Armin Köhler

Fibromyalgie:
Ursachen und Therapie einer chronischen Schmerzerkrankung

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© 2013 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

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Cover: Hemm & Mader, Stuttgart

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-89093-8

E-Book: ISBN 978-3-608-10401-1

Das E-Book basiert auf der 1. Auflage 2010 der Printausgabe.

Inhalt

Vorwort von Prof. Dr. med. H. Schreiber

1. Einleitung

1.1 Symptomatik und Verlauf der Fibromyalgie

1.2 Historisches zu dieser Krankheit

1.3 Psychosomatik

1.3.1 Begiffsbestimmungen

1.3.2 Historisches zur Leib-Seele-Auffassung

1.3.3 Psychosomatische Modelle

1.3.4 Gegenwärtige Situation

1.4 Epidemiologie

1.5 Zusammenfassung

2. Symptomatik der Fibromyalgie

2.1 Schmerz

2.1.1 Definition und Klassifikation

2.1.2 Schmerzauffassungen bis zum 19. Jahrhundert

2.1.3 Modernere Schmerzkonzepte

2.1.4 Physiologische Grundelemente des Schmerzes

2.1.5 Die Gate-Control-Theorie

2.1.6 Neuere Ergebnisse der Schmerzforschung

2.2 Schmerz, Schlafstörung und Depression

2.3 Stress

2.3.1 Einführung

2.3.2 Klassische Stresskonzepte

2.3.3 Eine pragmatische »Stresstheorie«

2.3.4 Exkurs: Physiologische Vorgänge bei Stress

3. Entstehung und Chronifizierung der Fibromyalgie

3.1 Disponierende Merkmale

3.1.1 Daten aus der Kindheit

3.1.2 Psychische Dispositionen

3.1.3 Belastende Lebensereignisse und Dauerbelastungen

3.1.4 Integration der Daten (3.1.1 bis 3.1.3) in das Fibromyalgie-Modell

3.1.5 Phase a: Zusammenfassung

3.2 Entstehung der Fibromyalgie

3.2.1 Fibromyalgie – eine somatoforme Schmerzstörung

3.2.2 Fibromyalgie als Folge des »Schmerzgedächtnisses«

3.2.3 Fibromyalgie als Folge der Veränderung endokriner Abläufe

3.2.4 Fibromyalgie durch Muskelverspannung und Schlafmangel

3.2.5 Fibromyalgie als eine mögliche Folge von Schleudertraumata

3.2.6 Fibromyalgie als Folge der Störung des Säure-Basen-Haushalts

3.2.6.1 Allgemeine Grundlagen

3.2.6.2 Hormone und psychischer Stress

3.2.6.3 Das Bindegewebe

3.2.7 Fibromyalgie und TCM (Traditionelle Chinesische Medizin)

3.2.7.1 Zur Anatomie der Akupunkturpunkte

3.2.7.2 Folgen verklebter Akupunkturpunktlöcher

3.2.8 Mythen und Ungewissheiten über Fibromyalgie-Verursachungen

3.2.9 Folgerungen für die Therapie

3.3 Chronifizierungsfaktoren

3.3.1 Fibromyalgie-typische Symptomatik

3.3.2 Negatives bzw. fehlendes Schmerzcoping

3.3.3 Sonstige somatoforme/psychosomatische Störungen

3.3.4 Die Fibromyalgie begünstigende Persönlichkeitsmerkmale

3.3.5 Arbeits- und berufsbedingte Faktoren

3.3.6 Iatrogene Noxen

3.3.7 Zusammenwirken der verschiedenen Faktoren

3.4 Zur Persönlichkeit von Fibromyalgie-Patienten

3.4.1 Differenzielle Analyse der Fibromyalgie-Patienten

3.4.2 Daten der drei Fibromyalgie-Untergruppen

3.4.3 Beschreibung der Fibromyalgie-Untergruppen

3.4.3.1 Fibromyalgie Typ 1: Beschreibung und Fallbeispiel

3.4.3.2 Fibromyalgie Typ 2: Beschreibung und Fallbeispiel

3.4.3.3 Fibromyalgie Typ 3: Beschreibung und Fallbeispiel

3.4.4 Zusammenfassung

4. Zur Diagnostik der Fibromyalgie

4.1 Anamnese und Fibromyalgie-Fragebogen

4.2 Schmerzpunktmessung

4.3 Differenzialdiagnostik

4.4 Ergänzungen zur Fibromyalgie-Diagnostik

4.5 Die Körperskulpturmethode bei Fibromyalgie

5. Therapie und Prophylaxe

5.1 Zum Umgang mit Stress

5.2 Behandlung chronischer Schmerzen

5.2.1 Allgemeine Richtlinien im Umgang mit chronischem Schmerz

5.2.2 Das Arzt-Patient-Verhältnis

5.2.3 Der Schmerz und das Unbewusste

5.2.4 Psychologische Schmerztherapie

5.2.5 Konzentrative Entspannung

5.3 Psychotherapie bei Fibromyalgie

5.4 Chirurgische Intervention bei Fibromyalgie

5.4.1 Chirurgische Quadrantenschmerz-Intervention

5.4.2 Einwände und Entgegnungen

5.4.3 Ein Fallbeispiel

5.5 Imaginative Körper-Psychotherapie

5.6 Sonstige Therapien und Selbsthilfemaßnahmen

5.6.1 Pharmakotherapie

5.6.2 Physikalische Therapie

5.6.3 Alternative und sonstige Therapien

5.6.4 Selbsthilfemaßnahmen

5.7 Gedanken zur Prophylaxe

5.8 Schlussbetrachtung

Dank

Literatur

Glossar

Index

Vorwort

Das Fibromyalgie-Syndrom wird in der medizinischen Fachwelt so kontrovers diskutiert wie kaum ein anderes Krankheitsbild. Während ein Teil der Experten von einem Krankheitsbild mit somatischem Hintergrund ausgeht, vertritt die aktuell dominierende Lehrmeinung die Auffassung, dass es sich bei der Fibromyalgie im Kern um ein psychisch bedingtes, somatoformes Schmerzsyndrom handle. Wieder andere Meinungen negieren, dass die Fibromyalgie überhaupt eine Krankheitsentität darstelle. Die konkurrierenden Ansichten hängen damit zusammen, dass Ursachen und Bedingungsgefüge der Fibromyalgie noch weitgehend unerforscht sind. Somatisch fassbare Befunde, die eine nosologische Einordnung der Störung in die Kategorien der Schulmedizin erlaubten, fehlen weitgehend.

Dabei gehört die Fibromyalgie zu den häufigsten Störungsbildern in westlichen Gesellschaften. Die Prävalenz wird mit 2 % bis 7 % der Gesamtbevölkerung angegeben. Auf der Basis dieser Zahlen gibt es in Deutschland mindestens 1,6 Millionen Menschen, zum großen Teil Frauen, die von Fibromyalgie betroffen sind.

Das Buch von Dr. Armin Köhler unternimmt den gelungenen Versuch, das Phänomen der Fibromyalgie aus verschiedensten Perspektiven zu beleuchten und einzuordnen. Hierbei fließen somatische, psychische und ausführlich recherchierte wissenschaftliche und experimentelle Aspekte ein. Der Autor, der mehrere Jahre als Psychologe in einer Spezialklinik für Rheumatologie arbeitete, kann auf einen reichen klinischen Erfahrungsschatz zurückgreifen. Auch zwei eigene wissenschaftliche Untersuchungen zur Frage der Entstehung und Chronifizierung der Fibromyalgie werden aufgeführt. Abgerundet wird die Darstellung durch anregende Exkurse zu den medizinischen und wissenschaftlichen Fragen, die die Grundlagen der Fibromyalgie betreffen.

Im Einzelnen befasst sich Kapitel 1 mit grundlegenden Aspekten zu Verlauf, Symptomatik und Epidemiologie der Fibromyalgie. In Kapitel 2 wendet sich der Autor traditionellen und modernen Schmerzkonzepten zu, diskutiert die Wechselwirkungen von Schmerz, Schlafstörungen und Depression und setzt sich sehr differenziert mit dem Phänomen Stress auseinander. Dabei werden die emotionalen und psychischen Dimensionen des Schmerzes weit über die allgemein übliche klinische Betrachtung hinaus vertieft. Kapitel 3 setzt sich mit der Entstehung und Chronifizierung der Fibromyalgie auseinander. Der Leser erhält einen detaillierten Einblick in mögliche Dispositionsfaktoren und Entstehungshypothesen. Dabei scheut sich der Autor nicht, auch provokative Thesen und Behandlungsmethoden zu Wort kommen zu lassen und zu hinterfragen. Die Betrachtung gipfelt in der Frage, ob es Persönlichkeitsprofile gibt, die zu Fibromyalgie disponieren, oder gar eine »Fibromyalgie-Persönlichkeit«. Kapitel 4 befasst sich mit dem für Kliniker relevanten Aspekt der Diagnose und Differenzialdiagnose, Kapitel 5 mit therapeutischen Optionen und Möglichkeiten der Prophylaxe.

Dieser umfassenden Übersicht über das Fibromyalgie-Syndrom möchte man eine weite Verbreitung in der medizinischen Fachwelt und im Patienten- und Laienbereich wünschen. Dem Autor gelingt eine fesselnde und kompetente Darstellung eines komplexen klinischen Sachverhalts – eine psycho-somatische Betrachtung im besten Sinne. Das Buch wendet sich primär an Mitglieder der Heilberufe, die im klinischen Alltag mit Fibromyalgie befasst sind, somit Ärzte, Psychologen und Therapeuten. Durch die sehr einfühlsame und anschauliche Darstellung ist es auch für Patienten und interessierte Laien eine geeignete Lektüre.

Prof. Dr. med. H. Schreiber

1. Einleitung

Fibromyalgie ist für die betroffenen Patienten ein sehr belastendes Krankheitsbild, welches in den meisten Fällen zu einer erheblichen Einschränkung der Lebensqualität führt. Dabei sind quälende Schmerzen an vielen Körperbereichen, insbesondere sind davon Muskeln und Sehnenansätze betroffen, wohl das hervorstechendste Symptom. Daneben leiden die Betroffenen oft auch unter Schlafstörungen, obwohl sie sich müde, abgeschlagen und ruhebedürftig fühlen, sowie an einem Gefühl allgemeiner Leistungsminderung und schneller Erschöpfbarkeit. Häufig ist dies alles verbunden mit einer depressiven Stimmungslage und psychosomatischen Störungen.

Die Fibromyalgie ist eine Erkrankung mit Besonderheiten. Auffällig ist vor allem die Tatsache, dass es bei der Bewertung dieses Krankheitsbildes durch Mediziner und Psychologen viele Unklarheiten, erstaunliche Widersprüche und scheinbare Ungereimtheiten gibt. So handelt es sich bei der Fibromyalgie einerseits um ein recht häufiges Krankheitsbild, etwa 2 % der Menschen sind davon betroffen, andererseits ist diese Krankheit vielen Ärzten unbekannt, wird manchmal komplett als solche infrage gestellt bzw. auf »Einbildung« reduziert, oder aber es bestehen diffuse Vorstellungen darüber.

Selten werden Patienten bei ein und derselben Erkrankung im Laufe der Jahre so vielfältig, gründlich und wiederholt diagnostiziert wie bei der Fibromyalgie. Genauso oft kommen hier aber unangebrachte und unwirksame bzw. nur kurz anhaltende oder teils sogar schädliche Therapien zum Einsatz wie etwa unbegründete Medikamentenanwendung oder überflüssige chirurgische Eingriffe.

Obwohl die Symptome der Fibromyalgie von den betroffenen Patienten meist als außerordentlich belastend empfunden werden, sind die Befunde bei den üblichen diagnostischen Verfahren wie etwa bei Laboruntersuchungen, bildgebenden Verfahren oder histologischen Analysen weitgehend unauffällig, zumindest wird nichts gefunden, was die Intensität der Beschwerden hinreichend erklären könnte.

Auch bezüglich der Prognose gehen die Meinungen der Fachleute auseinander. Das Spektrum reicht von der Fibromyalgie als chronische Krankheit, bei der bestenfalls eine Linderung erzielt werden kann, bis zur Auffassung, diese Erkrankung sei heilbar.

Allgemein anerkannt ist die Tatsache, dass es sich bei Fibromyalgie um eine Erkrankung handelt, die neben dem subjektiven Leid und der damit verbundenen massiven Einschränkung der Lebensqualität für die Betroffenen und z. T. deren Familien auch sehr hohe Kosten verursacht. Diese resultieren zum einen aus den zahlreichen diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen und zum anderen aus den häufigen krankheitsbedingten Arbeitsausfällen bzw. Berentungen der Fibromyalgie-Patienten.

Anliegen der vorliegenden Arbeit ist es, einige Forschungsergebnisse zu diesem Krankheitsbild vorzustellen, wobei von der heute mehrheitlich vertretenen These ausgegangen wird, dass bei der Entstehung und Chronifizierung der Fibromyalgie psychischen Vorgängen ein wesentlicher Stellenwert zukommt und dass es sich bei der Krankheitsgenese um ein multikausales Geschehen handelt. Die große Bedeutung der psychischen Faktoren beim Krankheitsgeschehen liefert auch die Begründung, weshalb diese Erkrankung, die heute allgemein dem rheumatischen Formenkreis zugeordnet wird, in die psychotherapeutisch orientierte Reihe »Leben Lernen« aufgenommen wird.

Fehlende diagnostische Befunde und der daraus resultierende Mangel einer überzeugenden kausalen Erklärung von Entstehung und Chronifizierung der Fibromyalgie stellten vermutlich die Gründe dar, dass die medizinische Forschung dieses Krankheitsbild bis vor wenigen Jahrzehnten weitgehend ignorierte. Dies hat sich seitdem deutlich geändert, unter anderem auch durch den hohen Stellenwert, den inzwischen psychosomatische bzw. somatoforme Vorgänge in der Medizin einnehmen. Seit den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts gehört die Fibromyalgie zu den »Topstars« unter den Objekten der Forschung im Bereich der Rheumatologie. Inzwischen wurde sie als eigenständiges Krankheitsbild anerkannt, welches der Gruppe der weichteilrheumatischen Erkrankungen zugeordnet wird. Allerdings sind mit dieser Zuordnung die eingangs genannten Unklarheiten keineswegs aus dem Weg geräumt.

Hauptquellen des vorliegenden Buches bilden neben der therapeutischen Arbeit und vielen Gesprächen mit Betroffenen, dem Austausch mit Ärzten und Psychologen sowie Recherchen der entsprechenden Literatur zwei Studien, die an einer rheumatologischen Klinik in Oberschwaben durchgeführt wurden. Ziel einer dieser Studien war es, den Mechanismus der Entstehung und Chronifizierung der Fibromyalgie besser zu erfassen und damit Hinweise zur Diagnostik und Therapie zu erarbeiten. Der Fokus der Untersuchung wurde vor allem auf die Frage gelenkt, ob und inwieweit psychosoziale Faktoren bei dieser Erkrankung eine Rolle spielen. Als ein Ergebnis konnte die heute weitgehend anerkannte These bestätigt und konkretisiert werden, dass psychische Faktoren bei der Genese und Chronifizierung der Fibromyalgie eine wichtige Rolle spielen. Daraus wurden Schlüsse für ein effektives therapeutisches Vorgehen gezogen. Die zweite Studie beschäftigte sich speziell mit der Diagnose der Fibromyalgie.

Die vorliegende Arbeit erhebt nicht den Anspruch, die eingangs genannten Unklarheiten zur Fibromyalgie aufzulösen. Anliegen ist es zum einen, ein Modell vorzustellen, welches nach heutigem Wissensstand die Genese und Chronifizierung der Fibromyalgie erklären kann, wobei auch konkurrierende Sichtweisen diskutiert werden. Zum anderen werden aus psychotherapeutischer und medizinischer Sicht prophylaktische und therapeutische Maßnahmen betrachtet, die den Umgang mit chronischem Schmerz und anderen Symptomen dieser Krankheit betreffen. Einen wesentlichen Stellenwert der Arbeit nehmen auch die Auswirkungen unterschiedlichster körperlicher und seelischer Stressoren ein.

Das erste Kapitel befasst sich mit den Grundlagen der Fibromyalgie (Symptomatik, Epidemiologie usw.). Außerdem erfolgt zum besseren Verständnis der gesamten Problematik ein kurzer Exkurs in das Gebiet psychosomatischer Erkrankungen. Im zweiten Kapitel werden die Hauptsymptome und einige Einflussgrößen wie Schmerz, Schlafstörung, Stress etc. sowie einige entsprechende medizinische und psychologische Theorien betrachtet. Im dritten Kapitel wird ein Modell der Fibromyalgie vorgestellt, welches disponierende Voraussetzungen zu dieser Erkrankung sowie deren Entstehung und Chronifizierung beinhaltet. Dabei werden verschiedene konkurrierende Hypothesen der Krankheitsentstehung vorgestellt und diskutiert. Ferner wird aus psychologischer Sicht eine »Typologie« der Fibromyalgie-Patienten vorgeschlagen, da deren Kenntnis von Vorteil für die Beziehungsaufnahme zum Patienten sein kann. Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit der Diagnostik und das fünfte schließlich mit der Prophylaxe und Therapie der Fibromyalgie.

Viele Symptome der Fibromyalgie, z. B. der chronische Schmerz, können natürlich auch im Zusammenhang mit anderen Erkrankungen auftreten. Daher sind die Ausführungen bezüglich Prophylaxe und Therapie nicht auf das Krankheitsbild der Fibromyalgie beschränkt.

Nur aufgrund der besseren Lesbarkeit wird in dieser Arbeit explizit auf die feminine Form verzichtet, obwohl die Mehrzahl der Menschen, die unter Fibromyalgie leiden, Frauen sind.

Da das Buch auch für betroffene Patienten verständlich sein soll, werden Fachtermini, soweit vertretbar, vermieden bzw. die im Text verwendeten Begriffe in einem Glossar kurz erläutert. Allerdings ist es nicht möglich, im Rahmen dieses Buches medizinisches und neurologisches Grundlagenwissen umfassend zu vermitteln.

Das Buch enthält einige Abschnitte, in denen physiologische Vorgänge dargestellt werden, die bei Stress (2.3.4) und bei Fibromyalgie (3.2.6) ablaufen. Diese können nicht entfallen, da sonst gewisse Konsequenzen von chronischem Stress (ein wesentlicher Verursachungsfaktor von Fibromyalgie) und wichtige Aspekte der Fibromyalgie-Entstehung nicht nachvollziehbar wären. Es ist allerdings möglich, dass der an dieser Thematik weniger interessierte Leser diese Abschnitte übergeht, ohne dass dadurch der Gesamtzusammenhang verloren geht.

1.1 Symptomatik und Verlauf der Fibromyalgie

Im Vordergrund der Symptomatik stehen bei Fibromyalgie chronische diffuse Schmerzen, die große Bereiche des Körpers erfassen. Vor allem herrschen Schmerzen der axialen Skelettmuskulatur vor, welche bezüglich ihrer Intensität und Lokalität gewissen zeitlichen Schwankungen unterliegen. Ein daraus resultierendes Charakteristikum ist eine erhöhte Druckschmerzempfindlichkeit der Körperoberfläche bzw. an speziellen Punkten der Körperoberfläche, den sogenannten Tenderpoints. Als ein weiteres maßgebliches Symptom wird Müdigkeit bei gleichzeitigen Schlafstörungen (meist Ein- und Durchschlafstörungen) angegeben, sodass sich die Betroffenen häufig schon morgens unausgeschlafen und wie zerschlagen fühlen. In verschiedenen Studien konnte eine Störung der Non-REM-Tiefschlafphase nachgewiesen werden. Ferner klagen die Fibromyalgie-Patienten über morgendliche Steifigkeit, Kraftlosigkeit und leichte Erschöpfbarkeit.

Neben diesen »obligatorischen« Symptomen der Fibromyalgie wird häufig über eine Reihe verschiedener weiterer Beschwerden geklagt. Im Vordergrund stehen verschiedenste somatoforme bzw. psychosomatische Störungen wie Migräne, Spannungskopfschmerz, Herz-, Atem- und Darmbeschwerden, sexuelle Probleme sowie psychische Beschwerden wie depressive Zustände, Ängste usw. Das folgende Diagramm (Abb. 1) vermittelt einen vergleichenden Überblick über die Häufigkeit unterschiedlicher Symptome bei Fibromyalgie- und »Normal«-Personen.

Der Verlauf der Fibromyalgie wird heute allgemein als chronisch angesehen. Abweichende Auffassungen werden im Kapitel 3 diskutiert. Die Krankheit kommt bei Frauen etwa 7- bis 20-mal häufiger vor als bei Männern (je nach Autor schwanken die Angaben). Der Beginn liegt meist zwischen dem 25. und dem 55. Lebensjahr, jedoch können auch schon Kinder und Jugendliche betroffen sein.

In der Regel klingen die Beschwerden im höheren Lebensalter von selbst wieder etwas ab. Im Verlauf der Erkrankung erleben etwa 25 % der Patienten eine Remission mit einer mittleren Dauer von 12 Monaten. Zirka 6 % der Patienten berichten von mehrmaligen Remissionen. Zusammenhänge zwischen belastenden Lebensereignissen und Verschlechterung der Symptomatik konnten wiederholt beobachtet werden.

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Abb. 1: Symptomhäufigkeit (in %) bei Fibromyalgie und Nicht-Fibromyalgie (nach Selfridge, N., Freedom from Fibromyalgia, 2001)

Der folgende Bericht einer betroffenen Patientin veranschaulicht, welches subjektive Leid durch die Fibromyalgie verursacht werden kann. Unter anderem wird Folgendes berichtet:

»In meinem 20. Lebensjahr bekam ich an beiden Armen eine Sehnenscheidenentzündung. Nach einer längeren Ruhepause konnte ich wieder zu meiner beruflichen Tätigkeit an der Schreibmaschine zurückkehren, zwischendurch durfte ich andere Arbeiten verrichten. Gegen die schmerzhaften Beschwerden half meist eine Kur mit Moorpackungen, die guttat, deren Wirkung aber nur eine gewisse Zeit lang anhielt. Einige Zeit vor meinem 45. Geburtstag traten wieder sehr starke Schmerzen im Schulterbereich auf, und ich konnte die linke Schulter bzw. den linken Arm kaum mehr bewegen. Mit Eispackungen und Ultraschallbestrahlung besserten sich zwar die Schmerzen, aber Bewegungseinschränkungen blieben bzw. traten von Neuem auf. Da sich zur gleichen Zeit Schmerzen im Rücken- und Hüftbereich entwickelt hatten, schlug der Orthopäde eine Akupunktur vor, nachdem mit Spritzen und Massagen nichts mehr zu machen war. Diese Akupunktur war sehr schmerzhaft – was aber der Arzt nicht glaubte! –, und sie brachte nichts. Im Gegenteil, dadurch wurde zusätzlich eine Gürtelrose ausgelöst, die vom linken Rückenbereich ausgehend bis in den linken Oberschenkel hinein ausstrahlte. Dass eine Gürtelrose unerträgliche Schmerzen verursachen kann, ist hinreichend bekannt. Da die Schmerzen im Schulter- und Hüftbereich nicht nachließen, ging ich zum Orthopäden, um die Ursache durch Röntgenaufnahmen klären zu lassen. Die Röntgenaufnahmen erbrachten aber keinen Befund, und der Arzt bemerkte, dass ich deshalb auch keine Schmerzen haben dürfte! Ich hatte aber Schmerzen!«

Obwohl sich die Leidensgeschichte eines jeden Patienten im Detail unterscheidet, wiederholen sich doch einige Merkmale immer wieder: Die Krankheit wird jahrelang trotz Vollausbildung der Symptomatik nicht erkannt, es wird vielfältig und oft vergeblich therapiert, und schließlich wird der Patient oft als Simulant behandelt bzw. er glaubt, andere halten ihn für einen solchen.

1.2 Historisches zu dieser Krankheit

Sicher litten schon in alten Zeiten Menschen an der Schmerzkrankheit, die wir heute Fibromyalgie nennen. Ob es sich aber, etwa bei den Schilderungen derartig Betroffener aus früheren Zeiten, tatsächlich um Fibromyalgie handelt, lässt sich rückblickend nicht mit Sicherheit sagen, da verschiedene Krankheiten ein ähnliches Symptombild produzieren können (mehr dazu im Kap. 4).

Muskelschmerzen wurden über viele Jahrhunderte »Rheumatismus« und später »Muskelrheumatismus« bzw. »Weichteilrheumatismus« genannt. Die Kombination dieser Schmerzen, verbunden mit Müdigkeit und chronischer Erschöpfung, wurde bereits im 19. Jahrhundert beschrieben und als »Asthenie« bzw. »Neurasthenie« bezeichnet. Man nahm an, dass die Ursachen dieser Schwäche durch Veranlagung und/oder Umwelteinflüsse bedingt seien. George M. Beard, ein amerikanischer Arzt, beschrieb 1869 ein derartiges Krankheitsgeschehen und bezeichnete dieses als »Neurasthenia of nervous exhaustion«.

Erst um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bekam das Krankheitsbild einen eigenständigen Namen. Zu dieser Zeit erschienen verschiedene wissenschaftliche Publikationen, die sich mit diffusem nicht arthrogenen Rheumatismus beschäftigten und dabei das Symptombild der Fibromyalgie beschrieben. Im Jahre 1904 erhielt das Krankheitsbild von Sir William Glowners den Namen »Fibrositis«. Diese Bezeichnung war jedoch irreführend, suggerierte sie doch eine Erkrankung mit entzündlichem Charakter. Später entstand die Bezeichnung Fibromyalgie, die 1974 im deutschsprachigen Raum von dem Rheumatologen W. Müller durch den Begriff »Generalisierte Tendomyopathie« (kurz: GTM) ersetzt wurde. Auch dieser Begriff ist kein Glücksfall, gibt er doch Anlass zu der Vermutung, dass es sich um eine Sehnen-Muskel-Erkrankung handelt. Das ist aber keinesfalls nachgewiesen und nach dem derzeitigen Wissensstand eher unwahrscheinlich. Inzwischen hat sich auch im deutschsprachigen Raum wieder der Begriff »Fibromyalgie« (wörtlich: Sehnen-Muskel-Schmerz) oder Fibromyalgie-Syndrom (kurz: FMS) eingebürgert. Mit der Bezeichnung »Syndrom« wird ausgedrückt, dass die Krankheit durch ein Muster relativ gleich bleibender Symptome charakterisiert ist. In der Medizin werden mit diesem Begriff oft auch Krankheitszustände bezeichnet, deren Ursachen noch ungeklärt sind. Die späteren Ausführungen sollen zeigen, inwieweit diese Bezeichnung das Wesen der Krankheit korrekt erfasst.

Erst 1990 wurden erstmals vom ACR (American College of Rheumatology) eine Definition sowie diagnostische Kriterien für die Fibromyalgie veröffentlicht. Aufgrund fehlender objektivierbarer Krankheitsparameter müssen sich diese Diagnosekriterien mehr oder weniger auf die Symptomatik stützen. Unter Punkt 4 (Zur Diagnostik der Fibromyalgie) wird näher darauf eingegangen.

1.3 Psychosomatik

Da die Fibromyalgie ein Krankheitsbild darstellt, bei dem typischerweise körperliche Phänomene und seelische Zustände eng zusammenwirken und von großer Bedeutung für das Krankheitsgeschehen sind, wird dieser Thematik ein eigener Abschnitt gewidmet.

1.3.1 Begiffsbestimmungen

Die nachfolgenden Begriffsbestimmungen orientieren sich an der Klassifikation der ICD-10, der aktuell gültigen internationalen Klassifikation gesundheitlicher Störungen.

Psychophysiologie    Mit diesem Begriff werden die Zusammenhänge zwischen psychischen (seelischen) und somatischen (körperlichen) Vorgängen bezeichnet. Psychophysische Abläufe begleiten unser gesamtes Leben und werden meist nicht bewusst wahrgenommen. Als Beispiel sei der verstärkte Speichelfluss genannt (körperlicher Vorgang), der ausgelöst werden kann, wenn wir uns im hungrigen Zustand ein gutes Essen vorstellen (psychischer Vorgang).

Psychosomatik, psychosomatische Erkrankung    Verursachen psychische Zustände Störungen oder gar Erkrankungen im körperlichen Bereich, so spricht man von psychosomatischen Störungen bzw. Erkrankungen. Als Beispiel sei der hohe Blutdruck beim viel gestressten Manager genannt. Bei wohl jeder Erkrankung laufen Wechselwirkungen zwischen psychischen und somatischen (körperlichen) Vorgängen ab. Als psychosomatische Erkrankungen (oder Störungen) werden aber nur diejenigen bezeichnet, bei denen psychische Faktoren einen wesentlichen Beitrag bei deren Verursachung leisten. Liegt eine psychosomatische Erkrankung vor, so schließt diese Diagnose keinesfalls körperliche Befunde aus, sie sagt allerdings etwas über die psychischen Faktoren als wichtige (Mit-)Ursachen der Erkrankung aus. Psychosomatische Vorgänge schließen die nachfolgend beschriebenen Begriffe ein.

Somatoforme Störungen    Typisch sind hier körperliche, häufig wechselnde Symptome, über die geklagt wird, die aber nicht körperlich begründbar sind. Es werden also keine körperlichen Veränderungen oder Schädigungen gefunden, welche die vorhandenen Symptome hinreichend erklären können. Eine spezielle Form somatoformer Störungen ist der somatoforme Schmerz, auch als psychogener Schmerz bezeichnet. In Abschnitt 2.1.1 wird näher auf diese Schmerzform eingegangen.

Somatoforme autonome Funktionsstörungen    Sie ähneln den somatoformen Störungen, allerdings sind die Beschwerden hier auf klarer umgrenzte Bereiche beschränkt. Bezieht sich die Symptomatik z. B. auf den Magen, sprach man früher von einer Magenneurose. Heute wird diese Störung als »Somatoforme autonome Funktionsstörung des oberen Gastrointestinaltrakts« (dies entspricht der Diagnose F45.31) bezeichnet. Entsprechendes gilt für Herzneurose usw.

Psychische Faktoren bei andernorts klassifizierten Erkrankungen    Damit werden psychische Faktoren erfasst, die als körperliche Erkrankung klassifiziert sind und bei deren Ätiologie psychische Faktoren eine wichtige Rolle spielen.

Für den Beispielfall Fibromyalgie heißt das bei der derzeit unklaren Situation, dass sie auf verschiedene Arten verschlüsselt werden kann, etwa:

als anhaltende somatoforme Schmerzstörung (F45.4),

als Erkrankung des Muskel- und Skelettsystems (M79.0) oder

als Doppeldiagnose: M79.0 und zusätzlich »Psychologische Faktoren und Verhaltensfaktoren bei andernorts klassifizierten Erkrankungen« (F54).

Zum zeitlichen Ablauf psychosomatischen Geschehens    Ein Beispiel aus dem technischen Bereich soll den Übergang von einer zu einer anderen Ebene des psychosomatischen Ablaufs veranschaulichen.

Angenommen, bei einem Benzinmotor hat sich der Zündzeitpunkt in Richtung Frühzündung verstellt, so hätte dies hauptsächlich folgende Konsequenz: Die Motorleistung verringert sich und die Belastung der Kurbelwellenlager wird erhöht. Wird die Zündung bald wieder korrigiert, ist der Motor wieder leistungsfähig wie vorher. Erfolgt aber über längere Zeit keine Reparatur, so verschleißen die Lager aufgrund der lang anhaltenden Überlastung und müssen gewechselt werden. Eine Reparatur zu diesem Zeitpunkt ist dann wesentlich aufwendiger, als wenn sie bald nach Auftreten der Störung erfolgt wäre.

Beim Menschen entspricht der verstellte Zündzeitpunkt einer erhöhten Belastung durch Stressoren, die reduzierte Leistungsfähigkeit des Motors kommt irgendwelchen funktionellen Einschränkungen bzw. somatoformen Störungen gleich. Halten diese über längere Zeit an, so ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sich mit der Zeit an irgendeinem Organsystem Veränderungen entwickeln. Eine psychosomatische Erkrankung hat sich herausgebildet.

Es muss wohl kaum begründet werden, dass eine Therapie zu diesem späten Zeitpunkt wesentlich aufwendiger und meist mit massiveren Eingriffen in den Organismus verbunden sein wird, als wenn sie in einer früheren Phase erfolgt wäre.

In Kapitel 4 wird diese Thematik erneut aufgegriffen.

1.3.2 Historisches zur Leib-Seele-Auffassung

Die nachfolgenden Ausführungen orientieren sich hauptsächlich an v. Uexküll (1990), Egle und Hoffmann (1993) sowie Danzer (1998). Der sich in den letzten Jahrzehnten in der Medizin zunehmend entwickelnden psychosomatischen Betrachtungsweise ging geschichtlich das Gegenstück, die Trennung von Körper und Seele, voraus. Häufig wird diese dualistische Sicht des Menschen auf den Philosophen und Mathematiker René Descartes (1596 bis 1650) zurückgeführt. Mit seiner Auffassung, die später als Psychophysischer Interaktionismus bezeichnet wurde, spaltete er den Menschen in eine körperliche (res extensa) und eine seelische (res cogitans) Sphäre, die zwar mehr oder weniger getrennt existieren, wohl aber miteinander interagieren. Dabei versuchte Descartes, die Wechselwirkung zwischen diesen Sphären durch physiologische Vorgänge zu erklären. Er nahm auch einen konkret identifizierbaren Ort der Verbindung zwischen Körper und Seele an: die Hypophyse.

Leibniz (1646 bis 1716) entwickelte das dualistische Konzept von Descartes weiter. Seine Lösung des Leib-Seele-Problems war der sogenannte Psychophysische Parallelismus. Auch für Leibniz waren Körper und Seele getrennte Einheiten, allerdings hielt er diese für vollständig unabhängig. Nach seiner Lehre der »prästabilisierten Harmonie« hat Gott alle Substanzen mit einem korrelativen Vermögen geschaffen, sodass auch Leib und Seele in Form einer perfekten Korrelation zwischen körperlichen Empfindungen und deren seelischen Wahrnehmungen zeitlebens miteinander korrelieren.

Einen Extrempunkt auf diesem Entwicklungsweg stellte das Buch »Der Mensch – eine Maschine« des Arztes und Philosophen La Mettrie (1709 bis 1751) dar, welches 1747 erschien. Hier wird der Mensch als ein mehr oder weniger gut funktionierender Mechanismus, als ein in sich geschlossenes materielles System betrachtet. Psychische Vorgänge wie Gefühle interpretierte La Mettrie als Epiphänomene, als unwesentliche Nebenprodukte der Mensch-Maschine.

Bei all diesen Entwicklungen in Richtung »Der Mensch – eine Maschine« spielten sicher auch die Fortschritte in den Naturwissenschaften, namentlich der Physik und die damit verbundene mechanistische Weltsicht, eine wichtige Rolle. Die große Bedeutung dieser naturwissenschaftlichen Disziplin in der Renaissance lässt sich auf deren überwältigenden Erfolg bei der Erklärung und letztlich der Veränderung der Welt zurückführen.

Krankheiten werden nach diesem mechanistischen Modell in der Medizin als eine Störung im komplexen Ablauf des Mechanismus der Mensch-Maschinen interpretiert. Sie haben eine oder mehrere konkrete Ursachen und hinterlassen nachweisbare Veränderungen im Substrat der »Maschine«. Falls sich keine Veränderungen nachweisen lassen, wird dies in der Regel auf die noch zu unempfindlichen oder inadäquaten Nachweismethoden zurückgeführt. Die Reparatur dieser »Störung« erfolgt entsprechend durch gezielte technische Eingriffe in das System, meist mit chirurgischen, medikamentösen oder physikalischen Mitteln. Psychische und soziale Aspekte waren in diesem Modell überflüssig, ja störend (v. Uexküll 1990).

Mit der Übernahme der mechanistischen Herangehensweise in der Medizin kam es auch hier zu großen Erfolgen. So haben beispielsweise durch die Entdeckung und Nutzbarmachung von Antibiotika viele gefürchtete Krankheiten ihren Schrecken verloren. Viele Krankheiten, die früher unweigerlich zum Tod geführt hätten, können heute durch chirurgische Eingriffe behandelt werden.

Dieses dargestellte Maschinenmodell hat für den Mediziner etwas Verlockendes, wie v. Uexküll und Wesiak ausführen: »Das Erklärungsmodell der Maschine hat für Ärzte nicht nur die besondere Anziehungskraft klarer und einfacher Deutungs- und Handlungsanweisungen, mit deren Hilfe sich Krankheiten als Betriebsstörungen infolge eines Maschinenschadens deuten lassen; das Modell hat auch den Vorteil, immer modern zu sein, denn sobald die Technik eine neue, noch kompliziertere und noch leistungsfähigere Maschine erfindet, kann die Medizin ihr Bild des Maschinenmenschen entsprechend verfeinern, ohne das Grundprinzip preisgeben zu müssen.« (v. Uexküll 1990, S. 8) Als ein neueres Beispiel dieser Mensch-Maschine-Auffassung sei das 1999 erschienene Buch des Psychologieprofessors Dietrich Dörner angeführt, der in über 800 Seiten den »Bauplan für eine Seele« (so auch der Buchtitel) beschreibt. Dabei wird die fiktive, aber technisch zumindest prinzipiell machbare Evolution von einer Dampfmaschine zu einem intelligenten Wesen geschildert, welches ab einer bestimmten Evolutionsstufe Gefühle hat und schließlich sogar an Gott glauben kann. Das Buch enthält sehr komplexe Gedankengänge und bezieht kybernetisches Denken genauso wie moderne Erkenntnisse der Informationstheorie ein. Diese Evolutionsdarstellung hat aber einen Mangel: kritische, aber für die Evolution entscheidende Entwicklungsschritte, wie etwa die Entstehung von Emotionen, bleiben reine Spekulation.

Trotz der großen Erfolge, die das Mensch-Maschine-Konzept zunächst erbrachte, hat es entscheidende Mängel. Einmal kann es die spezifischen Lebensphänomene nicht erklären, zum andern ist es nicht möglich, psychische und soziale Faktoren mit diesem Modell adäquat zu berücksichtigen. Das führte in der Konsequenz zu der »absurden Aufspaltung der heutigen Medizin in Ärzte und Kliniken für Körper ohne Seelen auf der einen Seite und in Therapeuten und Neurosekliniken für Seelen ohne Körper auf der anderen« (v. Uexküll 1990).

1.3.3 Psychosomatische Modelle

Das im vorhergehenden Abschnitt beschriebene naturwissenschaftliche monokausale Denken wurde auch in den Bereich der Psychosomatik übernommen, zuerst von S. Freud. Mit seinem Konversionsmodell begründet er die Psychosomatik in der modernen Medizin. Freud versteht unter Konversion, dass eine unlustbereitende Vorstellung unschädlich gemacht wird, indem ihre »Erregungssumme« ins Körperliche umgesetzt wird und sich in Form der Konversionssymptomatik repräsentiert. Die Konversionssymptome treten vorwiegend in den willkürlichen neuromuskulären und in den sensorisch-perzeptiven Systemen auf, deren Aufgabe es ist, emotionale Spannung auszudrücken und abzuführen. Typische Beispiele sind hysterische Gangstörungen oder hysterische Blindheit (Kulawik 1984, v. Rad und Zepf 1990). Heute würde man dafür eher die Begriffe »psychogene Gangstörung« bzw. »psychogene Blindheit« wählen.

Von dieser Konversionssymptomatik grenzte Freud die Angstneurose ab. Vegetative Störungen seien dabei als Äquivalente eines Angstpotenzials zu verstehen, welches durch eine aktuelle Konfliktsituation verursacht wurde (Freud 1952). Diese Symptome der Angstneurose, z. B. Herzbeschwerden, wurden von Freud als nicht mit den Mitteln der Psychoanalyse therapierbar angesehen und deshalb aus dem Bereich der Psychoanalyse ausgegrenzt.

Franz Alexander erweiterte mit seiner »Spezifitätstheorie« das Konversionsmodell. In seinen Annahmen ging er davon aus, dass eine bestimmte Erkrankung stärker an eine ganz spezifische unbewusste Konfliktsituation gebunden sei als an die Persönlichkeitsstruktur des Betreffenden, als es bis dahin angenommen wurde. So bestehen nach Alexander zum Beispiel beim Ulcus duodeni unbewusste Abhängigkeitsbedürfnisse, die zu einer konstanten Stimulierung des vegetativen Nervensystems und schließlich zu pathologischen Substratveränderungen führen (Alexander 1971).

Diese Spezifitätsannahme hat kritischen wissenschaftlichen Überprüfungen nicht standhalten können. So sind die Gemeinsamkeiten der Konfliktmuster und Persönlichkeitsprofile verschiedener psychosomatischer Krankheiten größer als die Unterschiede zwischen ihnen. Außerdem wurden sehr wenig prospektive Studien zu diesem Fragenkomplex durchgeführt, sodass offen ist, ob beobachtete Veränderungen (bzw. Gemeinsamkeiten) zumindest teilweise Folge der Krankheit sind (Keel 1984).

Erst in den letzten Jahren ist einem Phänomen erhöhte Aufmerksamkeit entgegengebracht worden, welches schon 1948 von Ruesch beschrieben und von ihm erstmals in Zusammenhang mit psychosomatischen Patienten gebracht wurde (v. Rad und Zapf 1990). Es handelt sich um die Alexithymie, welche auch bei Fibromyalgie-Patienten und bei anderen psychosomatisch erkrankten Personen häufiger auftritt. Mit Alexithymie wird die Unfähigkeit oder mangelnde Fähigkeit bezeichnet, die eigenen Gefühle wahrzunehmen und/oder diese auszudrücken. Vor allem betrifft das solche Gefühle, die im persönlichen Wertsystem des Betreffenden als »negativ«, »peinlich«, »nicht erlaubt« oder »situationsinadäquat« eingestuft werden. Verbunden mit diesem defizitären Umgang mit Gefühlen sind häufig Fantasielosigkeit und soziale Überangepasstheit. Bezüglich der Ursachen von Alexithymie wird mehrheitlich vermutet, dass einerseits hereditäre Dispositionen vorhanden sind, andererseits aber wurde empirisch festgestellt, dass sich ein typisches elterliches Erziehungsverhalten häuft, bei dem die Mutter in der Erziehung dominiert und entweder ein überfürsorgliches oder ein offen oder verdeckt zurückweisendes Verhalten zeigt. Bezüglich der Zusammenhänge zwischen alexithymen Auffälligkeiten und psychosomatischen Erkrankungen existiert derzeit noch keine allgemein anerkannte Theorie (v. Rad und Zapf 1990).

Neuere Modelle beziehen sowohl biologische als auch psychische und soziale Faktoren in die Betrachtung psychosomatischen Geschehens ein. Dabei wird die Vorstellung von einem linearen kausalen Ablauf der psychosomatischen Vorgänge verlassen und auf systemtheoretische und kybernetische Betrachtungsweisen übergegangen, bei denen biologische und psychosoziale Faktoren in mehrfachen, sich gegenseitig beeinflussenden Regelkreisen miteinander verknüpft sind. v. Uexküll prägte für ein derartiges von ihm entwickeltes Modell, in dem sich Individuum und Umwelt gegenseitig beeinflussen, die Bezeichnung des Situationskreises. Mit diesem Modell sollen die Einseitigkeiten überwunden werden, die einerseits durch die nur somatische Sicht des naturwissenschaftlich-nosologischen Krankheitsmodells und andererseits durch eine nur psychologisierende Betrachtungsweise bedingt sind. v. Uexkülls Modell respektiert die Eigenständigkeit von Phänomenen auf jeder der drei Ebenen (Biologisches, Psychisches und Soziales) und berücksichtigt gleichermaßen die Wechselwirkungen zwischen diesen drei Ebenen. Dabei spielt der Entwicklungsaspekt eine bedeutsame Rolle, da die Fähigkeiten des Menschen und die Reaktionsweisen seines Körpers stark von seinen Entwicklungsbedingungen abhängen.

In späteren Kapiteln wird dieser Sachverhalt wieder aufgegriffen und für den Fall der Fibromyalgie konkretisiert.

1.3.4 Gegenwärtige Situation

Leider sind solche Auffassungen wie beispielsweise die von v. Uexküll in der klinischen Praxis noch eher unterrepräsentiert. Dies ist vermutlich vor allem praktischen Zwängen (finanzieller und/oder zeitlicher Mangel) geschuldet.

Der Arzt und Psychologe G. Danzer fasst die typische Orientierung unserer Zeit in heiter-ironischer Form mit folgenden Worten zusammen:

»Es gehört heute schon beinahe zum guten Ton schulmedizinischer Lehrbücher, den eigenen, meist technizistisch eingefärbten Standpunkt kritisch zu beleuchten. Für eine halbe Seite gönnen wir uns ›Goethe und die Medizin‹, wir nehmen unseren ›kulturwissenschaftlichen Aperitiv‹ zu uns, um uns hinterher umso hemmungsloser das ›naturwissenschaftliche Hauptgericht‹ einverleiben zu können. Spätestens beim Dessert, dem resümierenden Schlusskapitel, wird oft als Fazit schulterzuckend konstatiert, dass wir unsere Medizin halt doch in dieser technik-orientierten oder zumindest in einer sehr ähnlichen Form beibehalten könnten oder sollten.« (Danzer 1994, S. 66)

1.4 Epidemiologie

Obwohl rheumatische Erkrankungen in den Industrieländern wegen ihrer Häufigkeit und ihrer langfristigen und teils schwerwiegenden Folgen zu den bedeutsamsten sozialmedizinischen Problemen zählen, gibt es bezüglich Inzidenz und Prävalenz kaum einheitliche und verlässliche Daten. Dies ist einerseits auf die Unterschiede in der Stichprobenauswahl und die Kriterien der publizierten Untersuchungen zurückzuführen, andererseits auf die existierenden Unterschiede zwischen Bevölkerungsgruppen und Ländern. In noch stärkerem Maße gilt das für die unter »Weichteilrheuma« zusammengefassten Erkrankungen, damit also auch für die Fibromyalgie. Hinzu kommt, dass diese Krankheit in der Vergangenheit nicht als eigenes Krankheitsbild erfasst wurde. Für die Prävalenz der Fibromyalgie werden bei unterschiedlichen Autoren Werte zwischen 2 % und 7 % angegeben. Das bedeutet, dass in Deutschland mindestens rund 1,6 Millionen Menschen, zum großen Teil Frauen, unter Fibromyalgie leiden. In ganz Europa wird es etwa 10 Millionen und in den USA mehr als 5 Millionen Betroffene geben.

Auch für die materiellen Aufwendungen, die diese Krankheit verursacht, können nur grobe Schätzwerte angegeben werden. Die folgenden Kosten wurden für die Schweiz geschätzt, können aber in etwa auch auf die Verhältnisse in Deutschland übertragen werden.

Die durch rheumatische Erkrankungen verursachten Kosten werden auf etwa 1,6 % des Bruttosozialproduktes veranschlagt (hierbei werden direkte Kosten für die Behandlung und indirekte für Arbeitsausfallzeiten, Renten usw. zusammengefasst). Der auf die Fibromyalgie entfallende Anteil wird dabei auf rund 15 % bis 20 % geschätzt. Hierbei werden aber nur die Kosten erfasst, die direkt unter dieser Diagnose entstanden sind. Gerade Fibromyalgie-Patienten weisen aber eine wesentlich größere Beanspruchung von Diensten auf, die unter anderen Diagnosen abgerechnet werden. Das ist mit auf die häufig viele Organe betreffende Symptomatik und die Schwierigkeiten bei der Diagnosefindung zurückzuführen. So liegt zum Beispiel bei vielen Patienten zwischen der vollen Ausprägung der Symptomatik und der Diagnose »Fibromyalgie« weit über ein Jahrzehnt. Die in diesem Zeitintervall anfallenden immensen Kosten werden folglich nicht dem Krankheitsbild Fibromyalgie zugeordnet (Bruppacher Geiger 1991).

1.5 Zusammenfassung

Bei der Fibromyalgie handelt es sich um ein Krankheitsbild, welches seit wenigen Jahren in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses der Rheumatologie getreten ist. Das liegt zum einen daran, dass die Fibromyalgie kaum objektivierbare Symptome und daher wenig Angriffspunkte für eine traditionell orientierte, naturwissenschaftlich-nosologische Medizin bietet, und zum anderen vermutlich an einer deutlichen Zunahme der Häufigkeit dieses Krankheitsbildes in den letzten Jahren. Die Fibromyalgie verursacht enorme Kosten, einmal in Form von Arbeitsausfällen, zum anderen wegen der sehr großen und zudem meist vergeblichen diagnostischen Bemühungen und schließlich wegen der vielen und meist ebenfalls vergeblichen Therapieversuche.

Die Kernsymptomatik dieser Erkrankung, von der meist Frauen im mittleren Lebensalter betroffen sind, besteht in anhaltendem Schmerz, Schlafstörungen und leichter Erschöpfbarkeit, meist gekoppelt mit depressiver Symptomatik und einer Reihe somatoformer Störungen. Subjektiv fühlen sich die Patienten, vergleicht man sie mit anderen Rheumakranken, deutlich schlechter.

Derzeit besteht bezüglich der Ursachen dieser Krankheit, insbesondere der Schmerzsymptomatik, noch keine einheitliche Meinung. Die Mehrzahl der Forscher vertritt aber inzwischen die Ansicht, dass es sich bei Fibromyalgie um ein multifaktoriell verursachtes Krankheitsbild mit primär psychosomatischem Charakter handelt, bei dem der Stress eine wichtige Rolle spielt. Dies wird beispielsweise aus dem nachfolgenden Zitat deutlich, welches einem Beitrag des Deutschen Ärzteblattes entnommen ist, der sich mit den klinischen Leitlinien des FMS (Fibromyalgie-Syndrom) beschäftigt (Häuser et al. 2009, S. 386): »Das FMS kann als ein möglicher Endpunkt eines Schmerz-Disstress-Kontinuums konzeptualisiert werden.«

2. Symptomatik der Fibromyalgie

Im Vordergrund der Fibromyalgie steht der Schmerz, daher erfolgt zunächst nach einem kurzen historischen Blick auf die Schmerzauffassungen früherer Zeiten ein Überblick über einige Ergebnisse der moderneren Schmerzforschung (Punkt 2.1). Neben dem Schmerz sind Schlafstörungen, Müdigkeit, leichte Erschöpfbarkeit und Depression weitere Kennzeichen dieser Krankheit, denen sich Punkt 2.2 widmet. Punkt 2.3 beschäftigt sich mit dem Stress (speziell mit Disstress), der im Zusammenhang mit Fibromyalgie schon im Vorfeld dieser Erkrankung regelhaft verstärkt auftritt.

2.1 Schmerz

2.1.1 Definition und Klassifikation

So vertraut das Erleben des Schmerzes jedem Menschen sein mag, so schwer fiel es den Schmerzspezialisten, diese Empfindung griffig zu definieren, ohne dass wesentliche Schmerzaspekte unberücksichtigt bleiben. Erst 1978 erarbeiteten Wissenschaftler im Auftrag der International Association for the Study of Pain (IASP) folgende weithin anerkannte Schmerzdefinition:

Pain is an unpleasant sensory and emotional experience with actual or potential tissue damage or described in terms of such damage. (Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potenzieller Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird.) (aus Kröner-Herwig et al. 2007)

Diese Definition berücksichtigt verschiedene Aspekte. Zum einen hebt sie die emotionale Komponente des Schmerzes hervor, unterscheidet den Schmerz also von anderen Sinneswahrnehmungen, die häufig keine affektiven Komponenten beinhalten. Eine weitere Aussage dieser Definition ist die der Körpernähe des Schmerzes. Damit ist diese Schmerzdefinition nicht auf rein psychische Schmerzen anwendbar wie etwa auf Trennungsschmerz, Trauer usw. Ein weiteres wichtiges Moment dieser Definition ist die Schmerzursache. »Schmerz ist Schmerz, auch wenn keine somatischen Auslösebedingungen identifizierbar sind.« (Kröner-Herwig et al. 2007) Damit kann kein Schmerz wissenschaftlich begründet nur deshalb abgelehnt werden, weil keine konkrete körperliche Schmerzursache nachgewiesen werden kann. Diese Definition unterscheidet allerdings nicht zwischen akutem und chronischem Schmerz, außerdem konzentriert sie sich auf das Erleben des Schmerzes und vernachlässigt Aspekte des Schmerzverhaltens.

Je nachdem, wie lange die Schmerzen andauern, unterscheiden wir zwischen akutem und chronischem Schmerz.

Akuter Schmerz    Akuter, also kurzzeitig wirkender, Schmerz ist eine segensreiche »Erfindung« der Natur. Er hat unübersehbare Warn- und Schutzfunktionen. Ohne akuten Schmerz würden wir beispielsweise bei einer Blinddarmentzündung nicht rechtzeitig zum Arzt gehen, wir würden nicht vor einer heißen Herdplatte zurückzucken, wir würden bei Überlastung einzelner Muskeln oder Gelenke unsere Körperhaltung nicht ändern und Ähnliches. Schwere gesundheitliche Schäden wären die Folge der fehlenden Warnsignale.

Chronischer Schmerz    Von chronischem Schmerz sprechen wir, wenn der Schmerz länger als sechs Monate (bei manchen Autoren auch drei Monate) anhält und bisherige Behandlungsversuche vergeblich waren. Verhalten und Erleben werden in der Regel durch chronischen Schmerz deutlich beeinflusst.

Bei chronischem Schmerz tritt dessen Warnfunktion in den Hintergrund. Der Schmerz gibt im Allgemeinen keine Hinweise mehr auf körperliche Schädigungen, die gezielt behoben werden können. Häufig ändert sich dabei der Charakter des Schmerzes vom Symptom, d. h. Begleiterscheinung einer Erkrankung, zur Krankheit selbst. Schmerzlinderung wird dann das eigentliche Ziel der Behandlung, da eine zugrunde liegende organische Störung häufig gar nicht existiert oder nicht beseitigt werden kann. Die palliative medizinische Behandlung kann bei vielen chronischen Erkrankungen dazu beitragen, dass die Beschwerden besser ertragen werden können.