Carol

Für Edna, Jordy und Jeff

1

Es war die Stoßzeit der Mittagspause in der Mitarbeiterkantine von Frankenberg’s.

An keinem der langen Tische war ein Platz frei; immer mehr Neuankömmlinge reihten sich in die Warteschlange hinter der Holzsperre neben der Kasse ein. Zwischen den Tischen suchten Leute mit ihrem Essenstablett in den Händen nach einer Lücke, in die sie sich quetschen konnten, oder nach jemandem, der im Begriff war, seinen Platz zu räumen, doch vergebens. Das Tellerklirren, Stühlerücken, der Stimmenlärm, die schlurfenden Füße und das Krack-krack-krack der Drehkreuze in dem Raum mit seinen nackten Wänden klangen wie das Lärmen einer einzigen großen Maschine.

Therese aß nervös, die Broschüre »Willkommen bei Frankenberg’s« vor sich aufgeschlagen an eine Zuckerdose gelehnt. Die dicke Broschüre hatte sie letzte Woche an ihrem ersten Ausbildungstag ganz gelesen, doch sie hatte nichts anderes dabei, worauf sie sich konzentrieren konnte, um ihre Nervosität in der Kantine zu meistern. Wieder las sie von den Urlaubsvergünstigungen, den drei Wochen Urlaub, die Mitarbeitern gewährt wurden, wenn sie seit fünfzehn Jahren bei Frankenberg’s arbeiteten; sie aß das warme Tagesgericht – eine graue Scheibe Roastbeef mit einer Kugel

Sie blätterte schnell um und sah auf einer Doppelseite die großen Buchstaben: »Sind Sie ein Frankenberger?«

Sie blickte durch den Raum zu den Fenstern und versuchte, an etwas anderes zu denken. An den wunderschönen schwarz und rot gemusterten Norwegerpullover, den sie bei Saks gesehen hatte und Richard zu Weihnachten schenken könnte, falls sie keine schönere Brieftasche fand als die Modelle, die für zwanzig Dollar angeboten wurden. Daran, daß sie nächsten Sonntag mit den Kellys nach West Point fahren und sich ein Hockeyspiel ansehen könnte. Das große quadratische Fenster an der gegenüberliegenden Wand sah aus wie ein Bild von – wie hieß er? Mondrian. Das kleine Fensterglasquadrat in der Ecke und darum herum weißer Himmel. Und kein Vogel, der hindurchflog. Was für ein Bühnenbild würde man für ein Stück entwerfen, das in einem Kaufhaus spielte? Sie war wieder beim Ausgangspunkt.

Aber bei dir ist es doch etwas anderes, Terry, hatte Richard zu ihr gesagt. Bei dir steht es doch ohnehin fest,

Sie wußte, was ihr an dem Kaufhaus nicht paßte. Es war etwas, was sie Richard nie erzählen würde. Es hatte damit zu tun, daß alles, was ihr noch nie gepaßt hatte, so lange sie zurückdenken konnte, durch das Kaufhaus verstärkt wurde. Die sinnlosen Verrichtungen, die zwecklosen Strafarbeiten, die sie daran zu hindern schienen, das zu tun, was sie tun wollte oder hätte tun können – in diesem Fall die komplizierte Handhabung der Geldtaschen, der Arbeitskleidungskontrolle und der Stechuhren, die letztlich verhinderte,

Jeden Morgen, wenn sie in der Schlange vor der Stechuhr im Untergeschoß wartete und ihre Augen unbewußt die Festangestellten von den Aushilfskräften sonderten, fragte sie sich, wie sie hier hatte landen können – sie hatte auf eine Annonce geantwortet, gewiß, aber das war keine Erklärung für ihr Los hier – und was sie als nächstes statt eines Bühnenbildauftrags erwarten mochte. Ihr Leben war eine Abfolge von Zickzackbewegungen. Sie war neunzehn und hatte Angst.

»Sie müssen lernen, anderen Leuten zu vertrauen, Therese.

»Schwester Alicia«, flüsterte Therese leise; die lispelnden Silben hatten etwas Tröstliches.

Therese richtete sich wieder auf und ergriff ihre Gabel, weil der Junge, der die Teller abräumte, sich näherte.

Sie konnte Schwester Alicias Gesicht vor sich sehen, knochig und gerötet wie rosiges Gestein im Sonnenlicht, und die gestärkte blaue Wölbung ihres Busens. Schwester Alicias, große knochige Gestalt, die um eine Ecke im Flur kam, zwischen den weißen Emailletischen im Refektorium ging, Schwester Alicia an tausend verschiedenen Orten, und ihre kleinen blauen Augen fanden Therese stets unfehlbar, sahen sie als etwas Besonderes unter all den anderen Mädchen, das wußte Therese, obwohl die dünnen rosa Lippen immer die gleiche gerade Linie bildeten. Sie sah, wie Schwester Alicia ihr die grünen Strickhandschuhe überreichte, in Seidenpapier eingewickelt, ohne zu lächeln, sondern sie ihr an ihrem achten Geburtstag beinahe wortlos und brüsk hinhielt. Schwester Alicia, die ihr mit dem gleichen zusammengepreßten Mund erklärte, daß sie ihre Arithmetikprüfung bestehen müsse. Wer sonst hätte sich dafür interessiert, ob sie ihre Arithmetikprüfung bestand? Therese hatte die Handschuhe im Internat hinten in ihrem Zinnschubfach aufbewahrt, jahrelang, als Schwester Alicia längst nach Kalifornien gegangen war. Das weiße Seidenpapier war weich und faltenlos geworden wie altes Tuch, doch die Handschuhe hatte sie nie getragen. Und schließlich waren sie ihr zu klein geworden.

Therese blickte auf die Hand gegenüber, eine rundliche, alternde Frauenhand, die den Kaffee in einer Tasse umrührte und jetzt zitternd vor Eifer ein Brötchen brach und eine Hälfte eines Brötchens gierig in die braune Bratensauce auf dem Teller tunkte, der genauso aussah wie der Therese’. Es waren rissige Hände, mit Schmutz in den Falten zwischen den Knöcheln, doch an der Rechten steckte ein auffälliger silberner Filigranring mit einem durchsichtigen grünen Stein und an der Linken ein goldener Ehering, und die Ränder der Nägel wiesen Spuren von rotem Nagellack auf. Therese sah zu, wie die Hand eine Gabel Erbsen nach oben führte, und sie mußte das Gesicht nicht ansehen, um zu wissen, wie es aussah. Es würde so aussehen wie alle Gesichter der Frauen um die Fünfzig, die bei Frankenberg’s arbeiteten, gezeichnet von anhaltender Erschöpfung und Angst, die Augen grotesk verzerrt hinter vergrößernden oder verkleinernden Brillengläsern, die Wangen fleckig von Rouge, das dem Grau darunter keine Frische verlieh. Therese brachte es nicht über sich, hinzusehen.

»Sie sind neu hier, stimmt’s?« Die Stimme erklang laut und deutlich in dem Getöse, eine fast liebliche Stimme.

»Ja«, sagte Therese und blickte auf. An das Gesicht konnte sie sich erinnern. Es war das Gesicht, aus dessen Erschöpfung sie alle anderen Gesichter erahnt hatte. Es war die Frau, die Therese eines Abends gegen halb sieben gesehen hatte, als keine Kunden mehr im Laden waren, wie sie sich die Marmortreppe vom Zwischengeschoß herunter mühte,

»Kommen Sie denn zurecht?«

Und hier saß die Frau und lächelte sie an, die gleichen entsetzlichen Furchen unter den Augen und um den Mund. Ihre Augen waren in diesem Augenblick lebendig und blickten zärtlich.

»Kommen Sie denn zurecht?« wiederholte die Frau in dem lauten Stimmengelärme und Geschirrklappern.

Therese fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ja, vielen Dank.«

»Gefällt es Ihnen hier?«

Therese nickte.

»Fertig?« Ein junger Mann in weißer Schürze griff energisch nach dem Teller der Frau.

Mit zittriger Gebärde ließ sie ihn gewähren. Sie zog den Unterteller mit Dosenpfirsich zu sich heran. Wie schleimige kleine orangegelbe Fische glitschten die Pfirsichschnitze jedesmal über den Löffelrand, wenn sie den Löffel anhob, alle bis auf einen, der gegessen wurde.

»Ich arbeite in der Pulloverabteilung im dritten Stock. Wenn Sie eine Frage haben –«, sagte die Frau nervös und unsicher, als ginge es darum, eine Botschaft auszurichten, bevor man sie unterbrach oder trennte, »dann kommen Sie doch einfach vorbei. Ich heiße Robichek, Mrs. Ruby Robichek, fünfhundertvierundvierzig.«

»Vielen Dank«, sagte Therese. Und mit einemmal war die Häßlichkeit der Frau verflogen, weil ihre rötlichbraunen

Therese suchte Mrs. Robichek nicht auf, aber jeden Morgen hielt sie Ausschau nach ihr, wenn die Angestellten gegen Viertel vor neun in das Gebäude zockelten; sie hielt Ausschau nach ihr in den Aufzügen und in der Kantine. Sie erblickte sie nie, doch es war nett, nach jemandem in dem Kaufhaus Ausschau zu halten. Es machte ungeheuer viel aus.

Fast jedesmal, wenn Therese kam, um im siebten Stock ihre Arbeit anzutreten, blieb sie einen Moment lang stehen, um eine bestimmte Spielzeugeisenbahn zu betrachten. Die Eisenbahn befand sich auf einem Tisch neben den Aufzügen. Es war keine große schöne Eisenbahn, wie man sie auf dem Boden ganz hinten in der Spielwarenabteilung bewundern konnte, aber ihre winzigen stampfenden Kolben beseelte ein Ungestüm, das den größeren Zügen fehlte. Die zornige Erbitterung der kleinen Eisenbahn auf dem ausweglosen Schienenoval schlug Therese in ihren Bann.

Arr-rr-rr!, verkündete die Eisenbahn, wenn sie sich blindlings in den Pappmachétunnel stürzte, und Orr-rr-rr!, wenn sie aus ihm auftauchte.

Die kleine Eisenbahn war immer in Betrieb, wenn Therese morgens aus dem Aufzug trat und wenn sie abends den Arbeitsplatz verließ. Sie hatte das Gefühl, daß die Eisenbahn die Hand verfluchte, die sie jeden Morgen in Betrieb

An diesem Morgen wandte Therese sich abrupt von der Eisenbahn ab und ging in die Puppenabteilung, in der sie arbeitete.

Um fünf nach neun erwachte die häuserblockgroße Etage der Spielwarenabteilung zum Leben. Grüne Schonbezüge wurden von den langen Theken entfernt. Mechanische Spielsachen begannen Bälle in die Luft zu werfen und aufzufangen, an Schießständen knallte es, und die Zielscheiben rotierten. Auf der Theke mit den Bauernhoftieren quakte, gackerte und wieherte es. Hinter Therese war ein müdes Rat-tat-tat in Gang gesetzt worden, die Trommelschläge des riesengroßen Zinnsoldaten, der kampfeslustig den Aufzügen die Stirn bot und den ganzen Tag trommelte. Von der Theke mit Bastel- und Künstlermaterial drang der

Mrs. Hendrickson, die Abteilungsleiterin, schleppte Puppen aus den Lagerregalen herbei und setzte sie mit gespreizten Beinen auf die Glasoberflächen der Ladentheken.

Therese grüßte Miss Martucci, die an der Theke stand und die Scheine und Münzen ihrer Geldtasche so konzentriert zählte, daß sie Therese nur mit einer tieferen Verbeugung ihres rhythmisch nickenden Kopfs antworten konnte. Therese zählte den Inhalt ihrer eigenen Geldtasche – achtundzwanzig fünfzig –, trug die Summe auf einen weißen Coupon für den Umschlag mit den Zahlungsbelegen ein und beförderte das Geld in die entsprechenden Fächer ihrer Schublade in der Registrierkasse.

Mittlerweile traten erste Kunden aus den Aufzügen, verharrten kurz mit der verwirrten und leicht erschrockenen Miene, die alle zeigten, wenn sie in die Spielwarenabteilung kamen, und schlugen dann ihre verschlungenen Wege ein.

»Führen Sie die Puppen, die Pipi machen können?« fragte eine Frau sie.

»Ich hätte gern die Puppe da, aber mit einem gelben Kleid«, sagte eine Frau und schob ihr eine Puppe zu, und Therese wandte sich um und holte die gewünschte Puppe aus einem Regal.

Mund und Wangen der Frau waren wie die ihrer Mutter, bemerkte Therese, leicht narbige Wangen unter dunkelpinkfarbenem

»Gibt es die Wickelpuppen nur in einer Größe?«

Verkaufsgeschick war nicht erforderlich. Die Leute wollten eine Puppe, egal welche, als Weihnachtsgeschenk. Man mußte sich in einem fort bücken und Kartons hervorholen auf der Suche nach einer Puppe mit braunen statt blauen Augen, Mrs. Hendrickson bitten, mit ihrem Schlüssel eine Vitrine aufzuschließen, was sie widerstrebend tat, wenn sie wirklich überzeugt war, daß die betreffende Puppe nicht im Lager vorrätig war, man mußte sich hinter der Verkaufstheke entlangschlängeln, um die verkaufte Puppe auf dem Berg von Kartonagen auf dem Packtisch abzusetzen, der ständig wuchs und umkippte, egal, wie oft die Lageristen die leeren Verpackungen wegräumten. Kinder kamen fast nie. Der Weihnachtsmann war dafür zuständig, die Puppen zu bringen, und ihn verkörperten die verzerrten Gesichter und die krallenden Hände. Und doch mußte guter Wille sie alle beseelen, dachte Therese, sogar die kühlen, gepuderten Gesichter der Frauen in Nerz und Zobel, die in der Regel besonders arrogant waren und hastig die größten und teuersten Puppen kauften, Puppen mit echtem Haar und mehreren Kleidergarnituren. Gewiß beseelte Liebe die armen Leute, die warteten, bis sie an die Reihe kamen, sich leise nach dem Preis einer bestimmten Puppe erkundigten und bedauernd den Kopf schüttelten und sich abwandten. Dreizehn Dollar und fünfzig Cent für eine Puppe, die keine dreißig Zentimeter hoch war.

»Nehmen Sie sie«, hätte Therese am liebsten gesagt. »Sie

Doch die Frauen in den billigen Tuchmänteln, die kleinen Männer, die sich hinter schäbigen Schals versteckten, waren schon fort, mit wehmütigen Blicken zu anderen Theken auf ihrem Rückweg zum Aufzug. Wenn Leute eine Puppe kaufen wollten, kam nichts anderes in Frage. Eine Puppe war ein besonderes Weihnachtsgeschenk, so gut wie lebendig, fast wie ein Baby.

Kinder waren fast nie zu sehen, nur hin und wieder ein kleines Mädchen und sehr selten ein kleiner Junge an der Hand eines Erwachsenen. Therese zeigte dem Kind die Puppe, die ihm vielleicht gefallen würde. Sie war geduldig, und zuletzt bewirkte eine bestimmte Puppe jene Verwandlung im Gesicht des Kindes, die anzeigte, daß es sich auf das Spiel mit der Illusion einließ, und meistens war es diese Puppe, für die das Kind sich entschied.

Und eines Abends nach Arbeitsschluß sah Therese Mrs. Robichek in dem Kaffee-und-Doughnut-Imbiß auf der anderen Straßenseite. Therese trank dort oft eine Tasse Kaffee, bevor sie nach Hause ging. Mrs. Robichek stand hinten in dem Lokal, am Ende der langen Kurve der Theke, und tauchte einen Doughnut in ihren Kaffeebecher.

Therese drängelte sich zu ihr durch, an dem Gewirr von Mädchen und Kaffeebechern und Doughnuts vorbei. Als sie Mrs. Robicheks Ellbogen erreichte, japste sie: »Hallo« und wandte sich dann zur Theke, als wäre sie nur hier, um Kaffee zu bestellen.

»Hallo«, sagte Mrs. Robichek so gleichgültig, daß Therese jeden Mut verlor.

»Das schaffen wir schon«, sagte Therese beruhigend.

Therese bahnte für sie beide einen Weg zur Tür. Sie fuhr ebenfalls mit der Independent-Subway-Linie. Sie und Mrs. Robichek drängten sich in die träge Masse am Subway-Eingang, die sie allmählich unwiderstehlich die Treppe hinuntersog wie schwimmende Abfallpartikel im Abfluß. Sie stellten fest, daß sie beide an der Haltestelle Lexington Avenue ausstiegen, obwohl Mrs. Robichek an der Fifty-fifth Street wohnte, östlich der Third Avenue. Therese begleitete Mrs. Robichek in den kleinen Lebensmittelladen, in dem sie ihr Abendessen einkaufen wollte. Therese hätte sich auch etwas zum Abendessen kaufen können, aber in Mrs. Robicheks Gegenwart brachte sie es nicht über sich.

»Haben Sie etwas zu essen zu Hause?«

»Nein, ich will später einkaufen.«

»Wollen Sie nicht mitkommen und bei mir essen? Ich wohne allein. Kommen Sie ruhig.« Mrs. Robichek beendete ihre Einladung mit einem Achselzucken, als erforderte das weniger Anstrengung als ein Lächeln.

Der Impuls, höflich abzulehnen, währte nur kurz, und Therese sagte: »Danke. Ich komme gerne mit.« Dann erblickte sie auf der Theke einen Kuchen in Zellophan, einen

Das Haus sah aus wie das, in dem Therese wohnte, allerdings aus Brownstone und viel dunkler und trostloser. Im Treppenhaus war es finster, und als Mrs. Robichek im Flur des dritten Stocks das Licht einschaltete, sah Therese, daß es in dem Haus nicht sehr sauber war. Mrs. Robicheks Zimmer war auch nicht sehr sauber, und das Bett war ungemacht. Stand sie so müde auf, wie sie zu Bett ging?, fragte sich Therese. Sie stand mitten im Raum, während Mrs. Robichek sich mit schleppendem Schritt zur Kochnische bewegte, die Einkäufe in der Hand, die sie Therese abgenommen hatte. Therese hatte den Eindruck, daß sie sich jetzt, zu Hause, wo sie niemand sehen konnte, erlaubte, so erschöpft auszusehen, wie sie tatsächlich war.

Später konnte Therese sich nicht erinnern, wie es dazu gekommen war. Sie konnte sich auch nicht an das Gespräch unmittelbar vorher erinnern; das Gespräch war ohnehin unerheblich. Was geschah, war, daß Mrs. Robichek sonderbar zurückwich, wie in Trance, und plötzlich murmelte, statt laut zu sprechen, und sich dann rücklings auf das ungemachte Bett legte. Das ununterbrochene Gemurmel, das schwache, verzeihungheischende Lächeln und die entsetzliche, erschreckende Häßlichkeit des schweren, untersetzten Körpers mit dem hervorquellenden Unterleib im Verein mit dem bittend geneigten Kopf, der sie noch immer höflich anblickte, benahmen ihr jedes Vermögen, zuzuhören.

»Ich hatte mein eigenes Schneidergeschäft in Queens.

Mrs. Robichek stand auf und ging zu einer kleinen Truhe an der Wand. Sie öffnete sie, wobei sie weiterredete, und entnahm ihr Kleider aus dunklen, schwer wirkenden Stoffen, die sie eins nach dem anderen zu Boden fallen ließ. Ein granatrotes Samtkleid mit weißem Kragen und winzig kleinen weißen Knöpfen, die vorn an der schmalen Taille zu einem V zusammenliefen, hielt Mrs. Robichek in die Höhe.

»Sehen Sie, ich habe sie in rauhen Mengen. Ich habe sie erfunden. Andere haben sie nachgemacht.« Oberhalb des weißen Kragens, den sie mit ihrem Kinn festhielt, hatte Mrs. Robichek ihren häßlichen Kopf grotesk schief gelegt. »Gefällt es Ihnen? Ich schenke es Ihnen. Kommen Sie her. Kommen Sie her, probieren Sie es an.«

Die Vorstellung, ein Kleid anzuprobieren, fand Therese abstoßend. Am liebsten wäre ihr gewesen, Mrs. Robichek hätte sich wieder hingelegt, um sich auszuruhen, doch gehorsam

Mit zitternden und zudringlichen Händen drängte Mrs. Robichek ihr ein schwarzes Samtkleid auf, und Therese wurde mit einemmal klar, wie sie Kunden im Kaufhaus bediente, ihnen die Pullover unerwartet über den Kopf zog, denn anders konnte sie diese Handgriffe sicher gar nicht ausführen. Seit vier Jahren arbeite sie schon bei Frankenberg’s, hatte Mrs. Robichek gesagt, wie sich Therese erinnerte.

»Gefällt Ihnen das grüne besser? Probieren Sie es an.« Und während Therese noch zögerte, ließ sie es fallen und hob ein anderes auf, das dunkelrote. »Den Mädchen im Kaufhaus habe ich fünf davon verkauft, aber Ihnen schenke ich eines. Ladenhüter, aber nicht aus der Mode. Gefällt Ihnen das hier besser?«

Das rote gefiel Therese besser. Sie mochte Rot, vor allem Granatrot, und roten Samt mochte sie ganz besonders. Mrs. Robichek schubste sie in eine Ecke, wo sie ihre Kleidung ausziehen und auf einen Sessel legen konnte. Aber sie wollte das Kleid nicht, wollte es nicht als Geschenk. Es erinnerte sie an die Kleiderspenden im Internat, an abgelegte Kleidung; sie war dort behandelt worden, als wäre sie eines der Waisenmädchen, aus denen die Hälfte der Schülerschaft bestand und die nie Päckchen von zu Hause bekamen. Therese zog ihren Pullover aus und kam sich ganz nackt vor. Sie umfaßte ihre Arme oberhalb der Ellbogen; das Fleisch fühlte sich kalt und empfindungslos an.

»Ich habe genäht«, sagte Mrs. Robichek erinnerungsselig im Selbstgespräch, »oh, wie habe ich genäht, von morgens

Therese begriff, daß Mrs. Robichek ihr all ihre Sorgen und ihr Pech erzählte, damit sie verstand, warum Mrs. Robichek so tief gesunken war, daß sie in einem Kaufhaus arbeitete.

»Paßt es?« fragte Mrs. Robichek ermunternd.

Therese sah in den Spiegel an der Kleiderschranktür. Er zeigte eine lange dünne Gestalt mit schmalem Kopf, dessen Umriß in Flammen zu stehen schien, ein hellgelbes Feuer, das in leuchtendrote Streifen auf beiden Schultern überging. Das Kleid hing in senkrechten Falten fast bis zu ihren Knöcheln. Es war das Kleid einer Königin im Märchen, roter als Blut. Sie trat einen Schritt zurück, hielt das zu weite Kleid an ihrem Rücken zusammen, so daß es an Brustkorb und Taille eng anlag, und blickte in ihre eigenen haselnußbraunen Augen im Spiegel. Sie begegnete sich selbst. Das hier war sie, nicht das Mädchen in dem langweiligen karierten Rock und dem beigefarbenen Pullover, nicht das Mädchen, das in der Spielwarenabteilung von Frankenberg’s arbeitete.

»Gefällt es Ihnen?« fragte Mrs. Robichek.

Therese betrachtete den überraschend ruhigen Mund, dessen Form sie deutlich erkennen konnte, obwohl sie nicht mehr Lippenstift trug, als wenn jemand sie geküßt

»Wenn es Ihnen gefällt, behalten Sie es«, forderte Mrs. Robichek sie ungeduldig auf; sie beobachtete sie aus der Entfernung, lauerte am Schrank, wie Verkäuferinnen lauern, während die Kundinnen Mäntel und Kleider vor dem Spiegel im Kaufhaus anprobieren.

Doch es wäre nicht von Bestand, das wußte Therese. Sie würde sich bewegen, und es wäre vorbei. Selbst wenn sie das Kleid behielte, wäre es vorbei, weil es die Sache eines Augenblicks war, dieses Augenblicks. Sie wollte das Kleid nicht. Sie versuchte sich das Kleid in ihrem Wandschrank zu Hause vorzustellen, zwischen ihrer übrigen Kleidung, und konnte es nicht. Sie begann die Knöpfe aufzuknöpfen, den Kragen abzunehmen.

»Es gefällt Ihnen, oder?« fragte Mrs. Robichek so ermunternd wie nur möglich.

»Ja«, sagte Therese entschieden und ehrlich.

Sie konnte den Verschluß hinten am Kragen nicht aufhaken. Mrs. Robichek mußte ihr helfen; sie konnte es kaum abwarten. Ihr war zumute, als würde sie erdrosselt. Was tat sie hier? Wie hatte sie so ein Kleid anziehen können? Mit einemmal kamen ihr Mrs. Robichek und deren Wohnung wie ein scheußlicher Traum vor, von dem sie erst jetzt merkte, daß sie ihn träumte. Mrs. Robichek war die buckelige Wärterin des Verlieses. Und sie, Therese, war hergebracht worden, um hier gefoltert zu werden.

»Was ist los? Haben Sie sich an einer Nadel gestochen?«

Therese öffnete die Lippen, um zu sprechen, doch ihr

Vielleicht war es auch schon zu spät. Wie in einem Alptraum stand Therese in ihrem weißen Unterrock zitternd im Raum, außerstande, sich zu rühren.

»Was haben Sie? Ist Ihnen kalt? Hier ist es warm.«

Es war warm. Die Heizung zischte. Im Zimmer roch es nach Knoblauch, nach Medizin, dem Modergeruch des Alters und nach der eigentümlich metallischen Ausdünstung, die zu Mrs. Robichek gehörte. Therese wollte sich auf den Sessel fallen lassen, auf dem ihr Rock und ihr Pullover lagen. Wenn sie auf ihrer eigenen Kleidung lag, dachte sie, wäre es vielleicht nicht so schlimm. Aber besser sollte sie sich gar nicht erst hinlegen. Wenn sie es täte, wäre es um sie

Therese zitterte am ganzen Körper. Sie hatte sich plötzlich nicht mehr in der Gewalt. Es war Schüttelfrost, nicht lediglich Furchtsamkeit oder Müdigkeit.

»Setzen Sie sich«, sagte Mrs. Robicheks Stimme aus der Ferne und mit so erschreckendem Gleichmut und einer Gelassenheit, als wäre sie es gewohnt, daß Mädchen in ihrem Zimmer in Ohnmacht fielen, und ebenfalls aus der Ferne kamen ihre trockenen, aufgerauhten Fingerspitzen und drückten Therese’ Arm.

Therese wehrte sich gegen den Sessel, weil sie wußte, daß sie ihm erliegen würde, und sogar im Wissen, daß sie sich aus ebendiesem Grund von ihm angezogen fühlte. Sie ließ sich in den Sessel fallen, spürte, wie Mrs. Robichek an ihrem Rock zerrte, um ihn unter ihr wegzuziehen, aber sie war zu keiner Bewegung fähig. Dennoch war ihr Bewußtsein völlig ungetrübt, ihr Denkvermögen ungemindert, obwohl die dunklen Sessellehnen ihr die Sicht versperrten.

Mrs. Robichek sagte gerade: »Sie müssen im Kaufhaus zuviel stehen. In der Weihnachtszeit ist es hart. Ich habe vier Weihnachten erlebt. Sie müssen lernen, Ihre Kräfte ein bißchen zu schonen.«

Sich die Treppe hinuntermühen, indem man sich am Treppengeländer festhält. Die Kräfte schonen, indem man in der Kantine seinen Lunch ißt. Die Schuhe von den Füßen mit den entzündeten Ballen streifen, so wie die Frauen, die nebeneinander auf dem Heizkörper in der Damentoilette kauerten, sich ein Stückchen Heizkörper erkämpften,

Therese’ Verstand arbeitete ganz klar. Es war verblüffend, wie klar er arbeitete, wenn man bedachte, daß sie mit leerem Blick vor sich hinstarrte und daß sie sich nicht rühren konnte, selbst wenn sie es gewollt hätte.

»Sie sind nur müde, Sie armes junges Ding«, sagte Mrs. Robichek und steckte ihr eine Wolldecke um die Schultern herum fest. »Sie müssen sich ausruhen, weil Sie den ganzen Tag stehen mußten und heute auch noch am Abend stehen mußten.«

Eine Zeile von Richards T.S. Eliot kam Therese in den Sinn. So hatte ich es nicht gemeint. So nicht, so nicht, so nicht. Sie wollte die Worte sagen, konnte ihre Lippen aber nicht dazu bringen. In ihrem Mund war etwas Süßes, Brennendes. Mrs. Robichek stand vor ihr, träufelte etwas aus einer Flasche auf einen Löffel und steckte ihr den Löffel zwischen die Lippen. Therese schluckte gehorsam und hätte auch geschluckt, wenn es Gift gewesen wäre. Jetzt konnte sie ihre Lippen bewegen, konnte sie den Sessel verlassen, doch jetzt wollte sie sich nicht rühren. Zuletzt lehnte sie sich zurück, ließ sich von Mrs. Robichek mit der Decke zudecken und stellte sich schlafend. Doch heimlich beobachtete sie die buckelige Gestalt, die sich in dem Zimmer zu schaffen machte, den Tisch abdeckte und sich auszog, um ins Bett zu gehen. Sie beobachtete, wie Mrs. Robichek ein großes Schnürkorsett ablegte und danach ein Riemengebilde, das ihre Schultern und einen Teil ihres Rückens bekleidete. Da schloß Therese voller Grauen die Augen und hielt sie fest geschlossen, bis das Qietschen der

Ich werde fünfzehn Minuten abwarten, bis sie eingeschlafen ist, und dann gehe ich, dachte Therese.

Und weil sie müde war, spannte sie alle Fibern ihres Körpers an und wehrte die Benommenheitsschübe ab, die so plötzlich kamen und wie ein Fallen waren, die sich jede Nacht lange vor dem Schlaf einstellten und ihn zugleich ankündigten. Sie blieben fort. Und nach einer Zeitspanne, die sie für fünfzehn Minuten hielt, kleidete Therese sich leise an und ging leise zur Tür hinaus. Alles in allem war es nicht schwer, einfach die Tür zu öffnen und zu entkommen. Es war nicht schwer, dachte sie, weil sie in Wahrheit gar nicht entkam.