Christian Linker

RaumZeit

Roman

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Die in der vorliegenden Geschichte geschilderte Justizvollzugsanstalt und alle handelnden Personen sind völlig frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Personen sind rein zufälliger Natur.

Für alle, die gefangen sind.
Beiderseits irgendwelcher Gitter und Mauern.

# Bunker

Ich schätze den Bunker auf zehn Quadratmeter. Versiegelter Boden. Beton unter mir, über mir, um mich herum. Eine dünne Matratze auf dem Boden, eine Wolldecke. In der Ecke ein Loch im Boden zum Scheißen. In der Mitte der Decke eine Kamera. Drum herum Flecken von Essen, das wohl irgendwer an die Decke und gegen die Linse geworfen hat, um den Grünen das Bild zu verkleistern. Die Mauer ist dick. Zwischen mir und den Gittern, die enger sind als in meiner alten Zelle, Plexiglas. Mattes Licht filtert sich zu mir durch. Beleuchtet organische Verbindungen auf Kohlenstoffbasis, angezogen mit Shorts, T-Shirt und Socken; mehr Kleidung haben sie mir nicht gelassen.

Meine Seele ist einfach draußen geblieben. Im Gegensatz zu mir, ich bin einfach wieder reingegangen. Für SIE? Für mich? Für meine »Zukunft«? Für irgendwas auf dieser Scheißwelt?

Mein Kopf ist voll von Bildern. Bildern von Bäumen, Wiesen, Wellen, Weite, Horizont. Bildern, wie SIE nackt, schwitzend, duftend sich an mich drängt. Mein Kopf ist voll von Klängen, von Musik, Meeresrauschen, voll von den Worten, die SIE gesagt hat.

»… dann gehst du zurück.«

Im Boden sind jeweils rechts und links von der Matratze drei kleine Löcher mit Gewinden. Darin werden anscheinend die Bänder befestigt, mit denen sie einen fixieren, wenn man so richtig ausflippt. So gesehen hab ich noch Glück gehabt.

Ich werde eine Weile in diesem Loch verbringen, ich sollte mich wohl häuslich einrichten. Da ich nichts mitbringen konnte – keine Bücher, keinen Tabak, kein Radio, nichts zum Schreiben –, nichts außer mir und meiner armseligen Unterwäsche, werde ich den Bunker mit meinen Gedanken vollstopfen. Lauter Gedanken, die die Grünen nicht sehen können, nicht durch das Guckloch in der Stahltür und nicht auf dem Monitor, der mich ihnen vierundzwanzig Stunden am Tag zeigt.

Ich werde dir etwas von mir erzählen. Nicht zu viel. Gerade so, dass du merkst, worauf es mir ankommt. Vielleicht sollte ich mich kurz vorstellen. Tim Landberg, sechzehn Jahre alt, zweiundzwanzig Monate Jugendstrafe, alles andere ist unwichtig.

Ich werde dir was erzählen, wenn du wirklich willst. Aber ich will fair sein. Ich will dich warnen. Vertrau mir nicht! Vertrau niemals einem Erzähler. Vertrau überhaupt keinem!

Ich zum Beispiel habe vielen Geschichtenerzählern vertraut, Mark Twain, Robert Louis Stevenson, die die Helden meiner Kindheit schufen. Okay, ich hab von Anfang an nicht diesen komischen Jugendbüchern vertraut, du weißt schon: Junge trifft Mädchen, Mädchen trifft Junge, Stress mit Schule, Stress mit Eltern, Stress mit Liebe, Riesendurcheinander, unverhoffte Wendung, Happy End, Sonnenuntergang und aus. Aber Mark Twain, wie gesagt. Oder Michael Ende zum Beispiel. Die alle haben mich elend beschissen.

Also vertrau mir nicht, denn ich vertrau dir auch nicht.

# Zugang

Der Schatten der Mauer fiel auf den kleinen Bus. Durch einen Spalt konnte ich das gewaltige Schleusentor sehen. Lautlos schwang es zur Seite, still und ganz sacht, aber man merkte, dass es hungrig war. Wie bei Jona, fand ich, bei der Geschichte mit diesem komischen Wal. Wir fuhren in die Schleuse und es wurde dunkel. Türenknallen, Gequatsche, Papierkram. Dann öffnete sich das zweite Schleusentor. Aber das Licht, das nun in die Schleuse fiel, war nicht mehr dasselbe.

Der Bus rollte auf den Innenhof. Ich wurde abgeladen und zugestellt wie eine Postsendung. Die Fassade, die vor mir aufragte, erinnerte mich an eine alte Fabrik: gebrannte Ziegel, von den Jahren gedunkelt. Ein Gründerzeitknast, das hatte man mir schon in der U-Haft erzählt. Sitzen wie zu Kaisers Zeiten. Es war alles wie im Film.

Sie führten mich in die »Kammer«. Wie durch die Perspektive einer Filmkamera nahm ich Fetzen der Wirklichkeit wahr, ein Film mit ziemlich schnellen Schnitten. Endlose Regale mit Kleidersäcken, Aktenschränke, Schreibtische, geschäftige Grüne, eine brusthohe Mauer. Ein paar Typen in Latzhosen oder Trainingsanzügen lungerten in der Ecke rum. Meine neuen Kollegen, wohl bei der Zigarettenpause, nahmen mit prüfenden Blicken den Zugang in Augenschein. Hey, Frischfleisch.

Man dirigierte mich hinter die Mauer. Jetzt musste ich mich ausziehen. Meine Sachen wurden durchsucht und verschwanden in einem der Kleidersäcke.

»Wenn Sie das erste Mal Ausgang kriegen, dürfen Sie die Sachen wieder anziehen«, ließ mich der Grüne wissen, seinen Blick auf meinen Schwanz geheftet. Nie in meinem Leben war ich nackter.

Dann bekam ich meinen Zugangssack, darin Bettwäsche, Geschirr, vier Unterhosen, vier Paar Socken, zwei T-Shirts, eine Latzhose. Wie erlaubt hatte ich selbst zwei Trainingsanzüge und zwei Paar Turnschuhe mitgebracht. Die durfte ich behalten.

Sie machten ein Erinnerungsfoto mit Seriennummer für die Akte. Es gab noch einen Haufen Fragen und Papierkram, bis die Grünen mich auf meine acht Quadratmeter Deutschland brachten. Wir wanderten durch endlose Gänge.

Backstein außen, grauer Putz innen, immer wieder Stahltore in steinernen Rundbögen. Alle fünf Schritte musste der Grüne mit dem »Knochen«, einem großen Schlüssel, irgend so ein Tor auf- und hinter uns wieder abschließen. Dann erreichten wir das Hafthaus. Helles Licht fiel durch ein Glasdach von hoch oben auf uns herab. Auf vier Stockwerken über uns zogen sich hier Galerien mit eisernen Geländern entlang, von denen jeweils die Zellentüren abgingen.

Ja. Tatsächlich wie im Film.

Auf der Treppe nach oben stolperte ich einmal. Die hölzernen Stufen waren ausgetreten. Wer weiß, wie viele Generationen schon hier hinauf- und heruntergestiegen sind. Blödsinn, interessiert doch kein Schwein, so ’ne Frage.

Was interessiert denn schon? Mein neues Zuhause vielleicht. Acht Quadratmeter, wie gesagt, ein Bett, ein Klo ohne Brille, ein Waschbecken, ein Tisch und ein Kleiderschrank, ein Schalter an der Wand.

»Wenn was ist, drücken Sie hier, dann kommt jemand. Noch Fragen?«

Nein. Keine Fragen mehr.

Mit einem lauten Knall fiel die Türe in die Angeln, scheppernd wurden die eisernen Riegel umgelegt, das Schloss rastete ein. Ich war drin.

Wie ein Touri, der sein Hotelzimmer begutachtet, trat ich zuerst ans Fenster. Ich reckte mich ein wenig hoch, öffnete es und umklammerte die Gitterstäbe. Wie im Film. Die Gitter, meine neuen Gefährten, begrüßten mich angenehm kühl und sachlich. Dieser Stahl hatte etwas Faires an sich. Zwischen ihm und mir war alles klar. Keine Fragen offen. Er versprach mir nichts und würde mich also auch niemals verarschen. Gut so.

Meine Aussicht ging auf einen Hinterhof. Zu meiner Rechten ein weiterer Zellentrakt. Die meisten Fenster waren verhängt mit Tüchern oder auch mit irgendwelchen Flaggen, denn Vorhänge gab es keine. Zur Linken und gegenüber erkannte ich Fabrikhallen. Leute sah ich nicht. Wahrscheinlich waren alle Knackis drinnen bei der Arbeit. Es musste so gegen zehn sein. Eine Uhr hatte ich nicht bei mir. Uhren sind was für Leute, die keine Zeit haben. Und ich würde jetzt einen Haufen Zeit besitzen. Ich war sozusagen Zeitmillionär. Was ist Zeit?

Ich ließ die Gitter los, fiel krachend aufs Bett und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Genau so, wie sich Knackis in Filmen aufs Bett werfen, die Hände hinter dem Kopf verschränken und an der Linse der Filmkamera vorbei ins Leere stieren. Ich hab mal ein Buch gelesen, da starrt ein Typ sein Leben lang auf eine Mauer und wartet darauf, dass da eine Schrift erscheint. Und ganz am Ende wird er erschossen und da erscheint in diesem Moment die Schrift, aber der elende Autor verschweigt natürlich, was da steht. Ich musste jetzt daran denken, als ich mir die Decke anschaute. Ich stellte mir vor, der Beton könnte alle Gedanken der Gefangenen speichern, die vor mir hier gelegen und diese Decke angeglotzt hatten. Ein Videoclip aus tausend Bildern von Erinnerungen, Träumen, Ängsten und ein ganzer Porno aus Wichsfantasien. Langsam dämmerte mir, dass ich monatelang keinen Sex haben würde außer mit mir selbst. Okay, nicht dass ich mit Sex die Riesenerfahrung hatte, aber ich wollte gerade anfangen, sie zu sammeln, als es passierte und sie mich kriegten. Wenn ich rauskäme, wäre ich fast zwei Jahre im Rückstand. Und sicher total gehemmt vor lauter Angst, ich könnte gleich über die erste Frau, die mich anlächelt, wie ein ausgehungerter Wolf herfallen. Leichte Panik kroch von meinen Lenden aufwärts in die Magengrube, pflanzte sich durchs Rückenmark fort und befiel meinen Hinterkopf. Ich merkte, wie mir heiß wurde, meine Hände zitterten, mein Mund austrocknete, meine Augenlider zu zucken anfingen.

»SCHEISSE, NEIN!«, schrie ich, fuhr vom Bett hoch und schlug in Richtung der Decke, wo alle Bilder aus dem Videoclip wie dünnes Glas zersplitterten. Die Splitter regneten auf mich herab und ich stand da.

Sie hatten mir meine halbe Packung Kippen gelassen, von denen rauchte ich hintereinander sieben Stück. Danach holte ich mir einen runter und rauchte noch zwei. Zum ersten Mal seit Langem hatte ich beim Onanieren wieder an Natalie gedacht. Man denkt immer an das, was man nicht hat.

Nie kann ich klarer denken als direkt nach dem Orgasmus. Und während ich rauchte, sah ich ein, dass Sex verdammt noch mal nicht alles ist. Ich war eingesperrt. Nicht für ein paar Stunden bis zur Vorführung beim Haftrichter, nicht für ein paar Wochen bis zur Gerichtsverhandlung, sondern für den Rest meiner Jugend. Scheiße, ich würde hier drin siebzehn werden und vielleicht auch noch achtzehn! Wenn ich rauskäme, hätte ich dicke Eier und keinen Job.

Ich bin ein Denker, ich bin intelligent, ich bin begabt! Ich habe nie in meinem Leben wirklich gelernt – also Lernen im Sinn von Pauken. In der Grundschule war ich ein Überflieger, noch dazu eins von den Kindern aus einem sogenannten (haha!) benachteiligten Stadtteil. Meine Lehrerin liebte mich dafür. Aber auf dem Gymnasium kannte kaum jemand meinen Stadtteil und niemand hielt mich für sensationell. Höchstens für seltsam. Das ging meiner Mutter nicht anders, deshalb hielt sie sich von Elternabenden und Sprechtagen fern, bis man sie einbestellte. »Frau Landberg, Ihr Sohn ist hochintelligent und könnte seinen Mitschülern besonders in den geisteswissenschaftlichen Fächern und in den Sprachen weit voraus sein. Aber leider grenzt seine Arbeitshaltung manchmal an Totalverweigerung. Um deutlich zu werden: Er ist stinkfaul und völlig uneinsichtig. Und noch was, Frau Landberg. Es geht mich eigentlich nichts an, aber haben Sie mal ein Auge auf die sogenannten Freunde, mit denen Tim sich umgibt.«

Okay, ich bin nach der Achten vom Gymnasium auf die Hauptschule gekommen, und da hab ich mich auch selten blicken lassen. Aber was kann ich dafür, wenn die Schule so bescheuert ist! Lehrer waren selbst mittelmäßige Schüler, sonst wären sie nicht Lehrer, sondern was Interessantes geworden. Was für Lehrer zählt, ist reiner Fleiß und nicht Talent. Schon gar nicht das Denken.

Denken ist das Einzige, was mir hier bleibt. Ein schöner Platz zum Denken. Man wird nicht abgelenkt.

# Kollegen

Dieser Film, in dem ich da war, der schien Überlänge zu haben. Am nächsten Morgen lief er immer noch. Überflüssig zu erwähnen, dass meine erste Nacht hier drin die absolute Vollhölle gewesen war.

In den nächsten Tagen geschah nichts. Schlechthin nichts. Ich aß und verdaute und wachte und schlief. Zwischendurch dachte ich nach. Ich hab mal von einem Typen gelesen, der hat gesagt: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Meiner Meinung nach ein gutes Motto. Je länger ich hier drin war, desto weniger wusste ich überhaupt – na ja, besser gesagt: desto unklarer war mir, was überhaupt wirklich ist. Nicht, dass ich irgendwelche Halluzinationen gehabt hätte. Aber ich stellte mir so drollige Fragen wie: Gibt es einen Sinn des Lebens? Wenn ja, kann man ihn finden? Wenn ja, wo? Und wenn es keinen Sinn gibt, ist die Welt dann absurd? Bin ich absurd? Bin ich überhaupt? Oder bilde ich mir bloß ein, dass es mich gibt, und in Wahrheit gibt es mich gar nicht? Und: Merkt man eigentlich, wenn man anfängt, wahnsinnig zu werden?

Es wurde höchste Zeit, dass ich unter Leute kam. Und schließlich war es so weit. Die Grünen verlegten mich aus dem Zugangstrakt in ein anderes Hafthaus der Anstalt. Hier sah es endlich nach Jugendknast aus. Wenn man sich die Zellentüren wegdachte, hätte man den Laden auch für eine Jugendherberge halten können. (Die Unterschiede waren mir schon auf Klassenfahrten immer nur graduell vorgekommen.) Das Gebäude war moderner, der Beton der Flurwände bemalt, es stand sogar eine Yuccapalme irgendwo rum. Doch entscheidend verbessert hatte ich mich nicht; nach wie vor acht Quadratmeter, ein Klo ohne Brille und so weiter und so weiter. Ich war kaum drin, als schon wieder aufgeschlossen wurde. »Freistunde«, ließ mich der Grüne wissen, ich könne auf den Hof, wenn ich wolle. Und übrigens, er sei hier der Abteilungsbeamte. Matschulla mit Namen, Franz-Gerd Matschulla, mit Betonung auf der ersten Silbe, nicht auf der zweiten, wie die meisten denken. Ich musterte ihn. Man nannte sie »die Grünen« wegen der komischen grünen Uniformhemden mit Landeswappen auf dem Ärmel. Matschullas Hemd spannte etwas über dem Bauch und mit dem walrossähnlichen Schnäuzer und dem lichten Haar hatte er etwas Gemütliches an sich. Ob ich denn jetzt rauskommen wolle. Natürlich wollte ich. Ich merkte zwar, dass viele Kollegen in ihren Zellen blieben – man hatte mir schon in der U-Haft erzählt, dass der Gefängnishof nicht gerade der sicherste und friedlichste Ort auf Erden war. Aber meine Sehnsucht nach einem Stück Himmel ohne Gitter über mir und nach ein paar Menschen um mich herum war größer, auch wenn sie mir beim ersten Kontakt vielleicht direkt ein Messer zwischen die Rippen jagen würden. Man kennt ja diese Knastfilme.

Eine Handvoll Leute sammelte sich auf dem Flur, einige waren jünger als ich, einige schienen älter zu sein, die meisten waren in meinem Alter. Matschulla trieb unsere kleine Herde zur Treppe, als eine kräftige Pranke auf meiner linken Schulter aufschlug.

Schon?, dachte ich bloß und hoffte, es würde schnell gehen. Dann rief mir eine dröhnende Stimme, an die ich eine entfernte, ungenaue Erinnerung hatte, laut ins Ohr: »Landberg! Scheiße, Alter, du bist es!«

Ich wurde herumgewirbelt und sah in das Gesicht eines Glatzkopfes, bis meine Erinnerung nach einigen verwirrten Millisekunden die Verknüpfung zu einem Namen herstellte.

»Bodo Ingel«, entfuhr es mir ungläubig. Gleichzeitig kam es mir vor, als würde mein inneres Auge mir ein Optionenmenü vorhalten: Wählen Sie eine der folgenden Emotionen! Meine Abscheu vor dem Kerl hielt sich die Waage mit meiner Freude, ein bekanntes Gesicht zu sehen. Am liebsten wäre ich ihm um den Hals gefallen, um ihm dabei über die Schulter zu kotzen. Alles in allem stand ich wohl ziemlich belämmert da und starrte ihn an.

»Da guckste, was?«, grunzte Bodo Ingel. Ein weiterer Prankenhieb krachte auf meine Schulter. Der Glatzkopf grinste von einem abstehenden Ohr zum anderen. Ich hatte ihn mit Springerstiefeln und Bomberjacke in Erinnerung. Er trug jetzt einen Blaumann, dessen Hosenträger einen muskelbepackten Brustkorb einschnürten.

»Kraftraum«, erklärte er, meinem Blick folgend. »Bin schon ’ne Weile drin.«

Wir stiegen eine Treppe hinunter.

»Ich sag dir was, Landberg, mein Kleiner. Früher oder später sieht man hier alle wieder. Bei dir war mir schon immer klar: Der rückt mal ein, der Kleine. Seit wann haben wir uns nicht mehr gesehen?«

Seit mir klar geworden ist, was du für ein Arsch bist, fuhr es mir durch den Kopf. Stattdessen witzelte ich blöde: »Das muss wohl letztes Jahrtausend gewesen sein.«

Das war ein Fehler, denn Bodo schüttelte sich vor Lachen und der nächste Prankenhieb detonierte auf meiner schmerzenden Schulter. Allmählich musste mein Schlüsselbein freiliegen. Dann löcherte er mich mit Fragen: Seit wann ich da sei (paar Tage), ob ich das erste Mal drin sei (allerdings), ob ich von Jupp und Tappi noch mal was gehört hätte (nö, hätt ich nicht) oder was denn aus dem Hartzke geworden sei (nie gehört), was denn die Gang jetzt mache (in einer Gang sei ich nie gewesen, er müsse da was verwechseln), ob ich wohl mal ’ne Kippe hätte.

»Klar, für ’n alten Kollegen.« Wer weiß, wofür’s gut ist, dachte ich und gab ihm meine letzte. Wir traten auf den Hof. Er war viel größer als der Hinterhof, den ich von meiner Zugangszelle aus hatte sehen können. Es gab sogar einen Fußballplatz und eine kleine Rasenfläche mit einem Baum drauf. Auf dem Bolzplatz kickten sich einige Typen gegenseitig den Ball zu, während andere Basketball spielten. Die meisten schlenderten herum oder hockten in kleineren Grüppchen beisammen. Die Grünen standen abseits und erzählten sich was.

Erst jetzt schnallte Bodo Ingel, dass ich ihm meine allerletzte Kippe geopfert hatte, und sein Blick bekam was Verklärtes.

»Der Ehrenmann gibt gern«, sagte er auf und ließ mich wissen: »Als Ehrenmann bringst du’s weit hier drin. Ich meine: Abkacken ist richtig scheiße, du musst auf ein paar Dinge achten, wenn du durchkommen willst. Keinen verzinken, das ist die oberste Regel von den Oberregeln. Du musst noch verdammt viel lernen. Hast du mal Feuer?«

Ich gab ihm Feuer. Er zog zwei-, dreimal lang und tief, dann reichte er mir die Kippe.

»Am besten ist, ich nehm dich erst mal zu mir«, erklärte er und blies genüsslich eine dicke Rauchwolke aus seinen Lungen. »Weißt du schon, mit wem du Umschluss machst?«

»Was zur Hölle ist Umschluss?« Ich zog an der Zigarette und reichte sie ihm.

»Du musst noch viel lernen.« War mir nicht verborgen geblieben. »Immer nachmittags ist Umschluss. Da kannst du für ’n paar Stunden mit zwei andern auf Zelle gehen. Danach ist manchmal Aufschluss, da können wir uns auf dem ganzen Gang bewegen, dann ist Einschluss. Also: Wenn Umschluss ist, dann komm zu mir. Für heute hab ich schon zwei Kollegen zugesagt. Aber ab morgen bist du Gast auf meiner Hütte. Und wegen den Kippen: Du bist ein echter Kollege. Heute Abend krieg ich Tabak und auch Blättchen, ich pendel dir was rüber. Du musst ja dein Auskommen haben, bis du das erste Mal auf Einkauf gehst.«

Ich nickte stumm, kapierte knapp die Hälfte von dem, was er da redete. Aber mir war aufgefallen, dass die anderen einen großen Bogen um uns machten. Da es an mir schlecht liegen konnte, entschied ich, mich zuerst mal innerhalb von Bodo Ingels Kraftfeld aufzuhalten, denn das schien einigermaßen sicher zu sein.

Mein neuer Beschützer folgte meinem weiten Blick über den Hof und mit theatralischem Gestus streckte er den Arm zu einer über das Panorama schwenkenden Bewegung aus. Dabei referierte er: »Kanaken, Russen, Polen, alles da. Verstehst du was von Erdkunde? Die Kanaken sind sich selbst nicht grün. Die Türken klatschen die Araber, die Araber klatschen sich untereinander, zum Beispiel die Libanesen die Marokkaner und so weiter. Die Russen halten zusammen wie sonst keiner. Da würde einer für den andern sterben. Aber wehe, einer hält sich nicht an den Kodex. Der ist so gut wie tot. Die Polen sind einfach nur arme Schweine. Na ja, und wir richtigen Deutschen hängen halt irgendwo zwischendrin. Die meisten sind Einzelgänger. Aber ich hab ein paar Kameraden hier drin. Du wirst sie kennenlernen.« Er hielt mir die Zigarette hin, aber sie war schon fast abgebrannt und ich winkte ab. Bodo zog noch zwei Mal, bis der Filter anbrannte, dann warf er sie weg und schielte mich an wie ein Vater, der mit seinem Sohn zum ersten Mal zum Angeln geht. Ich wollte Zuversicht ausstrahlen und dabei unterlief mir ein kleines, dankbares Lächeln. Den Fehler bezahlte ich sofort mit einem weiteren Einschlag in die Kraterwüste meiner ehemaligen Schulter. Anscheinend hatten wir so was wie Freundschaft geschlossen.

Besiegelt wurde das am Abend. Ich hockte auf Zelle und lehnte bei offenem Fenster an den Gitterstäben, als ich plötzlich Bodos Stimme hörte.

»Hey, Landberg, bist du da?« Er war drei oder vier Fenster von mir entfernt.

Ich meldete mich, dann sah ich, wie von irgendwo ein Beutel aus dem Fenster flog, der an einem langen Seil befestigt war. Dann begann das Seil zu schwingen und der Beutel pendelte hin und her, erst ganz sacht, dann stärker und stärker. Das Seil wurde dabei immer länger, bis der Halbkreis, den er beschrieb, bis zu meinem Fenster reichte. Zweimal flog er an mir vorbei, bevor ich ihn packen konnte. Es war ein kleiner Jutesack. Darin fand ich ein Päckchen Tabak und Blättchen. Ich nahm sie heraus und warf den Beutel wieder aus dem Fenster. Er fiel zur Seite hinab und wurde dann hochgezogen.

»Danke!«, rief ich in die Dämmerung und Bodo Ingel antwortete: »Für’n alten Kameraden immer.«

Dann drehte ich mir eine, glotzte aus dem Fenster und stellte mir vor, was um diese Zeit wohl gerade im Fernsehen lief.

# Umschluss