Jörg Magenau

Princeton 66

Die abenteuerliche Reise
der Gruppe 47

Klett-Cotta

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Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg

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Datenkonvertierung: r&p digitale medien, Echterdingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94902-5

E-Book: ISBN 978-3-608-10947-4

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

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8 

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Auswahlbibliografie

Text- und Bildnachweise

Personenregister

Günter Grass

SECHSUNDSECHZIG

In diesem Eidechsenjahr –

wirklich, auf sonnigem Putz

atmeten viele verspielt …

In diesem Jahr unterwegs –

was mich beschleunigt, wächst,

gibt Zeichen, hat überholt …

In diesem Jahr kinderleicht –

Jahr, das befürchten lässt: Schrott …

In diesem kosmischen Jahr –

fortschreitend witzlos verläuft …

In diesem Jahr auf ein Jahr –

Jahr ohne Gag Richtung Mond …

In diesem Bilderschirmjahr –

Eckbälle wurden verschossen,

Schreckschüsse saßen im Tor …

Im sechsundsechzigsten Jahr

tobte im Kies, zu Füßen der Mauer:

ein unwiderrufner Befehl,

bewegter Protest,

ledige Wut:

zwei Eidechsenschwänze.

1 

Als es endlich losging, lehnte Hans Werner Richter(1) sich erleichtert zurück. Seine Begrüßungsansprache war wie immer knapp ausgefallen und also kaum bemerkt worden, dann die umständliche Zettelsucherei, für die er berühmt war – wo verkramte er bloß immer seine Notizen? –, und schließlich, nachdem er Rat suchend im Saal herumgeschaut hatte, die wortkarge Ankündigung, die auch schon zum Ritual geworden war: Es liest, Moment, gleich hab ich’s, ja, richtig, Walter Jens(1). Der stieg mit forschem Schritt als erster die Stufe zum Podium hinauf, ein wenig überrascht, so wie ein Hollywood-Schauspieler bei der Oscar-Verleihung überrascht tut, als hätte er damit nun wirklich nicht rechnen können, hielt das zum Zepter gerollte Manuskript aber trotzdem bereits in der Hand und ließ sich vom Saal aus gesehen links des niedrigen Tischchens – Richter(2) saß rechts davon – auf dem Sessel nieder, der intern »elektrischer Stuhl« genannt wurde. Diese frohsinnige Bezeichnung mochte manchem Delinquenten zum Spannungsaufbau dienen; andere durchlitten lustvoll das grausame Ritual ihrer Vernichtung, denn darin besteht das Risiko für alle, die schreiben: Sie wissen es, sie kennen es, und hier setzten sie sich ihm buchstäblich aus. Mit seinen fein geschwungenen und dick gepolsterten Armlehnen, der weich bespannten Sitzfläche, der ornamental umschnörkelten Rückenpolsterung und den allerdings etwas klobig geratenen Beinen wirkte der elektrische Stuhl jedoch eher wie ein Thron, so dass die, die lesend darauf Platz nahmen, sich in Könige verwandelten, wenn sie nur wollten – und wenn es der literarische Fürstenhof ihnen gestattete.

Jens(2) war immer noch so hager, wie sie bei ihrem ersten Treffen im September 1947 alle gewesen waren, als sie in ihren viel zu groß gewordenen Vorkriegsanzügen wie eingeschrumpft wirkten. Wenn das der Effekt der Geschichte gewesen war, dann galt es seither, wieder zuzusetzen und zuzulegen, und das taten sie mit Worten, mit Sprache, mit Lesen und Zuhören, da waren sie unersättlich. Jens(3) strich das widerborstige Haar zurück, das aber gleich wieder in Strähnen nach vorne fiel, entrollte die Papiere, fuchtelte mit seinen Scherenhänden herum, mit denen er die Worte in der Luft zerteilen konnte, sprach kurzatmig und genauso zerstückelt wie er gestikulierte – »Ich lese. Einige kürzere. Passagen. Aus einem Stück« –, so dass die Zuhörer die entstandenen Wortfetzen im eigenen Kopf zusammenfügen und aufpassen mussten, dass sie am Ende des Satzes den Anfang nicht schon vergessen hatten. Dieses syntaktische Geschredder hatte seinen Grund darin, dass Jens(4) Asthmatiker war, doch zugleich handelte es sich um einen rhetorischen Trick, mit dem er das Publikum an der kurzen Wortleine führte. Statt einfach loszulegen, erläuterte er erst einmal die verschiedenen Ebenen seines Dramas, das noch nicht fertig sei, es gehe darin (Atempause) um den Revisionsprozess (Atempause) gegen die Mörder von Rosa Luxemburg(1). Das war strenggenommen regelwidrig, nicht das Drama, nicht die Luxemburg-Geschichte, nicht die Häckselei, sondern die vorausgeschickte Erklärung. Autoren sollten lesen, und ansonsten sollten sie schweigen.

So lautete Paragraf zwei des ungeschriebenen Gesetzbuches, das sich gerade aufgrund seiner Ungeschriebenheit allgemeiner Geltung erfreute, denn auch Paragraf eins besaß, ohne je schriftlich festgehalten worden zu sein, unumstrittene Gültigkeit, dass nämlich kein anderer als Hans Werner Richter(3), er allein und ohne irgendjemandem eine Erklärung schuldig zu sein, darüber bestimmte, wer dabei ist, wer liest und ob und wann und wo das nächste Treffen stattfindet. Er feierte jedes Jahr ein Fest und lud sich die Gäste ein, die er dabeihaben wollte. Seine Postkarten waren so knapp wie präzise: Die Gruppe 47 tagt von bis, da und dort, ich lade Sie ein, falls Sie lesen wollen, geben Sie Bescheid, herzliche Grüße. Wenn er eines Tages keine Postkarten mehr verschickte, würde die Gruppe aufhören zu existieren. Er war das Gesetz. Richter(4) richtete. Er allein konnte sich seiner Mitgliedschaft sicher sein. Er entschied über Sein oder Nichtsein der Gruppe und über Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit jedes Einzelnen, sei es, dass er gezielt einzelne Leute vergaß oder behauptete, ihre Adresse verlegt zu haben. Nicht jeden, den er einmal einlud, lud er wieder ein. Es gab kein Gewohnheitsrecht oder vielmehr: nur für manche, die Unverzichtbaren, die alten Freunde. Sein Elend bestand jedoch darin, dass es immer viel mehr waren, die er nicht einlud, als die, die eine Einladung erhielten, so dass er neben Dankbarkeit und Freundschaft unvermeidlich auch Neid, Gekränktheit, Missgunst produzierte. Nicht jeder ließ sich einfach abschütteln oder übersehen. Wolfgang Bächler(1) zum Beispiel konnte nicht verbergen, wie beleidigt er war, als er, verbunden mit dem Hinweis, noch keine Einladung erhalten zu haben, seine Adresse schickte, nur damit Richter nicht(5) die Ausrede habe, die Adresse nicht zu kennen. In seinem recht langen Brief versprach er, sich kurz zu fassen, damit Richter(6) nicht sagen könne, der Brief sei zu lang, als dass ein mit so vielen Partys viel beschäftigter Mann ihn lesen könne oder zu unleserlich, um ihn zu entziffern. Eingeladen wurde Bächler(2) aber trotzdem nicht.

Herbergsvater nannten sie ihn oder Spiritus Rector. Richter(7) ließ sich gerne so nennen. Er war der aufgeklärte Despot, wie ihn sich auch Demokraten insgeheim wünschen, ein Mann mit buschigen Augenbrauen, nicht konservativ gekleidet, aber auch nicht sportlich, nicht unbedingt dick, aber auch nicht dünn, vielleicht ein wenig schlicht, aber von in sich ruhender Art und ausgestattet mit einer schwer zu erklärenden Autorität, so dass er nur ein paar Mal in die Hände klatschen musste, und schon kamen alle in den Saal und setzen sich, und wenn er um Ruhe bat, dann war auch Ruhe. Er war ungefähr das, was Sepp Herberger(1) für die Fußball-Nationalmannschaft gewesen war. Aber der war 1964, nach der ersten Saison der neuen Bundesliga, zurückgetreten und durch Helmut Schön(1) abgelöst worden. Die Wirtschaftswunder-Wiederaufbau-Ära ging zu Ende, doch für Richter(8) gab es keinen Nachfolger. Richter(9) sei, so Hans Mayer(1), das exakte Gegenteil eines Stefan George(1), der ja ebenfalls einen Kreis um sich geschart hatte. Doch Richter(10) tat das nicht als anzubetender Dichterfürst und nicht als Genie, er war kein Zentralgestirn, um das die Jünger kreisten, und statt des hohen Tons kultivierte er pragmatische Nüchternheit.

Fünf Monate waren verstrichen, seit er am 27. November 1965 in die USA gekabelt hatte, dass er die Einladung der Gruppe 47 nach Princeton annehme. Damit hatten die Schwierigkeiten begonnen, oder vielmehr: Ab da wurden sie öffentlich, denn schon in den Monaten zuvor hatte es ein unerträgliches Hin und Her gegeben, Bedenken aus allen Richtungen, vor allem aber deshalb, ob Einmischungen von Bonn und Washington auszuschließen wären und die Reise, wenn man sich denn dafür entscheide, ohne offiziellen Anstrich über die Bühne gehen könnte. Sicherheitshalber, um sich nicht gleich auf eine der Weltmächte festzulegen, hatte er die Alternative Moskau ins Spiel gebracht, aber nur, um sie rasch wieder zu verwerfen. Inzwischen war Richter(11) es leid, reihum als Fußabtreter benutzt zu werden, falscher Ort, falsches Land, falscher Termin, falsche Teilnehmer, und überhaupt und grundsätzlich diese Auslandssache als Gegenstand fortgesetzter Querelen. Dabei verschaffte er all diesen Unzufriedenen und notorischen Nörglern doch die Plattform, nach der sie gierten. Alles stammte von ihm: Konzeption und Methode, Spielregeln und Name. Und auch wenn er den Begriff »Gruppe 47« nicht selbst erfunden hatte – der stammte von dem früh verstorbenen Hamburger Sartre-Übersetzer Hans Georg Brenner(1) –, so hatte er ihn immerhin gutgeheißen. Dankbarkeit zu erwarten, hatte er schon lange aufgegeben, obwohl er seine eigene Schriftstellerexistenz Jahr für Jahr zurückstellte. Wenn er, wie im Vorjahr, Satiren mit dem schönen Titel Menschen in freundlicher Umgebung vorlegte, dann schrieb darüber kein Mensch. Die Gruppe galt als sein Hauptwerk, ihn selbst nahmen sie bloß als freundliche Umgebung, als freundlichen Menschen wahr.

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Hörte überhaupt jemand zu? Walter Jens(5), der Wortzerteiler aus Tübingen, als Erster auf dem elektrischen Stuhl.

Einen Bienenschwarm einzufangen war nichts gegen die Aufgabe, achtzig deutsche Schriftsteller unter einen Hut zu bringen, und sei es nur für drei Tage. Das musste schon deshalb misslingen, weil jeder von ihnen seinen eigenen, extravaganten Hut aufhaben wollte. Der Deutsch-Schwede Peter Weiss(1) hatte auf die Amerika-Pläne in dem ihm eigenen dramatischen Tonfall reagiert und die »politische Tragweite« der Entscheidung unterstrichen. Die Einladung sei nur akzeptabel, wenn sie direkt und ausschließlich von der Universität komme, hatte Weiss(2) geschrieben, die Tagung müsse unter Ausschluss der Presse stattfinden, und vor allem sollten die Teilnehmer ernsthafte »Beziehungen zu denjenigen Kräften an der Universität aufnehmen« – genau so hatte er sich ausgedrückt –, die sich gegen die amerikanische Vietnampolitik richteten. Und, nicht zu vergessen, die Teilnahme von Autoren aus der DDR sei in diesem Fall ganz besonders wichtig. Weiss’(3) Briefe lasen sich manchmal wie Parteiprogramme.

Jens(6) hatte zwar zu lesen begonnen, aber hörte überhaupt jemand zu? Hüsteln, Räuspern, Füßescharren, Stühlerücken. Seine Kuhglocke – Herrschaftszeichen und Disziplinierungswerkzeug gleichermaßen – wollte Richter(12) noch nicht einsetzen. Er atmete hörbar aus. Offenbar missfiel einigen die akkurate Ausrichtung der Stuhlreihen, so dass sie nach vorne oder nach hinten auswichen, sich seitlich wegdrehten, um die Beine übereinanderzuschlagen und die militärische Ordnung des Auditoriums in eine gemütlichere Unübersichtlichkeit zu verwandeln oder, wie Enzensberger(1), der sich auf dem Fußboden neben dem Podium plazierte, die Stuhlreihen gleich ganz zu verweigern. Dieser Vorgang wurde begleitet von permanentem Raunen und Rascheln, es war zum Gotterbarmen. Draußen läutete eine Glocke. Silberhell. Was gab es denn zu läuten auf dem Campus? Hatten sie hier eine eigene Kirche?

Stundenschläge. Zeiteinheiten. Peter Weiss(4) saß mit verkniffenem Gesicht da. Er war angereist, obwohl ihm klar gewesen sein musste, dass keine seiner Forderungen in Erfüllung gehen würde. Andere, die kommen wollten, fehlten dagegen, der gute Fred zum Beispiel, Richters(13) alter Kamerad Andersch(1), der seine ursprüngliche, dann aber doch nicht eingehaltene Zusage damit begründet hatte, er hielte es für völlig falsch, wenn die Tagung aus politischen Vietnam-Gründen ausfallen würde. Grass(1), ein paar Reihen vor Weiss(5), streckte, durchströmt vom angenehmen Bewusstsein, Günter Grass(2) zu sein, die Beine aus. Das Milchgesicht da hinten mit dem schütteren Oberlippenbärtchen und der Mädchenfrisur, das musste der junge Österreicher(1) sein, den Unseld(1) empfohlen hatte. Wie hieß der doch gleich? Für die Einladung hatte der Jüngling sich geradezu rührend bedankt, ganz »überrascht« sei er gewesen, aber sodann besorgt, weil die Flugkosten höher lagen als die 400 Dollar, die jeder Teilnehmer als Zuschuss erhielt. Richter(14) hatte ihn trösten müssen und ihm eine günstigere Verbindung herausgesucht. Um alles musste er sich kümmern.

Er blickte zu Jens(7), der stets Gefahr lief, ins Deklamieren zu verfallen, ganz der Rhetorikprofessor, der es nicht lassen konnte, der Kritiker, der es auch als Dramatiker allen beweisen musste, um sie anschließend wieder zu zerpflücken, wenn er in der Kritikerreihe seinen angestammten Platz gefunden haben würde, neben Marcel Reich-Ranicki(1), den Professoren Hans Mayer(2) und Walter Höllerer(1), dem jungen, gut geölten Joachim Kaiser(1) und dem immer breiter werdenden Erich Fried(1), der seit der Berliner Tagung im Oktober 1965 seinen Platz in der ersten Reihe behauptete und also neben der Schriftstellerexistenz auch als Kritiker ganz vorne sein wollte. Jens(8) hatte Richter(15) vorgeworfen, dass er immer weitermache, er solle doch endlich aufhören damit, zu weiteren Treffen einzuladen, spätestens wenn er sechzig werde, könne er nicht mehr da sitzen, und so weiter. Als Kritiker setzte Jens(9) seinen Gegenständen so lange zu, bis er sie mundgerecht zerlegt hatte, um sich dann, wenn nichts mehr übrig war, dem nächsten zuzuwenden. Er sei wie Hindenburg(1), hatte Jens(10) zu Richter(16) gesagt, der habe ebenfalls nicht rechtzeitig aufhören können. Aber Hindenburg(2), so gab Richter(17) zurück, war nicht nur der senile Greis, der Hitler(1) ins Amt hievte, er war auch schon sechsundsechzig, als er in der Schlacht bei Tannenberg zum Kriegshelden reifte, da blieben ihm, Richter(18), noch ein paar Jahre, sein Tannenberg könnte noch kommen, und dann wäre immer noch Zeit für einen Abschied in Würde. Man muss alles so zu Ende führen, dass es bestehen kann. Und jetzt saß Jens(11) gleich als Erster auf dem elektrischen Stuhl, weil er sein Geschriebenes nicht zurückhalten konnte. Jens(12) war von Anfang an für den Ausflug nach Amerika gewesen und hatte sich nicht geziert, wie so viele andere, denen die Politik wichtiger war als die Literatur. Richter(19) sah in ihm einen Freund, auf den er sich verlassen konnte, also verzieh er ihm seine Eitelkeit. Eitel waren sie schließlich alle. Eitelkeit gehört zur Grundausrüstung ihres Berufs. Wer nichts von sich hält, der schreibt auch nicht.

2 

Natürlich hätten sie auch in Großholzleute lesen können. Oder in Altenbeuren, Niederpöcking, Saulgau, auf Burg Berlepsch, im Kloster Bebenhausen, im Jagdschloss Göhrde, am Wannsee oder wo sie sonst noch zusammengekommen waren im Lauf von zwanzig Jahren. Walser(1), den Richter(20) für einen alemannischen Sturkopf hielt, hatte es geradeheraus gesagt: Wenn in Weingarten oder Ravensburg oder im Allgäu getagt würde, wäre er sofort dabei. Da hätte er es ja nicht so weit von seinem Bodensee aus. Princeton aber hatte Walser(2) für ganz und gar unerträglich erklärt und wegen des Krieges in Vietnam, Sartre(1) zitierend, vom »Kulturbetrieb in der Etappe« gesprochen. Richter(21) hatte sich darüber heftig geärgert – er ärgerte sich allzu oft –, weil er doch wusste, dass Walser(3) wusste, dass die Gruppe nichts anderes war als ein lockerer Zusammenschluss von Freunden und Kollegen und er, Richter(22), aufmerksam darüber wachte, dass niemand in Versuchung geriet, sich als Teil einer offiziellen Delegation zu gerieren oder die Gruppe mit politischen Absichten zu befrachten. Von wegen Etappe! Im Grunde war es doch immer und überall gleich abgelaufen: Auf Lesungen folgten Diskussionen, auf Autoreneitelkeiten die Eitelkeiten der Kritiker, die sich gegenseitig übertrumpften und denen sowieso egal war, vor welcher Kulisse sie agierten, Hauptsache, sie kämen gut zur Geltung. Die Tagungen waren mal besser, mal schlechter, klar, das gehörte zur Natur der Sache, doch Provinz war überall, und zur Not brachten sie sie eben von zu Hause mit. Die deutsche Literatur wurzelte gerade dort, wo sie Größe hatte, tief in der Provinz. Die literarische Landkarte reichte vom Rheinland Heinrich Bölls(1) bis in Siegfried Lenz’(1) Masuren, von Walsers(4) Bodensee bis zu den Kaschubischen Äckern in der Blechtrommel(3) und ins Mecklenburg Uwe Johnsons(1), der sehr aufrecht und steif und alle anderen um Haupteslänge überragend mit knallrotem Kopf neben Peter(6) Weiss’ bezaubernder Frau Gunilla Palmstierna(1) saß und jede Berührung mit ihr sorgfältig vermied, indem er die Ellenbogen eng am Körper hielt. Sie alle erzählten aus ihren Regionen und ihrer Herkunft heraus, anders konnte es nicht sein in einem Land, das dem Nationalen zu misstrauen gelernt hatte. Die Gruppe 47 gab es auch deshalb, weil Deutschland sich keine wirkliche Hauptstadt mehr leisten wollte, sondern bloß Bonn. Und eine literarische Hauptstadt gab es schon gar nicht.

Jetzt also die Whig Hall in Princeton als merkwürdig aus Zeit und Raum und allen Epochen herausgefallene Kulisse für die achtundzwanzigste Tagung der Gruppe. Dass es ihre vorletzte sein würde, konnte keiner wissen; über das baldige Ende der Gruppe wurde in der Presse schon seit Jahren spekuliert, das gehörte fast schon dazu, und doch wirkte dieser Ort wie ein künstlicher Kokon, in dem das Unzusammengehörende noch einmal zusammengebunden wurde für drei flüchtige Tage. Die Whig Hall war ein griechischer Tempel auf dem Campus, so wie Amerikaner ihn sich vorstellen, Heimstätte der Whig Cliosophic Society, eines akademischen Debattierclubs. Neben der Whig Hall stand noch ein ähnliches architektonisches Unding, vermutlich aus Gründen der Symmetrie, so dass darauf zu achten war, das richtige Gebäude zu erwischen. Diese Szenerie sollte wahrlich provinziell genug sein für eine Gruppe deutscher Schriftsteller im Ausland. Man betrat die heilige Halle über elf Stufen einer enormen Freitreppe und durch ein Säulenportal, was alle Ankommenden in ein gravitätisches Schreiten zwang, und so waren sie in kleinen Grüppchen oder einzeln hinauf und hineingeschritten ins Tagungsgeschehen. Die Eingangstür, gewaltig wie ein Kirchenportal, öffnete sich in ein marmorweißes Foyer mit Spannteppichen an der Wand, das einzig für Kaffeepausen geschaffen zu sein schien. Vor der Treppe, die von hier aus nach oben in den Sitzungssaal führte, hatte jemand eine Schiefertafel aufgestellt und mit weißer Kreide und in Großbuchstaben darauf geschrieben: KEIN DURCHGANG! – vielleicht im Glauben, dass eine deutsche Zusammenkunft erst mit Verbotsschildern zu einer echten deutschen Zusammenkunft werden würde. Ein amerikanischer Literaturkritiker meinte, es sei ebenso schwer, in den Tagungsraum zu gelangen, wie in den Himmel. Aber das war Unsinn. Allzu viele saßen in diesem Himmel, die Richter(23) nicht gerufen hatte. Unvermeidlich jedoch, dass eine solche Menge illustrer deutscher Schriftsteller im Ausland sich unweigerlich in Repräsentanten ihres Landes verwandelten, ob sie wollten oder nicht – und nicht jeder nahm das so locker wie Raddatz(1), der cool bemerkte: »Die schlechteste Repräsentanz sind sie gewiss nicht.«

Der Saal war nahezu quadratisch und wurde lediglich durch eine halbrunde Apsis ausgebuchtet, vor der der elektrische Stuhl, Richters(24) Herbergsvaterstuhl und das Tischchen mit Wasserkrug, Gläsern, Thermoskanne und Aschenbecher ihren Platz gefunden hatten, unverzichtbare Kultgegenstände einer Gemeinschaft, die auf dem Ritual der Lesung gründete. An den Wänden hingen vier Bilder würdevoller alter Herren, in Gold gerahmt und angestrahlt, das waren vier Präsidenten, und falls noch Zweifel daran bestehen sollten, in welchem Land man sich befand, erinnerte die amerikanische Flagge, die aufgerollt hinter Richter(25) stand, daran, dass man eben nicht in der Pfalz oder in Oberbayern zusammensaß, sondern in einem Land, das Krieg führte. Einen verbrecherischen Krieg, wie nicht nur Peter(7) Weiss konstatierte, denn das war ja allen klar, wenngleich sie unterschiedliche politische Schlussfolgerungen daraus zogen. Verbrecherisch schon deshalb, weil die US-Army Napalm einsetzte, eine Art verdicktes Benzin, das alles versengte und verbrannte, womit es in Berührung kam, und das unterschiedslos über dem Dschungel und den Dörfern und den Menschen in den Dörfern abgeworfen wurde und die Menschen in lebende Brandfackeln verwandelte, die schreiend zu entkommen versuchten, bis sie zusammenbrachen. Die »Operation Ranch Hand« war in vollem Gange, schon 1962 hatte die US-Army begonnen, das Entlaubungsmittel »Agent Orange« aus Flugzeugen heraus einzusetzen, um feindliche Truppenbewegungen im dichten Dschungel besser beobachten zu können. Es war eine brachiale Methode, mehr Transparenz zu schaffen – so wie das Militär eben Transparenz versteht: Dass die Bäume nicht nur entlaubt wurden, sondern häufig ganz abstarben, war ein durchaus erwünschter Nebeneffekt. Sie brannten dann hervorragend, wenn Brandbomben abgeworfen wurden und Feuerstürme verursachten. Von langfristigen Folgen für die Natur, von Haut- und Krebserkrankungen unter der vietnamesischen Bevölkerung war dabei noch gar nicht die Rede. Die 1962 begonnenen Einsätze nahmen kontinuierlich zu. Seit März 1965 baute Präsident Johnson(1) die amerikanische Truppenpräsenz im Süden des Landes immer weiter aus und ließ den Norden bombardieren. 1965 waren es 25.000 Bombardierungen, 1966 mehr als das Dreifache: 79.000. Dabei wurden 136.000 Tonnen Sprengsätze abgeworfen, auch Splitterbomben und Napalm, angeblich nur auf militärisch relevante Ziele, die Johnson(2) persönlich aussuchte. Trotzdem starben Tag für Tag hunderte Zivilisten. Die Bilder, die man aus Vietnam zu sehen bekam, waren grauenhaft, und Richter(26) konnte durchaus das Bedürfnis verstehen, sich zu distanzieren und diesen Krieg zu verurteilen, und ihm war überdies klar, dass einige, wie Weiss(8), die Reise in die USA zur Solidaritätsaktion mit den Kriegsgegnern umfunktionieren wollten. Doch seine Aufgabe war und blieb, über die politische Neutralität der Gruppe zu wachen. Alles andere würde sie zerreißen und in ihre Einzelteile zerlegen. Außerdem waren sie hier bloß zu Gast und hatten sich wie Gäste zu benehmen.

Nicht nur Walser(5) war zu Hause geblieben. Auch Böll(2) hatte abgesagt mit grundsätzlichem Missfallen daran, dass die Gruppe im Ausland automatisch zum Exportartikel werde. Warum solle er in die USA reisen, nur um dort Günter Herburger(1) oder Rolf Dieter Brinkmann(1) oder Rolf Schneider(1) zuzuhören? Eine regelrechte Gänsehaut verursache ihm die Vorstellung, der Staat könne aus der Gruppenreise der Schriftsteller politisches Kapital schlagen, denn wenn in Princeton ihre »ach so bewährten kritischen« Texte zum Vortrag kämen, dann würde das der Bundesrepublik den Ruf eines freien Landes verschaffen, den sie nicht verdient habe. Das war für Böll(3) eine fürchterliche Vorstellung. Ganz im Gegenteil sollten die Schriftsteller daran arbeiten, den außenpolitischen Kredit der BRD abzubauen, den guten Ruf, den das Land in den USA fälschlicherweise besitze, zu zerstören. Auf diesen Gedanken musste man erst einmal kommen. Da überlief nun allerdings Richter(27) eine Gänsehaut. Er begriff nicht, was Böll(4) antrieb, ob er ernsthaft an der Demokratie zweifelte, weil mit Heinrich Lübke(1) ein Mann als Bundespräsident fungierte, der in der NS-Zeit Bauleiter bei der Errichtung eines Konzentrationslagers gewesen war und den Einsatz von Häftlingen zu verantworten hatte. Aber waren die Vorwürfe, die aus durchschaubaren Motiven heraus neuerdings von der DDR erhoben wurden, wirklich ernstzunehmen? Ob die CDU im durchaus möglichen Fall einer Großen Koalition sich wirklich für Kiesinger(1) als Kanzler entscheiden würde und also für einen Mann, der einst NSDAP-Mitglied gewesen war, das müsste sich erst zeigen. Ein Regierungswechsel bei den nächsten Wahlen war doch immer noch möglich, auch wenn Willy Brandt(1) gerade erst gegen Ludwig Erhard(1) verloren hatte. Irgendwann würden die Sozialdemokraten es schaffen. Böll(5) misstraute dem Staat und den Parteien. Die SPD sei doch schon seit 1914 tot, und wenn es zur Großen Koalition käme, wäre das die Vermählung zweier fast gleich großer Kadaver. Die Zeit der Opposition ist vorbei, hatte er an Richter geschrieben, die Zeit des Widerstandes gekommen, da konnte Richter(28) nur noch den Kopf schütteln. Böll(6) war schließlich zum selben Resultat gelangt wie Walser(6) und hatte eine Tagung im »nächstbesten Bundeskaff« vorgeschlagen – falls überhaupt weiter getagt werden sollte, und diese kleinen Hiebe, diese ständig ausgestreuten Zweifel waren es, die an Richter(29) nagten, die ihn ärgerten und die ihn wirklich darüber nachdenken ließen, aufzuhören und einfach keine Einladungen mehr zu verschicken. Nach zwanzig Jahren durfte er auch einmal müde sein.

Das Verharren in der Provinz war gewissermaßen ein deutscher Selbstschutz. Solange man unter sich und auf irgendeinem abgelegenen Gasthof blieb, konnte nichts passieren, und die Großmannssucht erhielt qua Abgeschiedenheit keine Chance. Nach Auschwitz nur noch Provinz: Aber dann brauchte sich niemand darüber zu beschweren, dass die deutsche Literatur im Ausland für provinziell gehalten und also kaum wahrgenommen wurde. Was an Avantgarde aus Deutschland kam, war den amerikanischen Avantgardisten nicht Avantgarde genug, und so sahen sie darüber hinweg. Die konventionelle Erzählware aber war nicht konventionell genug, um wirklich marktgängig zu sein, und so blieben als deutsche Exportschlager eben doch nur Grass(4) mit der Blechtrommel übrig und Weiss’(9) Theaterstück über Marat(1) und den Marquis de Sade(1), das am Broadway gefeiert wurde. Gegen Hirschgeweihe an der Wand deutscher Gasthöfe hatte niemand etwas einzuwenden gehabt. Wenn aber Präsident Wilson(1) an der Wand hing – ein Zögling Princetons, auf den die Universität stolz sein dürfen wollte –, übersah man das Porträt geflissentlich. Zum Glück war es nicht Lyndon B. Johnson(3)!

So eine Reise nach Princeton könnte doch auch dazu dienen, die Gruppe aus ihrer selbstgewählten Provinzialität herauszuholen. Oder sollten sie, aus bloßer Scham, Deutsche zu sein, lieber immer und ewig zu Hause bleiben? Dann müsste man aber aufhören, sich darüber zu beklagen, dass die deutsche Literatur in den USA auf so wenig Gegenliebe stieß. Liebe hatten die Deutschen sowieso nicht mehr zu erhoffen in diesem Jahrhundert, aber wenigstens ein bisschen Interesse. Deshalb waren sie ja hierher gereist, im seltsamen Versuch, die Provinz in die große weite Welt zu verlagern und so eine Art Quadratur des Kreises zu versuchen. Dass man die Welt dann aber auch einlassen müsste, fiel Richter(30) nicht ein. Dass die deutsche Provinz womöglich eine aussterbende Region war, setzte der Literatur zu. Die Gegensätze gingen verloren. Dörfer wurden zu Vororten, Vororte wuchsen zusammen, und wo es keine Metropolen gab, konnte es keine Provinz geben. Die Bundesrepublik war Mittelstand, Mittellage, Mittelmäßigkeit, und auch wenn die Türen der Whig Hall geschlossen blieben, spürte man das doch, hier in der Fremde.

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Hans Mayer(3) weiß es schon und will es auch sagen. Walter Höllerer(2) denkt noch nach, wird sich aber demnächst zu Wort melden. Marcel Reich-Ranicki(2) ist skeptisch, schweigen wird er nicht. Hinter der Reihe der Kritiker bringt sich Peter Weiss(10) als Zuhörer zur Geltung.

Richter(31) bedauerte sich selbst, weil er sich mit all diesen Zweifeln und Einwänden herumschlagen und in die abgelegensten Gehirnwindungen seiner Schutzbefohlenen hinein Verständnis aufbringen musste. Da war ihm die Verrücktheit eines Wolfgang Koeppen(1) lieber. Damit konnte er umgehen. Koeppen(2) lebte gewissermaßen stellvertretend und im großen Maßstab die Urangst des Schriftstellers aus, nichts mehr zu Papier bringen zu können. Seit Jahren hockte er, von seinem Verleger Siegfried Unseld(2) geduldig alimentiert, in seiner Münchner Wohnung, ohne mit dem sehnlichst erwarteten Roman jemals fertig zu werden, ja, es war unklar, ob er überhaupt schon begonnen hatte, doch er musste sich immer neue Ausreden ausdenken, warum es nicht vorwärts ging damit. Wahrscheinlich verbrauchte er all seine Schaffenskraft für die Briefe an den Verleger, in denen er ein ums andere Mal erklärte, warum jetzt noch nicht, aber bestimmt sehr bald mit dem Durchbruch zu rechnen sei. Nach seiner Trilogie des Scheiterns, den Romanen über den Bonner Politikbetrieb der fünfziger Jahre, hatte er das Scheitern nolens volens zu seiner eigenen, dauerhaften Sache gemacht. Jetzt hatte er in Verzweiflung und Panik eine neue Wohnung gemietet, die er sich gar nicht leisten konnte, die er aber für nötig hielt, weil er glaubte, es wäre der Lärm des Kinderspielplatzes vor seinem Fenster gewesen, der ihn so hartnäckig vom Arbeiten abgehalten hätte, dass er sich bezüglich all seiner Pläne und Verpflichtungen in einem kaum je wieder aufholbaren Rückstand befinde. Es stehe alles auf des Messers Schneide! Doch nun, wo ihn kein Kinderlärm mehr störte, lähmte ihn der Gedanke an die irrsinnige Miete, von der er nicht wusste, wie er sie auftreiben sollte. Er hatte sich vorgenommen, ab sofort zwölf Stunden täglich am Schreibtisch zu sitzen, weshalb er in dieser zur Lebenskrise gewordenen Schaffenskrise die Arbeit am Roman unmöglich unterbrechen und nach Princeton reisen könne. Es war zwar nicht davon auszugehen, dass er in diesen zwölf Stunden täglich etwas zu Papier bringen würde, aber der Vorsatz war unterstützenswert, auch wenn er wohl nicht ganz ehrlich war, wie Koeppen(3), was seine Arbeit betraf, niemals ehrlich war, denn tatsächlich fürchtete er vor allem, bei der Gruppe 47 Unseld(3)(4)(5)Ulysses(4)