Irina Korschunow

Die Sache mit Christoph

Roman

1

Heute haben wir Christoph begraben.

Nein, nicht wir.

Sie haben ihn begraben.

Ich war nicht dabei.

In die Kirche bin ich noch gegangen. Sie liegt oben auf einem Hügel, mitten zwischen den Gräbern, eine kleine weiße Dorfkirche mit rundem Turm und einem Altarbild ganz in Rosa und Hellblau, von dem Christoph einmal gesagt hatte, dass es sicher ein Gemeinschaftswerk des Oberrieder Jungfrauenvereins sei.

Jetzt stand sein Sarg vor dem Bild.

Die Beerdigung sollte um elf anfangen. Kurz vor elf, als ich kam, war die Kirche schon voll. Das halbe Dorf war da, und die Schule natürlich: unsere Klasse, die Parallelklassen, fast sämtliche Lehrer. Die meisten wohnen nicht in Oberried. Sie waren zusammen mit der Bahn herausgefahren, wie bei einem Schulausflug, und eine halbe Stunde zu früh eingetroffen. Ich bekam keinen Platz mehr und musste stehen. Ich stand an der Wand und sah sie in den Bänken sitzen, einen neben dem andern, die Göbler, Mathe-Mayer, Bio-Mayer, Hansen, den Musiklehrer … Nur der Hansen hatte Christoph gemocht, die anderen nicht, und ich konnte sie kaum aushalten mit ihren dunklen Kleidern und diesen passenden Gesichtern dazu. Der dicke Morgenfeld bekam es sogar fertig, unglücklich auszusehen. Vor ein paar Tagen hatte er noch zu Christoph gesagt: »Das Leben wird Ihnen schon genug blaue Flecken verpassen, Sie arroganter Kerl, und weiß Gott, die gönne ich Ihnen.«

Dass er es überhaupt gewagt hatte herzukommen, nach allem, was geschehen war. Er hätte in die Schule gehen sollen, er und die anderen, vor allem die Göbler, bei der wir im letzten Jahr Deutsch hatten und die wenigstens ehrlich genug war keine Trauermiene aufzusetzen. Niemand von denen hätte kommen dürfen, auch die Klasse nicht. »Die Meute« hatte Christoph sie genannt, obwohl sie ihn nicht gehetzt hatten, weil es nicht ging, weil sie sich nicht rantrauten. Nur Ulrike hätte dabei sein dürfen, Ulrike und ich. Aber da saßen sie und glotzten auf den Sarg und ich biss mir die Lippen kaputt, weil ich es nicht aushalten konnte, dass sie ihn anstarrten, den braunen Sarg mit Christoph darin, und sich vorstellten, wie er aussähe, vielleicht in einem weißen Hemd und die Hände gefaltet. Ja, so war es, ich hielt es nicht aus. Ich hatte noch nicht begriffen, dass sie ihm nichts mehr antun konnten. Dass er tot war. Nein, das hatte ich noch nicht begriffen.

Ich stand an der Wand und machte die Augen zu und machte sie wieder auf, weil ich keine Show abziehen wollte. Dann fing die Musik an. Drei Geigen und das Cello vom Schulorchester. Jemand schluchzte. Bestimmt Christophs Mutter. Sie tat mir Leid. Sie war klein und dünn und schüchtern, so eine von diesen grauen Mäusen, und jetzt musste sie vor der ganzen Versammlung schluchzen. Die Musik klang furchtbar. Ulrike hatte ihre Geige einen Viertelton zu hoch gestimmt und griff dauernd daneben. Ich hatte ihr gleich gesagt, dass sie es sein lassen sollte. Das hältst du nicht aus, hatte ich gesagt. Aber die anderen hatten sie gedrängt, weil außer ihr niemand das schwierige Solo spielen konnte, und vielleicht wollte sie es auch für Christoph tun. Weil sie genau wie ich noch nicht begriffen hatte, dass er nichts mehr brauchte.

Als sie endlich aufhörten, kam Pater Aurelius, einer der drei Franziskaner-Mönche vom Kloster. Wenn er Zeit hat, arbeitet er im Klostergarten. Wir kaufen unser Gemüse bei ihm. »Was Sie geben wollen«, sagt er, wenn man nach dem Preis fragt.

Daran musste ich denken, als er vor den Sarg trat. Ich konnte es nicht mehr aushalten, ich bin weggelaufen. Draußen schien die Sonne. So ein Föhntag, an dem die Berge fast bis an den Dorfrand rücken. Christoph hatte das gern. Bei Föhn sind wir oft zum Friedhof gegangen, dem höchsten Punkt im Dorf und nicht weit von unserem Haus. Neben der Kirche ist eine Bank. Dort haben wir gesessen und geredet. Der Föhn und die Berge – das brachte Christoph zum Reden.

Und jetzt sollte er an einem Föhntag beerdigt werden.

Ein Föhntag im September. Es war sehr warm, wie oft bei uns in dieser Jahreszeit, aber auf den Bergen lag schon Schnee. Nach Weihnachten hatten wir zusammen Ski fahren wollen: Christoph und ich. Und Ulrike, klar, die gehörte ja zu uns, das heißt, eigentlich zu Christoph. Und jetzt sollte er beerdigt werden.

Ich ging an den Gräbern vorbei, dorthin, wo das neue ausgehoben worden war. Der Mesner und der alte Reischel räumten gerade die Bretter weg, die sie zum Schutz über die Grube gelegt hatten.

Der alte Reischel hob den Kopf, als ich kam, sagte aber nichts. Sein Gesicht war rot angelaufen, wie immer, wenn er betrunken ist.

»Warum bist du nicht in der Kirche, Martin?«, fragte der Mesner. Er wischte sich mit der flachen Hand den Schweiß von der Stirn und rieb die Finger an der Hose trocken.

Ich trat an das Grab und sah hinein.

Ein dunkles Loch, schmal und tief. Der Boden und die Seitenwände glänzten lehmig. Unten rannte eine Maus hin und her: eine kleine graue Maus. Sie rannte von einem Ende zum andern, vor, zurück; vor, zurück.

Der alte Reischel nahm eins der Bretter und wollte es senkrecht in die Grube stoßen.

»Nein!«, schrie ich.

Ich höre mich noch schreien. Es war still, nur ein bisschen Wind, und dann meine Stimme. Noch nie habe ich meine Stimme so deutlich gehört.

»Warum denn nicht?«, fragte der alte Reischel. »Ist doch bloß eine Maus.«

Da begriff ich, dass Christoph tot war.

Ich fing an zu laufen. Ich lief und lief, den Friedhofsweg hinunter, über die Dorfstraße, an den Bauernhöfen vorbei, bis zum Fluss. Auf der Brücke blieb ich stehen. Es gibt zwei Brücken im Dorf, die große an der Bundesstraße, die den Hurler Berg hinauf zum Bahnhof führt, und diese Holzbrücke für Fußgänger und Radfahrer. Sie ist alt und knarrt, wenn man darüber geht – als kleiner Junge hatte ich jedes Mal Angst, sie könnte zusammenstürzen. Der Fluss wird an dieser Stelle von Gebüsch und Bäumen gesäumt, und die Blässhühner versammeln sich hier, die Enten und Haubentaucher. Als wir nach Oberried gezogen sind, im März vor sieben Jahren, war ich gerade neun geworden und hatte zum Geburtstag ein Schlauchboot bekommen. Mit dem bin ich hier bei der Brücke herumgepaddelt und habe Nester gesucht, stundenlang, bis meine Mutter mit dem Rad angefahren kam und mich holte. Ich weiß noch, wie es roch damals im April, ein bisschen brackig und nach Erde und frischem Holz. Auf dem Heimweg erzählte ich ihr dann von den Jungen, die ausgeschlüpft waren, von den roten Schnäbeln der Blässhühnerküken, von den Nestern im Gestrüpp, von allem, was ich gesehen hatte. Damals konnten wir noch miteinander reden.

Irgendwann hat es aufgehört.

»Es liegt an diesem Christoph«, sagten meine Eltern. »Der hetzt dich auf.«

Aber das stimmte nicht. Es war schon so, als Christoph kam, das wollten sie nur vergessen. Er war der Einzige, mit dem ich reden konnte. Ohne ihn hätte ich durchgedreht.

Dabei mochte meine Mutter ihn. »Ein intelligenter, sensibler Bursche«, sagte sie und ließ ihn bei uns Klavier üben, als sein Vater ihm nur noch eine Stunde am Tag erlauben wollte. Nur für mich, da wünschte sie sich einen anderen Freund, einen »normalen, netten Jungen, keinen, der noch überspannter ist als du«.

Tatsächlich, das hat sie gesagt. Und vor vierzehn Tagen, als alles anfing, als Christoph eine ganze Woche verschwunden blieb, da wollte sie mich in ein Internat schicken – »weg von diesem Einfluss«.

Das braucht sie nun nicht mehr.

Die Glocke fing an zu läuten. Jetzt trugen sie ihn zu seinem Grab. Mops, Olav, Yogi und zwei andere. Nein, drei. Einer hatte für mich einspringen müssen, weil ich weggelaufen war.

Ich legte den Kopf auf das Brückengeländer und fing an zu heulen.

Später lief ich die Böschung hinunter und setzte mich ins Gras. Von hier aus konnte ich die Brücke sehen. Ich wartete auf Ulrike.

Sie kam als Letzte, ganz allein.

Ich pfiff, als sie über die Brücke ging. Unser Pfiff, Christophs, meiner, dann auch ihr Pfiff.

Sie blieb stehen.

»Da bist du ja«, sagte sie, als ich die Böschung heraufgeklettert war.

Ihr Gesicht war vom Weinen verschwollen, ihre Nase rot. Früher, in der ersten Klasse vom Gymnasium, als sie noch bei jeder Gelegenheit heulte, hatte sie so ähnlich ausgesehen. Ich erinnerte mich plötzlich daran und dann fiel mir ein, dass mein Gesicht wahrscheinlich genauso aussah. Ich drehte den Kopf weg.

Schweigend gingen wir nebeneinander her.

»Der Direx hat am Grab gesprochen«, sagte sie nach einer Weile.

»O Gott«, sagte ich.

»Es war gar nicht so schlimm. Es klang irgendwie echt.«

Ich antwortete nicht.

»Vielleicht hat Christoph sich das bloß eingebildet«, sagte sie. »Dass ihn alle nicht mögen … nicht mochten.«

Sie fing an zu weinen, lautlos, nur die Tränen liefen ihr übers Gesicht.

Ich nahm ihre Hand. Erst, als wir vom Fluss abbogen und ihr Haus auftauchte, merkte ich es und ließ die Hand los.

»Hast du noch Zeit?«, fragte sie. »Meine Mutter ist nicht da, sie hat heute länger Schule.«

Wir setzten uns in Ulrikes Zimmer. Sie machte das Fenster auf. Warme Föhnluft wehte herein, draußen bimmelten die Kühe. Ulrike wohnt mit ihrer Mutter hinten im Dorf, in einem ehemaligen Bauernhaus.

»Weißt du, woran ich denke?«, sagte Ulrike. »Ich überlege, ob Christoph jetzt, wenn er wüsste, dass er tot ist – ob er dann wohl froh wäre?«

Ich verstand, was sie meinte.

»Tot müsste man sein«, hatte Christoph am Sonntagabend gesagt, bevor es passiert war. »Schluss mit dem ganzen Zoff, nicht mehr aufstehen, nicht mehr zur Schule, nicht mehr antworten auf blöde Fragen, nichts mehr zu tun haben mit dieser dreckigen Welt …«

»Und auch keine Musik mehr hören?«, war Ulrike ihm ins Wort gefallen, mit so einer schrillen Stimme, ganz anders als sonst.

Er hatte sie angesehen und gesagt: »Ach, das ist doch alles bloß Ablenkung. Oder Ersatz.«

Er hatte sie angestarrt und sie ihn, und ich wusste, dass sie beide etwas anderes meinten. Er hatte dieses Lächeln im Gesicht gehabt – die Augen zusammengekniffen, die Zähne auf der Unterlippe.

Ulrike hatte mir Leid getan; ich hätte Christoph gern geschüttelt oder mich mit ihm geprügelt, weil ich nicht wollte, dass er sie so behandelte. Aber mit Christoph konnte man sich nicht prügeln, ich schon gar nicht.

Und jetzt war er tot.

Ulrike stand auf.

»Magst du was essen?«, fragte sie.

Ich nickte; sie ging in die Küche und kam mit Tee und einem Teller voll belegter Brote zurück. Wir saßen uns gegenüber und aßen. Auf den Broten war Schinken und Leberwurst und Käse. Ich hatte Hunger, und es schmeckte mir, vor allem der gekochte Schinken. Als ich nach der dritten Brotscheibe greifen wollte, schämte ich mich. Ulrike schob mir die Platte hin und sagte: »Der Schinken ist von unserem Bauern.« Da aß ich weiter. Wir saßen uns gegenüber, wir kauten und tranken, die Kuhglocken bimmelten vor dem Fenster, es war irre und irgendwie friedlich – ich weiß nicht, wie ich es nennen soll. Ich hatte so ein Gefühl von Stillstand, als ob die Zeit nicht weiterliefe – wie bei Bob Dylan, wenn die gleichen Akkorde immer wiederkehren und man darin eingewickelt wird wie für alle Ewigkeit. Ich fand es schön, dass es so war, am liebsten wäre ich für immer in diesem Zimmer sitzen geblieben.

Aber dann kam Ulrikes Mutter und sagte: »Ach Gott, hier seid ihr ja. War’s schlimm?«

Da ging ich nach Hause.

2

Eigentlich war es dieses Lächeln – abweisend, hochnäsig, kühl –, das mir zuerst an Christoph gefallen hat, im letzten Januar nach den Weihnachtsferien, als der dicke Morgenfeld ihn mit in die Lateinstunde brachte.

»Das ist Ihr neuer Mitschüler«, sagte er. »Christoph Zusbeck.«

»Zumbeck«, sagte Christoph.

»Zumbeck«, wiederholte der dicke Morgenfeld. »Er kommt aus – wo kommen Sie eigentlich her?«

»Aus Leer«, sagte Christoph.

Ausgerechnet Leer in Ostfriesland. Meine Mutter stammt aus Leer. Ihre Großeltern hatten dort ein Hotel, das jetzt meinem Onkel gehört.

»Leer? Wo liegt das?«, erkundigte sich Morgenfeld.

Klar, dass der nicht wusste, wo Leer liegt. Der kennt die lateinische Grammatik und das Forum Romanum und fünfundzwanzig Biersorten und von Ostfriesland höchstens die Witze.

Christoph antwortete nicht gleich. Er sah über die Klasse hinweg, auf das Kruzifix in der Ecke, durch das Fenster auf den Parkplatz. Dann blickte er den dicken Morgenfeld an und lächelte.

»An der Leda«, sagte er.

»Leda?«, fragte der dicke Morgenfeld. »Welche? Die mit dem Schwan?«

Dazu grinste er, vermutlich, weil er die dämliche Leda mit ihrem Schwan für eine Art Sexwitz hielt.

Christoph sagte nichts. Er lächelte nur und der dicke Morgenfeld wurde verlegen. Er lief rot an, von der Stirn bis zum Doppelkinn. Ich glaube, er begriff, dass Christoph auf diese Antwort gewartet hatte.

»Setzen Sie sich irgendwohin«, murmelte er.

Der Morgenfeld ist so eine kleinkarierte Durchschnittsmischung, gutmütig, hinterhältig, schmierig, wehleidig, hilfsbereit, rachsüchtig, brutal, ganz nach Bedarf. Mir hat er mal, weil ich eine Bananenschale an den Schulweihnachtsbaum in der Pausenhalle gehängt habe, einen verschärften Verweis gegeben. Wegen Verächtlichmachung der Religion, das sagt alles. Man braucht nicht lange um dahinter zu kommen, was mit ihm los ist, und einer wie Christoph merkte es auf Anhieb. Deshalb sagte er »an der Leda«, deshalb lächelte er sein »Zumbeck-Spezial«, wie es die Göbler später nannte, deshalb machte er sich den dicken Morgenfeld schon am ersten Tag zum Feind, obwohl er natürlich wusste, was das für Folgen haben würde.

Dieses Lächeln – es riss mich direkt vom Stuhl. Es sagte, was ich dem Morgenfeld schon längst gern mal gesagt hätte – »miese Type, komm mir bloß nicht zu nahe«, so in der Richtung, und als Christoph sich suchend umsah, zeigte ich auf den freien Platz an unserem Vierertisch. Er kam, setzte sich, packte seine Sachen aus. So fing es an.

Ich dachte mir gleich: Der wäre was. Nicht nur vielleicht und mal sehen … Nein, ich dachte, der wäre richtig. Ich hatte damals keinen Freund. Nur eine Clique, Yogi, Olav, Mops, mit denen ich Platten hörte oder zum Schwimmen ging. Wir hockten auch öfter mal zusammen und redeten, meistens bei Yogi, der in seinem Zimmer unterm Dach so lange Besuch haben durfte, wie es ihm passte … Das heißt, von dürfen ist keine Rede. Seine Eltern lassen ihn sein eigenes Leben führen: ohne Befehle, ohne Krach, ohne Theater. Manchmal haben wir bis Mitternacht bei ihm gesessen, Tee getrunken, Räucherstäbchen abgebrannt, und Yogi hat auf seiner indischen Trommel herumgeschlagen und dazu gesungen, mit diesem halbirren Ausdruck im Gesicht. Auch Christoph war später manchmal dabei. Yogi, Mops und Olav waren die Einzigen in der Klasse, die ihn mochten. Aber sie waren nur Kumpel, immer zu dritt, und ich brauchte einen Freund.

Der da …, dachte ich, als Christoph neben mir saß und seinen Kram wegpackte. Seine Hände fielen mir auf, breit und kräftig, mit langen Fingern. Später, als er mit Auspacken fertig war, sah ich, dass sich seine Finger wie beim Klavierspiel bewegten. Er spielte Läufe, Akkorde, irgendein Stück, das er innerlich hörte. Ich kannte das – ich übte auch immer stumme Gitarrengriffe. Aber ich konnte es unter der Bank tun, während Christoph die Tischplatte brauchte und den dicken Morgenfeld nervös machte.

»Hören Sie auf, da herumzutrommeln, Zusbeck«, sagte er.

»Zumbeck«, sagte Christoph.

»Wie?«

»Zumbeck. Ich heiße Zumbeck.«

»Von mir aus.« Der dicke Morgenfeld lief schon wieder rot an. »Aber hören Sie mit dem Geklopfe auf.«

»Ich klopfe nicht«, sagte Christoph. Das stimmte. Man konnte wirklich nichts hören.

»Sie wissen genau, was ich meine«, blaffte der dicke Morgenfeld. »Hören Sie auf. Es macht mich nervös.«

Christoph ließ seine rechte Hand weiterspielen, legte dann sehr vorsichtig die Linke darauf, hielt sie fest und lächelte den Morgenfeld an.

Er war ganz schön arrogant. Das konnte heiter werden.

Aber es war nicht heiter. Schon damals hatte ich nicht das Gefühl, dass Christoph den dicken Morgenfeld ärgern oder seinen Unterricht schmeißen oder sich in Szene setzen wollte. Es war etwas anderes: eine Art Abwehr. Damals hätte ich es noch nicht so sagen können. Aber ich spürte es.

Wenn ich die Augen zumache, sehe ich ihn da sitzen an diesem ersten Morgen. Er hatte ein blauweiß kariertes Hemd an und ein schwarzes T-Shirt. Er saß sehr gerade ohne sich anzulehnen. Sein Gesicht unter dem hellen Haar war blass und so mager, als ob die Haut direkt über die Knochen gespannt sei. Er lächelte nicht mehr und die Art, wie er die Lippen zusammenkniff, gab ihm etwas Angestrengtes. Er sah aus wie jemand, der sich wahnsinnig zusammennehmen muss, um nicht … ja, was nicht? Damals dachte ich: um nicht zu platzen.

In der Pause, als er allein auf dem Hof stand, ging ich zu ihm hin. Er hatte die Arme verschränkt und den Kopf eingezogen.

»Mein Onkel wohnt in Leer«, sagte ich. »Er hat dort ein Hotel, gleich am Bahnhof.«

»Ganz schön kalt bei euch«, sagte Christoph.

Sehr ermutigend war es nicht, wie er mich ansah. Jeden anderen hätte ich stehen lassen. Aber ich sagte: »Das mit der Leda war gut.«

»Wie lang dauert die große Pause eigentlich bei euch?«, fragte Christoph.

»Zwanzig Minuten«, sagte ich und überlegte, wie ich weitermachen könnte. »Spielst du Klavier?«, fragte ich.

Er runzelte die Stirn. »Wieso?«

Die erste richtige Antwort.

»Na, weil du vorhin …«, sagte ich und so kamen wir ins Gespräch.

Die Musik. Er mit seinem Klavier, ich mit meiner Gitarre – darüber konnten wir reden. Wir hatten ungefähr den gleichen Geschmack. Bach vor allem, Telemann, Locatelli, Händel, aber auch die frühen Sachen von Pink Floyd, Emerson, Lake und Palmer, Bob Dylan. Dann merkte ich, dass wir auch in anderen Dingen auf einer Welle lagen – so, wie wir das, was um uns herum geschah, einschätzten: Leistungsdruck und Numerus clausus, den Wettlauf um Lehrstellen und Studienplätze, das ewige ›Du musst dich eben durchsetzen und etwas leisten‹ und dieses Gerede um große Dinge, wo es doch meistens um Geld ging. Wir konnten miteinander reden, das war es.

Natürlich passierte es nicht gleich in dieser ersten Pause. Es dauerte eine Weile. Zum Glück wohnte Christoph wie ich in Oberried, in dem gelben Haus bei der Brücke, das früher diesen eingebildeten Harters gehört hat. Sie, die Frau Harter, hatte einen grauen Pudel, Bubi hieß er, der zu ihrem Persianer passte. Im Metzgerladen hörte ich einmal, wie sie »eine schöne frische Kalbsleber für Bubi« verlangte, und als der Metzger sagte, er hätte nur noch Rinderleber, rief sie entsetzt: »Aber nein, so was frisst Bubi nicht.« Ich kam gleich nach ihr an die Reihe und eigentlich sollte ich Gulasch kaufen. Aber ich war so wütend, dass ich in voller Lautstärke »drei Scheiben Rinderleber, wir fressen so was« trompetete. Das war ein Volltreffer. Sogar die griesgrämige Metzgersfrau fing an zu glucksen, wahrscheinlich zum ersten Mal seit zehn Jahren.

Diese Geschichte erzählte ich Christoph, als wir am ersten Tag zusammen vom Bahnhof kamen und den Hurler Berg hinuntergingen. Christoph war noch ohne Rad. Ich schob meines neben ihm her. Es war kalt, die Straße vereist, ich hätte auf dem steilsten Stück sowieso schieben müssen.

Vor dem Haus blieben wir stehen. Er öffnete die Gartentür und ich streckte ihm die Hand hin.

»Auf Wiedersehen«, sagte ich.

Er beachtete die Hand nicht. Er hob seine Linke, ganz leicht, und sagte: »Good bye.«

Später merkte ich, dass das sein Gruß war. Nie hat er jemandem die Hand gegeben, nie »Auf Wiedersehen« gesagt. Nur Tschau, Adieu, Servus. Und zu mir immer Good bye, wie beim ersten Mal.

3