978-3-401-80217-6.tif

Titel

Agnes Kottmann

Hassblüte

Arenaneu.tif

Impressum

Erste Veröffentlichung als E-Book 2012
© 2011 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Frauke Schneider
ISBN 978-3-401-80217-6

www.arena-verlag.de
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PROLOG

»Ich bring sie alle um«, schrie der Junge in den Hörer.

Seinen Namen hatte er nicht genannt – wie die meisten Menschen, die niemanden zum Reden hatten und bei der Telefonseelsorge anrufen mussten. Der Fernseher, der seit Neuestem ganz hinten in der Ecke stand, lief gerade tonlos. Helen Marquardts Bruder hatte ihn nach seinem Umzug eigentlich nur für ein paar Tage im Büro unterstellen wollen. Nun stand er schon ganze drei Wochen hier. Aber heute war Helen dankbar dafür, weil er sie schnell mit den wichtigsten Informationen versorgte. Es flimmerten Aufnahmen vom Schulmassaker in Elbdetten über den Schirm, das gerade auf allen Kanälen Thema Nr. 1 war. Ein Junge hatte in einem Amoklauf acht Mädchen, zwei Jungen, drei Lehrerinnen und einen Lehrer erschossen.

Helen Marquardt war sofort aufgefallen, dass vor allem Mädchen die Opfer waren. Trotzdem war meistens nur von »den vierzehn Toten« die Rede, zehn Schülern und vier Lehrern.

»Ich bring sie alle um«, sagte der Junge am Telefon noch einmal, diesmal etwas leiser. »Alle, die nicht sehen wollen, wie fies und gemein Tsunami ist.« Der Junge sprach hastig, als liefe seine Zeit bereits ab.

»Von wem sprichst du, wer ist Tsunami?«, fragte Helen und überlegte, ob der Anrufer nur ein Trittbrettfahrer sein könnte, einer, der sich wichtig machen wollte.

Die meisten solcher Anrufe gingen bei der Polizei und nicht bei der Telefonseelsorge ein. Helen hatte in ihrer kurzen Zeit beim kommunalen Kummertelefon nur einen dieser Scherzanrufe erhalten: Der Anrufer wollte seine Schule plattmachen – mit Stinkbomben, wie er dann in den Hörer geprustet hatte.

»Sag ich nicht, bin ja nicht blöd«, antwortete der Junge. Helen schätzte ihn von der Stimme her auf vierzehn bis sechzehn Jahre. Es war wahrscheinlich zwecklos, nach seinem Namen zu fragen, wer er war und von wo er anrief. Seine Nummer war unterdrückt.

»Wieso willst du mir denn deinen Namen nicht verraten? Ich bin zum Stillschweigen verpflichtet. Alles was du hier am Telefon sagst, bleibt unter uns.« Sie versuchte erst mal, ein bisschen Vertrauen aufzubauen.

»Quatsch! Sie würden es sofort der Polizei melden.«

»Nein, wie denn? Auch wenn du mir deinen Namen sagst, weiß ich ja trotzdem nicht, wer du bist.« Helen war sich immer noch nicht sicher, ob sie den Jungen ernst nehmen musste. Hatte er seine Drohung tatsächlich so gemeint, alle umzubringen, oder war dies nur ein Hilferuf?

»Glauben Sie etwa, dass Sie mich aufhalten können?« Er hörte sich an, als würde er sich größer machen, als er war, als säße am anderen Ende der Leitung eine aufgeblasene Kröte, der beim Sprechen langsam die Luft ausging. Die Frage war nur, wer ihn vorher so aufgeplustert hatte.

»Ich würde dich gerne aufhalten, ja. Wenn ich das richtig verstehe, hat doch eher Tsunami die Strafe verdient, nicht du und die anderen, oder? Warum willst du Unschuldige umbringen?«

»Sie sind nicht unschuldig, sie haben mitgemacht, weggeschaut.«

»Wer denn, deine Freunde?«, fragte Helen Marquardt.

Sie hatte gelernt, wie man sich am besten auf einen Anrufer einstellte und ihn bei seinem Problem abholte. Meistens entschied sie spontan und nach Gefühl, mit welcher Taktik sie vorgehen würde. Oft reichte es, einfach nur zuzuhören. Aber manchmal konnten auch direkte Nachfragen genau das Richtige sein, besonders wenn sie provozierend klangen.

»Hören Sie auf, solche Fragen zu stellen!«, blaffte der Junge. »Vielleicht kann Tsunami ja nichts dafür, vielleicht kann Tsunami nicht anders. Aber die anderen, die zusehen, die könnten anders. Das ist noch viel schlimmer.«

»Was wissen sie denn? Hast du ihnen was gesagt?« Helen musste den Jungen möglichst lange am Reden halten und hoffte, ihn dadurch beruhigen zu können. Damit würde er vielleicht mehr Abstand zu seinem Vorhaben bekommen. Er war ihr erster Amokläufer, und das machte sie nervös.

»Nein, ich hab nichts gesagt, aber so was merkt man doch. Wenn Sie mir jetzt auch nicht glauben, leg ich sofort auf. Dann ist alles Ihre Schuld, weil Sie mich nicht gestoppt haben, obwohl das Ihr Beruf ist.«

Helen bekam schwitzige Hände, das hier war wohl wirklich weder Spaß noch ein Hilferuf. Dem Jungen war es ernst.

Alte Erinnerungen aus ihrer Anfangszeit bei Reden ist Gold kamen hoch und diese bekannte Hilflosigkeit holte Helen wieder ein. Sie hatte gedacht, sie überwunden zu haben. Das alles endlich hinter sich gelassen zu haben. Und am Telefon die nötige Distanz zu den Problemen einnehmen zu können, um dem Anrufer wirklich zu helfen. Aber so schnell war alles wieder da.

Helen Marquardt atmete tief durch: Jetzt bloß ruhig bleiben und nichts Falsches sagen! »Was denn?«, fragte sie vorsichtig. »Was … hätten die anderen merken müssen?«

»Dass Tsunami mich … ach vergessen Sie’s. Sie glauben mir ja doch nicht.«

»Doch, ich glaube dir. Du würdest nicht hier anrufen, wenn es dir nicht ernst wäre«, sagte Helen.

Der Junge flüsterte plötzlich, so als könnte Tsunami ihn sonst hören. So als wäre alles, was er laut aussprach, für immer unwiderruflich. »Tsunami hat mich … gebrochen … hat aus mir ein Nichts gemacht und deshalb behandeln mich auch alle wie ein Nichts.« Das hörte sich zu erwachsen an für einen pubertären Jungen. Aber Helen wusste genau, was er meinte, und genau deshalb war es so schmerzhaft.

»Die anderen helfen dir bestimmt, wenn du ihnen sagst, was los ist.«

»Nein, Tsunami macht mit ihnen dasselbe und dann bringt Tsunami sie um.«

Vermutlich war Tsunami der Vater, ein Verwandter, Nachbar, Trainer, Lehrer oder Priester. Er hat den Jungen auf typische Weise eingeschüchtert, dachte Helen. Leider funktionierte das viel zu oft, weil jugendliche Opfer meistens die Allmacht des Täters überschätzten.

»Wieso willst du die anderen bestrafen, wenn sie genauso Opfer von Tsunami sind?«, wandte sie ein.

Stille in der Leitung, darauf wusste der anonyme Anrufer nicht sofort etwas zu sagen.

»Besser sie sterben durch mich als durch Tsunami«, antwortete er nach einer kleinen Pause.

Neben dem Rachegedanken hatte er offensichtlich auch Erlösungsfantasien, schoss es Helen durch den Kopf. Das machte es nicht unbedingt einfacher. Sie musste einen klaren Kopf bewahren, konnte sich noch nicht auf ihre Routine verlassen. Ihr erster Amokläufer war alles andere als ein Trittbrettfahrer.

»Wer soll sterben?«, fragte sie sachte.

»Meine Freunde, meine …«, er stoppte. Ob er Eltern sagen wollte, wusste Helen Marquardt nicht.

»Und was ist mit ihm und mit dir?« Sie wartete, ob er jetzt widersprechen würde, dass Tsunami ein Mann war.

Aber er reagierte nicht, stattdessen sagte er: »Tsunami lass ich am Leben und dann gibt’s lebenslänglich. Im Knast geht’s nicht gerade gemütlich zu. Das ist viel schlimmer, als tot zu sein. Dann weiß Tsunami auch mal, wie das ist.«

Ob er ihn missbraucht hatte, vergewaltigt? Bei Kinderschändern kannten Knackis keine Gnade. Das wusste der Junge offenbar. »Aber du bist der Täter, wenn du Amok läufst - nicht er. Und du lässt ihn davonkommen.«

»Ich mach das ja nicht ohne Grund und Tsunami weiß es.«

»Aber er wird alles dir in die Schuhe schieben.«

Wieder war es still in der Leitung.

Hatte Helen ihn überzeugt? Jetzt musste sie schnell nachhaken.

»Geh zur Polizei und zeig ihn an. Sie werden auf dich aufpassen, sodass er dir nichts tun kann«, sagte sie.

»Aber ich kann nichts beweisen, Tsunami macht es so, dass man nichts sieht.«

»Was macht er?«

»Sag ich nicht. Das hat doch alles keinen Zweck. Ich muss es tun, es ist besser so, für alle, auch für Tsunami. Ich muss auch … Tsunami befreien.«

Der Junge musste sich inzwischen anscheinend sehr konzentrieren, um das Geschlecht des Täters nicht zu verraten. Alles verwies für Helen auf einen Mann, aber man konnte nie wissen. Zumal auch Gewalt von Frauen und Müttern gegenüber Kindern immer öfter in den Schlagzeilen zu finden war.

Helen wusste, dass sie auf diesen letzten Satz schnell reagieren musste, bevor der Junge wie nach einem Schlusssatz plötzlich auflegte und sie ihn vielleicht für immer verloren hatte. »Und dann? Wie soll es dann weitergehen?«, fragte sie hastig. »Willst du seinetwegen dein Leben zerstören?«

»Mein Leben ist schon zerstört, ich bin sowieso tot«, murmelte er und Helen schrak etwas zusammen.

»Ist doch egal, wenn ich auch dabei draufgehe.«

»Willst du dich umbringen?«, fragte sie. »Willst du alles aufgeben, nur seinetwegen? Lass dir helfen! Dieser Tsunami muss gestoppt werden und er muss bestraft werden, für das, was er dir angetan hat. Du kannst diese Situation nicht alleine lösen. Schon gar nicht, indem du dich selbst tötest!« Helen schlug jetzt einen anderen Ton an und versuchte, energischer und fester zu klingen.

»Wenn ich sterbe und die anderen auch, dann ist es seine Schuld. Ich weiß, dass sie es herausfinden werden. Es reicht mir, dass ich weiß, dass … Tsunami … dass es so sein wird.«

»Und wenn er auf freiem Fuß bleibt, weil man ihm nichts nachweisen kann? Weil du alle Zeugen umgebracht hast! Dann sind alle tot, die du gernhattest – nur er nicht. Er ist frei und du hast dich und die anderen für ihn geopfert!«

Wieder Stille in der Leitung. Mein Gott, was für ein Gespräch führte sie hier eigentlich? Helen betete wieder, dass der Junge nicht auflegte, aber sie sagte nichts. Sie musste ihm Zeit geben und wollte nicht riskieren, jetzt einen Fehler zu machen.

»So funktioniert das nicht, hören Sie überhaupt nicht zu? Tsunami sucht sich … jemand … Neues, wenn ich nicht schneller bin.« Tränen schienen dem Jungen in die Stimme zu steigen. »Ich wusste, dass mich keiner versteht«, krächzte er.

»Doch, doch, ich versteh dich«, sagte Helen sanft. »Und ich möchte dir helfen!« Wie konnte sie ihn davon überzeugen, Vertrauen zu ihr zu haben? Wenn er das Telefonat abrach, ohne seinen Namen zu nennen, seine Nummer zu hinterlassen oder sich mit der Polizei verbinden zu lassen, würde es vielleicht nie mehr einen Kontakt mit ihm geben. Dann konnte sie nichts mehr tun. Und hatte wieder versagt! Sie musste sich jetzt schnell etwas einfallen lassen.

Helen überlegte: Sie kannte diesen Jungen nicht, der Opfer war und Täter zu werden beabsichtigte. Es war schwer, ihn einzuschätzen. Möglicherweise war er unberechenbar. Ihre Anonymität war besonders in diesem Fall auch ein Schutz für sie. Trotzdem musste es eine Möglichkeit geben, irgendwie mit ihm in Kontakt zu bleiben.

»Wir werden eine Möglichkeit finden, es zu beweisen«, begann sie langsam.

»Wie denn?«, fragte er zweifelnd.

»Du musst mir vertrauen.«

»Dann schwör, dass du mich nicht verrätst«, forderte er.

»Ich schwöre es!«

»Wer ist der wichtigste Mensch in deinem Leben?«

Darauf wusste Helen keine Antwort. Sie liebte niemanden. »Ich«, sagte sie.

»Dann schwör’s bei deinem Leben«, verlangte der Junge.

»Ich schwöre es bei meinem Leben!«, sagte sie.

Trotzdem wusste sie schon jetzt, dass es schwer sein würde, sein Vertrauen nicht zu missbrauchen. Aber sie spürte auch den dringlichen Wunsch, unschuldig zu bleiben, in diesem Fall. Sie wollte nicht schuldig sein, weil sie geschwiegen, weil sie nichts getan hatte. Aber was wirklich zu tun war, wusste sie immer noch nicht. Helen musste sich eingestehen, dass dieser Junge in ihren Augen nicht nur Opfer war. Sie sah ihn als Täter, vor allem als Täter. Welchem Bild sollte sie glauben? War Unschuld nicht eigentlich eine Illusion?

»Sie sind meine letzte Hoffnung«, sagte er und klang von einem Moment auf den anderen wieder so schrecklich hilflos. Er ist ein Kind, dachte Helen. Mein Gott, er ist noch ein Kind! Und es stimmte: Er brauchte und wollte Hilfe. Sonst hätte er nicht angerufen, sonst hätte er es durchgezogen wie dieser Amokschütze von Elbdetten. »Du kannst mich jederzeit anrufen, hörst du, jederzeit.«

»Ja«, sagte er.

Das Gespräch drohte, zu Ende zu gehen.

Es gab eine letzte Möglichkeit, um herauszufinden, wie ernst die Situation wirklich war. Die Frage nach der praktischen Durchführung des geplanten Tathergangs. Sollte sie sie stellen? Vielleicht ließ sich dadurch klären, wie viel Gefahr tatsächlich von dem Jungen ausging?

»Ich möchte dich noch etwas fragen«, begann sie vorsichtig, »und du musst auch nichts dazu sagen. Aber darf ich wissen, wie du dir das Ganze vorgestellt hast? Ich meine, es ist nicht so leicht, mehrere Menschen …« Sie zögerte, wollte ihn nicht auf Gedanken bringen, die er vielleicht noch gar nicht hatte. Möglicherweise gab es in seinem Kopf noch keinen konkreten Plan, wie er an eine Waffe herankommen konnte?

»Mit einer Pistole schon«, konterte der Junge, ohne zu zögern.

»Und die hast du oder jemand gibt sie dir oder du weißt, wo du sie besorgen kannst?«

»Klar«, sagte er, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt.

»Und du kannst damit umgehen?«

»Klar.«

»Sie werden dich sofort nach dem ersten Schuss überwältigen«, sagte sie. »Oder vielleicht auch schon, wenn du die Pistole ziehst?«

»Nein, weil ich unsichtbar bin«, sagte er.

Erst viel später würde sich Helen Marquardt über die Bedeutung dieser Worte klar werden.

»Und jetzt muss ich auflegen, ich habe schon viel zu lange über … Tsunami gesprochen.«

»Es war gut, dass du angerufen hast und mir von ihm erzählt hast.«

»Nein, nein, nein«, flüsterte der Junge verschwörerisch. »Tsunami merkt das sofort, dass ich über … darüber gesprochen hab, und das darf ich nicht.«

»Aber du wolltest mit mir darüber sprechen, deshalb hast du doch angerufen.« Helen gab nicht auf.

»Wollte ich nicht. Und ich hab nicht gesagt, was Tsunami gemacht hat«, verteidigte er sich sofort und man merkte, was für ein Automatismus in seinem Kopf ablief.

Dieser Tsunami musste bereits in jeder Zelle seiner Haut stecken. Helen mochte sich nicht ausmalen, was dieser Typ ihm angetan hatte. Jetzt war sie sich sicher: Der Junge war kein Wichtigtuer. Er schwebte in Lebensgefahr.

»Wenn ich es nicht schaffe, dann bin ich schuld und komme nicht zu den Engeln.«

»Wir können ihn auch so ins Gefängnis bringen, wir müssen es versuchen! Sonst wirst du am Ende der Täter sein und nicht mehr das Opfer!“

»Nein, spinnst du! Ich bin kein Böser, ich bin ein Engel! Nur ich kann es beenden!«

»Dann bring doch um Himmels willen Tsunami um!«, entfuhr es Helen und sie erschrak im selben Moment fürchterlich über sich selbst. So was durfte sie nicht sagen. Sie musste sich und ihre Emotionen besser im Griff haben.

»Das geht nicht, Tsunami kann meine Gedanken lesen und kommt mir dann zuvor.« Der Anrufer blieb trotz Helens Ausbruch ruhig. »Und es ist viel zu einfach und tut nicht genug weh. Tsunami weiß nicht, wie stark … ich von Tsunami vermisst werde. Das wird Tsunami erst merken, wenn ich nicht mehr da bin.«

»Sonst würde er dich stoppen?«

»Bestimmt. Ich bin der Beste, sagt Tsunami.«

Der Beste im Gequält- und Misshandeltwerden? Wie groß musste die Ohnmacht dieses Jungen sein, dass er so viel Furchtbares anrichten musste, um seinem Peiniger ein Schnippchen zu schlagen? Gleichzeitig spürte Helen, dass sie trotz ihrer starken inneren Abwehr etwas mit diesem Jungen und seinem Peiniger verband. Sie hatten alle drei das Begehren nach Macht und Wirksamkeit. Den Willen zu siegen, und wenn es nur einmal im Leben war. Und die Angst vor der Hilflosigkeit und dem Scheitern.

Umso mehr reifte jetzt in ihr der Entschluss, dass sie es diesem Tsunami zeigen würde. Das war ihre Aufgabe, sonst hätte der Junge einen ihrer Kollegen an die Strippe bekommen. Oder anderswo angerufen. Oder gar nicht.

Sie konnte nicht tatenlos zusehen, sie musste es versuchen. Mittlerweile hatte sie sich im Kopf einen Plan zurechtgelegt. Ein Plan, von dem sie nicht wusste, ob er gut oder schlecht war. Sie erklärte ihn ausführlich und er hörte zu, sagte aber nie, dass er einverstanden war und sich an die vorgeschlagenen Schritte halten würde. Sie musste es trotzdem versuchen – es war ihre einzige Chance.

Zum Schluss redete sie ihm noch mal ins Gewissen: »Ich versteh deine Enttäuschung über die anderen, aber sie sind unschuldig.«

»Von wegen!«, sagte er böse. »Sie haben nichts kapiert, ich wusste es.« Jetzt war das Gespräch endgültig gelaufen und der Junge beendete es mit den eindringlichen Worten »Tsunami ist kein Mann«. Dann legte er auf.

Helen sackte auf ihrem Schreibtischstuhl zusammen. Sie kam sich vor wie jemand, der darüber entscheiden musste, ob man ein Flugzeug mit Terroristen und Bomben an Bord lieber in eine Großstadt crashen ließ oder es vorher abschoss und damit die unschuldigen Passagiere opferte. Sie hoffte, dass es ihr gelingen würde, einen Amoklauf mit anschließendem Selbstmord zu verhindern. Gleichzeitig beschlich sie aber das Gefühl, dass ihr letzter Satz dem Anrufer das Genick gebrochen und ihn wieder in die hilflose Ausgangssituation zurückkatapultiert hatte: Die anderen sind unschuldig.

Trotzdem musste es eine Möglichkeit geben, diesen Tsunami als Verbrecher zu überführen und zu verhindern, dass sein unschuldiges junges Opfer zum Täter wurde. Zu einem Täter gemacht wurde. Alle schauten immer nur auf die Mörder, aber nicht auf die Mördermacher. Das würde Helen versuchen zu verhindern – wenigstens dieses eine Mal.

1

Ich heiße Michelle, Robin war verliebt in mich, ich aber nicht in ihn.

Robin war kein wirklicher Freund. Er war einfach irgendwie immer da. Obwohl wir uns ständig große Mühe gegeben haben, ihn loszuwerden. Besonders Mike! Mike ist mein bester Freund. Er wäre gern mehr. Aber ich weiß nicht, ob ich das will. Mike war immer richtig genervt von Robin und ich glaube auch ziemlich eifersüchtig, wenn ich mal drei Worte mit Robin gewechselt habe. Dagegen war Robin für Janni und Daniel gar nicht wirklich existent. Sie haben die meiste Zeit durch ihn hindurchgeguckt. Jetzt im Nachhinein kommt mir das alles viel schlimmer und fieser vor als damals. Wahrscheinlich haben wir unserem Ruf alle Ehre gemacht: Die Assi-Kids aus dem Vorstadt-Viertel. Kinderhaus nennt man unsere Wohngegend in der Stadt. Unser Viertel war als einer dieser »sozialen Brennpunkte« verschrien, auf die sich die Medien immer so sensationsgeil stürzten. Aber in den letzten Jahren hat man die beiden Hochhäuser saniert und die Müllcontainer vom Bürgersteig sind in die Innenhöfe verbannt worden, wo sie jetzt auch niemand mehr anzündete. Damit hat unser sozialer Aufstieg begonnen, aber wenn man einmal einen Ruf hat, kriegt man den auch nicht mehr weg. Die schicken Tussis an unserer Schule, die wöchentlich ein neues Outfit auf dem Pausenhof präsentieren, rümpfen jedenfalls weiterhin die Nase. Mit Janni und Daniel waren Mike, Robin und ich die Einzigen aus Kinderhaus, die auf dem Erich-Kästner-Gymnasium waren. Das ist auf jeden Fall dreimal besser, als auf die nächste Gesamtschule zu gehen und liegt außerdem direkt an der U-Bahn-Strecke, die zu uns rausfährt. Die U2 ist echt die einzige Verbindung ins Leben, direkt ins Herz der City. Davor kommen allerdings noch jede Menge Felder und ein riesiges Gewerbegebiet. Also wir sind hier wirklich ein bisschen am A … der Welt.

Im Winter haben wir uns meistens an der Haltestelle getroffen, um zusammen zu fahren. Wir haben immer aufeinander gewartet. Nur auf Robin warteten wir nie. Er aber immer auf uns. Er war auch immer als Erster da. Im Sommer oder wenn es trocken und nicht zu kalt war, fuhren wir mit dem Rad. Seit der Sache an der Berkel fuhr Robin allerdings nur noch mit dem Rad, egal, was für ein Wetter gerade war. Vielleicht wollte er uns beweisen, dass er unabhängig von uns war und uns nicht mehr brauchte. Seine Mutter hatte ihm deshalb eine wetterfeste orangerote Jacke mit herausnehmbarem Fleece gekauft, die er im Winter genauso wie im Sommer anzog. Er sah darin aus wie eine Apfelsine. So konnte man ihn immer von Weitem erkennen und einen großen Bogen um ihn machen. Sonst blieb einem nichts anderes übrig, als ihn wie Luft zu behandeln. Robin konnte wie eine Klette an einem kleben.

Ich glaubte ja, dass er lieber mit dem Rad fuhr, weil er in Wahrheit nicht wusste, was er während der U-Bahn-Fahrt mit uns reden sollte. Ich wüsste auch nicht, wie ich mit jemandem plaudern sollte, der mir so was Schlimmes angetan hat.

Wir hatten im Keller einen alten Raum, der von niemandem mehr genutzt wurde, als eine Art Cliquen-Quartier eingerichtet. Dorthin kam Robin, wann immer es ihm passte, ohne in irgendeiner Weise auf uns zu achten oder Rücksicht zu nehmen. Er machte dann auch, was er wollte, und schien an diesem Ort irgendwie viel selbstbewusster zu sein als sonst. Für uns alle war dieses Versteck im Keller ziemlich wichtig, weil es meistens der einzige Ort war, an dem man mal seine Ruhe hatte. Vor allem für Janni und Daniel, die sich zu Hause noch mit ihren Geschwistern rumschlagen mussten, und für Mike mit seiner obernervigen Mutter. Für Robin war dieser Raum praktisch überlebenswichtig. Aber das habe ich erst später kapiert. Wir waren einfach alle viel zu sehr mit uns selbst beschäftigt. Mit uns selbst und mindestens einem anderen: Daniel mit Janni, Janni mit Mike, Mike mit mir, ich mit Mike und dadurch auch mit Janni und so weiter. Na ja, aber das ist wohl auch keine richtige Entschuldigung.

Es tut mir immer noch leid, was passiert ist. Mir besonders, obwohl ich inzwischen die ganze Wahrheit kenne. Aber es ist wohl zu wenig, dass es einem einfach nur leidtut. Es wird immer zu wenig sein. Ich muss damit leben, eine Seele auf dem Gewissen zu haben, die stumm geblieben ist, ohne Tränen und Schreie von sich zu geben. Abgesehen von dem einen Mal. Was für ein Stress!

Irgendwann wollten wir Robin einfach loswerden. Es war einfach nur noch ätzend, ihn ständig im Schlepptau zu haben. Er terrorisierte Mike und mich mit seiner bloßen Anwesenheit. Er war wie eine Schildkröte. Man hört sie zwar nicht, aber auch wenn sie sich in ihren Panzer zurückzieht, ist sie trotzdem noch da. Irgendwie war er mir auch unheimlich mit seiner Art, ständig den Kopf einzuziehen und sich über den Panzer trampeln zu lassen.

An Mike und mich hängte er sich noch öfter als an Daniel und Janni, weil ich genau wie er in dem ersten der beiden Hochhäuser wohnte und sich das Kellerquartier in unserem Haus befand. Und weil meine Mutter öfter mal mit Robins Eltern zusammen im Hof unten grillte oder sonst irgendwas machte. So eine Nachbarschaftsfreundschaft eben, in der man versuchte, sich zu mögen. Einmal hatte Robin sich dann doch getraut, ein bisschen um sich zu schlagen, und damit gedroht, unser Kellerversteck auffliegen zu lassen, wenn wir nicht aufhören würden, ihn links liegen zu lassen. Das war der einzige Moment, in dem er seinen Schildkrötenkopf mal ein bisschen weiter nach vorne gestreckt hatte. Damals wusste ich noch nicht, was Schildkröten alles Schlimmes ausbrüten, wenn sie ihren Kopf unter die Haube zurückziehen.

Dies ist Robins Vermächtnis, seine Beweisführung. Also hat er jetzt am Ende doch gewonnen. Dafür musste er aber den höchsten Preis zahlen, mit seinem Leben. Oder wäre der höchste Preis gewesen, so weiterleben zu müssen wie zuvor? Mit Freunden, Klassenkameraden, Nachbarn und Eltern, die nicht sehen wollten, dass eine Schildkröte ihren Panzer nie ablegt, auch wenn sie sich an einem sicheren Ort befindet. Und dass man sie austricksen muss, damit man ihr unter die Haube schauen und ihr eine tödliche Verletzung beibringen kann, um den Deckel danach wieder zu schließen, als wäre nichts passiert, sodass sie von innen verblutet.

2

Ich hatte nicht wirklich viel von Robins Telefonat mitbekommen, nur was er ganz zum Schluss sagte: »Tsunami ist kein Mann.« Keine Ahnung, wen er damit meinte. Dann steckte er sein Handy schnell in die Tasche und sah sich kurz um, ob ihn jemand gesehen oder gehört hatte. Als hätte er etwas Verbotenes getan. Mich sah er dabei nicht. Der Schulhof war in der Mittagshitze menschenleer. Robins Jacke leuchtete durch die Äste der Hecke neben den Fahrradständern, hinter die er sich zum Telefonieren zurückgezogen hatte. Robin trug diese Jacke selbst bei solchen Temperaturen wie heute, wenn ein normaler Mensch am liebsten den ganzen Tag in Badeklamotten herumgelaufen wäre. Besonders gut getarnt war er damit in der Hecke ja nicht, aber vielleicht ging es ihm auch eher um das Gegenteil – wie die Bauarbeiter auf der Autobahn. Die wollten ja auch nicht überfahren werden.

Ich hatte nicht vor, mich anzuschleichen oder ihn zu belauschen. Ich wollte hinter den Büschen auf Mike warten. Hier war’s ein bisschen schattig und ich konnte mich auf den Boden setzen, mit meinen Rucksack als Sitzkissen. Die kleine wild wuchernde Hecke trennte den überdachten Fahrradständer von dem schmalen Trampelpfad, der früher einmal zur alten Sporthalle geführt hatte, die abgerissen worden war.

Mir war es vollkommen egal, mit wem Robin telefoniert hatte. Im Laufe der knapp zwei Jahre, die er nun schon bei uns im Haus wohnte, war er mir eigentlich ziemlich gleichgültig geworden. Also hoffte auch ich, dass er mich nicht bemerken würde, sodass ich nicht gezwungen war, ein Gespräch mit ihm anzufangen. Leise ließ ich den Rucksack von der Schulter gleiten und lehnte mich an die Schuppenwand. Da drehte Robin sich noch einmal um, hob den Blick und sah mich an. Er machte ein total erschrockenes Gesicht, als er bemerkte, dass ich nur ein paar Meter von ihm entfernt war. Dann erstarrte er und guckte mich eine Weile an wie ein Toter.

Daran konnten auch seine dichten blonden Locken nichts ändern, die ihn zusammen mit seinen graublauen Augen vollkommen harmlos aussehen ließen, wie einen zu groß geratenen Fünftklässler.

In diesem Moment tat mir Robin zum ersten Mal wirklich leid, ohne dass ich sagen konnte, warum. Trotzdem schaffte ich es nicht, einen Schritt auf ihn zuzumachen, ihn zu fragen, was mit ihm los sei. Obwohl ich Mitleid mit ihm hatte, schreckte er mich gleichzeitig ab. Und ich hatte Angst, was er sagen würde, wenn ich ihn fragte.

»Ich hab nichts gehört«, sagte ich deshalb schnell, um ihn zu beruhigen.

Er guckte skeptisch. »Ehrlich nicht?«

Hätte ich doch gesagt, was ich gehört hatte. Vielleicht hätte in diesem Moment nur das gefehlt, um ihn zum Reden zu bringen, und es wäre alles aus ihm herausgesprudelt wie aus einem zu prall gefüllten Ballon?

»Ich hab nur mit meiner Mutter telefoniert«, sagte er. Aha, er diskutierte also mit seiner Mutter am Telefon über Tsunamis, oder was?

Er schob sich durch das Gestrüpp zu den Rädern zurück und ich konnte durch die Sträucher hindurch sehen, dass er versuchte, sein Fahrradschloss aufzuschließen, aber den Schlüssel nicht hineinbekam. Immer wieder verfehlte er die Öffnung. Himmel, war der nervös! Als er es schließlich geschafft hatte, winkte er zum Abschied mit der Hand, als ob er davon ausging, dass ich ihn beobachtete. Dann stieg er auf sein Rad und bog an der Ausfahrt nach rechts ab, nicht nach links, wo es zu uns nach Hause ging.

Ich überlegte, ob ich ihm nachfahren sollte, weil ich nichts Besseres vorhatte, bis Mike endlich mit seiner Mathe-Nachhilfe fertig war. Rechts ging es in die City. Wahrscheinlich würde Robin seine Mutter im Bagel-Bistro besuchen, wie er es oft nach der Schule machte.

Vielleicht waren Janni und Daniel auch da, überlegte ich.

Die Juni-Sonne hatte sich jetzt hinter einer großen Wolke versteckt, als hätte sie einen Deal mit der Juli-Sonne, die es dann in den Ferien richtig krachen lassen konnte.

Nachdem ich mich auf mein Rad geschwungen hatte, bog ich ebenfalls rechts um die Ecke, konnte aber von Robin nichts mehr sehen. Die Rad fahrende Apfelsine war wie vom Erdboden verschluckt. Vielleicht war er scharf nach rechts in eine der Nebenstraßen abgebogen.

Als ich die Fußgängerzone mit den Blumen in den Betonkästen erreichte, war ich mir mittlerweile ziemlich sicher, dass Robin zu Lisa ins Bistro gefahren war. Bei ihr kriegte man immer was umsonst, weil sie meinte, dadurch ihren Sohn darin unterstützen zu können, Freunde zu finden. Und Hunger hatte ich sowieso. Vor dem Bistro standen neben dem Kiosk die Zeitungsständer der lokalen und der überregionalen Zeitungen. Auf den Titelseiten und den aktuellen Werbezetteln, die über den Kästen klebten, gab es heute kaum etwas anderes zu lesen als große Schlagzeilen zum Amoklauf in Elbdetten: »Amokläufer war ein unscheinbarer Junge!« – »Trieb Einsamkeit den Jungen in die Bluttat?« – »Motiv für Amoklauf noch im Dunkeln« – »Schulminister: ›Augen auf bei länglichen Taschen!‹«

Für mich war Elbdetten ziemlich weit weg. Man konnte sich einfach nicht vorstellen, dass so etwas auch an der eigenen Schule passierte. Aber das hatten sich die Leute in Elbdetten wahrscheinlich vorher auch gedacht. Ich versuchte, die Gedanken an den Amoklauf zu verdrängen, und beachtete die Zeitungsschlagzeilen nicht weiter.

Nachdem ich mein Fahrrad abgeschlossen hatte, drückte ich die gläserne Tür nach innen auf. Rechts befand sich die längliche Theke. Lisa Richter schnitt gerade einen runden Bagel in der Mitte durch und klappte die beiden Hälften auseinander, als ich mich in die Schlange stellte. Robin war nicht da, Janni und Daniel auch nicht. Robins Mutter strich Frischkäse auf die Innenseiten der beiden Brotkringel. An den Tischen war nicht viel los. Die meisten holten sich einen Bagel to go.

»Einen großen frisch gepressten O-Saft«, sagte ein schlaksiger Junge, der vor mir an der Theke stand.

»Bitte!«, fügte Lisa ermahnend hinzu.

»Von mir aus.« Der Junge gähnte.

»Einen großen O-Saft!«, rief Lisa einer ihrer Kolleginnen zu, die aus der Backstube kam.

»Bitte!«, schob der Junge hinterher.

Lisa sah ihn an und hoffte offenbar, dass ihr Blick verriet: Ich bin hier die Chefin!

»Frisch gepresst?«, fragte die Mitarbeiterin.

»Ja …, bitte.« Der Kunde grinste. Machte er sich lustig über Lisa?

»Kommt Robin noch vorbei?«, fragte die Kollegin Robins Mutter und setzte die Orangenpresse in Gang. Mich hatten die beiden noch nicht bemerkt.

»Nee, ich denke nicht«, sagte Lisa. »Ich hab ihn heute noch gar nicht gesprochen. Er hat noch geschlafen, als ich aus dem Haus bin.«

Robin hatte mich also angelogen: Mit seiner Mutter hatte er eben nicht telefoniert. Aber was war das dann mit diesem Tsunami gewesen? Lisas Kollegin stellte dem Jungen den halben Liter Saft hin und kassierte. Lisa selbst belegte den Bagel mit Lachs und Zwiebeln und packte ihn in eine Tüte. Bezahlt hatte ihre Kundin schon.

In der Schlange wartend checkte ich mein Handy, ob ich eine SMS oder einen Anruf verpasst hatte. Aus Versehen scrollte ich in der Liste der eingegangenen Nachrichten nach unten und war bei den ersten SMS, die ich erhalten hatte – kurz nachdem ich ein neues Handy und eine neue Sim-Karte von meiner Mutter bekommen hatte. Sie verglich immer Handy-Tarife und kam ständig mit einem noch günstigeren Angebot an. Ich geriet auf eine SMS von Robin:

Bin ab drei Uhr unten.

Kein Hi oder Hallo, vielleicht ein Name oder zwei, der von mir und Mike zum Beispiel – Robin schickte seine SMS meistens an uns beide gleichzeitig. Zumindest seit er endlich kapiert hatte, dass ich nichts von ihm wollte. Eines Nachmittags im Keller hatte er mich einfach gefragt, ob ich mit ihm zusammen sein wollte? Das war schon irgendwie süß gewesen, aber gleichzeitig auch totaler Quatsch. Ich konnte nicht anders, als laut loszuprusten und zu fragen: »Spinnst du?« Ich meine, was bildete er sich denn ein? Ich war älter als er und dreimal cooler. Dass wir beide nicht zusammenpassten, sah ja ein Blinder.

Danach war er dann wohl so unsicher, dass er sich nie mehr traute, eine SMS direkt und ausschließlich an mich zu schicken. So wusste man bei seinen Nachrichten nie, ob es eine reine Info war, eine Bitte oder eine Art Anweisung. Er nannte es später mal eine »offene« Einladung – Teilnahme freiwillig. Ja, was denn sonst? Dass er extra darauf hinweisen musste, verriet ja schon, dass es eigentlich zumindest eine Aufforderung, wenn nicht sogar ein halber Befehl war. Auf irgendeine Art setzte einen das unter Druck, weil man das Gefühl hatte, reagieren zu müssen. Mike und ich versuchten zwar, dieses Gefühl zu ignorieren, aber jetzt im Nachhinein weiß ich, dass dieses Gefühl ein Zeichen dafür war, dass er uns doch nicht ganz egal war. Das Gegenteil von Liebe ist nämlich nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit.

Endlich war ich in der Schlange bis ganz nach vorne an den Tresen gerückt. Jetzt entdeckte mich auch Robins Mutter: »Ah, hallo Michelle«, sagte sie. »Wo hast du Robin gelassen?« Sie hielt uns offenbar immer noch für die dicksten Freunde.

»Ist er nicht hier?«, tat ich erstaunt. »Ich dachte, er hätte vorhin mit dir telefoniert.«

»Mit mir?«, fragte Robins Mutter, als käme es nur alle hundert Jahre mal vor, dass Robin sie anrief. »Welchen Bagel willst du?«, fragte sie und gab mir damit zu verstehen, dass es okay war, dass ich vor allem auch wegen des Gratis-Bagels vorbeigekommen war.

»Welchen mag Robin denn am liebsten?«, fragte ich, weil ich keine Lust hatte, einen auszuwählen.

»Alles außer Fisch«, sagte seine Mutter. »Du weißt doch, Robin mag keinen Fisch und kein Wasser.«

Nein, das wusste ich nicht. Die Erinnerung an das, was Mike und ich mit ihm gemacht hatten, durchzuckte mich wie ein Blitz. Aber selbst wenn ich es gewusst hätte – vielleicht hätten wir es dann sogar erst recht getan? Weil wir ihn ja in diesem Moment richtig ärgern wollten? Wir wollten ihm klarmachen, dass er uns einfach nur in Ruhe lassen sollte. Wenn er sich nicht dieses eine Mal gewehrt und nicht den Kopf eingezogen hätte, vielleicht hätten wir ihn dann einfach nur weiter wie Luft behandelt …

Wieder kam ich ins Grübeln, wen Robin da vorhin angerufen hatte und wer »Tsunami« war?

Ganz in Gedanken stotterte ich: »Ähh, dann den Lachs-Bagel …, bitte.«

Lisa Richter runzelte irritiert die Stirn, als hätte ich Robin damit verletzt. Es war oft so ein Impuls in mir, instinktiv das Gegenteil von dem zu tun, was die anderen von mir erwarteten.

Kurz darauf reichte sie mir ohne ein weiteres Wort die Tüte mit dem Bagel über die Theke, ich bedankte mich und fragte sie jetzt doch nach Robin.

»Ich dachte, du wüsstest, wo er steckt? Ihr unternehmt doch sonst immer was«, sagte sie.

Ich hätte Nein sagen können, es lag mir schon auf der Zunge. Stattdessen sagte ich bloß: »Aber nicht jeden Nachmittag.«

»Soll ich ihm sagen, dass du nach ihm gesucht hast?«

Das war ja wohl völlig übertrieben.

»Nein, ich sag’s ihm selber.«

Ich bedankte mich noch mal und verließ dann den Shop. Draußen sah ich auf die Uhr und fuhr dann noch mal zur Schule zurück. Es war bereits kurz nach vier – Mikes Nachhilfe würde zu Ende sein.

Wenig später stand ich zum zweiten Mal an diesem Tag bei den Fahrradständern und wartete auf ihn. Ich wollte jetzt nach Hause, aber bei Mike konnte man nie wissen, ob er nicht lieber den Nachmittag noch auf irgendeiner Bank oder in der Stadt totschlagen wollte. Er hatte meistens keine Lust, nach Hause zu fahren. Kein Wunder bei der Mutter. Sie bewachte ihn, als sei er erst drei Jahre alt. Keinen Schritt konnte er tun, ohne, dass sie fragte, wohin er wollte. Das nervte total! Auch mich! Mikes Zuhause war ein goldener Käfig, in dem eine ziemliche Eiseskälte herrschte. Die Stimmung zwischen seinen Eltern war selten gut, und je schlechter sie wurde, desto mehr hängte sich Mikes Mutter an ihn. Dabei war Mike sogar schon siebzehn Jahre und damit eine Klasse über mir. Robin war mit fünfzehn der Jüngste von uns.

Die Saalfelds waren die Einzigen in unserer Gegend, die wirklich Geld hatten und sich diesen schicken Bungalow ein Stück die Straße runter leisten konnten. Aber dass Geld auch nicht wirklich glücklich macht, sah man an Mike.

Tsunami?«,

»Nee. Wer soll das sein?«, fragte er zurück.

»Tsunami ist kein Mann hat Robin zu jemandem am Telefon gesagt.«

Mike sah mich an und biss sich auf die Unterlippe. Es war seine Idee gewesen, die Sache an der Berkel.

Vernehmungsprotokoll Akte 1351-DA

Zeuge 6

Ort: Polizeipräsidium Scheinfurt, Wache 3

Datum: 30. Juni 2011

Zeit: 09:52

Entschuldigung, aber ich bin absolut freiwillig hier. (. . .)

Ja, ich wollt’s ja nur noch mal sagen. Sie tun ja so als ob ich …(. . .)

Weil ich vielleicht weiß, wie es passiert sein könnte. (. . .)

Die Wahrheit? Was ist schon die Wahrheit? (. . .)

Jaja, am besten der Reihe nach, also von Anfang an. Ich hab ja mit fast allen geredet. (. . .)

Weil mich das so fertiggemacht hat. Erst die Sache mit Robin und dann auch noch … Was?

Entschuldigung, aber … (. . .)

Sie wissen ja nicht, was das bedeutet! Es ist alles so schrecklich. Jetzt sind schon Wochen vergangen und es gibt immer noch keine richtige Erklärung. Vor allem, warum? Warum? (. . .)

Ja dieser Tsunami ist ja lange in allen Köpfen herumgespukt. Irgendwie hatte niemand eine Idee, wen Robin damit wirklich gemeint haben könnte. Ein Junge wahrscheinlich, weil Robin ja anscheinend behauptet hat, Tsunami sei kein Mann. Vielleicht einer aus der Klasse oder so. Oder eine Frau. Oder ein Mädchen. (. . .)

Tja, Michelle war … weiß nicht. Manchmal hatte man den Eindruck, dass Robin Angst vor Michelle hatte. Und diese Sache an der Berkel, die saß wohl ganz schön tief bei Robin. (. . .)

Michelle war halt immer cool und tough und hat niemanden so wirklich an sich rangelassen … und manchmal war sie ganz schön knallhart.

Vielleicht kann man es so sagen!?: Robin hatte seinen Panzer auf dem Rücken, Michelle war ein Panzer. (. . .)

Klar hat Robin gesagt, dass er Angst vor Wasser hat. Deshalb hat er ja so geschrien! (. . .)

Ich weiß nicht, ob Michelle es deshalb extra gemacht hat? Vielleicht!? (. . .)

Noch mal, Michelle hat nicht nur cool getan, sie war cool. Das hat sich erst geändert, nachdem das alles passiert war. (. . .)

Weicher Kern!? Weicher Kern!? Den hat doch jeder! Aber das ist wie mit einem Samenkorn: Es geht nicht immer auf. (. . .)