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Julien Green

Der andere Schlaf

Roman

Aus dem Französischen von Peter Handke

Impressum

 

 

 

Wer weiß, ob jene Hälfte des Lebens,
da wir zu wachen glauben,
nicht ein anderer Schlaf ist,
ein wenig verschieden von dem einen,
aus dem wir erwachen,
wenn wir zu schlafen glauben?

PASCAL

 

 

 

Nie überquere ich den Pont d’Iéna, ohne mich für einen Augenblick an das Geländer zu lehnen. War es hier oder weiter weg? Mir scheint, es war etwa in der Mitte der Brücke, auf der Seite von Saint-Cloud. Mein Cousin packte mich unter den Armen und hob mich unversehens auf die Steinbrüstung. Ich stand da, vor Schreck stockte mir der Atem, ich schloß die Augen, und meine Hände verkrampften sich. Dann traf mich Claudes Stimme, ein wenig schroffer als sonst: »Siehst du die Schwaneninsel? Siehst du Grenelle?« Der Wind trug meine Antwort davon oder verschloß mir überhaupt die Lippen. Ich hatte Angst. Die Hände meines Cousins umgriffen meine Knöchel zu fest, und ich spürte, wie sie zitterten.

Wenn ich die Augen wieder öffnete, befiel mich ein leichter Schwindel. Der Himmel über mir zog von rechts nach links, und die Riesenplatanen, die den Fluß säumen, bebten, bogen sich, richteten sich in der Sonne neu auf. Majestätisch flossen die schmutzigen Fluten der Seine. Unten am Hafen blieben Spaziergänger stehen, ohne Augen für mich Verängstigten, betrachteten das Wasser und schlurften weiter. Momentlang verschwanden sie hinter einem Sand- oder Ziegelhaufen, dann tauchten sie wieder auf, aber sie erschienen so klein, daß mein Herz sich zusammenzog und ich den Blick abwenden mußte. In einer Art Taumel verschwamm das Bild vor meinen Augen, und ich sah nichts mehr, weder die Schwaneninsel, noch Grenelle, noch die Vagabunden im Hafen – einzig, verloren im Himmel, welchen sie mit ihren Strahlen erfüllten, die weiße Nacktheit der das Flußbild bestimmenden Statuen.

Ich weiß nicht, ob Claude dieses Spiel gefiel. Wenn ich darüber nachdenke, dann glaube ich, daß seine Angst ebenso groß war wie die meine; denn oft, wenn er mich absetzte, bemerkte ich in seinem Gesicht eine große Blässe, und, wie gesagt, seine Hände zitterten. Doch es schien für ihn eine seltsame Ehrensache, mich bei jedem Überqueren der Brücke hoch über die Fluten zu hieven und mich so einem schrecklichen Sturz auszusetzen. Aus Eitelkeit nahm ich diese Marter auf mich. Ich wollte nicht, daß er mich für feig hielte. Er war fünf Jahre älter als ich, der erst Achtjährige, und um seine Achtung nicht zu verlieren, hätte ich ohne Murren noch viel härteren Prüfungen zugestimmt.

Er redete fast nie mit mir; nur wenn wir über die Brücke gingen, fiel seine übliche Ruhe von ihm ab, und er sagte mit einer gewissen Fiebrigkeit, in der seine Augen aufglänzten: »Soll ich dich wieder da hinaufstellen, und du sagst mir, was du siehst?« Und so begann das gefährliche Kunststück unter den Augen der Spaziergänger, welche, wie alle Spaziergänger der Welt, solchen Vorstufen eines möglichen Dramas mit einer animalischen Gelassenheit beiwohnten.

Ich verriet niemandem auch nur ein Sterbenswörtchen von unseren Abenteuern auf dem Pont d’Iéna. Ein Blick Claudes, hinter dem Rücken meiner Mutter, während sie mich ausfragte, hatte genügt, mir vollständiges Stillschweigen über die Einzelheiten meines Nachmittags aufzuerlegen. Außerdem fiel es mir leicht, nicht davon zu sprechen; ja, es gefiel mir sogar, mich als der Hüter eines neuen Geheimnisses zu wissen. Ein unwiderstehlicher Instinkt trieb mich, Schranken zwischen mich und die Meinen zu legen. Eine jede List war mir recht, meine Eltern im ungewissen zu lassen, unter der Bedingung freilich, daß ich nicht zu lügen brauchte. Hätte man mich gefragt: »Bist du auf die Brüstung des Pont d’Iéna gestiegen?«, hätte ich mit einem »Ja« geantwortet – doch mit einer solch ausgefallenen Frage war nicht zu rechnen. Da ich es zudem mit einer zerstreuten Mutter zu tun hatte und mit einem Vater, welchen mein Tageslauf kaum interessierte, war es nicht schwer, ein allzu genaues Verhör zu vermeiden. Meine Finte bestand darin, daß ich noch und noch von Kleinigkeiten redete, die mir auf der Straße aufgefallen waren, und daß ich weit mehr von ihnen erzählte, als von mir verlangt wurde. Mein Vater wurde dieses Geschwätzes schnell müde und hieß mich schweigen, lang bevor der Pont d’Iéna überhaupt an die Reihe gekommen wäre. So beruhigte ich mein Gewissen, das mir doch über die Maßen zusetzte, und meine Eltern – mit der Unschuld der Erwachsenen – schickten mich schlafen oder spielen, ohne sich weiter um mich zu kümmern.

Wir bewohnten damals im unteren Teil der Rue de Passy ein altes Haus, von dem aus man schon die ersten Bäume des Bois de Boulogne sah. Meiner Erinnerung nach war seine Fassade unverputzt, und auf dem grauen Stein sah man die schwarzen Schrammen von den Fensterläden. In naher Zukunft würde es von allein zusammenstürzen – wenn nicht ein Abbruchunternehmer einspringt. Dann werden aus dem Krach des niederbrechenden Mauerwerks vielleicht Schreie laut werden, ähnlich wie der Sage nach aus den aufgelassenen Bastille-Türmen.

Das Zimmer meiner Mutter ging auf einen nicht sehr gepflegten Garten. Eine alte Platane überdachte mit ihren Ästen einen Rasen, den sie mit ihren großen Blättern bedeckte, ohne daß es jemandem einfiel, sie zu entfernen. Seit vielen Jahren faulten sie im Gras, und an den Regentagen gegen Mitte Oktober stieg durch das halbgeöffnete Fenster ein trauriger und zarter Geruch zu mir herauf und ließ mich träumerisch werden. Ich hielt inne in meinen Spielen und atmete diesen Hauch des Todes ein. Jäh wandte ich mich von meiner Eisenbahn und meinen Soldaten ab, und die tiefe Stille, bisher unbemerkt, drückte mir aufs Herz.

Noch heute vernehme ich, sooft ich durch gewisse Straßen gehe, ein- oder zweimal im Jahr, wenn die Luft frisch ist, erfüllt von jener jungfräulichen Brise, welche man spürt beim Nahen des Herbstes, den Ruf meiner Kinderzeit. Alles andere weicht zurück und verschwindet in der Nacht des Bewußtseins; nichts mehr als jene ununterscheidbaren Stimmen, die allein ich hören kann. Ach, daß man diese Minute nicht zurückholen kann, als das Herz so stark schlug, als der traumschwere Kopf sich über ein Bild in einem Buch beugte und man die Seite nicht zu wenden wagte, aus Angst, die wunderbare Unbewegtheit der Dinge im Umkreis zu stören! Auf dem Boden lagernd, zwischen der Tür und dem Kamin, hielt ich manchmal den Atem an und regte mich nicht, gebannt von jener Stille, zu der ich meinen Teil beitrug, und von der Dämmerung, die sich im Zimmer verstärkte. Gegen Ende eines schönen Ferientages, an einem einsamen Donnerstag, der schon voller Trauer und Erinnerungen war, begriff ich nicht, wie es Abend wurde. Vergebens vertiefte ich mich in den Anblick der weißen Tür, auf welche die letzten Lichtstrahlen trafen: es kam ein Moment, da ich sie fast nicht mehr sah, und dann gar nicht mehr, aber der Übergang war unmerklich. Ich konnte nicht einmal mehr meine Hände erkennen. Danach wurde das Fenster vollkommen schwarz, und hinter den Tüllvorhängen glänzten die Sterne auf. Da fing ich zu singen an – eher ein Murmeln, mit einer leicht beunruhigten Stimme, und plötzlich brach, mit der Nacht, das Grauen über mich herein, und ich sprang auf und stürzte aus jenem Zimmer.

Solche Erlebnisse waren häufig. Tagtäglich erfuhr ich, was die Angst ist: sie beherrschte meine frühen Jahre, und ohne Zweifel ist es die Bekanntschaft mit ihr, aus der meine Neigung zu beherzten Menschen kommt.

Niemand setzte meiner Ängstlichkeit heftiger zu als Claude. Seine grausamen Vergnügungen haben mich geformt, und hätte ich damals weniger gezittert, so wäre ich heute weniger gefestigt. Ich sah ihn nicht oft. Jeden zweiten Sonntag ging er mit mir aus, weil meine Mutter ihn darum bat, doch ich bezweifle, daß ihm das Spaß machte. Vielleicht haßte er mich wegen der Beschränkungen, die meine Gegenwart seinen Streifzügen auferlegte. War es ein Racheakt, mich auf die Brückenbrüstung zu heben? Aber so sehr ich auch nachdenke, ich kann mich nicht entsinnen, daß er mich einmal angefahren oder böse angeschaut hätte.

Meine Eltern mochten ihn nicht sehr. Vor allem mein Vater mißtraute ihm. Immer wieder hörte ich ihn sagen: »In den meisten von uns ist eine Mischung von Gut und Böse; bei ihm neigt alles zum Bösen hin.« Diese Worte erstaunten mich und brachten mich meinem Cousin in demselben Maß näher, wie sie mich von meinem Vater entfernten. Was für mich zählte, war nicht, daß Claude ganz und gar zum Bösen neigte, sondern daß er sich von uns allen unterschied. Jene Verdammung verstand ich als eine Auszeichnung: abgesondert von der gewöhnlichen Menschheit, bekam er in meinen naiven Augen den zauberhaften Nimbus eines Verbannten.

Ich weiß nicht mehr, welche Klasse er damals gerade wiederholte. Wo auch immer er war, ob in der fünften oder vierten, er überragte seine Mitschüler an Kopf und Schultern, nicht weil er schneller gewachsen, sondern weil er immer der älteste war. Mit seinem Jünglingskörper saß er über die Kinderpulte gebeugt, die ihn gleichsam zweiteilten. Gerüchtweise erfuhren wir von seinem schlimmen Ruf im Lyzeum. Er war die Sorge, die Angst, die Peinlichkeit seiner Professoren. Sein unbeweglicher Blick ließ die Rügen auf ihren Lippen erstarren. Mehrmals war die Rede davon, ihn von der Schule zu weisen, doch zu einer solchen Maßnahme hätte es eines Motivs bedurft, und aus seinem Benehmen war keines zu gewinnen. Keine Frechheit, nicht die kleinste Anstiftung zur Unordnung. Er saß hinten in der Bank der Taugenichtse und führte vor einem hilflosen Lehrer und einer Klasse von fünfunddreißig Schülern das Schauspiel der triumphalen Faulheit auf. Wettern und Drohungen gingen ins Leere; Ironie und spitze Bemerkungen prallten an dem unbeugsamen Rebellenschädel ab.

Die Ängstlichkeit, an welcher ich litt, wiederholte sich bei meinem Vater: er fand den Ton nicht, Claude zurechtzuweisen; es war schon ein Fehler, die Szene vorzubereiten, im stillen die immergleichen Drohworte und Beschimpfungen auszuprobieren; denn wenn der Schuldige dann erschien, hatte der Zorn sich seit langem verbraucht, und es blieb nichts übrig als ein kaltes Geleier, bei dem meinem Vater die Scham im Gesicht geschrieben stand. Mein Cousin lauschte diesen Worten mit allem Ausdruck der Ehrerbietung, zeigte dabei höchstens ein ganz leichtes Lächeln, welches ihm sozusagen als ein Glanz von Heiterkeit in die Augen stieg. Eine derartige Herausforderung hätte einen stolzeren und entschlosseneren Mann zur Raserei gebracht. Bei meinem Vater aber, der nicht so war, ging die Eitelkeit über den Mut. Außerstande, einem Widersacher eine energische Antwort zu erteilen, scheute er heftige Ausbrüche und tat, als sehe und höre er nicht, wenn Sehen und Hören einer Ohrfeige gleichgekommen wären. Nach seiner Standpauke verließ er jäh den Raum und überließ sich für den Rest des Tages einem langwierigen Geschmolle. Nur ein einziges Mal erkühnte er sich, ein Trimesterzeugnis, das allein aus Nullen bestand, zusammenzuknüllen und seinem Neffen vor die Füße zu werfen; zwar ließ nichts an der Haltung Claudes erkennen, er habe diese Geste überhaupt bemerkt, doch sowie wir wieder allein waren, stieß er mit der Schuhspitze das Papierknäuel in meine Richtung und hob die Schultern mit einem nicht wiederzugebenden Ausdruck der Verachtung. Ich schwieg still. Im Flur entfernte sich mein Vater im Eilschritt. Solche Szenen verstörten mich. Ein seltsamer Zorn hatte mich befallen, als ich die Vorwürfe gegen meinen Cousin anhörte, und ich glaube, wäre ich nur dazu in der Lage gewesen, so hätte ich mich an jenem Tag vor dem Eintritt des Vaters zurückgezogen.

Claude beobachtete mich kurz. Ich hörte, wie er Schlüssel und Münzen auf dem Grund seiner Taschen mischte, und senkte den Kopf unter seinem spöttischen Blick; dann hob er von neuem die Schultern, setzte zu sprechen an, überlegte es sich und ging hinaus. Er war groß, robust, immer ein bißchen zerzaust. Er hatte lange auf dem Land gelebt und eine bäuerliche Art beibehalten. Seine morgens unordentlich gebundene Krawatte war schon kurz darauf verschwunden und lag für den Rest des Tages in einer Lade oder unter einem Bett. An seinem Hemd fehlten ein paar Knöpfe. Seine einzige Eitelkeit bestand in der Unordnung, und so fuhr er mit den Fingern durch seine Haare, um sie ungekämmt erscheinen zu lassen, ging mit offenem Kragen. Dieser Aufzug mißfiel nur halb, denn er entsprach spürbar seiner Natur; Gepflegtheit hätte nicht zu ihm gepaßt. Selbst mein Vater, erfüllt von abergläubischen Vorstellungen, was eine korrekte Bekleidung betraf, erwies sich in diesem Fall als nachgiebig, wenn auch, wie üblich, mit einem Murren. Ich für meinen Teil hatte den Eindruck, daß Claude in den Straßen einer großen Stadt nicht an seinem Platz war und ebensowenig in dem Zimmer einer Wohnung. Seine gebräunten Wangen ließen mein von der Pariser Luft angegriffenes Gesicht bleich erscheinen. Wenn ich seine grauen, von Blau durchwirkten Augen betrachtete, glaubte ich die Bäume und die Bäche zu erblicken, mit denen er vertraut gewesen war. Mit ihm drang etwas Ländliches in mein Zimmer; etwas Frisches, ein Geruch von Erde und Gras wehte aus den Falten seiner Kleidung, so als habe er gerade noch die Wiesen und die Wälder durchstreift. Alles an diesem Menschen wehrte sich gegen die Erziehung, die man ihm zukommen lassen wollte. Man konnte ihn auch nicht demütigen, wenn man seine Umgangsformen verlachte, seine Unwissenheit oder seinen Akzent, in welchem noch die bäuerliche Aussprache anklang. Ein hochmütiges Schweigen war die Antwort auf die Witzeleien der Spötter. In seiner Abwesenheit sagte mein Vater einmal von ihm, es wäre eine Peitsche nötig gewesen, um ihm ein Wort zu entreißen, doch die Vorstellung, gegen Claude tätlich zu werden, erschien sonderbar und empörte mich.