwester leise vor sich hin summen, während sie mit dem Finger Muster in den Sand zeichnet. Ich fühle die warme Sonne auf meiner Haut und Dannys Körper an meinem und das Schaukeln der Hängematte, in der die sanfte Brise uns wiegt.

Wer bekommt schon eine solche zweite Chance?

»Na, Alice, träumst du wieder vor dich hin?«

Ich zögere, bevor ich die Augen aufschlage, denn insgeheim fürchte ich immer noch, dass all das hier eines Tages einfach verschwinden könnte.

Aber Danny ist immer noch da, sein Gesicht so dicht an meinem, dass ich nicht weiß, ob ich es berühren oder nur bewundern soll: seine Augen, so grün wie eine tropische Lagune, sein blondes Haar, das sich nach dem Schwimmen immer lockt (was er schrecklich findet, ich aber süß), seine Lippen, die so perfekt auf meine passen, dass es nahezu kriminell wäre, ihn nicht sofort zu küssen …

»Wovon sollte ich denn träumen?«, flüstere ich. »Alles, was ich mir wünschen könnte, ist doch zum Greifen nah.« Und wie zum Beweis strecke ich die Hand nach seiner aus.

»Gute Antwort.« Er beugt sich vor und küsst mich.

»Mensch, Leute! Könnt ihr nicht mal für eine Minute die Finger voneinander lassen? Muss ich etwa einen Eimer kaltes Wasser über euch ausschütten, als wärt ihr Hunde?«

Javier ist der Sand in der Auster dieses Paradieses: sarkastisch und manchmal regelrecht grausam. Aber ich kann mir Soul Beach nicht mehr ohne ihn vorstellen. Jede Clique braucht ihren Clown. Manche von seinen Witzen sind schon ein bisschen heftig, aber schließlich ist er tot. Da würde wohl jeder einen schwarzen Humor entwickeln.

Danny und ich lächeln einander an. Vielleicht sollten wir wirklich versuchen, etwas geselliger zu sein.

Wir flüstern: »Drei, zwei, eins …« und lassen uns dann aus der Hängematte auf das weiche Polster aus Kissen fallen. Sosehr wir uns auch bemühen, elegant sieht das nie aus. Vielleicht liegt es daran, dass wir uns immer bis zum letzten Moment aneinander festklammern.

»Nein, wie graziös!«, schnaubt Javier und meine Schwester kichert.

Das Dasein am Strand scheint ihr immer mehr zuzusagen. Ihre Haare sind noch blonder als vorher, ihr Millionen-Dollar-Lächeln ist jetzt locker eine Milliarde wert. Als sie noch am Leben war, haben die Leute vom Fernsehproduktionsteam sie immer gedrängt abzunehmen – »Durch die Kamera wirkt man immer fünf Kilo schwerer und das Publikum stimmt nur für dünne Mädels.« –, aber jetzt ist sie zufrieden mit sich und hat ihre perfekte Figur zurück.

Danny und ich sehen uns an, was Meggie in den Sand gezeichnet hat. Es ist eine Paradiesvogelblume, die spitzen Blütenblätter ausgebreitet wie Flügel.

»Mensch, Schwesterherz, da kommen ja verborgene Talente zum Vorschein.«

Sie lacht. »Ich lasse mich nur davon inspirieren, wie schön der Strand jetzt ist, dank einer gewissen Person.«

Ich werde rot. Als ich zum ersten Mal hergekommen bin, war es hier natürlich auch schon wunderschön, aber irgendwie wirkte alles leblos. Es gab keine exotischen Blumen, die aus dem Sand emporwuchsen, keine leuchtend bunten Vögel, die über den blauen Himmel schwirrten oder plötzlich ins Meer eintauchten, in dessen warmen Fluten metallisch glitzernde Fische schwammen.

Bis ich einem verzweifelten Mädchen namens Triti half zu entkommen und der Strand für alle Dortgebliebenen nur umso betörender wurde – fast, als hätte ich eine höhere Stufe von Sinneseindrücken möglich gemacht, indem ich einfach nur das Richtige tat.

Und seitdem … Ich kann mich nicht daran gewöhnen, dass die Gäste von Soul Beach mich wie einen VIP behandeln. Besonders nicht, wenn Meggie das tut. Als sie noch lebte, war sie der Star, die hübschere, klügere, talentiertere von uns Schwestern.

Aber hier bin ich etwas Besonderes. Jeder an diesem Ort wünscht sich einen Besucher, aber soweit sich die Leute erinnern können, hat es außer mir nie einen gegeben. Im wahren Leben bin ich erst sechzehn. Ich kann noch nicht mal Auto fahren.

Hier hingegen kann ich Leben verändern – sogar das Leben nach dem Tod. Klar, auf den ersten Blick wirkt der Strand wie ein Paradies, nur dass hier eben niemand mehr rauskommt. Es sei denn, ich löse das Rätsel um den Tod eines Gastes, so wie ich es bei Triti getan habe. Erst dann finden sie Frieden. Oder verschwinden jedenfalls, denn wo sie hingehen, weiß keiner.

Mich hat natürlich der Tod meiner Schwester hergeführt. Ihr Mörder läuft immer noch frei herum und mir ist nichts wichtiger, als herauszufinden, wer er ist. Auch wenn ich dann fürchten muss, Meggie – und auch den Strand – für immer zu verlieren.

»Alice Florence Forster, du bist einfach die Allergrößte, das weißt du hoffentlich«, sagt Meggie. »Wag es ja nicht, mich zu verlassen, klar? Niemals.«

Ich lächele ihr zu, antworte jedoch nicht, denn so etwas kann ich ihr nicht versprechen und das weiß sie selbst.

Unten in der Bucht waten ein paar Gäste bis zum Hals ins Wasser, um Fische zu fangen. Sie plaudern darüber, dass sie ihre Beute nachher, wenn die Sonne untergegangen ist, grillen wollen. Das wird wahrscheinlich der Zeitpunkt sein, wenn ich mich nach Hause aufmache, denn das Einzige, was mir hier immer noch fehlt, ist mein Geschmackssinn. Manchmal vergesse ich es, greife nach einem Stück Mango oder einem eiskalten Bier und schmecke nur Asche. Oder, schlimmer noch, gar nichts. Und damit ist der Bann des Strandes gebrochen und ich bin zurück auf der Erde, in meinem düsteren Zimmer, wo ich zusammengekauert vor dem Laptop hocke. Dann beginnen die Zweifel von Neuem an mir zu nagen: Ist www.soulbeach.org nichts als ein Schwindel oder bilde ich mir das alles vielleicht nur ein, weil ich es einfach nicht ertrage, dass Meggie tot ist?

Aber ihre Umarmungen, Dannys Küsse und sogar Javiers spitze Bemerkungen wirken so viel realer als Hausaufgaben, meine täglichen Pflichten und kalte Aprilstürme.

»Träumst du wieder?«

Ich blinzele. »Ich hab dir doch gesagt, ich träu…«

Aber dann wird mir klar, dass ich doch weggetreten gewesen sein muss, denn irgendetwas hat sich verändert. Meggie und Javier sind verschwunden, die Gäste hasten alle ans Wasser und weit draußen im Meer sehe ich eine einsame Gestalt, den Kopf knapp über den Wellen.

Der Schwimmer scheint Probleme zu haben, obwohl es eigentlich unmöglich ist, am Soul Beach zu ertrinken. Man kann nun mal nicht zweimal sterben.

»Das ist ein Neuer«, stellt Danny fest.

Ich drehe mich zu ihm um. »Was, ein neuer Gast?«

Er bemüht sich zu lächeln. »Sieht ganz so aus. Armer Kerl. So kommen wir alle hier an, wie Schiffbrüchige. Ich weiß noch, als ich an den Strand gespült worden bin, hab ich mir die Seele aus dem Hals gehustet und geblinzelt wie verrückt. Nichts ergab einen Sinn. Wo war ich? War ich am Leben? Wer waren all diese Leute?« Danny erschaudert und steht auf. »Komm. Du wolltest doch wissen, wie hier am Strand alles abläuft, oder nicht? Dann solltest du dir ansehen, wie es anfängt.«

2

Der Weg hinunter zum Wasser ist anstrengend, unsere Füße versinken im heißen, trockenen Sand. Vor uns erscheinen, wie aus dem Nichts, immer wieder Gäste, mehr, als ich hier je gesehen habe. Hundert sind es mindestens. Ihre Gespräche werden lauter und schriller.

»Das ist ein Junge.«

»Bist du sicher?«

»Ich kann nichts erkennen. Sieht er gut aus?«

»Ist das alles, was ihr Mädels im Sinn habt?«, erhebt sich Javiers Stimme über den Lärm. »Der Typ ist gerade gestorben. In Kürze wird er rausfinden, dass ihm das Geschenk des ewigen Lebens gemacht worden ist. Verhaltet euch doch bitte ausnahmsweise mal wie menschliche Wesen.«

Es ist tatsächlich ein Mann, der nun stolpernd und schwankend Richtung Land stapft. Er kämpft darum, nicht umzufallen, die Hände ausgestreckt, als suche er nach irgendetwas oder irgendjemandem, an dem er sich festhalten kann.

Meine Lungen versagen ihren Dienst. Ich ringe nach Luft. Ich kann sein Entsetzen fühlen, seine Atemlosigkeit. Dannys Griff um meine Hand scheint schwächer zu werden und plötzlich kommt es mir vor, als würde ich über allem und allen schweben. Fühlt es sich so an, wenn man stirbt?

»Alice? Was ist?«

Dannys Stimme ist so weit weg, so leise verglichen mit dem hässlichen Geschwätz der anderen Gäste.

»Was meinst du, wo der herkommt? Er hat rötliche Haare, oder? Wirkt irgendwie keltisch.«

»Ach, aber für mich ist er viel zu klein. Wann schicken die denn endlich mal jemand Größeren? Außerdem sieht er total fertig aus.«

»Hey, jetzt bleib aber mal fair. Ich wette, du warst auch nicht gerade ein Topmodel, als du gestorben bist, oder?«

Ich lehne mich an Danny. Ich kann nur verschwommen sehen, nur japsend atmen. »Mir geht’s … Mir geht’s gut. Ich komme mir nur vor wie ein Gaffer.«

Niemandem sonst scheint das etwas auszumachen. Mir läuft ein Schauder über den Rücken. Wie geht noch mal diese Redewendung? Als wäre gerade jemand über mein Grab gelaufen. Dabei bin ich die Einzige am Soul Beach, die kein Grab hat.

Danny nickt in Richtung der momentan verlassenen Bar. »Jetzt wäre wohl der perfekte Zeitpunkt für einen Drink.«

Ich will gerade zustimmen, doch dann halte ich inne. »Wo ist meine Schwester? Können wir sie erst suchen?«

Ich lasse den Blick über unzählige Gesichter schweifen und halte Ausschau nach Meggie. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass sie irgendwo allein in dieser Menge steht. Trotz des strahlenden Sonnenscheins und des azurblauen Himmels kommt der Strand mir in diesem Moment vor wie ein finsterer, böser Ort.

Dann sehe ich sie. Sie steht direkt am Wasser, ihr langes Haar weht im Wind.

Ich will sie gerade rufen, sie bitten, sich von dem Ganzen fernzuhalten, weil es sie doch an ihre eigenen ersten Stunden am Strand erinnern muss …

Dann aber sehe ich ihn und bekomme kein Wort heraus. Ich bekomme nicht mal mehr Luft.

Mein Blick saugt sich an dem gestrandeten Mann fest.

Nein.

Unmöglich.

Das kann nicht sein.

Doch während mein Kopf sich noch gegen die Erkenntnis wehrt, weiß mein Herz schon, dass er es wirklich ist.

Rotbraune Locken, Sommersprossen, fassungsloser Blick. Dieses Gesicht habe ich seit elf Monaten nicht mehr gesehen und doch hätte ich es jederzeit aus dem Gedächtnis zeichnen können.

Es ist Tim.

Der erste – und einzige – Junge, den meine Schwester je wirklich geliebt hat.

Und der Hauptverdächtige in ihrem Mordfall.

3

Wie Kugeln aus einem Maschinengewehr schießen wirre Gedanken durch meinen Kopf.

Tim ist hier am Strand.

Alle an diesem Strand sind tot.

Außer den Besuchern.

Aber alle sagen, ich bin seit langer Zeit die einzige Besucherin.

Tims Augen sind vor Panik geweitet.

Wenn Tim kein Besucher ist, muss er tot sein.

Ein beklemmendes Gefühl steigt von meiner Brust bis in meine Kehle hinauf, als würde mich jemand würgen. Danny mustert mich stirnrunzelnd.

»Du siehst ja furchtbar aus. Was ist denn los?«

Ich will ihm alles erzählen: dass Tim Meggies große Liebe war. Und der Hauptverdächtige für die Mordkommission. Dass Tim mir in unserem letzten Telefonat geschworen hat, Meggie nicht getötet zu haben. Dass er gesagt hat, sein Leben wäre ohne sie bedeutungslos.

Doch ich traue mich nicht, irgendetwas davon auszusprechen. Als Besucherin muss ich jedes Wort dreimal überprüfen, darf die Gäste auf keinen Fall aufregen oder sie daran erinnern, wie sie an den Strand gelangt sind. Wenn ich diese Regel breche, werde ich für immer von der Homepage verbannt.

Den Fehler habe ich ein einziges Mal gemacht, kurz nachdem ich diesen Ort entdeckt hatte: Ich hatte es gewagt, meine Schwester zu fragen, wer sie ermordet haben könnte. Bevor sie auch nur antworten konnte, war der Strand verschwunden und mit ihm all meine Hoffnungen. Ich durfte nur zurückkehren, weil ich neu und noch nicht mit den Regeln vertraut war. Sollte so etwas noch einmal passieren, werden sie wohl kein Auge mehr zudrücken.

Ich würde den Strand, würde alles verlieren.

»Ich erklär’s dir später, Danny«, sage ich. Meine Stimme klingt völlig fremd, ganz heiser vor Furcht.

Die Gäste bewegen sich vorwärts, so dicht aneinandergedrängt, dass sie uns mit sich reißen.

Tim ist tot. Aber wie ist er gestorben? Wurde er auch ermordet?

Ich sehe, wie er sich an Land kämpft, mühsam, als würde er einen Berggipfel erklimmen. Er hat einen weiten Weg hinter sich und muss erschöpft sein. Am liebsten würde ich zu ihm rennen, ihn in die Arme nehmen, ihm auf festen Boden helfen. Ihm versichern, dass alles gut wird.

Aber das wäre gelogen.

Er blinzelt unablässig, als würde er, wenn er es nur oft genug tut, irgendwann etwas anderes vor sich sehen.

Schon jetzt hat ihn der Strand verändert. Im wahren Leben waren ihm seine Klamotten egal; er hat sich immer nur an Jeans und T-Shirt gehalten, Wetter oder Anlass spielten keine Rolle. Ich weiß noch, wie er bei Meggies erstem Open-Air-Konzert ganz blau gefroren war, weil er nicht daran gedacht hatte, sich wie alle anderen warm genug für einen Winterabend unter freiem Himmel anzuziehen. Sogar seinen Mantel hatte er vergessen. Sein Kopf war immer voll mit wichtigeren Dingen.

Jetzt hingegen trägt er die typische Stranduniform – Surfshorts und ein leuchtend rotes Leinenhemd – und selbst triefnass sieht er damit schon aus wie alle anderen Gäste hier. Diese Armmuskeln hat er früher nicht gehabt und ich glaube auch nicht, dass ich ihn je so glatt rasiert gesehen habe.

Er ist ein Gast, daran besteht kein Zweifel. Eine überschöne Version des lebendigen Tim, vom Tod in einen strahlenden Phönix verwandelt, ohne einen Hinweis darauf, wie er gestorben ist.

Danny greift nach meiner Hand. »Du bist ja eiskalt.«

»Ich bin nur so schockiert, Tim hier zu sehen.« Dann wird mir klar, was ich gerade gesagt habe. Ob es schon ein Regelbruch ist, seinen Namen auszusprechen?

Aber Danny verschwindet nicht. Er starrt mich an. »Tim? Meggies Freund?«

Ich nicke. Das fühlt sich sicherer an als Sprechen.

»Oh Mann, Alice.« Danny schüttelt den Kopf. »Heißt das … derjenige, der Meggie getötet hat, hat auch Tim umgebracht? Warum sollte er sonst hier sein?« Danny muss nicht aufpassen, was er sagt, er würde nie vom Strand verbannt werden, selbst wenn er es darauf anlegt. So ein Platz im Paradies ist etwas für die Ewigkeit.

Während ich nicke, wird mir klar, dass es noch einen anderen, finstereren Grund für Tims Auftauchen geben könnte. Vielleicht hat er meine Schwester doch erstickt. Und jetzt ist er hier, weil er mit der Schuld nicht mehr leben konnte …

»Danny, wir müssen zu Meggie, bevor –«

Doch es ist zu spät.

»Tim?« Ihre Stimme zittert, als sie sich durch die Menge auf ihn zu drängt.

Ich versuche noch, sie zu erreichen, aber es sind einfach zu viele Gäste im Weg. Niemand bewegt sich. Alle sind viel zu gefesselt von dem Drama, das sich vor ihnen abspielt.

»Tim«, flüstert Meggie. Es ist keine Frage mehr.

Er starrt sie mit offenem Mund an.

Ein paar Schritte vor ihm bleibt Meggie stehen. Sie schüttelt den Kopf, doch irgendetwas an dem Blick, mit dem sie ihn ansieht, verrät mir, dass sich für sie nichts geändert hat, dass sie ihn immer noch liebt.

Der ganze Strand hält den Atem an.

Und dann höre ich ein Klopfen, von weit, weit weg.

»Alice?« Das ist die Stimme meines Vaters, seine Ich-habe-schlechte-Neuigkeiten-Stimme, die ich in den letzten Monaten entschieden zu oft gehört habe.

Mist. Nicht jetzt.

Meggie macht noch einen Schritt auf Tim zu.

»Alice, wenn du wieder online bist, verspreche ich, es deiner Mutter nicht zu sagen. Aber du musst die Tür aufmachen, und zwar sofort.«

So leise wie möglich klappe ich den Laptop zu. »Dad? Ich bin nicht im Internet. Ich habe geschlafen. Es ist ein Uhr nachts.«

»Tut mir leid, Schätzchen. Ich hätte dich nicht geweckt, wenn es nicht dringend wäre. Aber es ist … jemand hier. Und er will mit uns allen sprechen.«

4

Der Polizist sitzt an unserem Esstisch, sein dicker Hintern quillt über den Stuhlrand. Normalerweise schicken sie die Frau von der Opferbetreuung. Die kennt uns mittlerweile so gut, dass sie immer die richtige Anzahl Zuckerstückchen in Dads Tee gibt und Mum die Taschentücher reicht, noch bevor sie anfängt zu weinen.

Entweder hat die Opferbetreuungstante heute frei oder der fette Polizist ist hier, weil die Nachrichten zu ernst sind.

Ich denke an Tim am Strand. Natürlich ist es ernst.

Wir setzen uns an den Tisch wie zum sonntäglichen Mittagessen, obwohl der Himmel draußen dunkelblau ist und wir alle, außer dem Polizisten, Morgenmäntel tragen. Er faltet die speckigen Hände, sodass ich fast erwarte, ihn als Nächstes ein Tischgebet sprechen zu hören.

Stattdessen sagt er: »Ich fürchte, ich habe eine erschütternde Neuigkeit.« In der kalten Luft formt sich sein Atem zu Wölkchen, als wäre es Rauch.

Mum greift Dad und mich bei den Händen. Vielleicht glaubt sie, solange wir zusammen sind, kann nichts Schlimmes passieren. Da liegt sie falsch.

»Timothy Ashley ist heute Nacht tot aufgefunden worden. Eigentlich schon gestern, es ist jetzt etwas über vier Stunden her.«

Mum schlägt sich die Hand vor den Mund. Dad schließt die Augen. Und selbst ich, die ja schon Bescheid weiß, bin wie gelähmt, als ich es höre.

»Selbstmord!«, stößt meine Mutter hervor. »So ist es doch, oder?« In ihren Augen liegt ein irres Glitzern, wie immer, wenn es um Tim geht.

Das Gesicht des Polizisten bleibt ausdruckslos. »Derzeit warten wir noch auf die Obduktionsergebnisse.«

Dad schüttelt den Kopf. »Ach, kommen Sie. Etwas mehr können Sie uns doch sicher sagen. Immerhin sind wir … betroffen.«

Der Polizist seufzt. »Soweit wir wissen, ist Mr Ashleys Mitbewohner«, er wirft einen Blick in seine Notizen, »Adrian Black, gestern Abend kurz nach neun Uhr nach Hause gekommen und hat den Verstorbenen in der Küche aufgefunden.«

Ade hat ihn gefunden.

»Wie ist er gestorben?«, frage ich.

Zum ersten Mal sieht der Polizist mich an. »Der Tod ist offenbar durch Ersticken eingetreten.«

Ersticken. Genauso ist Meggie gestorben. Jemand hat ihr ein Kissen aufs Gesicht gedrückt, bis sie keine Luft mehr bekam.

»Jemand hat Tim erstickt?«, flüstert Dad.

Der Polizist schüttelt den Kopf. »Nein. Eine Plastiktüte … Diese Methode wenden auch Selbstmörder manchmal an. Er lag vornübergebeugt auf dem Küchentisch. In der Nähe der Leiche haben wir auch alkoholische Getränke gefunden.«

In meiner Kehle sammelt sich brennende Säure bei der Vorstellung, wie Tim sich allein betrunken und dann beschlossen hat, dass er das Leben nicht mehr ertragen kann. Sie hat meine ganze Welt zum Leuchten gebracht … und jetzt, ohne sie, ist alles nur noch dunkel.

Das war so ziemlich das Letzte, was er zu mir gesagt hat.

»Gibt es einen Abschiedsbrief?«, erkundigt sich Dad.

Seine Frage hilft mir, mich zusammenzureißen. Ich muss mehr erfahren, bevor ich zurück an den Strand kann, bevor ich mit Tim rede. Wenn er wirklich zuerst Meggie und dann sich selbst umgebracht hat, bin ich mir sicher, dass er einen Brief zurückgelassen hätte, in dem er erklärt, was er getan hat und warum. Er wäre selbst der Meinung gewesen, dass er uns das schuldig ist.

»Meinen Informationen zufolge ist nichts in der Art gefunden worden.«

Der Tim, den ich gekannt habe, hätte diese Angelegenheit niemals so unvollendet gelassen. Binnen Sekunden schwinden all meine Zweifel an seiner Unschuld und ich atme auf.

Bis mir wieder einfällt: Wenn er sich nicht selbst umgebracht hat, dann muss es jemand anders getan haben.

»Nichtsdestotrotz weisen die Umstände stark darauf hin, dass sich Mr Ashley das Leben genommen hat«, sagt der Polizist.

»Aber Sie ziehen doch bei Ihren Ermittlungen trotzdem noch andere Möglichkeiten in Betracht, nicht wahr?«

Fast verärgert sieht er mich an. »Das liegt beim Untersuchungsgericht. Der Fall befindet sich nun außerhalb unseres Zuständigkeitsbereichs.«

»Sie haben also schon beschlossen, dass an seinem Tod nichts Ungewöhnliches ist, oder? Obwohl er möglicherweise von derselben Person umgebracht worden ist, die Meggie getötet hat. Haben Sie daran mal gedacht?«

Mum steht auf und legt mir die Hände auf die Schultern. »Alice, Liebes, es ist vorbei. Ich weiß, du hast Tim für unschuldig gehalten, aber du musst doch begreifen, dass das nun alles ändert.«

Dad grübelt noch immer. »Sie verstehen sicher, dass bei uns die Nerven blank liegen, Officer. Mir ist bewusst, dass Sie das nicht offiziell bestätigen können, aber bedeutet das, dass Meggies Morduntersuchung jetzt abgeschlossen wird?«

Der Polizist betrachtet seine sorgfältig kurz geschnittenen Fingernägel. »Ähm, ich würde sagen, das ist eine berechtigte Annahme. Wir sind schon vor einigen Monaten zu gewissen Schlüssen über Mr Ashley gelangt, in denen uns die jetzige Wende der Ereignisse nur bestätigt. Es tut mir leid. Das alles muss sehr schwer für Sie sein.«

Zorn huscht über Mums Gesicht und ich befürchte schon eine ausgewachsene Tirade: dass es ihr keineswegs leidtut, dass Tim das alles mehr als verdient hat. Doch als Dad ihre Hand drückt, rinnen ihr plötzlich Tränen übers Gesicht.

»Es ist vorbei«, flüstert sie und starrt dann über meine Schulter hinweg, als stünde jemand hinter mir. »Meggie, Liebling. Es ist vorbei, endlich. Jetzt kannst du ruhig schlafen, mein Schatz, wo immer du bist.«

Das Blut gefriert mir in den Adern. Ich bin zu neunundneunzig Prozent sicher, dass Meggies Mörder noch immer auf freiem Fuß ist.

Doch das eine verbleibende Prozent Zweifel reicht, um mich in Angst und Schrecken zu versetzen. Wenn es tatsächlich vorbei sein sollte, dann wird meine Schwester den Strand verlassen, und zwar für immer. Noch vor Sonnenaufgang.

Bitte nicht. Ich bin noch nicht bereit, sie ein zweites Mal zu verlieren.

5

Ich muss sofort ins Internet.

»Ich gehe dann mal wieder ins Bett«, sage ich.

Mum gibt mir einen Kuss auf die Stirn und Dad umarmt mich, bevor ich noch einen Umweg über die Küche mache und mir ein Glas Wasser eingieße.

Dad bringt den Polizisten zur Tür. Dieser versucht zu flüstern, doch er hat seine dröhnende, autoritäre Stimme nicht unter Kontrolle.

»… ganz offensichtlich einem geistesgestörten Außenstehenden zuzuschreiben, aber ich wollte Sie trotzdem warnen, falls derjenige Sie oder Ihre Familie zu kontaktieren versucht.«

»Flammen der Wahrheit, sagen Sie? Und Sie sind sicher, dass diese Website etwas mit Meggies Fall zu tun hat?«, fragt Dad. »Es gibt doch Hunderte von diesen Fanseiten, oder nicht? Das haben wir gesehen, nachdem sie gestorben ist.«

»Schon richtig, aber diese hier ist keine wirkliche Fanseite. Hierbei geht es eher darum, die Welt davon zu überzeugen, dass Tim Ashley Ihre Tochter nicht ermordet hat.«

»Was?«

Also glaubt noch jemand an seine Unschuld! Der Gedanke ist so tröstlich, dass mein Herz nicht mehr ganz so wild hämmert und die Angst, Meggie könnte verschwunden sein, etwas nachlässt. Das heißt dann wohl, ich bin nicht die Einzige, der klar ist, dass Tims Tod noch nicht das Ende der Geschichte bedeutet.

»Einer meiner Mitarbeiter ist vor ungefähr zwei Wochen zufällig darauf gestoßen. Ein wildes Sammelsurium irgendwelcher Behauptungen ohne jedweden Beleg. Wir waren eigentlich überzeugt davon, dass Tim selbst dahintersteckte, aber heute Nacht ist die Seite aktualisiert worden. Und zwar erst …«

»Nachdem er tot aufgefunden wurde?«

»Genau. Also vermuten wir, dass ihm irgendein Freund dabei geholfen hat.«

»Aber haben sich nach allem, was in den Zeitungen stand, nicht die meisten seiner Freunde von ihm abgewandt?«

»Sie würden sich wundern, Mr Forster. Je intelligenter ein Mörder ist, desto besser kann er die Menschen manipulieren. Ganz besonders Frauen. Ich rate Ihnen, gut auf Ihre Tochter aufzupassen. Jungen Mädchen kann schnell etwas zustoßen.«

Als müsste mein Dad daran erinnert werden, nachdem er schon eine Tochter verloren hat.

Ich höre, wie sie sich voneinander verabschieden, dann öffnet und schließt sich die Haustür. Ich spähe in den Flur, um zu sehen, ob die Luft rein ist und ich nach oben kann. Diese Website könnte alles verändern.

Aber mein Vater hat sich nicht vom Fleck gerührt. Er steht einfach da, den Kopf gegen die Wand gelehnt, als würde er sonst umkippen.

Und als ich mich zum Küchenfenster umdrehe, sehe ich Mum auf die Terrasse treten. Irgendetwas hat sich verändert. Es dauert ein paar Sekunden, bis ich begreife, was. Es schneit. Schnee im April. Das ist der längste Winter, den ich je erlebt habe.

Weiße Flocken landen in Mums Haar, als sie die Hand nach Meggies Baum ausstreckt, einem dürren Olivenbäumchen, das wir letzten Herbst gekauft haben. Es wirkt so zart im Mondschein. Ich bezweifle, dass es diesen späten Schnee überleben wird.

Während ich Mum beobachte, gesellt sich mein Vater zu ihr. Er bleibt dicht neben ihr stehen, berührt sie jedoch nicht. Vor Meggies Tod war sie immer so herzlich und liebevoll, jetzt aber kann sie es kaum noch ertragen, in den Arm genommen zu werden.

Ich schließe die Augen und wünsche mir etwas. Die Zeit können wir nicht zurückdrehen, aber ich hoffe, dass meine Eltern einander ebenso Trost spenden können, wie der Strand es für mich tut.

Als ich die Augen wieder öffne, wischt mein Dad die Schneeflocken von Mums Morgenmantelärmel. Meine Mutter blickt auf und lehnt sich dann an ihn.

Trotz der Kälte wird mir ein kleines bisschen wärmer, als ich sie so sehe. Wenn ich doch nur zu ihnen könnte.

Aber ich muss zurück an den Strand. Ich habe keine Angst mehr, dass Meggie fort sein könnte, nur irgendwie macht es das noch dringender.

Denn wenn Meggies Mörder immer noch irgendwo da draußen ist und nun auch Tim umgebracht hat, darf ich keine Sekunde mehr verschwenden.

6

Ich lege zwei Kissen vor den Spalt unter meiner Zimmertür, damit Mum nicht das Licht von meinem Computer sieht. In letzter Zeit nörgelt sie ständig an mir herum, weil ich so oft online bin.

Dabei sollte sie eigentlich dankbar sein, dass ich zu Hause bin, außer Gefahr. Nicht irgendwo da draußen, wo vielleicht immer noch Meggies und Tims Mörder frei herumläuft …

Zum ersten Mal kommt mir der Gedanke, dass der Mörder es auch auf mich abgesehen haben könnte. Es ist, als hätte mir jemand einen Eiswürfel in den Kragen gesteckt, der mir nun langsam den Rücken hinuntergleitet. Mit zitternden Fingern tippe ich Flammen der Wahrheit ins Suchfeld meines Browsers ein.

BITTE NUR ANKLICKEN, WENN DU BEREIT BIST, VON EINEM SO SCHRECKLICHEN UNRECHT ZU ERFAHREN, DASS DU VOR WUT GLÜHEN WIRST.

Ich zögere. Wenn ich die Einladung für Soul Beach nicht angeklickt hätte, sähe die Welt jetzt anders aus. Wahrscheinlich wäre ich mittlerweile sogar imstande, mit meinem richtigen Leben weiterzumachen. Aber ich hätte nie meine Schwester wiedergefunden.

Also klicke ich die Seite an. Der Bildschirm wird zunächst schwarz, dann züngeln rote und gelbe Flammen hoch.

FLAMMEN DER WAHRHEIT

TIMOTHY ASHLEY IST UNSCHULDIG.

GLAUBT IHM.

Die Schrift sieht irgendwie Goth-mäßig aus, wie vom Umschlag eines Vampirromans. Die ganze Aufmachung der Seite erinnert an eine parodistisch übertriebene Halloween-Dekoration. Nur dass das hier kein bisschen zum Lachen ist.

AUF FLAMMEN DER WAHRHEIT GEHT ES UM GERECHTIGKEIT FÜR MEGAN FORSTER UND TIM ASHLEY.

Seit Meggies Tod habe ich online schon eine Menge eigenartige Sachen gesehen. Als Erstes füllte sich ihre Facebook-Seite über Nacht mit Nachrichten voller Rechtschreibfehler und Videos von Leuten, die in ihre Webcams schluchzten, als hätten sie sie persönlich gekannt.

Als wir ihren Account schlossen, zogen die Fans weiter zu gruseligen Trauerseiten mit virtuellen brennenden Kerzen und virtuellen Engeln mit Meggies Gesicht, die zum Himmel aufstiegen.

Aber diese Seite hier ist die seltsamste von allen.

UNSERE FLAMMEN BRENNEN FÜR DIE UNSCHULDIGEN: DIE EINE ERMORDET, DER ANDERE ZU UNRECHT VERFOLGT.

Ich scrolle weiter nach unten.

»Ach, Tim.«

Ein Foto von ihm füllt den gesamten Bildschirm aus. Kein Paparazzibild aus der Zeitung und auch nicht die geschönte Version von ihm, die ich kurz zuvor am Strand gesehen habe. Dieses Foto wurde im Park aufgenommen und er sieht darauf so hoffnungsvoll und normal aus und strotzt nur so vor, tja, Lebendigkeit. Sein Haar leuchtet rötlich in der Sonne und seine haselnussbraunen Augen blicken direkt in die Kamera, ohne auch nur eine Spur von Schuld darin.

Diesen Tim hatte ich schon komplett vergessen. Die Zeitungsfotos zeigten stets einen gehetzten Mann, der aussah wie vierzig, nicht wie zwanzig.

Ich merke, dass ich angefangen habe zu weinen.

Schnell wische ich die Tränen weg. Keine Zeit für Gefühle. Mühsam reiße ich meinen Blick von dem Foto los und lese, was in noch größeren blutroten Buchstaben darunter steht:

WICHTIGES UPDATE, 19. APRIL:

TIM ASHLEY IST TOT!

In diesem Moment fällt mir etwas auf: Diese Nachricht ist noch gar nicht offiziell!

 Außer Ade, der Polizei und uns dürfte eigentlich noch niemand wissen, was mit Tim passiert ist.

Und doch steht es da auf dem Bildschirm.

TIMOTHY DAVID ASHLEY IST AM 19. APRIL, KNAPP DREI WOCHEN NACH SEINEM EINUNDZWANZIGSTEN GEBURTSTAG, TOT ZU HAUSE AUFGEFUNDEN WORDEN.

MEHR DETAILS GIBT ES NOCH NICHT, ABER IHR KÖNNT EUCH DARAUF VERLASSEN: DAS IST NOCH NICHT DAS ENDE VON FLAMMEN DER WAHRHEIT!

NUN SIND BEREITS ZWEI LEBEN VERLOREN. WAS IMMER MIT TIM GESCHEHEN IST, ER WAR UNSCHULDIG UND IST EINER SCHLIMMEN UNGERECHTIGKEIT ZUM OPFER GEFALLEN.

DER KAMPF UM TIMS RUF GEHT WEITER, HIER BEI UNS – VERWEILT, WEINT UM IHN, ABER VOR ALLEM SCHLIESST EUCH DEM KAMPF AN. WIR MÜSSEN ALLE WAFFEN NUTZEN, DIE UNS ZUR VERFÜGUNG STEHEN: WAHRHEIT, GERECHTIGKEIT, RACHE.

Die Sprache ist aggressiver als alles, was ich bislang auf Fanseiten gelesen habe. Die Urheber – oder der, falls es eine einzelne Person ist – wirken schon fast ein wenig durchgeknallt, aber vielleicht spricht auch nur die Wut aus ihnen. Ich weiß, was Wut mit einem anstellen kann.

Ich scrolle weiter.

HINTERGRUND: TIM ASHLEY, GESCHICHTSSTUDENT AN DER UNIVERSITY OF GREENWICH, GELANGTE INS LICHT DER ÖFFENTLICHKEIT, NACHDEM SEINE FREUNDIN MEGAN FORSTER IN DER CASTINGSHOW SING FOR YOUR SUPPER BEKANNT GEWORDEN WAR. ER SCHIEN SICH STETS UNWOHL IM RAMPENLICHT ZU FÜHLEN, WENN ER SIE ZU PREMIEREN UND PROMIPARTYS BEGLEITETE.

DOCH DER MORD AN FORSTER (10. MAI 2012) SOLLTE IHM NUR NOCH MEHR UNGEWOLLTE AUFMERKSAMKEIT EINBRINGEN.

DIE MEDIEN, DIE SICH OFFENSICHTLICH AUF INSIDERTIPPS AUS DEN REIHEN DER POLIZEI STÜTZTEN, STILISIERTEN IHN ZUM HAUPTVERDÄCHTIGEN. ABER AUCH NACH WIEDERHOLTEN BEFRAGUNGEN DURCH DIE MORDKOMMISSION GAB ES KEINE ANKLAGE UND ASHLEY SELBST SCHWIEG WÜRDEVOLL.

Ich habe aufgehört zu weinen. Es ist, als hätte jemand meine Gedanken gelesen. Woher hat derjenige, der hinter dieser Seite steckt, all diese Informationen? Der Polizist hatte recht: Das hier muss von jemandem geschrieben worden sein, der Tim gekannt hat.

AUF DIESER SEITE GLAUBEN WIR WEITER AN TIM. WIR HABEN BEWEISE – ECHTE BEWEISE –, DIE DIE HEXENJAGD, DIE TIM ERLEIDEN MUSSTE, ZUTIEFST UNBERECHTIGT ERSCHEINEN LASSEN. DER WAHRE MÖRDER MUSS DER JUSTIZ ZUGEFÜHRT WERDEN, DAMIT TIMS RUF BEREINIGT IST – UND NICHT NOCH JEMAND STIRBT.

Der Einzige, von dem ich weiß, dass er genau wie ich nie an Tims Schuld geglaubt hat, ist sein Mitbewohner. Doch das alles hier klingt so gar nicht nach Ade. Er hat sich immer ruhig und rational verhalten und dafür gesorgt, dass ich mit Tim wegen meiner Zweifel telefonieren konnte, genauso wie er dafür gesorgt hat, dass Tim nicht durchdrehte.

Davon abgesehen war es Ade, der Tims Leiche gefunden hat, erst vor ein paar Stunden. Er muss am Boden zerstört sein. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er als Erstes etwas auf einer Website posten würde.

Ganz unten auf der Seite gibt es ein Kommentarfeld:

FLAMMEN DER WAHRHEIT GLAUBT AN TIM ASHLEYS UNSCHULD. HELFT UNS, SIE ZU BEWEISEN! WENN IHR IRGENDETWAS WISST, DAS UNS DABEI NÜTZLICH SEIN KÖNNTE, HINTERLASST BITTE EINEN KOMMENTAR. SELBST WENN IHR EINFACH NUR WIE WIR ÜBERZEUGT SEID, DASS ER SO ETWAS NIE TUN WÜRDE, ERHEBT EURE STIMME. WIR BRAUCHEN EURE UNTERSTÜTZUNG. SELBSTVERSTÄNDLICH BLEIBEN EURE BEITRÄGE ANONYM – MEGANS MÖRDER IST IMMER NOCH DA DRAUSSEN UND WIR WERDEN EURE IDENTITÄT UM JEDEN PREIS SCHÜTZEN.

Ich bin noch nie auf die Idee gekommen, einen Kommentar auf einer dieser Seiten zu hinterlassen, aber hier hat bisher niemand etwas zu Tim geschrieben. Es wirkt, als würde selbst sein Andenken noch mit Füßen getreten. Ich scrolle wieder hoch zu seinem Foto. Er scheint mir direkt in die Augen zu sehen.

Es gibt so viel, was ich über ihn sagen könnte: dass er der einzige von Meggies Freunden war, der je Interesse an mir als Person gezeigt hat, dass er sich immer so gut um sie gekümmert hat, wie verloren er ohne sie klang, als ich das letzte Mal mit ihm gesprochen habe.

Ich klicke auf, doch die Seite braucht ewig, um sich zu aktualisieren, und als es schließlich so weit ist, keuche ich auf.

Jemand war schneller als ich.

7

Nun steht dort ein Kommentar:

RUHE IN FRIEDEN, TIM.

MEHR FRIEDEN, ALS DU AUF DIESER WELT GEFUNDEN HAST. DIE SCHWEINE, DIE DICH SO GEJAGT HABEN, WERDEN EINES TAGES DIE WAHRHEIT ERKENNEN. WAS MIT MEGGIE PASSIERT IST, WAR NICHT DEINE SCHULD.

EGAL WAS DIE LEUTE DENKEN, NICHT DEIN SCHLECHTES GEWISSEN HAT DICH DAZU GETRIEBEN, ALLEM EIN ENDE ZU SETZEN, SONDERN DEINE TRAUER.

EIN FREUND

NACHRICHT HINTERLASSEN VON WAHRHEITSSUCHENDEM NR. 1 UM 02:07 UHR

Der Kommentar ist gerade mal eine Minute alt. Ich lese ihn noch dreimal. Wer auch immer das geschrieben hat, scheint sich seiner Sache sehr sicher zu sein. Aber selbst die Verschwörungstheoretiker, die vermuten, dass hinter Meggies Tod Rivalen aus der Castingshow – oder auch die Regierung – stecken, können sich manchmal echt überzeugend anhören, auf ihre durchgeknallte Art.

Ich zittere, obwohl die Heizung zu meinen Füßen auf vollen Touren läuft. Das einzige Licht rührt von meinem Laptopbildschirm her und das Rot und Schwarz der Seite lassen mein Zimmer aussehen wie das Innere eines Ofens. Und doch friere ich mehr, als ich es draußen im Schneesturm tun würde.

Beim erneuten Blick auf den Bildschirm fällt mir noch etwas auf. Ganz oben am Rand blinken zwei Icons – ich beuge mich vor und erkenne, dass es winzige schwarze Totenschädel sind. Daneben steht:

WAHRHEITSSUCHENDE AUF DIESER SEITE: 2

Das muss bedeuten, dass derjenige, von dem die Nachricht stammt, immer noch online ist.

Ich klicke auf die Icons und ein Fenster öffnet sich.

WAHRHEITSSUCHENDER NR. 1 UND WAHRHEITSSUCHENDER NR. 2 BEREIT ZUM CHAT

Zum Chat! Ich habe keine Ahnung, was ich schreiben soll.

»Wer bist du?«, flüstere ich laut. Ungeschickt tippe ich mit meinen eiskalten Fingern: Was weißt du?

Ich drücke Enter und warte. Mein Totenschädel-Icon leuchtet jetzt blutrot, genauso wie meine Frage im Chatfenster. Der schwarze Schädel von Wahrheitssuchender Nr. 1 blinkt einmal auf.

Dann verschwindet er.

WAHRHEITSSUCHENDER NR. 1 HAT FLAMMEN DER WAHRHEIT VERLASSEN.

Nein! Ich klicke wie wild herum, doch das Chatfenster schließt sich. Ich bin allein auf der Seite.

Wer ist Wahrheitssuchender Nr. 1? Ist es dieselbe Person, die die Seite eingerichtet hat? Aber die würde doch keinen Kommentar hinterlassen … Das bedeutet, da draußen gibt es zwei Leute, die nicht glauben, dass Tim meine Schwester getötet hat.

Ich bin nicht allein. Wie gut sich das nach den vielen Monaten der Selbstzweifel anfühlt. Ich sollte auch einen Kommentar hinterlassen, als Unterstützung für die anderen.

Dann aber fällt mir ein, dass ich ja schon längst wieder am Strand sein wollte. Ich glaube nicht mehr, dass sich das Rätsel um den Mord an meiner Schwester durch Tims Tod gelöst hat, also müsste sie noch dort sein. Trotzdem muss ich hin, um so viel wie möglich über die Geschehnisse von letzter Nacht herauszufinden, bevor Ade Tim tot aufgefunden hat.

In meinem Postfach suche ich die E-Mail, die mein Leben verändert hat. Die Einladung, die Meggie mir geschickt hat, ist immer noch der einzige Weg, um auf die Soul-Beach-Seite zu kommen. Über Google findet man sie garantiert nicht.

»Alice?«

Das ist nicht die Stimme, die ich zu hören erwartet hatte, und ich bin auch nicht da, wo ich hinwollte. Sondern in der Strandbar. Auf den Tischen flackern Kerzen. Durch die offenen Seiten der Bambushütte dringt wildes Getrommel herein.

Hier lande ich nur, wenn etwas nicht stimmt oder Sam, die Barkeeperin, mich vor irgendeiner Gefahr warnen will.

»Sam. Was gibt’s?«

Doch bevor sie antworten kann, wird meine Zimmertür aufgestoßen.

Mum stürzt mit hysterischem Blick auf mich zu, gefolgt von Dad.

Mir bleibt keine Zeit, irgendetwas zu tun – kann noch nicht mal den Strand schnell wegklicken –, da reißt Mum schon das Kabel aus der Steckdose. Dann knallt sie den Laptop so heftig zu, dass sie vermutlich den Bildschirm zerschmettert hat.

»Was zum Teufel machst du da, Alice?«

Ich will schon Hausaufgaben antworten, aber mir ist klar, dass das wohl nichts bringen würde.

»Es ist zwei Uhr morgens, verdammt noch mal! Wir haben gerade herausgefunden, dass der Mörder deiner Schwester tot ist. Und wo sitzt du? Vor dem Computer, wo auch sonst!« Mums Stimme wird immer lauter. Okay, wir wohnen zwar in einem frei stehenden Haus, aber mittlerweile kann sie wahrscheinlich trotzdem die halbe Nachbarschaft hören. »Das ist ja eine richtige Besessenheit! Du bist internetsüchtig, Alice!«

Dad legt eine Hand auf ihre. »Bea, müssen wir das denn wirklich jetzt besprechen?«

Sie schüttelt ihn ab. »Ja, das müssen wir! Alice, es reicht. Das war’s. Du belügst uns doch schon seit Monaten, oder etwa nicht?« Sie wirbelt herum. »Guck doch, sie legt sogar schon Kissen vor die Tür, damit wir nicht sehen, dass sie noch wach ist.«

Dad runzelt die Stirn.

»Kein Wunder, dass du aussiehst wie ein Geist. Wahrscheinlich schlägst du dir vor dem Ding die halbe Nacht um die Ohren. Du ruinierst dir noch deine Gesundheit.«

Ich wünschte, ich könnte ihr erklären, dass ich alles andere als krank, sondern glücklich bin. Dass mit Meggie zusammen zu sein, schöner ist als alles, was mir das echte Leben bieten kann.

»Alice? Hat Mum recht?«, fragt Dad.

Er ist der Einzige hier, der mir überhaupt zuhört. Ihn kann ich nicht anlügen. Ich schweige.

»Siehst du, Glen? Also, ich habe genug davon, Alice. Das war die letzte Warnung. Ab sofort bist du offline. Kein Internet mehr für dich. Das hätten wir schon vor Monaten machen sollen.«

Ich starre sie an. Das ist doch wohl ein Scherz. Ist sie betrunken? Aber dann sehe ich ihren Blick, der erschreckend nüchtern ist. »Aber … die Schule. Ich muss doch meine Hausaufgaben machen«, flehe ich.

Mum lacht, aber es klingt alles andere als fröhlich. »Dein Dad und ich haben unseren Schulabschluss auch geschafft, als das Internet noch nicht mal erfunden war, also wirst du’s schon irgendwie überleben. Und es gibt noch so viel mehr im Leben als die Schule, Alice. Freunde zum Beispiel. Du hast Cara das Herz gebrochen, so wie du sie behandelt hast.«

Ich schließe die Augen. Ich habe mir ja Mühe gegeben, weiter mit Cara befreundet zu bleiben, aber wenn ich mich zwischen ihr und Meggie entscheiden muss … Meine Schwester braucht mich dringender. Und um mich um beide zu kümmern, hat der Tag nun mal nicht genug Stunden.

Dad scheint sich unbehaglich zu fühlen. »Aber was die Schule angeht, könnte Alice recht haben, Bea. Das ist ja nicht mehr so wie früher bei uns. Heutzutage schicken sie doch sogar die Hausaufgaben per Mail, oder?«

Ich sage nichts und hoffe, dass Mum auf ihn hört.

Sie zieht ein finsteres Gesicht. »Wir können sie doch nicht so weitermachen lassen. Nach der Sache mit Meggie haben wir ihr zu viel Freiraum gelassen, aber das ist jetzt schließlich ein Jahr her und …« Mum gerät ins Stocken, als könnte sie selbst nicht fassen, dass seitdem schon so viel Zeit vergangen ist.

Ich ergreife meine Chance. »Was übrigens auch bedeutet, dass ich schon fast siebzehn bin. Ihr könnt mir das nicht antun.«

Wir starren einander verbissen an.

Dad seufzt. »Wie wäre es denn, wenn wir ihren Laptop nach unten stellen? So können wir ein Auge darauf haben, wann sie ins Internet geht und was sie dort macht.«

»Ich bin doch kein Kleinkind, das ständig überwacht werden muss, damit es nicht in irgendwelchen Chatrooms vom bösen Wolf gestalkt wird!«

»Genauso verhältst du dich aber. Wie ein kleines Kind. Wir sind immer noch deine Eltern, Alice, und bis du endlich lernst, besser auf dich aufzupassen, müssen wir das eben tun.«

»Aber Mum –«

Sie dreht mir den Rücken zu, schnappt sich meinen Laptop und stolpert fast über das Kabel, das sie hinter sich her schleift.

Dad sieht mich nicht mal an. Ich habe ihn enttäuscht. Wenn ich ihm doch nur erklären könnte, dass ich niemals gelogen hätte, wenn es nicht unbedingt nötig gewesen wäre. Aber ich schätze, wenn ich Soul Beach auch nur erwähnen würde, würden sie den Laptop aus dem Fenster werfen und mich kurzerhand in eine Amish-Siedlung verfrachten.

Mum steckt den Kopf noch einmal ins Zimmer. »Ach ja, und bevor du auf dumme Gedanken kommst: Den Laptop lege ich unter mein Kopfkissen. Also würde ich vorschlagen, du gehst jetzt schlafen, damit du fit für morgen bist – dann fängt nämlich dein altes Leben wieder an. Es ist wirklich nur zu deinem Besten, Alice. Wir wollen nicht noch eine Tochter verlieren.«

8

Natürlich kann ich nicht schlafen.

Mein Kopf ist viel zu voll mit schrecklichen Bildern: der geheimnisvolle Mörder, der Tim überwältigt und zusieht, wie das Leben aus ihm heraussickert. Dieselbe gesichtslose Gestalt, die meiner toten Schwester das Haar bürstet. Sie war makellos zurechtgemacht, als eine ihrer Kommilitoninnen sie im Wohnheim gefunden hat. Das ist eins der vielen Details, auf die sich die Presse gestürzt hat: meine Schwester, das Dornröschen.

Ob Meggie sich wohl wundert, wo ich heute Nacht bleibe? Und weswegen wollte Sam mich warnen? Die Regeln des Strandes sind verworren und unbeständig. Vielleicht hat Tim jetzt den Platz meiner Schwester eingenommen. Vielleicht ist sie doch im Morgengrauen verschwunden, so wie Triti vor ihr.

Zum millionsten Mal drehe ich mich im Bett um und zwinge mich, rational zu denken. Tims Tod kann nicht das Ende bedeuten. Wenn er wirklich aus freien Stücken gestorben wäre, hätte er uns nie derart im Unklaren gelassen. Es hätte einen Brief gegeben, irgendeine Nachricht …

Ich fahre kerzengerade hoch. Was, wenn er wirklich versucht hat, mir eine Nachricht zu hinterlassen? Das wäre nur logisch. Ich bin die Einzige aus meiner Familie, die an ihn geglaubt hat. Er wäre es mir schuldig gewesen.

Ich krame in meinem Rucksack nach meinem Handy. Das blöde Ding hat noch nicht einmal Internetzugang. Ich benutze es kaum noch. Danny und Meggie können mir sowieso keine SMS schreiben.

Aber Tim schon. Hat er es in seinen letzten Stunden getan?

Der Akku ist leer.

Ich stöpsele das Ladekabel ein und warte darauf, dass das prähistorische Gerät reagiert.

Endlich erwacht es zum Leben, mit einem ohrenbetäubend lauten Piepen. Ich halte die Luft an vor Angst, dass meine Eltern aufgewacht sein könnten. Doch das Haus liegt immer noch stiller da als eine Leichenhalle.

In der Ecke des Displays sehe ich das Symbol eines ungeöffneten Briefumschlags.

Klick.

Von: Sahara

Alice, traurige Neuigkeiten. Ade hat Tim tot gefunden. Selbstmord. Bestimmt schlechtes Gewissen. Muss ein schlimmer Schock für dich sein. Für mich auch. Tut mir leid, dass du’s so erfährst. Hattest dein Handy aus. Ruf mich an.

LG, S

Sahara. War sie dabei, als Ade Tims Leiche gefunden hat? Aber eigentlich ist sie in letzter Zeit fast nie bei Ade daheim gewesen – sie konnte es nicht ertragen, dass ihr Freund mit einem Mordverdächtigen zusammenlebte. Eine Neuigkeit wie diese macht sie sicher völlig fertig. Allerdings habe ich manchmal den Verdacht, dass Sahara insgeheim auf solche Dramen steht. Sie erzählt den Leuten zum Beispiel andauernd, sie wäre Meggies beste Freundin gewesen, aber ich weiß ganz genau, dass die beiden sich über irgendetwas zerstritten hatten, bevor meine Schwester gestorben ist.

Und jetzt das … Die SMS ist von halb zehn, noch bevor die Polizei dort gewesen sein kann, sogar noch bevor ich Tims mühselige Ankunft am Strand beobachtet habe.

Wäre mein Handy eingeschaltet gewesen, hätte ich das Ganze von Sahara erfahren. Wieso überrascht mich das nicht?

Von Tim habe ich keine Nachricht, aber das ist gut, denn es beweist endgültig, dass ich recht habe. Ich bin nicht verrückt. Und er ist kein Mörder.

Allerdings bestätigt es auch, dass irgendwer da draußen nun schon zwei Menschen getötet hat, die mir nahestanden.

Ich lege das Handy auf mein Bett und frage mich, wann mein Leben so absurd geworden ist. Denn um ehrlich zu sein: Seit ich weiß, dass da draußen ein Serienmörder herumläuft, geht es mir sogar besser.

Am liebsten würde ich rufen: Ich hab’s euch ja gesagt! Ich wusste, dass es einen weiteren Todesfall geben würde.

Aber wem sollte ich das erzählen? Mord ist ein einsames Geschäft und außerdem würden die Leute sowieso antworten: Natürlich wusstest du es. Du hast ihn schließlich umgebracht.

Aber ich schwöre, das war kein Vorsatz. Kann überhaupt irgendjemand außer einem Auftragskiller oder einem Psychopathen mit Sicherheit voraussagen, wann er einen Menschen töten wird?

Das wäre ja, als würde man morgens aufwachen und sich sagen: Um zehn nach neun erschlage ich eine Fliege, obwohl man vielleicht den ganzen Tag keine einzige Fliege zu Gesicht bekommt oder nicht einmal den Drang verspürt, ein Fenster zu öffnen, durch das eine hereinschwirren könnte.

Handlungen ergeben sich zufällig, aus der Gelegenheit heraus. Alle, die sich an Motive klammern, haben es einfach nicht begriffen. Da könnte man genauso gut behaupten, dass Opfer auch Motive hätten. Dass sie wissen, wann ihre Zeit gekommen ist.

In Wirklichkeit ist die Grenze zwischen Mörder und Ermordetem schmaler, als wir zugeben wollen.

9

Nasse Erde fällt auf mein Gesicht. Meine Hände sind auf dem Rücken gefesselt. Als ich versuche, Luft zu holen, verschlucke ich mich an der Erde.

»Hilfe!«

Ich schrecke hoch, meine Finger krallen sich in mein Gesicht und ich ringe nach Atem.

Diesen Albtraum hatte meine Schwester oft. Sie hat mir mal davon erzählt. Und jetzt ist es, als hätte ich ihn von ihr geerbt.

Ich bin vollkommen erledigt und habe Kopfschmerzen. Und müsste – ich werfe einen Blick auf die Uhr – in vier Minuten in der Schule sein.

»Mum?« Ich hämmere gegen die Schlafzimmertür meiner Eltern, und als keine Antwort kommt, gehe ich hinein. »Mum, es ist fast neun.«

Sie regt sich nicht und mir fällt auf, wie jung sie aussieht, wenn sie schläft. Ihre Haut wirkt leicht aufgedunsen; sie hat gestern Nacht ein bisschen zu viel getrunken. Ich kann es ihr nicht verübeln.

»Alice?« Mum setzt sich auf und schon kehren die Sorgenfalten in ihr Gesicht zurück.

»Wir haben verschlafen. Dafür habe ich die ganze Nacht kaum ein Auge zugetan. Und es schneit immer noch. Kann ich nicht … Wäre es wohl okay, wenn ich heute zu Hause bleibe? Nach allem, was passiert ist.«

»Wonach?«, fragt sie und zieht die Stirn kraus. Dann fällt es ihr wieder ein und sie lässt sich zurück in die Kissen sinken. »Tim. Oh Gott.«

»Ich will heute keine Leute sehen müssen. Bestimmt ist es in allen Nachrichten. Das ertrage ich nicht, Mum.«

Sie seufzt. »Wir können aber nicht davor weglaufen, Alice. Wenn du heute nicht zur Schule gehst, wird es morgen doppelt so schlimm.«

Aber ich sehe ihr an, dass sie kurz davor ist, Ja zu sagen. »Ich will ja nicht für immer zu Hause bleiben. Nur heute. Bitte.«

Sie hebt die Hand. »Na schön. Von mir aus. Bleib mit mir zu Hause. Wir können uns einen Film ansehen. Was zum Mittagessen bestellen. Kuchen essen.«

Ich starre meine Mutter an. Plötzlich wirkt sie beinahe hyperaktiv. »Freust du dich etwa über das, was mit Tim passiert ist?«

»Nein, natürlich nicht.« Dann blinzelt sie. »Aber … aber mir hat die Vorstellung keine Ruhe gelassen, dass er einfach ganz normal weiterleben würde. Eine Familie gründen. Während deine Schwester …«

»Mum –«

»Ich wollte nicht, dass es so kommt, Alice, ehrlich nicht. Aber ich habe mir Gerechtigkeit gewünscht.«