Danksagung

Es ist schon eine Herausforderung, berufsbegleitend eine Dissertation zu schreiben. Und eine solche Arbeit lässt sich nicht alleine bewältigen, sondern ist nur möglich, wenn viele Menschen dabei mitwirken – als Ratgeber, Helfer und Unterstützer. Hilfestellung leistete dabei vor allem mein Doktorvater Professor Dr. Gerd Langguth, dem ich viele Anregungen und Diskussionen verdanke. Seine Betreuung war ein Schlüssel zum Gelingen dieser Arbeit. Dank schulde ich auch meinem Zweitgutachter, Professor Dr. Wolfram Hilz, sowie Anke Piel vom Prüfungsamt der Universität Bonn.

Entscheidend (und sichtbar) zu dieser Arbeit haben meine zahlreichen Interview- und Gesprächspartner aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien beigetragen. Ihre Auskünfte machen dieses Buch lesbar – und die Recherche mitunter zum Erlebnis: War es beispielsweise der Besuch bei Bundespräsident Roman Herzog auf Schloss Jagsthausen, der Termin in Essen bei Brot und Käse mit Professor Dr. Uta Ranke-Heinemann, der Kaffee im Theater in Halle (Saale) mit Peter Sodann oder das Telefonat mit Jost Stollmann in Australien: Alle Interviewpartner haben sich, obwohl häufig zeitlich stark eingebunden, Zeit für dieses Projekt genommen. Dafür bin ich sehr dankbar.

Schließlich möchte ich Freunde und Kollegen nicht vergessen, die mich in den vergangen fünf Jahren unterstützt haben. Namentlich seien hier genannt: Johannes Samwer für viele Stunden der technischen Unterstützung bei der Auswertung der Daten, Daniel Pontzen für die Gespräche über den Alltag der berufsbegleitenden Dissertation und Anja Ey für Grafiken und Bilder; meinen beiden Arbeitgebern während meiner Dissertationszeit, dem Wirtschaftsmagazin „Capital“ sowie dem „Deutschlandfunk“, namentlich Dr. Klaus Schweinsberg und Astrid Rawohl, die die Bedeutung des Projektes für mich erkannt und mich dabei unterstützt haben. Gleiches gilt für Dr. Hanna Leitgeb von der Agentur „Rauchzeichen AG“ und Roman Pliske und seinen Mitarbeitern vom Mitteldeutschen Verlag, in dem dieses Projekt nun eine Heimat gefunden hat.

Widmen möchte ich dieses Buch aber den Menschen, die mir am wichtigsten sind, nämlicher meiner Familie. Meinen Eltern Monika und Tassilo, meinen Geschwistern Charlotte und Robert sowie zuallererst natürlich Line. Vielen Dank!

Moritz Küpper

POLITIK KANN
MAN LERNEN

Politische Seiteneinsteiger in Deutschland

mitteldeutscher verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek registriert diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten im Internet unter
http://d-nb.de.

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Freigrenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Zugl.: Bonn, Univ. Diss. 2012

2013

© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

www.mitteldeutscherverlag.de

Gesamtherstellung Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

ISBN 9783954621521

1 Einleitung: Wunschdenken statt Fakten

1.1 „Das kann ich ja nicht gewesen sein!“: Eine Einführung in das Thema

Im Sommer 1998 war die Verzweiflung bei der SPD groß: Der neue Kandidat im Schattenkabinett von Kanzlerkandidat Gerhard Schröder, der parteilose IT-Unternehmer Jost Stollmann, sollte doch die Trumpfkarte bei der Ablösung von Helmut Kohl als Bundeskanzler sein. Doch auf alle Einladungsschreiben und Faxe bekam die Parteileitung keine Antwort. Schließlich rief man im Büro Stollmann an. Man würde gerne einmal die Fax-Nummern abgleichen. Gerne. Es stellte sich heraus: Sie stimmte. An dieser Stelle macht Stollmann – auch Jahre später – eine Spannungspause, um dann vergnügt den Rest der Geschichte zu erzählen: Wieso er denn nie komme? Man hätte ihm doch zahlreiche Einladungen zugeschickt und präsentierte eine Fax-Quittung. An der Stelle lächelt Stollmann – und wiederholt dann die Antwort, die er auch damals gegeben hat: „Da sind Genossinnen und Genossen eingeladen worden. Das kann ich ja nicht gewesen sein!“1 Bei der SPD-Kampa stutzte man – und formulierte die Einladung künftig um: „Sehr geehrter Herr Stollmann, Genossinnen und Genossen“. Ergebnis: Stollmann kam.

Kein Genosse, sich nicht Duzen lassen, ein Fremdkörper sein. Wahrscheinlich weiß Stollmann, der damals kurz nach dem Wahlsieg aus Überdruss an den Attacken des gewieften Partei- und Machtpolitikers Oskar Lafontaine das Handtuch geworfen hatte, auch, weil er in der Partei nicht den Rückhalt hatte, mittlerweile, dass es damals klüger gewesen wäre, sich anders zu verhalten. Aber statt sich in das System und die Partei zu integrieren und Wirtschaftsminister zu werden, machte er eine Weltreise und lebt heute als Vorstandsvorsitzender eines Bezahlsystem-Unternehmens in Sydney.

Wer sich auf die Suche nach den politischen Seiteneinsteigern in den über 60 Jahren der Bundesrepublik Deutschland macht, der muss kreuz und quer durchs Land fahren: Auf die Götzenburg nach Jagsthausen (Roman Herzog), in eine Kölner Altersresidenz (Ralf Lord Dahrendorf), in die Essener Dependance der Deutschen Bahn (Werner Müller) oder nach Ilmenau, in das Büro der Naturwissenschaftlerin und ehemaligen CDU-Bundespräsidentschaftskandidatin Dagmar Schipanski. Sie haben Geschichten über ihren Wechsel in die Politik zu erzählen. Man hört Erlebnisse wie die von Stollmann oder – in Heidelberg – auch von Paul Kirchhof, der im Wahlkampf 2005, innerhalb von vier Wochen, vom umjubelten Reformer zum herzlosen „Professor aus Heidelberg“ wurde. Oder vom ehemaligen „Tatort“-Kommissar Peter Sodann, der, in seinem Theater in Halle an der Saale sitzend, ungern über seine Zeit als Linken-Bundespräsidentschaftskandidaten 2010 spricht. Sein Fazit: „Ich möchte lieber ein politisch denkender Schauspieler als ein schauspielender Politiker sein“, sagt er. Denn: „Davon gibt es genug.“ Der ehemalige Leistungsturner Eberhard Gienger aber ist ein Gegenbeispiel: 1998 von der CDU fast systematisch für einen Wahlkreis in Baden-Württemberg ausgewählt, machte er ein Praktikum bei der CDU, bekam ein Team für den Wahlkampf zur Seite gestellt und saß ein Jahr später im Parlament. Bis heute. „Politik kann man lernen“, so Gienger.

Welche Sicht auch immer richtig ist. Eines ist klar: Politik lebt von solchen Geschichten – und letztlich von Menschen. Von Personen, die Reden halten, Gesetze schreiben, Argumente suchen, abstimmen und entscheiden. Es sind aber vor allem auch Köpfe, die auf Wahlplakaten prangen, die für Inhalte stehen und in einer Demokratie um das Vertrauen und die Stimmen der Wähler kämpfen. In Deutschland haben seit 1949 in den letzten rund 60 Jahren auf Bundesebene 3.408 Frauen und Männer als Politiker die Geschicke des Landes bestimmt – und dabei 4.088 verschiedene Positionen bekleidet. Rückblickend kann man feststellen, mit großem Erfolg. Dennoch ist die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der politischen Klasse in letzter Zeit gewachsen: Sinkende Wahlbeteiligung und sterbende Volksparteien beherrschen die Schlagzeilen. Immer häufiger fällt das Wort „Politikverdrossenheit“.

Dabei zeigen viele Beispiele, dass im Mittelpunkt dieser Politikverdrossenheit nicht die Inhalte, sondern die handelnden Politiker und damit die Parteien stehen. Eine ihrer Hauptaufgaben besteht in der Auswahl des politischen Personals. Dass die Bevölkerung weiterhin an politischen Inhalten interessiert ist, belegt der Erfolg von Bürgerinitiativen auf kommunaler Ebene, von freien Wählergruppen auf föderaler Ebene und von Demonstrationen, die in der Regel inhaltlich motiviert sind. Abgestoßen wird das Volk wohl eher von Berufspolitikern, den undurchdringlichen Funktionärsapparaten der Parteien und den Hinterzimmerentscheidungen über Listenplätze. Am anschaulichsten verdeutlicht dies das Phänomen des Komikers Hape Kerkeling, der mit seiner Kunstfigur Horst Schlämmer fiktiv an der Bundestagswahl 2009 teilnehmen wollte, die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der politischen Klasse. Laut einer Umfrage des Magazins „Stern“ konnte sich damals jeder Fünfte vorstellen, seine Partei zu wählen. Die Bevölkerung wünscht sich also externe Kräfte in der Politik, also mehr Seiteneinsteiger. Dies belegt auch eine Umfrage des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ aus dem Jahr 1998, nach der 44 Prozent der Befragten es begrüßen, dass „endlich mal neue Gesichter in das Politikgeschäft kommen“, nur 22 Prozent hielten dies für „unsinnig, reine Wahlkampftaktik“.2

Vor diesem Hintergrund erscheinen die seit Jahren vorgetragenen Plädoyers für mehr Seiteneinsteiger in die Politik nicht verwunderlich: „Wir brauchen Leute, die nicht aus der Politik kommen und Erstarrungen in der Gesellschaft aufbrechen“3, sagte der damalige Kanzlerkandidat der SPD, Gerhard Schröder im Wahljahr 1998 der „Berliner Zeitung“ – und befand und befindet sich mit seiner Forderung in guter, nämlich großer Gesellschaft: Egal ob Journalisten4, Politiker5, Wissenschaftler6, Manager7 oder Verwaltungsbeamte8, Vertreter der FDP9, CDU10 oder SPD11, egal ob in der intellektuellen Wochenzeitung „Die Zeit“12 oder dem Boulevardblatt „Bild“13, egal ob heute14 oder vor mehreren Jahrzehnten.15 Bei Plädoyers für Seiteneinsteiger sind (inhaltliche und parteiliche) Gegensätze obsolet und Meinungen identisch: Direkt ausgesprochen, wie vom ehemaligen Bundestagsvizepräsidenten Rudolf Seiters (CDU) – „Die Parteien müssen sich öffnen für Quereinsteiger.“16 – oder feuilletonistisch formuliert, wie von Gunter Hofmann, dem langjährigen, ehemaligen Politik-Redakteur der Wochenzeitung „Die Zeit“: „Nur müsste man der Politik wünschen, dass sie viele hinein lockt, die sich seit Jahren schon abwenden.“17 Dennoch erscheinen die Forderungen nach mehr Seiteneinsteigern – trotz ihrer Anzahl – naiv. Zumindest, wenn man sie in den Kontext von Rita Süssmuths Resümee anlässlich ihres Abschiedes aus dem Bundestag 2002 stellt: „Der Quereinsteiger muss viel eher damit rechnen, dass er so schnell wieder draußen ist wie er in die Politik eingestiegen ist“, sagt sie. Und weiter: „Weil er das Innenleben nicht kennt, weil er sich nicht auf fest gefügte Seilschaften verlassen kann, ist er oft stärkerem Druck ausgesetzt. Der Quereinsteiger bleibt sehr leicht der Fremde in den eigenen Reihen.“18

Dabei ist Süssmuth, Professorin für Erziehungswissenschaften aus Bochum, selbst ein positives Beispiel für einen langen, erfolgreichen Ausflug in die Politik: Als Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit berief Bundeskanzler Helmut Kohl sie 1988 in sein Kabinett. Sie saß lange im Parlament und bekleidete von 1988 bis 1998 das Amt der Bundestagspräsidentin. Ihre nüchterne Bilanz steht jedoch im Gegensatz zu den zahlreichen Forderungen und der Popularität von Seiteneinsteigern in Deutschland. Vielmehr wirft sie die Frage auf: Warum hat sich die (Politik-)Wissenschaft noch nicht mit dem Thema befasst? Wie viele Seiteneinsteiger gab es bisher? War ihr Wirken in der Politik von Erfolg gekrönt? Erstaunlicherweise fehlen – bis auf einzelne Ausnahmen – (wissenschaftliche) Analysen zu dem Thema.

Die Vielzahl der Plädoyers – und das positive Bild in der Bevölkerung – beruhen nicht auf Fakten, sondern auf Wunschdenken. Auf der Zuversicht und der Hoffnung, dass Seiteneinsteiger als Außenseiter nicht zu der Kaste der vielgeschmähten (Berufs-)Politiker gehören und somit die steigende Politikverdrossenheit in der Bevölkerung bekämpfen können; und dass sie in Zeiten von schrumpfenden Volksparteien ein Reservoir bilden, mit dem sich die sich auftuende (Personal-)Lücke in der Politik schließen lässt. Und vielleicht auch, dass sie als Fachleute der Herausforderung der immer komplexer werdenden politischen Sachverhalte begegnen können. Aus welchen Motiven sich Bevölkerung, Politiker und Journalisten mehr Seiteneinsteiger in die Politik wünschen, ist allerdings nur mittelbar Ziel dieses Buchs, genauso wie deren Effekt oder Rolle als Kämpfer gegen Politikverdrossenheit. Im Fokus steht vielmehr die Frage nach den Einstiegschancen in die Politik und die Suche nach Erfolgsbedingungen für Seiteneinsteiger in der Parteienlandschaft der Bundesrepublik Deutschland.

Als Grundlage dafür wird eine Bilanz über Seiteneinsteiger in die Politik der Bundesrepublik Deutschland aufgestellt. Aufbauend auf dieser Bestandsaufnahme werden Gründe für Erfolg und Misserfolg beim Wechsel in die Politik analysiert: Welche Umstände begünstigen einen Quereinstieg in die Politik? In Deutschland bezieht sich dies vor allem auf die herausragende Stellung der politischen Parteien. Da ihnen bei der Personalrekrutierung vom Grundgesetz eine Monopolstellung eingeräumt wird, müssen sie der Ausgangspunkt dieser Analyse sein. Anhand der einzelnen Parteien und der Beispiele von Seiteneinsteigern aus 60 Jahren Bundespolitik werden daher Erfolgsfaktoren für den Einstieg in die Politik identifiziert. Um das Bild abzurunden, werden nicht nur die institutionellen Bedingungen untersucht, sondern auch biografische Erfahrungen von Seiteneinsteigern berücksichtigt. Das Ziel dieses Buches ist, die erforderlichen Grundlage und einen Katalog von Erfolgsbedingungen zu schaffen, der für zukünftige Seiteneinsteiger in die Politik aufschlussreich sein kann und gleichzeitig Einblicke in den Charakter des politischen Personals der Bundesrepublik Deutschland liefert.

1.2 Der Mythos Seiteneinsteiger: Zum Stand der Forschung

Das politische Phänomen des Seiteneinsteigers ist – anders als die mediale Wahrnehmung suggeriert – kaum erforscht. Als grundlegende deutschsprachige Studie zu diesem Thema ist zuerst die Dissertation des österreichischen TV-Journalisten Armin Wolf zu nennen.19 Darin analysiert dieser das Phänomen „celebrity politics“ und geht der Frage nach, warum in der österreichischen Politik in den letzten Jahren immer häufiger Prominente aus anderen Berufen ohne politische Erfahrung als Kandidaten aufgestellt wurden. Er identifiziert zwei Motive für Parteien, Seiteneinsteiger zu nominieren: 1. Gewinn von Sachkompetenz, 2. Erlangen von Aufmerksamkeit. Anhand seiner empirischen Untersuchung für den Zeitraum 1994 bis 2002 stellte Wolf fest, dass Quereinsteiger häufig als „Werbeträger der Parteien“ fungieren: „Ihre Aufgabe liegt primär in der Darstellung, nicht in der Herstellung von Politik.“20 Um nach dem Nominierungs- oder Wahltag zu überleben, haben Seiteneinsteiger laut Wolf zwei Optionen: Sie können sich zu einem Politik-Experten in einem bestimmten Gebiet entwickeln (zumeist über ihre Fachkompetenz aus dem vorher ausgeübten Beruf) oder versuchen, ihren Werbewert als prominente Kandidaten zu konservieren. Neben Wolfs Analyse, die sich ausschließlich auf Österreich bezieht, gibt es weitere Studien und Aufsätze, die sich mit der Situation in dem jeweiligen Land beschäftigen.21

Als erster deutscher Politikwissenschaftler hat sich Dietrich Herzog im Zuge seiner zahlreichen Karriere-Studien22 mit Seiteneinsteigern in die Politik beschäftigt: Untersucht wurden dabei die Karrieremuster der politischen Führungsschicht in Regierung, Parlament und Parteien der Bundesrepublik Deutschland. In seiner grundlegenden Studie aus dem Jahr 197523 spricht Herzog noch nicht von „Seiteneinsteigern“, sondern identifiziert, als eines von drei Karriere-Mustern24, die „cross-over“-Karriere. Diese ist jedoch fast mit einer Seiteneinsteiger-Laufbahn gleichzusetzen: Herzog versteht darunter einen direkten Wechsel in eine politische Führungsposition, ohne vorherige Laufbahn in einer Partei oder Erfahrung in Wahlämtern. Im Zuge seiner ersten Studie verwendet Herzog dafür den Begriff der politischen „Blitzkarriere“, erst 1997 spricht er von „Quereinsteigern“.25 Unabhängig von der Bezeichnung stellt Herzog fest, dass dieses Karrieremuster in Deutschland „äußerst selten“26 vorkommt. Nach seiner Auswertung aus dem Jahr 1975 hätten rund 60 Prozent der bundesdeutschen Poli­tiker die Standard-Karriere absolviert, nur rund zehn Prozent eine unmittelbare „cross-over“-Karriere.

Es fällt auf, dass immer wieder Zahlen und Schätzungen für den Anteil von Seiteneinsteigern in die deutsche Politik genannt werden. Konstant wird dabei die Zehn-Prozent-Schätzung von Herzog aus dem Jahr 1975 zitiert27 – oder bestätigt.28 Daneben gibt es weitere Statistiken: So schätzt Anwar Syed Ali in seiner Untersuchung der Karrieren aller bundesdeutschen Regierungsmitglieder zwischen 1949 und 2002, dass der Anteil an „cross-over“-Karrieren unter Kanzlern, Ministern und Staatssekretären bei nur drei Prozent liegt.29 Für die Länderparlamente gibt es eine Studie der Wissenschaftler Jens Borchert und Klaus Stolz, nach der in deutschen Länderparlamenten rund 20 Prozent Seiteneinsteiger sitzen. Die Autoren selbst rechnen aber eher damit, dass es weniger sind.30 Auf einem internationalen Workshop zu Politikerkarrieren der Universität Bamberg im Jahr 2007 wird vermutet, dass der Anteil von Quereinsteigern leicht ansteige.31 Diese unterschiedlichen Schätzungen zeigen in erster Linie eines, das Fehlen einer fundierten, aktuellen Bilanz.

Direkt mit dem Phänomen Seiteneinsteiger in Deutschland hat sich bislang nur eine – eher publikumswirksam angelegte – Porträt-Sammlung beschäftigt: „Seiteneinsteiger. Unkonventionelle Politiker-Karrieren in der Parteiendemokratie“32. Das Buch verfolgt einen biografischen Ansatz: In ihm werden die Lebensläufe und Politikerkarrieren von 23 Menschen analysiert. Diese geringe Zahl zeigt schon, dass sich die Monografie auf einige – herausragende – Beispiele konzentriert. Der Auswahlschlüssel ist jedoch nicht nachvollziehbar. So fehlt beispielsweise eine klare Definition des Begriffs „Seiteneinsteiger“.33

Die Porträts werden dabei in verschiedenen Rubriken zusammengefasst: „Experten und Vordenker“, „Interessenvertreter und Galions­figuren“, „Verwalter und Vertraute“ sowie „Karrieren des Umbruchs“. Zu einer Analyse werden diese Kategorien jedoch nicht genutzt. Zwar wird die Bedeutung eines Mentors, der erstens die Rekrutierung und zweitens die Instruktion eines Seiteneinsteigers übernimmt, herausgearbeitet und zusätzlich auf weitere Einflussfaktoren wie den Zeitpunkt des Einstieges oder die berufliche Vorprägung eingegangen. Allerdings werden keine expliziten Erfolgsbedingungen für Seiteneinsteiger formuliert. Die Herausgeber Robert Lorenz und Matthias Micus konstatieren in ihrem Resümee vielmehr, dass Seiteneinsteiger nicht in der Lage seien, die Probleme des politischen Systems, beispielsweise die Politikverdrossenheit in der Bevölkerung, zu lösen. Sie stellen zudem fest, dass ihnen das Repertoire an genuin politischen Fertigkeiten fehlt, die normalerweise auf der parteiinternen „Ochsentour“ vermittelt werden. Trotz dieses Mankos seien Seiteneinsteiger aber in der Lage, lange politische Karrieren zu etablieren. Das Risiko, dass sie scheitern, sei allerdings deutlich größer als bei klassischen Politiker-Karrieren.

Mit vier – in der Mehrzahl erfolgreichen – Beispielen des Seiteneinsteigertums beschäftigte sich die unveröffentlichte Magisterarbeit von Kay Müller:34 Darin analysiert dieser die politischen Karrieren der SPD-Vertreter Walter Riester, Jost Stollmann, Michael Naumann und Werner Müller im Hinblick auf Existenz- und Erfolgsbedingungen von Neulingen in der Politik. Müller resümiert, dass entscheidend für den Erfolg oder Misserfolg von Seiteneinsteigern das Verhältnis zur politischen Führung der Partei sei. Die Arbeit betrachtet aber nur einen speziellen Ausschnitt, so dass Müller selbst feststellt: „Es wäre wünschenswert, in der Zukunft weitere empirische Untersuchungen zu diesem Thema vorzunehmen, um vielleicht noch einen größeren Katalog von Existenz- und Erfolgsbedingungen von Quereinsteigern zu erhalten.“35

Auch der Journalist Thomas Leif widmet sich in seiner Abrechnung mit der politischen Klasse in dem Buch „Angepasst & ausgebrannt. Die Parteien in der Nachwuchsfalle. Warum Deutschland der Stillstand droht“36 dem Phänomen „Seiteneinsteiger“. Zwar steht der Zustand der Parteien sowie deren Nachwuchsgewinnungsprogramme im Fokus des Buches, dennoch fragt Leif in den zahlreichen langen Interviews des ausschließlich deskriptiven Buches immer wieder Poli­tiker und deren Berater nach der Funktion und dem Effekt von Seiteneinsteigern37 – und stellt fest: „Es gibt wohl kaum einen Personenkreis in der Politik, der in der öffentlichen Wahrnehmung so positiv aufgeladen und in der politischen Klasse gleichzeitig so verachtet ist, wie die sogenannten Seiten- und Quereinsteiger.“38 Aus seiner Sicht idealisieren die Medien das Bild des Seiteneinsteigers, der jedoch in den eigentlichen politischen Prozessen in Deutschland keine Rolle spiele: „Deutschland ist kein Land der Seiteneinsteiger“39, schreibt Leif – bleibt aber einen wissenschaftlich fundierten Beweis schuldig. Stattdessen kommt er zu dem Ergebnis: „Quereinsteiger und Seiteneinsteiger haben nur dann eine Chance in der Politik, wenn sie als medialer Farbtupfer wahrgenommen werden oder von Spitzenpolitikern der Parteien kooptiert werden.“40

Zu einem ähnlichen Schluss wie Leif, nämlich dass es „in Deutschland keine Kultur des Quereinstiegs und des Querausstiegs“41 gibt, kam auch eine Tagung des Cusanuswerks in Berlin aus dem Jahre 2006 mit dem Titel „Quereinsteiger in der deutschen Politik – Wunsch und Wirklichkeit“. Der Sozialwissenschaftler Jens Borchert stellte dabei in seinem Auftaktvortrag fest, dass es drei Gründe gibt, warum es Quereinsteiger in der Politik schwer haben bzw. warum sie scheitern: Erstens wegen der fehlenden Zeit, die man aufbringen müsse, um den Sprung in die Bundespolitik zu schaffen. Zweitens fehle Seiteneinsteigern die „Ochsentour“, die ihren Konkurrenten Kompetenzen, aber auch Netzwerke vermittelt, auf die diese nicht zurückgreifen könnten. Als letzten Grund identifiziert Borchert die Qualifikation der Politiker, politische Fragen aufzunehmen und diese dann einer politischen Lösung zuzuführen. Dieses Wissen über den Ablauf politischer Prozesse lasse sich nur in der Praxis erlernen und stelle einen Wissensvorsprung gegenüber Seiteneinsteigern dar. In der Zusammenfassung wurden dort Karrierewege einzelner Seiteneinsteiger (anhand der Beispiele Paul Kirchhof, Eberhard Gienger und Ursula von der Leyen) skizziert und analysiert. Auch die Fragen nach einer Begriffsbestimmung, und ob das Land mehr Quereinsteiger brauche und welche Voraussetzungen gegeben sein sollten, wurden angerissen. Deren Ergebnisse lassen sich aber – aufgrund der Kürze der Tagung sowie der Form der Darstellung in einzelnen Vorträgen – nur als eine unsystematische Literatur- und Ideensammlung zu dem Thema einordnen.

Zusätzlich zu dieser wissenschaftlichen Literatur gibt es auch immer wieder einzelne Werke zu bestimmten Berufsgruppen42 und Erfahrungsberichte einzelner Seiteneinsteiger.43 Diese – zumeist autobiografischen – Bücher sind jedoch mit Vorsicht zu behandeln, da ihre Sichtweise häufig verzerrt ist – je nach Ausgang der politischen Karriere. Dieses Phänomen zeigt sich exemplarisch am Buch von Wolfgang Filc.44 Der Wirtschaftswissenschaftler wechselte 1998 von seinem Lehrstuhl als Beamter ins Finanzministerium. Sein Fazit: „Schlecht bestellt ist es jedoch in Deutschland um den Wechsel von Führungsleuten in Wirtschaft, Politik oder Wissenschaft in einen anderen als den angestammten Bereich. Ganz anders als in den USA bestehen hierzulande unverkennbare Berührungsängste. Zudem sind die Voraussetzungen nicht gegeben, um einen Wechsel, wenn auch nur vor­übergehend, zu ermutigen.“45

Ähnliche Stimmen finden sich auch in zahlreichen Presseartikeln und Fachaufsätzen von Journalisten und Wissenschaftlern zum Thema. Die Ursache für die Vielzahl dieser Berichte liegt auf der Hand, sie gehorchen den Gesetzen der Publizistik: Darstellungen zu Seiteneinsteigern lassen sich gut personalisieren, bergen eine gewisse Sprengkraft bzw. Antipode (Seiteneinsteiger vs. Establishment), gelten in der Bevölkerung als populär und genießen, je nach Wahl- oder Nominierungstermin, Konjunktur. Diese Literatur lässt sich klassifizieren in Plädoyers für Seiteneinsteiger46, Kurzanalysen47, Erfahrungsberichte von Seiten­einsteigern48 und Porträts49. Ihr Tenor ist oft ähnlich: Demnach sei die Ursache für die Nachfrage nicht das Interesse an fachlichem Input: „Die Idee, Fachleute von außen in politische Spitzenämter zu holen, wurde seit der Diskussion um Parteien- und Politikverdrossenheit in den 80er-Jahren populär.“50 Seiteneinsteiger erfüllen vielmehr häufig die Funktion eines Feigenblattes. Vor allem die Ressorts Wissenschaft, Kultur und Wirtschaft seien für Seiteneinsteiger prädestiniert, da es in ihnen vor allem um Politikdarstellung geht, beobachtete der ehemalige Journalist Richard Meng.51

Als größte Hürden bzw. Stolpersteine für Seiteneinsteiger werden dabei das Beamtenrecht, das den Wechsel erschwert, fehlendes Zeitbudget, das für ein aussichtsreiches Engagement in der Politik unerlässlich ist, sowie die „eigenen, nicht einfach außer Kraft zu setzenden Strukturen, Gesetzmäßigkeiten und Arbeitsweisen“52 des Politikbetriebs angeführt. Neben diesen strukturellen Problemen verweisen die (journalistischen) Beobachter aber auch immer wieder auf Fehler der Seiteneinsteiger selbst: „Das eigentliche Problem aber ist, dass Fachleute aus Wissenschaft und Politik die Kraft ihrer Argumente systematisch überschätzen.“53 Vielen fehle zudem die Eigenschaft „sich einer breiten Öffentlichkeit erklären zu können und Gegenangriffe unter der Gürtellinie wegzustecken“54. Es fehlt an Praxis im Umgang mit der Aufmerksamkeit der Medien, an Kommunikationsfähigkeit, Verhandlungsgeschick, Überzeugungskraft, rhetorischem Talent, Kooperationspragmatik und – nicht zuletzt – an einem über Jahre in politischen Auseinandersetzungen geschulten Gefahreninstinkt sowie der Gabe, Dinge im wahrsten Sinne des Wortes auszusitzen. Als Zusammenfassung der Literatur lässt sich das Fazit des Göttinger Poli­tikwissenschaftlers Franz Walter zitieren: „Es ist wohl so: Originelle Menschen, Künstlernaturen, schöpferische Intellektuelle, logisch denkende Naturwissenschaftler, zielstrebige Unternehmer – sie alle sind für die tausend Umwege, Kompromisse und Unschärfen der Politik ganz und gar ungeeignet.“55 Dennoch gab es zahlreiche Versuche und Reformvorschläge, um solchen „Exoten“ den Weg in die Politik zu bahnen: Beispielsweise von Horst Teltschik, dem ehemaligen Berater von Helmut Kohl. Er forderte, Politiker für die typische „Ochsentour“ im Wahlkreis einzusetzen und die fachliche Elite über Listen in politische Ämter zu bringen: „Dann würde sich die Qualität des Parlaments über Nacht positiv verändern. Aus meiner Sicht haben wir im Bundestag zu viele Generalisten.“56 Eine weitere Idee: Ministerien sollten systematisch junge Wissenschaftler auf Zeit als Berater einstellen.57 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es immer wieder Forderungen, Analysen, Reformvorschläge zum Thema Seiteneinsteiger in die Politik gegeben hat.58 Dabei handelt es sich jedoch um Momentaufnahmen und unstrukturierte Beiträge, eine grundlegende Analyse liegt nicht vor. Die bislang getroffenen Kernaussagen werden aber in der vorliegenden Arbeit berücksichtigt.

Ähnlich wie bei der bereits erwähnten wegweisenden Arbeit von Herzog, dem Begründer der Karriereforschung in den Politikwissenschaften, werden Seiteneinsteiger häufig bei der Erforschung von Karriere­verläufen von Politikern sowie bei der politischen Klasse verortet.59 Die Literatur dazu ist zahlreich und auch bedeutend, wie Herzog feststellt.60 Da diese Forschungen auch für die vorliegende Arbeit relevant sind, sollen hier die wichtigsten Arbeiten genannt und deren Ergebnisse im Hinblick auf Seiteneinsteiger zusammengefasst werden: Eine detaillierte Aufstellung über die „Karrierewege und Rekrutierungsmuster bei Regierungsmitgliedern auf Bundesebene von 1949–2002“ findet sich in der gleichnamigen Dissertation von Anwar Syed Ali.61 Darin verfeinert Ali die Karrieretypen von Herzog und untersucht neben den Laufbahnen von Regierungsmitgliedern auch die von beamteten Staatssekretären. Sein Ergebnis: Insgesamt dominieren Politikprofis in zweiter Karriere bei den Regierungsmitgliedern (67 Prozent), reine Berufspolitiker machen – entgegen der verbreiteten Meinung – nur 30 Prozent aus, während der Anteil der „cross-over-Karrieren“ für Regierungsmitglieder bei – wie bereits erwähnt – drei Prozent liegt. Neben diesen empirischen Befunden hält Ali auch fest, dass sich das Konzept der politischen Klasse nicht als sehr fruchtbar erweise, „um die Karrierewege aller Kanzler, Minister, parlamentarischen und beamteten Staatssekretären theoretisch zu deuten“62.

Einen ähnlichen Ansatz verfolgt Lars Vogel mit seiner Untersuchung über die Rekrutierungswege von Ministern auf Landes- und Bundes­ebene. Für den Zeitraum von 1990 bis 2005 durchleuchtet er die Lebensläufe der Personen, die erstmalig als Minister rekrutiert wurden. Dabei vergleicht er die Riege der Minister mit der Gruppe der jeweiligen Parlamentarier und stellt – im Hinblick auf Seiteneinsteiger – fest, dass sich deren Anteil jeweils nur geringfügig unterscheidet: „Von den einfachen Abgeordneten erlangten 22 Prozent ihr erstes Mandat ohne innerparteiliche oder kommunale Position, bei den späteren Ministernovizen betrug dieser Anteil 26 Prozent.“63 Auf Grundlage dieser Zahlen kommt Vogel zu dem Ergebnis, dass der „Aufstieg in ein Ministeramt in Deutschland zumeist mit einer politischen Karriere verbunden ist, deren zentrale Bestimmungsfaktoren durch die dominante Stellung der Parteien, den Parlamentarismus, aber auch durch die Bedingung der politischen als einer notwendigen professionalisierten Tätigkeit gebildet werden“64.

Während die Arbeiten von Ali und Vogel sich eng an dem Konzept von Herzog orientieren, versucht Andreas K. Gruber in seiner aktuellen Studie „Der Weg nach ganz oben“65, Herzogs Forschungen zu aktualisieren. Gruber stellt fest, dass „die zentralen Ergebnisse Herzogs nach vier Jahrzehnten keineswegs veraltet“66 sind: So gibt es in Deutschland konventionelle Karrieren in der Politik, deren zentraler Bestandteil die „Ochsentour“ ist. Zudem stellt Gruber fest, dass es auch weiterhin politische Laufbahnen als eine zweite Karriere nach und neben dem Beruf gibt. Hinsichtlich der von Herzog identifizierten „Cross-Over-Karriere“ kommt Gruber zu folgendem – wenig überraschendem – Ergebnis: „Zudem bleiben politische Quereinsteiger unter Deutschlands Spitzenpolitikern eine seltene Ausnahme, wenn man von einigen durch die Besonderheiten des Zusammenbruchs der DDR geprägten Laufbahnen von Spitzenpolitikern ostdeutscher Herkunft absieht.“67 Gruber attestiert den Jugendorganisationen einen Bedeutungszuwachs und stellt fest, dass die Karrieren von Nachwuchspolitikern immer früher beginnen würden. Die „Ochsentour“ – ob direkt in der Partei oder vorher in der Jugendorganisation – ist für eine erfolgreiche politische Karriere einer der entscheidenden Bausteine.68 Dies wird im Zuge dieser Arbeit auch noch thematisiert und dient als ein entscheidendes Kriterium, um Seiteneinsteiger von gelernten Politikern zu differenzieren. Eine weitere Grundvoraussetzung für eine poli­tische Karriere ist die Unterstützung durch eine Partei, wie Wilhelm Weege vom wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestags in seiner Studie „Karrieren, Verhaltensmerkmale und Handlungsorientierungen“ feststellt: „Dies gilt auch für die wenigen Spitzenpolitiker, die direkt aus einem privaten Beruf ohne vorgeschaltete längere politische Laufbahn in eine hauptamtliche politische Position überwechselten. Denn auch deren Auswahl und Berufung erfolgt stets auf Beschluss und mit Zustimmung von Parteigremien, und die mangelnde Parteibindung wird durch Übernahme von innerparteilichen Funktionen gewissermaßen nachgeholt.“69 Weege sieht in der „Ochsentour“ ein Erfolgsrezept, verweist aber darauf, dass politische Karrieren nur schwer planbar seien. Zu dem Ergebnis, dass Politik ein unsicheres Berufsfeld sei, kommen auch Borchert und Stolz in ihrer Studie über Karrieren in deutschen Landtagen.70 Diese Unsicherheit führe automatisch zum Phänomen der Karrierepolitiker.

In der Literatur herrscht beinahe Konsens darüber, dass es eine Professionalisierung der Politik gegeben hat.71 Dies schmälert nach Ansicht der Forscher die Chancen von externen Kräften: So vertrat Klaus von Beyme Anfang der 90er-Jahre die These, dass die Professionalisierung der Politik zu weniger Durchlässigkeit geführt habe: „Nach der ersten Regierung Adenauer hatten diese Fachmänner kaum eine Chance. Leussink war der letzte wenig erfolgreiche Fachmann ohne parteilichen Stallgeruch in einer Regierung.“72 Diese Ansichten bestätigt auch eine Studie von Heidi Z’raggen73 – und zwar in doppelter Hinsicht: Zum einen habe Deutschland im Ländervergleich ein professionelles Parlament, zum anderen steige in stärker professionalisierten Parlamenten die Verweildauer der Abgeordneten, während – logischerweise – der Anteil der neugewählten Abgeordneten abnehme. Auch Heino Kaack stellt fest, dass sich die Zugehörigkeit zum Bundestag um ein Jahr erhöht habe.74 Widerspruch dagegen gibt es von Klaus Armingeon, der in seiner Studie über die Ausbildung und Berufe der Mitglieder der Bundeskabinette zwischen 1949 und 1985 keinen Trend zum Berufspolitiker feststellt:75 „In nahezu jedem Regierungsjahr der Exekutive in Bonn ist ein ehemaliger hauptberuflicher Gewerkschaftsfunktionär, ein ehemaliger Vertreter eines Wirtschaftsverbandes oder Unternehmer, ein aus führender Position in Wirtschaft oder Wissenschaft in die Politik übergewechselter und nun hauptberuflich tätiger Politiker, ein juristisch und ein in einer anderen akademischen Disziplin ausgebildeter Berufspolitiker Mitglied des Kabinetts.“76

Erstaunlicherweise fehlen jedoch – wie eingangs festgestellt – belastbare Zahlen und weitergehende Analysen zu dem Thema. Das Ziel ist es daher, zur Schließung dieser Forschungslücke beizutragen.

1.3 Annäherung an ein politisches Phänomen: Gegenstand der Untersuchung

Zeitlich und inhaltlich wird sich mit Seiteneinsteigern in der Bundesrepublik Deutschland von der Gründung der Bundesrepublik 1949 bis 2009 beschäftigt.77 Untersucht werden dazu die Karriere-Verläufe aller Personen, die eine politische Position auf Bundesebene ausgeübt haben. Zudem werden die Parteien, die den Zugang zu diesen Positionen kontrollieren, beleuchtet. Dafür müssen zunächst die Begriffe „politische Positionen“ sowie „Parteien“, die Gegenstand dieser Untersuchung sind, festgelegt und erläutert werden. Im Hauptteil der Arbeit folgt eine empirische Bestandsaufnahme der Seiteneinsteiger in Deutschland78, ihrer Situation in den einzelnen Parteien sowie abschließend eine Aufstellung von Einstiegs- und Erfolgsbedingungen in der Politik, die anhand herausragender, aber dennoch repräsentativer Seiteneinsteiger-Karrieren erstellt wird.

1.3.1 Politische Positionen

Die Auswahl der Ämter definiert sich inhaltlich nach dem Begriff des Politikers. Darunter versteht man „eine Person, die haupt- oder nebenberuflich am politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess (z. B. in einer Führungsposition in einer politischen Partei) mitwirkt“79. Zwar erkennt die Berufs- und Professionssoziologie Politik nicht ohne weiteres als vollwertigen Beruf an,80 jedoch sind Ämter und Mandate im politischen System der Bundesrepublik durch die Verfassung, die Gesetze sowie die politische Praxis festgelegt – und können daher auch konkret benannt werden. Die Auswahlmenge lässt sich daher in drei Kategorien einteilen:

Exekutive (Ämter)

Hierunter fallen das Amt des Bundespräsidenten sowie die Mitglieder der Bundesregierung: Bundeskanzler, Bundesminister und parlamentarische Staatssekretäre81. Zusätzlich werden die Bundesminister ohne Aufgabengebiet berücksichtigt. Die Position des Leiters des Bundeskanzleramtes82 und die Regierungssprecher werden nur berücksichtigt, wenn sie – wie zeitweise erfolgt – offiziell im Range eines Ministers geführt werden. Die Trennlinie zwischen Politik und Verwaltung wird zwischen parlamentarischen Staatssekretären als politischen Funktionsträgern und beamteten Staatssekretären als Verwaltungsspitze gezogen.83

Legislative (Mandate)

Diese Kategorie umfasst die Personen, die ein Bundestagsmandat inne hatten.

Kandidaten

Unter der Kategorie „Kandidaten“ firmieren alle Anwärter auf die benannten politischen Positionen. Einzige Ausnahme stellen Kandidaten für den Bundestag dar, die aufgrund der großen Zahl nicht berücksichtig wurden.84 Es ist sinnvoll, Kandidaten in diese Arbeit zu integrieren, da sich im Wahlkampf das politische Geschäft vielleicht am intensivsten zeigt: Obwohl ohne formelles Amt85, erlangen sie mit ihrer Nominierung eine politisch einflussreiche Position, in der sie mitunter einen großen Effekt auf das politische Geschäft haben und deren Mechanismen ausgesetzt sind.86 Konkret werden Anwärter auf das Amt des Bundespräsidenten, Kanzlerkandidaten sowie, falls vorhanden, die jeweiligen „Schattenkabinette“87 berücksichtigt.

Tab. 1: Übersicht über das bundespolitische Personal von 1949 bis 2009

So ergibt sich ein Untersuchungsrahmen von 3.408 Personen auf 4.088 Positionen.

1.3.2 Parteien

Um die Erfolgsbedingungen für Seiteneinsteiger in die Politik herauszuarbeiten, werden in dieser Untersuchung auch Parteien erfasst, da diese – laut Grundgesetz – für die Aufstellung der Kandidaten verantwortlich sind. Durch die zeitliche und geografische Einschränkung auf die Bundesebene in der Bundesrepublik Deutschland kommen alle Parteien, die sich an politischen Wettbewerben auf dieser Ebene beteiligt haben, in Frage. Dennoch muss dieser Rahmen eingegrenzt werden, da die Anzahl enorm ist.88 Daher werden aus pragmatischen Gründen nur die heute noch im Bundestag vertretenen Parteien und ihre Vorgängerorganisationen berücksichtigt (in alphabetischer Reihenfolge):

• Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)89

• Christlich Demokratische Union (CDU)

• Christliche Soziale Union (CSU)

• Freie Demokratische Partei (FDP)

• Die Linke90

• Sozialdemokratische Partei Deutschland (SPD)

Typologie von Parteien

Diese sechs ausgewählten Parteien prägen seit 60 Jahren das Bild der Bundesrepublik Deutschland entscheidend. Auch wenn – gerade in jüngster Zeit – kritisiert wird, dass sich die Parteien immer stärker angleichen, so lassen sich grundlegende Unterschiede feststellen. Seit Jahrzehnten werden politische Parteien von Politikwissenschaftlern charakterisiert und eingeordnet – ein Konsens hat sich über all die Jahre jedoch nicht herausgebildet: Zu unterschiedlich sind die verschiedenen Kategorien und Einteilungsmerkmale, zu vielschichtig erscheinen die einzelnen Organisationen.91 Dennoch ist es an dieser Stelle wichtig Faktoren zu identifizieren, anhand derer sich potentielle Erklärungsmuster für die Erfolgschancen von Seiteneinsteigern in den jeweiligen Parteien ableiten lassen: Ziel ist es herauszufinden, ob sich Charakteristika einer Partei positiv oder negativ auf deren Aufnahmebereitschaft gegenüber Seiteneinsteigern und deren späteren Karriereverlauf ausgewirkt haben. Dazu werden vier Eigenschaften herangezogen (und zugeordnet), die sich an Paul Lucardies Raster92 orientieren:

Programmatik: Liberale Parteien versuchen Staat und Gesellschaft strikt zu trennen. Von den zu untersuchenden Parteien ist die FDP eindeutig dieser Gruppe zuzuordnen. Sozialisten93 möchten die Gesellschaft durch Staatsinterventionen aktiv verändern und steuern. Dabei ist die Spannbereite innerhalb dieser Familie sehr groß und reicht von Marktsozialisten, die Privateigentum nicht abschaffen, sondern vielmehr regulieren wollen, bis hin zu Plansozialisten. Als eine Untergruppe lassen sich Die Grünen oder ökologische Parteien sehen, da diese sich in der Regel nur von ihrem Verhältnis zur Natur von den „etablierten“ Sozialisten unterscheiden. Folgerichtig fallen die SPD, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen unter diese Gruppe. Konservative Parteien befürworten eine soziale Marktwirtschaft unter Mitwirkung der verschiedenen Teilnehmer wie Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften und sonstigen Organisationen. Der Staat ist verantwortlich für die Einheit der Gesellschaft und fördert die Traditionen und Institutionen. Die beiden christlichen Parteien, CDU und CSU, lassen sich dieser Untergruppe zuordnen.

Funktion im politischen System: Die sechs zu untersuchenden Parteien haben in ihrer Vergangenheit ihre Rolle im politischen System der Bundesrepublik gefunden und ausgefüllt. So gesehen lässt sich ihre Aufgabe in zwei grobe Kategorien einteilen: (potentielle) Regierungspartei vs. Oppositionspartei. Fünf der sechs Parteien sind bereits Regierungskoalitionen eingegangen und haben Personal in einer Bundesregierung gestellt. Diese lassen sich noch differenzieren in Senior- und Junior-Partner: SPD und CDU fungieren dementsprechend als potentielle Regierungspartei, die auch den Kanzler stellte; CSU, Bündnis 90/Die Grüne und FDP sind traditionell Juniorpartner. Einzig Die Linke positioniert sich auf Bundesebene ausschließlich als Oppositionspartei.

Größe und Struktur der Parteiorganisation: Nach der Anzahl der Mitglieder lassen sich auch die zu untersuchenden Parteien in große oder kleine Parteien differenzieren. Als Volkspartei gilt, wer die Mitgliederzahl von 100.000 Mitgliedern im Großteil des Untersuchungszeitraumes überschritten hat.94 Ein weiteres Merkmal sind weitreichende territoriale Gliederungen wie Orts-, Kreis- und Landesverbände, das Stellen von Fraktionen in Parlamenten auf verschiedenen Ebenen sowie eine herausgehobene Professionalisierung. Dies trifft auf CDU und SPD sowie die CSU (da sie nur in Bayern antritt) zu. Analog dazu sind alle Parteien, deren Mitgliederzahlen darunter lagen, sogenannte Wählerparteien. Hierunter fallen FDP, Bündnis 90/Die Grünen sowie Die Linke.

Milieu: Zwar verschwimmen im Zeitalter der Wechselwähler die Grenzen der klar zuzuordnenden Anhänger einzelner Parteien,95 dennoch lässt sich noch immer eine Stammklientel identifizieren und benennen: Sehr vereinfacht werden im folgenden die Wählerschaften der einzelnen Parteien als (1) bürgerlich-konfessionell, (2) traditionell-proletarisch oder (3) Klientel-dominierte Wählerschaft klassifiziert. Zu den Parteien mit eher bürgerlich (oder unternehmerisch) dominierter Klientel gehört die CDU. Über eine überwiegend proletarische Wählerschaft verfügt dagegen traditionell die SPD sowie ideologisch und von der Ansprache her die Linkspartei. FDP und Bündnis 90/Die Grüne lassen sich als Klientel-Partei klassifizieren. Die CSU als die über Jahrzehnte dominierende Partei in Bayern entzieht sich diesem Muster.

Damit ergibt sich folgende Konstellation:

Tab. 2: Einordnung der Parteien in das Typologie-Muster nach Lucardie

Diese Charakteristika werden in Kapitel „IV. Fremd in den eigenen Reihen: Seiteneinsteiger in Parteien“ in Zusammenhang mit der Seiteneinsteiger-Quote der einzelnen Partei gebracht, um Erklärungsmuster für die Einstiegs- und Erfolgschancen von Seiteneinsteigern in den jeweiligen Parteien zu finden.

1.4 Grundlage und Aufbau

Die empirische Bestandsaufnahme über Seiteneinsteiger in die Politik der Bundesrepublik Deutschland stellt den Hauptteil dar: Anhand der Definitionen wurden die Lebensläufe der Personen, die von 1949 bis 2009 eine bundespolitische Positionen bekleideten, ausgewertet und kategorisiert.96 Zusätzlich zu dieser Auswertung wurden weitere Daten erhoben: neben der Parteizugehörigkeit97 der Zeitpunkt des Wechsels in die Politik98, der vorherige Berufssektor und -status sowie soziodemografische Daten.99 Zwar gibt es in der Wissenschaft mitunter gegensätzliche Meinungen zu dieser so genannten „social background analysis“100, jedoch liefert die Analyse wichtige Anhaltspunkte, vor allem bei Karriereverläufen von Seiteneinsteigern. Dazu wurden die Standardkriterien der deutschen Parlamentssoziologie101 erhoben und beleuchtet: Alter102, Geschlecht, Konfession103, Bildungsgrad104, berufliches Betätigungsfeld (Sektor)105 und Status106. In einzelnen Gruppen wurden weitere aussagekräftige Informationen erfasst: Bei den Bundestagsabgeordneten betraf dies die Art des Einzugs in das Parlament (Direktmandat oder Landesliste), bei der Gruppe der Bundesminister die einzelnen Ressorts. Anhand einer Auswertung dieser Daten wurde eine detaillierte Bilanz über Seiteneinsteiger in 60 Jahren Bundesrepublik erstellt.107 Mit dieser statistischen Methode lassen sich vor allem zum Zeitpunkt des Seiteneinstieges, aber auch zu den einzelnen Parteien, wertvolle Ergebnisse gewinnen. Trotz der Probleme, die dieses Verfahren hat – beispielsweise bei mangelnder Datenlage, vagen Aussagen sowie eventuell irreführenden Korrelationen –, „ist die statistische Methode, zumindest für grobe Überblicke […], brauchbar und gelegentlich unabdingbar“108.

Aufbauend auf diesen statistischen Grundlagen wird mit der komparativen Methode109 die Situation in den einzelnen Parteien verglichen. Ziel ist es, herauszuarbeiten, in welcher Partei welche Erfolgsbedingungen für einen Seiteneinstieg in die Politik gelten. Dabei werden die bereits dargelegten Faktoren in Bezug zu den aufgestellten Statistiken gesetzt. Diese Methode, bisweilen auch als der „Königsweg der Politikwissenschaft“110 bezeichnet, „vermeidet auch die relative Oberflächlichkeit und Aussagearmut bloßer statistischer Korrelationen, indem sie auch den jeweiligen Kausalbeziehungen näher auf den Grund zu kommen versucht“111. Dennoch weisen Berg-Schlosser und Stammen auch auf Gefahren hin: „Eine besondere Schwierigkeit der komparativen Methode besteht darin, generalisierende Aussagen auf der Basis relativ weniger ‚Fälle‘ bei einer Vielzahl von betrachteten Variablen machen zu müssen.“112 Für die vorliegende Arbeit treffen diese Warnungen nur bedingt zu, da es sich bei „Parteien“ um ähnliche, also vergleichbare Gebilde handelt.113

Anhand ausgewählter Seitensteiger und ihrer Karriereverläufe wird schließlich ein Katalog einzelner Einstiegs- und Erfolgsbedingungen herausgearbeitet. Dabei werden – in Form von Fallstudien („case studies“)114 – Karrieren einzelner Seiteneinsteiger einander gegenüber gestellt.

2 Quereinsteiger, Seitenwechsler, Politiker: Begriffsbestimmung und Zugangsvoraussetzungen

2.1 Seiteneinsteiger in die Politik

Beginnen wir mit einer Spekulation: Angenommen Franz Beckenbauer würde eines Tages für das Amt des Bundespräsidenten kandidieren – und aufgrund seiner enormen Popularität gewählt werden.115 Alle wären sich wohl einig: Mit Beckenbauer würde ein Seiteneinsteiger in das höchste politische Amt der Bundesrepublik kommen. Doch ist das so? Beckenbauer hat professionell Fußball gespielt, war Teamchef der deutschen Nationalmannschaft, ist Kolumnist der „Bild“-Zeitung und war nie Mitglied einer Partei. Er weist jedoch auch Züge eines Politikers auf: So wurde er zum Präsident des FC Bayern München gewählt. Als Vizepräsident des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) repräsentierte er den größten Verband der Welt; als Chef des Organisationskomitees der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 (WM-OK) hat er erst eine erfolgreiche Bewerbung – oder Wahlkampf – geführt und dann ein Großereignis an verantwortlicher Position, als Präsident des WM-OKs, ausgerichtet. Und als Mitglied des Exekutivkomitees des Weltfußballverbands FIFA war der Sportpolitiker Beckenbauer von 2007 bis 2011 Teil der „Weltregierung des Fußballs“116. Ist Beckenbauer also ein Politiker? „Er ist ein reiner Politiker“, sagte beispielsweise der Seiteneinsteiger Ralf Dahrendorf. Beenden wir diese Spekulation: Würde Beckenbauer eines Tages zum Bundespräsidenten gewählt werden, wäre er ein Seiteneinsteiger. Doch das vermeintlich eindeutige Beispiel Beckenbauers illustriert, wie schwer es sein kann, den Begriff Seiteneinsteiger zu definieren. Die unterschiedlichen Facetten zeigen bereits die Vielschichtigkeit des Begriffs. So stellen die Politikwissenschaftler Micus und Lorenz relativ ernüchtert fest: „Insofern ist auch die Kategorie des politischen Seiteneinsteigers ein Konstrukt. Es gibt nicht das eine, absolute, ausnahmslos gültige Kriterium, in dem sich Seiteneinsteiger fundamental von anderen, professionellen Politikern unterscheiden.“117

118