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Bücher für Entdecker

Books on Demand bietet Autoren ein neues Verlagskonzept. Viele Debütanten, etablierte Autoren und engagierte Verleger nutzen den Publikationsservice von Books on Demand und bereichern den Buchmarkt mit interessanten und außergewöhnlichen Titeln. Vito von Eichborn, einer der innovativsten Buchmacher Deutschlands, wählt als Herausgeber für die Edition BoD herausragende Neuerscheinungen aus. Lesen Sie selbst, welche Entdeckungen das Programm von Books on Demand möglich macht.

Mehr Infos auch auf www.bod.de.

Ingrid Pfeiffer, geboren 1950 in Lehnstedt, aufgewachsen in Bremen-Blumenthal, arbeitet als Trauerrednerin und Trauerbegleiterin in Bremen, Worpswede und Umgebung. Schon von Kindheit an interessierte sie sich für Geschichte und Archäologie. Besonders die Küche und die Historie Norddeutschlands haben es ihr angetan. Einen Roman zu schreiben, in dem sich ihre Interessen unterbringen lassen, war darum reizvoll und naheliegend. Und natürlich ist die Hauptperson der Geschichte eine Köchin.

Vito von Eichborn war Journalist, dann Lektor im S. Fischer Verlag, bevor er 1980 den Eichborn Verlag gründete, dessen Programm noch heute ein breites Spektrum umfasst: Humor, Kochbücher und Ratgeber, Sachbücher aller Art, klassische und moderne Literatur sowie die Andere Bibliothek. Nach seinem Ausstieg im Jahre 1995 war er u.a. Geschäftsführer bei Rotbuch/Europäische Verlagsanstalt und sechs Jahre Verleger des Europa-Verlags. Seit 2005 ist Vito von Eichborn selbständig als Publizist tätig und fungiert u.a. seit März 2006 als Herausgeber der Edition BoD.

Inhaltsverzeichnis

Meine Buchhändlerin sagte mir, „ja“, sagte sie …

Was ist Geschichte?

Vorwech

Eine Köchin will gehen

Abschied von Bremen

Unfall mit schweren Folgen

Der Hochzeitstag

Ein elender Tag im Moor

Mordanzeige in Osterholz

Eine Katze zum Trost

Weil du eine Hexe bist!

Das Moor trägt Trauer

Wie viel Milch gibt eine Kuh?

Stechen und Ringeln

Mahlen wie in Afrika

Ein Fisch mit Fingern

Kleiner Stein, großer Stein

Der Mörder ist gefangen

Tartuffels auf dem Torf-Tisch

Dat weer dat Moorgespenst

Augen im Rücken

Unwetter

Im Würgegriff

Moortratsch

Brandgefahr

Ein Toter im Gefängnis

Nesseln kann man essen

Flucht nach Amerika

Kolonisten-Versammlung

Achterna

Nachwort

Glossar

Plattdeutsche Wörter und Ausdrücke

Rezepte

Danksagung

Meine Buchhändlerin sagte mir, „ja“, sagte sie …

Ja, das Thema hört sich gut an. Aber Worpswede und das Leben der Künstler dort ist so oft durch die Mühle gedreht worden …“

„Aber darum geht‘s doch gar nicht!

Erstens spielt das kaum in Orten, sondern vor allem tief im Teufelsmoor, und zweitens nicht vor hundert, sondern vor über zweihundert Jahren.“

„Und warum soll mich das interessieren?“, fragte sie frech. „Wenn es nicht um Kunst geht, nicht mal um Prominente der Geschichte, ja wie soll ich das verkaufen?“

„Also bitte“, ich suchte nach Worten, „zunächst mal ist dies eine Liebesgeschichte. Und es ist ein Krimi. Und …“

„Bitte genauer“, unterbrach sie mich wie so oft, „jeder gute Roman, na gut, fast jeder, ist auch eine Liebesgeschichte. Und Krimis – da drüben ist ein ganzes Regal voll. Worum geht‘s überhaupt?“

„Also, die Line ist Köchin in Bremen, und zum Entsetzen ihrer Herrschaft verliebt sie sich in Früllerk, heiratet ihn und zieht auf seine einsame Torfstelle. Grete wird ermordet aufgefunden. Claass wird zu Unrecht verdächtigt. Die arrogante Bäuerin Sandvoss schikaniert sie alle. Und der Amtsdiener hat Hunger …“

„Ja und?“, wurde sie ungeduldig, „also eine historische Kleine-Leute-Geschichte …“

„Ja, genau das!“ wurde ich schroff, „endlich mal nicht neue deutsche Befindlichkeitsliteratur aus der Nachbarschaft, die mich meist langweilt. Die neue Beziehungskiste und der Spaziergang durch Berlin und Frankfurt gehen an mir vorbei. Dieser Roman erzählt aus einer uns völlig fremden Welt – vom Leben unserer Vorfahren und den Härten des Daseins.“

„Also, ich dachte, der sozialistische Realismus sei inzwischen out“, lästerte sie nun, „vonwegen Heldentum in der Arbeitswelt …“

„Halt, nein“, rief ich dazwischen, „also nochmal von vorne.

Es geht um die Menschen und ihr Überleben im Moor. Und das ist nicht nur verdammt ergreifend – sondern wirklich auch lehrreich. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts wurde durch Kolonisten im Moor die Landgewinnung vorangetrieben. Den Commissarius Findorff, der später Moorvater genannt wurde, gab es wirklich.

Wenn man von Worpswede oder Fischerhude Ausflüge macht, erschließt sich die ganze Faszination dieser Landschaft, und …“

„Von der werden unsere Helden wenig genossen haben“, bemerkte die Buchhändlerin trocken. „Also ist das für meine Leserinnen auch so etwas wie Heimatkunde?“

„Aber ja, richtig, genau! Hier wird Buchweizen gemahlen, werden Pannkoken gebacken, gibt es Biersuppe. Und unser verliebtes Pärchen schafft es, als erste in der Gegend Tartuffels anzubauen – Köchin Line bringt auch den Zweiflerinnen Kartoffelrezepte bei.

Die Hütte auf nacktem Boden, die Torfkähne, die Tierhaltung, das Alltagserleben der Kinder, die Knechte und Mägde der Großbäuerin, die Nachbarschaftshilfe und die Härten der Natur in der Einsamkeit – ja, es entsteht so etwas wie Heimatkunde, die sehr lebendig, ja anrührend wird. Das ist absolut gründlich recherchiert …“

Sie hatte mir das Buch aus der Hand genommen und hin und her geblättert.

„Bickbeeren und Brammwien, Schlick und Schiet und Schlipp – wie norddeutsch ist das? Versteht das ein Normalmensch?“, fragte sie immer noch ein bisschen skeptisch.

„Ach was“, wurde ich kurz angebunden. „Erstens spielt das nun mal im Norden, da gehört das dazu. Dadurch wird es erst richtig echt. Und zweitens ist natürlich im Anhang ein Glossar mit weiterführenden Erläuterungen. Übrigens gibt‘s da auch ein paar Rezepte, von Labskaus bis Bremer Kloben.

Und nicht vergessen: Eine stimmige Kriminalgeschichte hält das alles zusammen. Die Interaktion der Menschen, Verdächtigungen und Klatsch, und, ja, die Arbeitswelt sind sehr anschaulich. Und natürlich wird unsere Heldin Line, die für die Alteingesessenen mit ihren modernen Einstellungen auch ein Eindringling ist, den Verbrecher enttarnen. Das ist ja kein Lehrbuch, sondern pure Unterhaltung …“

Sie hatte sich nun offensichtlich festgelesen. „Das werde ich ganz achtertüksch auch übers Kochen an die Leserin bringen“, murmelte sie, „und an Krimi-Leser, und historisch Interessierte, und, ja natürlich, an Leute, die aus Friesland oder aus Bremen kommen, und an Worpswede-Touristen …“

Die Glocke an der Eingangstür klingelte, ohne weiteres Wort eilte sie zu den Kunden.

Erstaunlich, wie meine Buchhändlerin immer alles auf den Punkt brachte, auf ihren Standardspruch: „Ein gutes Buch ist ein verkauftes Buch.“ Und ich dachte immer, es sollte vor allem gelesen werden.

Viel lehrreiches Vergnügen dabei wünscht

Vito von Eichborn

Was ist Geschichte?

Setzt sie sich nur zusammen aus den großen nachweisbaren Erlebnissen: Kriegen und Katastrophen, Dokumenten, Gebäuden und Ruinen, gefundenen Gegenständen, archäologisch Ergrabenem?

Oder gibt es dazwischen unendlich viele kleine und kleinste Ereignisse, Erfahrungen, Erlebtes, Fertigkeiten, Gelerntes, Gefühle nicht berühmter Menschen?

Vorwech

Dienstag, 7. Juni 1791 in Günnemoor im Teufelsmoor
nahe Worpswede

Fidi Fricke hastete noch vor Tagesanbruch auf dem Sanddamm nach Hause. Auf seinem schmalen Rücken baumelten zwei ausgewachsene Kaninchen, die er in einer Schlinge gefangen hatte. Er versuchte die schwindende Dunkelheit und den Morgennebel mit den Augen zu durchdringen. Die hellen Birkenstämme links und rechts des aufgeschütteten Sandweges waren ihm Wegweiser. Er durfte niemandem begegnen, schließlich war das Wilddieberei. Das Land ringsum gehörte den großen Moorbauern und dem König.

Aber wie sollte er sonst seine vielköpfige Familie satt bekommen? Torfluk, das Kalffleesch der Torfsoden, kann man ja schließlich nicht essen. Er eilte weiter und vertraute auf sein Glück. Direkt hinter der hohen schiefen Birke stolperte er. Erschrocken und leise fluchend rappelte er sich wieder auf. Er war über einen Fuß gefallen! „Das ist ja eine Frau!“, rief Fidi laut.

Warum rührt die sich denn nicht? Ich hab ihr doch mit meinen Holschen einen ziemlichen Tritt gegeben. Villicht is de von güüstern noch duun, überlegte er. Gestern auf der großen Hochzeit in Worpswede hatte es viel Gutes zu trinken gegeben.

Trotz des Nebels erkannte er, dass der Oberkörper der Frau über den Rand des Sandweges schräg nach unten zum Moorgraben hing. „Hitt di, sie wird doch nicht ertrunken sein?“ Fidi wurde ganz hibbelig. Er ließ seine Kaninchen fallen und beugte sich tief hinunter. Nein, der Hinterkopf mit der Haube war zwar nass, aber nur eine Hand baumelte im Wasser. Vom Rücken der Frau hing, verdreht und verheddert, die blau karierte Schürze an den Wurzeln der Birke fest. Er rüttelte an ihrem Arm. Sie bewegte sich noch immer nicht. Er versuchte sie umzudrehen. Aus den Augenwinkeln sah er dabei im Wasser einen Holzschuh, der sich ebenfalls in den Wurzeln der schiefen Birke verfangen hatte. Merkwürdig steif war die Frau. Fidi mühte sich, er löste die Schürze, zog und zerrte den Oberkörper auf den Damm und drehte den Körper um. „Das ist ja Grete Koop“, rief er und versuchte sie zu wecken: „Mok diene Klüsen up, Grete!“ Er nahm Gretes Kopf in die Hände und schüttelte sie sacht. Keine Reaktion, nur die Haube verschob sich. Bestürzt starrte Fidi auf seine Hände. Sie waren feucht und klebrig – das war Blut!

Grete war tot und er hatte ihr Blut an den Händen. Fidi warf sich auf den Bauch und wusch das klebrige Rot im Wassergraben ab.

Durch die Bewegung hatte sich der Holschen aus dem Wurzelwerk befreit. Fidi fischte ihn heraus. Mit dem Schuh in der Hand stand er fassungslos da und überlegte fieberhaft: „Wat schall ek nu doon?“ Ein paar Meter weiter war ein Holzbrett über den Graben gelegt. Als schmale Brücke führte es zur Hütte von Früllerk Grapenthien, der gestern seine Line geheiratet hatte.

Eine Köchin will gehen

Ein Jahr zuvor in Bremen

Lines Herz klopfte ihr bis zum Hals. Frau Eltermann kam höchst selten persönlich in die Küche. Jetzt aber stand sie direkt neben ihr an der Herdstelle. Line schöpfte mit der Holzkelle kochendes Wasser aus dem großen bronzenen Grapen und goss es auf den gemahlenen Kaffee. Sie gab braunen Zucker und feingehackte, getrocknete Orangenschale dazu. Dann rührte sie das Getränk um. Das kratzende Geräusch in dem dreibeinigen irdenen Töpfchen war unangenehm in den Ohren, doch Line hörte nicht auf zu rühren. Was wollte Frau Eltermann von ihr? Ob sie es schon wusste? Aber von wem? Sie rührte und rührte. Die gewohnten Handbewegungen beruhigten sie ein wenig.

„Line, stimmt das? Nun sprich doch schon! Oder hat Manda sich das nur ausgedacht?“ So schrill klang Frau Eltermanns Stimme nicht oft. Line schluckte, jetzt musste sie antworten: „Nein, Manda hat …“, sie holte tief Luft und fing noch einmal an zu sprechen. „Es ist wahr. Früllerk Grapenthien hat mir einen Heiratsantrag gemacht und ich habe ihn angenommen.“ So, nun war es heraus. Manda musste gelauscht haben, als sich Früllerk gestern Abend mit einem Kuss verabschiedet hatte. „Es tut mir Leid, ich wollte es Euch gern selber sagen. Ich bleibe aber noch bis zum nächsten Jahr, wenn Ihr mich lasst. Die Hochzeit soll erst am Montag vor Pfingsten sein. Bis dahin lerne ich Manda an. Sie kann doch schon gut kochen. Und wenn sie mit den Gedanken nicht so oft beim Knecht ist, dann kann sie das bald.“ Line redete beinahe ohne Luft zu holen. Dabei rührte sie ohne Unterbrechung im Kaffee. „Wie man die Festspeisen zubereitet, zeige ich ihr bis dahin auch. Von unserer alten Köchin Hanne habe ich es doch genauso gelernt. Und Hanne wohnt ja auch nicht weit im Schnoor. Auch wenn sie alt ist, sie hilft Manda ganz bestimmt, wenn mal etwas nicht klappt.“ Lines Gesicht glühte.

Frau Eltermann hielt Lines Arm fest. „Ist es nötig den Kaffee für meinen Mann so lange zu rühren?“

Erschrocken hielt Line inne, nahm den Löffel heraus und schob das Töpfchen auf die Seite zum Rand der Feuerstelle.

„Line, um die Küche und das Kochen geht es doch nicht allein. Wenn Manda es nicht lernt, dann muss ich eben eine neue Köchin anstellen. Das will ich aber nicht. Ich will dich als Köchin. Das ist aber nur die eine Hälfte meiner Sorge. Line, es geht vor allem um dich. Manda hat gesagt, du willst einen Moormann heiraten. Das kann doch nicht sein!“

Beklommen widersprach Line: „Es stimmt aber. Früllerk Grapenthien, der uns seit vier Jahren den Torf bringt. Er hat in Günnemoor, in der Nähe von Worpswede, eine Kolonistenstelle.“

Frau Eltermann schüttelte immer wieder mit dem Kopf. „Du hast doch hier schon so ehrenwerte Anträge bekommen. Ich dachte immer, die Männer wären dir nicht gut genug. Du hast ja auch was Besseres verdient. Einen Handwerksmeister vielleicht.“

„Früllerk war vorher Zimmermann hier in Bremen auf der Werft“, warf Line schnell ein.

„Und warum ist er nicht hier in der Stadt geblieben?“

„Er hatte einen Unfall und seitdem ist seine rechte Hand nicht mehr gut zu gebrauchen. Er konnte nicht mehr als Zimmermann arbeiten.“

„Also gesund ist er auch nicht!“

„Aber er hat sich schon selber einen Kahn gebaut. Mit dem bringt er uns immer den Torf“, verteidigte Line ihren Früllerk.

Frau Eltermann sah Line zweifelnd an. „Ein Mann mit einer beschädigten Hand, der nur ein paar Mal hier bei dir in der Küche war, den von uns keiner kennt, der dir sonst was erzählt hat, den willst du heiraten und dann auch noch ins Moor ziehen? Line, warum?“

„Weil ich ihn lieb habe.“ Line stiegen die Tränen in die Augen. Schon als Früllerk das erste Mal in ihrer Küche gestanden hatte, war in ihr das Gefühl: Diesen Mann kenne ich schon immer. Obwohl sie nicht wusste, wer er war, was er war und wie er hieß, fühlte sie sich gleich wohl in seiner Gegenwart. Er hatte ihr auch nichts vorgemacht, sondern ihr genau erklärt, wie es im Moor und auf seiner Stelle aussieht, dass die Arbeit dort schwer und die Hütte sehr klein ist und dass nur wenige Menschen dort im Günnemoor wohnen. Er hatte sie nicht getäuscht. Entrüstet über Frau Eltermanns Verdächtigung griff sie zum Töpfchen, um den Kaffee durch ein Leinentuch in das kleine Kaffeekännchen zu gießen. Halt, geriebene Muskatnuss hätte sie jetzt beinahe vergessen … knacks! Der irdene Topf war ihr durch die Finger gerutscht und lag nun in mehreren Teilen auf dem Fußboden. Beide Frauen wischten sich schnell die Kaffeespritzer vom Rock.

„Line, Line, was ist nur mit dir?“

„Es tut mir Leid, Frau Eltermann, das habe ich nicht gewollt. Ich wische Euch die Flecken mit einem nassen Tuch fort.“ Nach der Aufregung und der Entrüstung war ihr nun heiß vor Verlegenheit.

„Line, ich will dir nichts Böses. Ich habe nur Sorge, dass du aus einem Gefühl heraus eine Entscheidung triffst, die du später bereust. Line! Ich meine es doch gut mit dir. Na ja, und ein klein wenig egoistisch denke ich auch. Natürlich möchte ich dich behalten. Ich bekomme nie wieder eine so gute Köchin wie dich. Wenn du doch wenigstens hier in Bremen bleiben würdest, wenn du heiratest. Dann könntest du zumindest noch an Festtagen und bei Feiern weiter für mich kochen. Du bist nun mal eine exzellente Köchin. Ich war dir immer dankbar, dass du andere Angebote ausgeschlagen hast und bei mir geblieben bist. Line, steh auf, das kann doch gleich eins der Küchenmädchen aufräumen!“

Line erhob sich aus der Hocke und legte die aufgesammelten Reste des Töpfchens aus der Hand.

Frau Eltermann fasste Line bei den Schultern. „Weißt du überhaupt, was du wert bist? Als du nach dem Tod deiner Eltern mit zwölf in meinen Haushalt gekommen bist, warst du noch so ängstlich und schüchtern. Zuerst hast du nur Fußböden gescheuert. Aber Hanne hat schnell erkannt, was in dir steckt und inzwischen bist du die beste Köchin weit und breit. Seit fünf Jahren hast du die ganze Verantwortung für Küche, Speisekammer, Wirtschaftskeller und die Vorratshaltung. Das Küchenpersonal gehorcht dir und respektiert dich. Nur der Kammerdiener meines Mannes ist dir gleichgestellt. Hast du nicht unsere Anerkennung und unser Wohlwollen? Zeigen wir es dir nicht genug?“

„Doch, ich fühle mich …“

„Lass das jetzt! Line, du bist eine außergewöhnliche Frau. Sogar ganz gut schreiben und lesen hast du gelernt. Meinen Kindern hat es Spaß gemacht, dich zu unterrichten. Und der Hauslehrer hatte sich doch wohl auch ein wenig in dich verliebt und unterstützte die Kleinen nur allzu gerne.“

„Ich habe aber nie …“

Frau Eltermann wehrte Lines Protest ab: „Und du kannst noch mehr. In den Straßen rund um die Martini-, Ansgarii- und Liebfrauen-Kirche, im Rathaus und im Schütting, sogar auf dem Domgelände bist du bekannt. Ohne dein kriminalistisches Gespür wäre das Rätsel um den Mord des Kaufmanns nie gelöst worden. Für deinen Einsatz wurdest du von der Bremer Kaufmannschaft gelobt. Sogar der Obergerichtsprokurator Senator Droste empfing dich. Hast du das vergessen? Du wirfst dich und deine Talente weg, wenn du ins Moor gehst.“ Frau Eltermann schüttelte Line sanft und ließ sie dann abrupt los.

„Line, guck dich mal um. Du hast hier alle Bequemlichkeiten. Eine hochgemauerte Herdstelle mit modernem Rauchfang, eine Speisekammer mit Eingepökeltem und Geräuchertem. Du kannst jeden Tag auf dem Markt einkaufen. Du weißt, welche Nahrungsmittel wann zu kaufen sind, wie jede Sorte zu verwerten und zu lagern ist. Niemand kennt sich mit den exotischen Spezereien so gut aus wie du. Die Tartuffel mit Ochsenfleisch waren ein Gedicht. Alle haben dich bewundert. Oder das Kakaogetränk mit Rohrzucker aus Haiti, dafür bist du berühmt. Willst du, dass ich um dein Bleiben bitte und bettele?“

„Ich bitte und bettele jedenfalls energisch um meinen Kaffee. Muss ich selber kommen und ihn holen, nur weil mein Diener mit einem Auftrag außer Haus ist?“ Polterig stampfte Cornelius Eltermann, der Hausherr und Kaufmann in die Küche. „Und was machst du hier in der Küche?“, erkundigte er sich bei seiner Frau. „Haben wir nicht genug Personal?“

Line drehte sich erschrocken zu ihm um. „Ich habe ihn fallen lassen. Den Kaffee, meine ich. Das ganze Töpfchen. Ich koche sofort neuen für Euch.“

„Nein, das tust du nicht. Cornelius, du kannst dir denken, es hat schwerwiegende Gründe, dass ich hier in der Küche bin. Line will heiraten.“

„Aber warum ist deine Stimme deshalb bis ins Kontor hinein zu hören? Line, nichts für ungut, wir sollen uns sicher mit dir freuen. Und solange, wie du mir weiterhin meinen Kaffee kochst, tu ich das auch. Wer ist denn der Glückliche, unser Hauslehrer oder der junge Braumeister, der im letzten Herbst ständig kam?“

„Nein, Cornelius, deshalb bin ich ja so aufgebracht. Es ist der Mann, der uns immer den Torf bringt. Ein Kolonist aus dem Moor. Und Line will zu ihm ziehen.“

Jäh wurde aus dem neckischen Gesichtsausdruck des Kaufmanns ein erschrockener. „Verdammt, das ist ein Witz, Line, nicht wahr?“

Line fühlte sich inzwischen nur noch elend. Gestern Abend war sie so glücklich gewesen. Natürlich hatte sie in der Nacht überlegt, wie Eltermanns wohl auf ihre Heiratspläne reagieren würden. Aber das beide so fassungslos wurden, hätte sie nicht gedacht.

„Cornelius, es kommt noch schlimmer. Der junge Mann ist auch noch körperlich eingeschränkt. Sicher braucht er Line nur als willige Arbeitskraft.“

„Es ist doch nur seine rechte Hand. Und greifen kann er mit ihr ja, nur zupacken und festhalten, das geht nicht.“ Line verteidigte ihren Früllerk. „Und arbeiten kann er auch. Schließlich hat er seinen Torfkahn trotz der kaputten Hand selber gebaut.“

Der Kaufmann schwächte mit einem Lächeln die Anschuldigung seine Frau ab: „Sophie, nun mal langsam. Im Moor braucht es Menschen mit Kraft, da hast du Recht. Aber dass sich ein Mann ausgerechnet Line für schwere Arbeit aussucht, das glaube ich denn doch nicht.“ Er lächelte wieder und zeigte mit Daumen und kleinem Finger eine Spannbreite. „Größer ist Lines Bauchumfang doch sicher nicht!“

Line holte tief Luft und wollte protestieren.

„Ich weiß, Line, du bist groß und stark. Sophie, aber ganz ehrlich, eine so kleine und zierliche Person sucht sich niemand zum Arbeiten aus. Line, du bist still“, wehrte Herr Eltermann Lines Einwand ab. „Hat der junge Mann gesagt, warum er dich heiraten will?“

„Er hat mich lieb und ich habe ihn lieb!“, entgegnete Line laut und trotzig.

„So, so, lieb haben. Vor der Hochzeit. Sophie, da können wir beide nicht mitreden. Wir wurden miteinander verheiratet. Und ich freue mich jeden Tag über die gewachsene Liebe zwischen uns“, endete er geschickt seiner Frau zugewandt. „Liebe ist allerdings auch ein Grund zum Heiraten. So, nun aber genug davon. Line, wir gönnen dir eine Liebe und auch eine Ehe. Schließlich bist du nicht mehr ganz jung. Du musst doch schon mehr als zwei Jahrzehnte alt sein, oder?“

Line nickte nur, der Tonfall des Herrn Eltermann war inzwischen ernst. Ihr Herz begann wieder stark zu klopfen.

„Line, ich war doch einmal mit dem Moorcommissarius Jürgen Christian Findorff im Moor. Alles war dort fremd und ungewohnt. Die Menschen verhielten sich mir gegenüber sonderbar zurückhaltend. Sie haben mich nur beobachtet, aber kaum auf meine Fragen geantwortet. Sie sprechen dort auch anders und ziehen sich anders an. Die Bräuche sind dir unbekannt. Du wirst dich dort nicht wohl fühlen, glaub mir! Ob Liebe das alles aufwiegt?“ Line hörte weiter zu, aber der Anfang des Gesprächs blieb überdeutlich in ihrem Kopf. Herr Eltermann sprach nun von mehr Jahreslohn und noch mehr Freiheit, wenn sie das Verlöbnis bräche und bliebe. Wie seine Frau erinnerte er sie ebenfalls an all die Fertigkeiten, die sie beherrschte. Und er lächelte: „Nur Findorff würde sich freuen, dich im Moor zu treffen. Du weißt ja, die beiden Male, die er hier in Bremen war, weil er über die Versteuerung der Torfkähne verhandeln musste, hattest du sein ganzes Wohlwollen. Aber wer backt ihm nun den Baumkuchen, so wie er seit kurzem in Salzwedel üblich ist? Das beherrschst doch nur du. Und ohne deine moderne Küche hier im Haus wirst du gar nicht mehr backen können. Line, ich muss meiner Frau Recht geben: Du hast was Besseres verdient als einen Kolonisten im Moor.“

„Es ist Besuch gekommen!“ Herr Eltermanns Kammerdiener beendete mit seiner Botschaft das Gespräch.

common

Line kochte noch einen größeren Topf Kaffee und für die Damen ihr begehrtes Kakaogetränk. Manda hatte das große Küchenmesser am Schleifstein neu geschärft und gab es Line. Der Baumkuchen bröckelte leicht, darum musste er behutsam mit der scharfen Klinge geschnitten werden. Wie oft kann ich wohl noch Baumkuchen backen, schoss es ihr durch den Kopf. Sie legte die Kuchenscheiben vorsichtig auf den chinesischen Porzellanteller, füllte die Zitronencreme in das dazugehörige Schälchen und nahm Manda die englischen Brotröllchen ab. Ob Früllerk wohl Geschirr hat, überlegte sie, während ihre Hände automatisch weiterarbeiteten. Er hat ja gesagt, es sei alles sehr einfach bei ihm, richtig primitiv. Ich würde viel vermissen.

Während sie die Puddingform öffnete, blickte sie sich um. Sie war so stolz auf ihre moderne Küche. Denn sie benutzte zusätzlich zum althergebrachten Kessel mit Haken unterschiedlich große Grapen und Pfannen, Bratspieße und Roste, Kasserollen und Fischkessel. Sie brauchte täglich den Kaffeeröster und die Mühle für Herrn Eltermanns Lieblingsgetränk. Mörser, Waage und Hackbrett, Durchschlag und Trichter, unterschiedlich große Puddingformen standen auf den Regalen. Das Salzfass hing trocken neben der Herdstelle an der Wand.

Line seufzte. Der Pudding duftete lecker nach Ingwer. Ob es im Moor auch Ingwerknollen zu kaufen gab? Sie legte einen Teller auf die Öffnung, hielt gut fest und kippte die Form behutsam um. Mit einem Ruck sank der Pudding auf den Teller. Ob Früllerk diesen Ingwerpudding wohl mögen würde? Wenn ich keine Form im Moor habe, kann ich ihn aber nicht kochen. Was werde ich dort wohl kochen können? Lines Gedanken wechselten ständig zwischen dem kleinen Frühstück, das sie für den Besuch vorbereitete und der Zukunft im Moor hin und her. Sie wusste nicht, was sie erwartete. Waren die Häuser wirklich so dunkel und ständig vom offenen Feuer verqualmt? Stand dort tatsächlich knöcheltief Wasser auf dem Boden und das Dach setzte Schimmel an? So hatte es Herr Eltermann gerade beschrieben. Line konnte es sich nicht vorstellen. Dort wohnten doch auch Menschen mit dem Bedürfnis nach Bequemlichkeit und Wärme, nach Essen und auch nach Liebe und Zärtlichkeit. Und die würde sie von Früllerk bekommen. Und für gutes Essen könnte sie überall sorgen, davon war sie überzeugt.

Abschied von Bremen

Sonntag, 5. Juni 1791

Line war aufgeregt, als sie in der Morgendämmerung durch die Bremer Schlachtepforte zur Weser ging. Fast ein Jahr war seit Früllerks Heiratsantrag vergangen. Die beiden Weidenkörbe mit ihrem ganzen Besitz trugen die Eltermannschen Knechte. Früllerk wartete an der Schlachte mit seinem Torfkahn. So war es verabredet worden, als er das letzte Mal, außer der Reihe, an Ostern nach Bremen gekommen war. Die Familie Eltermann hatte einsehen müssen, dass Line nicht in Bremen bleiben würde. Mit ehrlich gemeinten guten Wünschen hatte sich das Kaufmannspaar gestern Abend verabschiedet. Ulrich und Victoria, die beiden jüngsten Kinder der Familie, durften Line heute zum Abschied begleiten.

„Line, wann heiratest du den Mann aus dem Moor? Hat er wirklich nur eine Hand?“, fragte Ulrich.

„Du hast doch gehört, was Manda erzählt hat. Er war früher Kaperer, ein Pirat auf einem großen Schiff und ein Schurke hat ihm im Kampf die Hand abgehackt“, fuhr Victoria trotzig dazwischen.

Ulrich blickte hilfesuchend zu Line hinüber: „Line, das stimmt doch nicht, oder? Kaperer gibt es doch nicht mehr.“

„Wohl, die gibt es doch! Hat Manda gesagt.“ Victoria presste eigensinnig ihre Lippen zusammen.

„Manda, die weiß doch gar nichts!“ Ulrich bemühte sich überlegen und erwachsen zu wirken: „Der Mann aus dem Moor hatte einen Unfall, darum hat er nur eine Hand.“

„Hat er damit sein Boot gebaut? Wie hat er denn das Holz festgehalten, wenn er nur eine Hand hat?“

Line lächelte. So ging es mit den beiden immer. Sie würde die viele Fragerei sehr vermissen.

Früllerk sprang von seinem Torfkahn und stieg die Stufen der Schlachtetreppe hoch. Er hätte Line jetzt gern in den Arm genommen, aber bei so viel Begleitung ging das natürlich nicht.

„Bist du der Mann aus dem Moor?“

„Mensch, Victoria, das siehst du doch!“

„Aber der hat doch zwei Hände, das ist der falsche Mann!“

„Er ist schon der richtige Mann“, lachte Line. „Das ist Früllerk Grapenthien, mein Bräutigam.“

Die beiden Knechte stiegen die Stufen bis zum Kahn hinunter. Sie hoben die Körbe auf das Deck, kamen wieder hoch und standen nun neugierig neben den Kindern. Mit Kennerblick begutachteten sie den Kahn. Victorias Interesse galt mehr Früllerk.

„Du, Bräutigam, hast du dein Schiff selber gebaut?“

Früllerk lächelte auf das Kind hinunter: „Ja, mein Deern, das habe ich. Aber mein Nachbar Hans, der hat mir dabei geholfen.“

„Siehst du“, Ulrich fühlte sich seiner kleinen Schwester gegenüber wieder einmal überlegen. „Ich wusste doch, dass er das mit seiner einen Hand nicht allein kann.“

„Aber er hat doch zwei Hände!“

„Nun ist es gut!“ Line beendete den kleinen Streit zwischen den Kindern. „Früllerk hat noch seine beiden Hände. Er zeigt euch sicher die Narbe, wenn ihr ihn fragt.“

Früllerk wurde immer noch verlegen, wenn die Rede auf seine beschädigte Hand kam. Den Kindern mochte er jedoch die Bitte nicht abschlagen. Die Knechte zeigten sich aber genauso interessiert und kamen noch näher. „Hier, der rote Strich da auf meinem Handrücken, da hat mich eine Dechsel getroffen. Es hat tüchtig geblutet und dann ist es wieder zusammengewachsen.“

„Hat das ganz doll wehgetan?“ Victoria flüsterte es, denn sie war selber vor einigen Tagen gefallen und die blutige Schramme am Knie hatte höllisch gebrannt. Der Bräutigam tat ihr sehr Leid.

Auch die beiden Knechte starrten auf die wulstige Narbe. „Damit warst du doch sicher beim Wundarzt, oder? Und es ist kein Brand entstanden? Da hattest du aber großes Glück!“

Früllerk war die viele Fragerei unangenehm, aber er wollte nicht unhöflich sein, weil doch Line dabei stand. „Ja, es ist gut verheilt, aber inwendige Muskeln sind zerstört und darum kann ich nicht mehr fest zupacken.“ Er demonstrierte es: „Langsam auf und zu machen kann ich die Hand, auch einen leichten Gegenstand halten, mir rutscht aber alles immer wieder raus. Gesund bin ich wieder, aber meinen Beruf als Zimmermann musste ich an den Nagel hängen.“

„Und dann bist du mit deinem Boot bis ins Moor gesegelt und Moormann geworden und jetzt bist du ein Bräutigam.“ Das war Victoria das Wichtigste.

Line hatte gemerkt, wie unwohl sich Früllerk bei der Fragerei fühlte. „Wir müssen jetzt wohl fahren, Früllerk?“

„Ja, es ist Zeit. Der Weg von Bremen bis ins Moor ist weit.“

„Wie weit?“ Victoria fand den Bräutigam nett und wollte ihn noch nicht fahren lassen. „So weit, wie bis zum Dom?“

Daraufhin lachten alle lauthals und Victoria zog beleidigt eine Schnute. Der Weg zum Dom, das war eine Strecke von wenigen Minuten zu Fuß.

Früllerk erklärte es ihr: „Wenn du heute Abend zu Bett gehst, dann erst sind Line und ich im Moor. Wenn die Flut und der Wind uns wohl gesonnen sind. So, nun müssen wir aber fort!“ Er fasste Line bei der Hand und zog sie langsam mit sich.

„Tschüss, Line, komm bald wieder!“ Victoria und Ulrich standen noch lange am Ufer der Weser und winkten dem Kahn hinterher.

common

Line wurde ganz wehmütig. Hier war sie geboren und aufgewachsen. Alles, was sie konnte, hatte sie bei Eltermanns gelernt. Nun würde sie das alles für eine ungewisse Zukunft aufgeben. Line versuchte die Tränen, die plötzlich kamen, fortzuzwinkern. Sie sah die Reihe der Lagerhäuser an der Schlachte nur noch undeutlich und hielt die Luft an. Sie wollte nicht schluchzen, denn sie freute sich doch auf die Hochzeit. Eine plötzliche Bootsbewegung zwang sie zu atmen und schon flossen die Tränen. „Line!“ Früllerks Stimme war warm und mitfühlend. „Ich muss jetzt das Boot steuern und kann dich nicht trösten. Lass die Tränen laufen, dann wird es bald besser. Wenn ich den Wintertorf bringe, kannst du mitkommen, wenn du willst.“ Früllerk wollte ihr den Abschied leichter machen.

Line zwang sich ihn anzulächeln. Sie schluckte ein paar Mal und atmete tief durch. Es wurde wirklich besser.

common

Von der Weserseite aus erkannte sie ihre Stadt kaum wieder. Dass sie die Brautbrücke unterquerten, war auch von unten festzustellen, aber die Strecke am Osterdeich entlang war ihr schon richtig fremd. Hierher war sie nur selten gekommen. „Line, dies ist der Dobbengraben.“ Früllerk drehte den Kahn von der Weser weg in den Wassergraben hinein. Einige Minuten später lenkte er ihn mit umgelegtem Mast unter dem Bogen der Steintorsbrücke hindurch. „Line, da“, er zeigte mit dem Finger auf eines der Häuser, „da bin ich geboren. Und hier auf dem Geländer haben wir Jungen gesessen und geangelt. Auch balanciert sind wir darauf, als Mutprobe, aber das durfte meine Mutter nicht wissen.“ Früllerk lächelte bei der Erinnerung. „Hier habe ich geträumt einmal ein Schiff zu bauen, ein ganz großes. Der Traum ist ja später auch in Erfüllung gegangen, als ich auf der Werft an großen Schiffen mitgebaut habe.“

Line hörte die Sehnsucht in seiner Stimme. „Du bist gern Zimmermann gewesen, ja?“, fragte sie leise.

Früllerk nickte: „So gern, wie du Köchin bist. Gewesen bist, bis heute. Ich musste durch den Unfall aufhören, aber du hast freiwillig aufgehört.“

„Weil ich dich lieb habe, Früllerk.“

„Tut es dir nicht schon Leid alles aufzugeben? Noch kannst du zurück. Wir sind noch nicht aus Bremen raus. Der ganze Kuhgraben liegt noch vor uns.“

Line schüttelte energisch den Kopf: „Nein, Früllerk, ich habe mich vor einem Jahr für dich entschieden. Ich gebe zu, Eltermanns haben alles versucht mich zu halten. Aber als ich dich vorhin auf dem Kahn stehen sah, da wurde mir ganz warm. Ich will bei dir sein.“

Das Boot schrammte plötzlich über den Grund. Früllerk lächelte zwar liebevoll, hatte aber tüchtig zu tun das Boot mit dem Staken zu bewegen. Immer wieder stieß er die lange Holzstange in den Grund des Grabens und drückte dann mit seinem ganzen Gewicht dagegen. Es sah aus als ob er das Boot auf diese Weise schob. „Hier am Pagentorner Feld ist es immer schwer voranzukommen“, erklärte er Line, als der Kahn wieder leichter fuhr. „Aber auch die Hamme, der Fluss, der ins Moor führt, ist durch viele Windungen oft seicht, da muss ich viel staken. Darum ist das Boot unten ganz flach. So rutscht es besser durch den Schlick. Es bleibt aber doch eine ganz schön schwere Arbeit. Das Ufer ist modderig und der Staken sinkt zu tief ein. Dann geh ich lieber ans Ufer, setze den Staken in den Bug und drücke das ganze Boot weiter. Jetzt, wo du da bist, Line, kannst du an solchen Stellen am Ufer mit einem Seil vorn ziehen und ich drücke von hinten. Dann wird es leichter.“

Line wollte sofort helfen, aber Früllerk lachte: „Heute ist das nicht nötig. Da der Kahn ohne Torf nicht so schwer ist, kann ich das gut allein. Lass du dich man fahren. Ich spendier dir eine Vergnügungsfahrt bis ins Moor!“

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Line schmunzelte, sah sich dabei aber genau um. Es sah schon ganz anders aus als in der Stadt. Die Häuser standen weit auseinander und waren niedrig und gedrungen, nicht schmal und hoch, wie in der Langenstraße. Die Gärten ähnelten Feldern, so groß waren sie. Korn wuchs dort und viel Kohl. Immer weiter entfernte sich das Boot von Vertrautem. Line hielt sich an der Bootswand fest und blickte unentwegt auf Früllerk. Er gab ihr Sicherheit. „Gleich sind wir an der Wümme. Hast du was zu verzollen?“

Line sah erschrocken hoch.

„Hab keine Angst, das ist normal. Auch Gebühren fallen jedes Mal an, wir verlassen nämlich nun die freie Hansestadt Bremen und kommen auf königliches Gebiet.“

Zu verzollen hatten sie nur die Kruke Brantewein, aber bei Dammsiel mussten sie auch Schlipp-Gebühren bezahlen. Line sah das erste Mal, wie ein Boot über den Blocklander Deich gezogen wurde. Erst danach konnten sie das braune Segel nutzen und fuhren nun mit gutem Wind ins Moor.

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Die Landschaft veränderte sich zusehends. Alles schien so weit entfernt. Selbst die Bäume am Rand des Horizonts waren im Dunst nur verschwommen zu erkennen. Ein lang gezogenes Haus mit einem Strohdach tauchte auf der linken Uferseite auf. „Es steht auf einem kleinen Hügel, der von den Bewohnern eigenhändig aufgeschüttet worden ist“, erklärte Früllerk, der dem Blick seiner Liebsten gefolgt war. „Mehrmals im Jahr ist hier alles überschwemmt, darum ist solch eine Wurt notwendig. Aber um Ostern herum ist es auf der rechten Seite der Wümme gelb von Sumpfdotterblumen. Das sieht herrlich aus. Und guck, Line, gleich hinter der Wasserhorster Kirche werden wir rechts in die Hamme einbiegen. Da vorn siehst du schon das Dorf.“

Früllerk erzählte und erklärte. Er hatte seine Line mehrere Wochen nicht gesehen, selten waren sie allein gewesen und niemals so lange Zeit.

Beim Einbiegen in die Hamme zeigte er: „Line, guck, das hier ist das Wasserland. Und da auf der linken Seite heißt der Fluss Lesum, er fließt bis in die Weser. Ich bin im Frühjahr dort entlanggeschippert, um neue Abnehmer für Torf zu suchen. Bei Blumenthal konnte ich mit dem Torfkahn in der Aue sogar wenden, so breit ist sie da. Darum ist die Aue-Brücke ein wichtiger Anlegeplatz für uns. Die Blumenthaler können direkt vom Schiff aus kaufen. Weserabwärts gibt es noch mehrere Dörfer. Aber zuerst müssen wir fleißig Torf stechen. Line, du und ich!“, meinte er und guckte etwas skeptisch auf ihre Gestalt. „Das ist schwere Arbeit, aber du wirst dich bestimmt dran gewöhnen. Alle Frauen hier helfen ihren Männern.“

„Ich bin ja auch groß und stark“, entgegnete Line und wurde fast ein bisschen böse. „Warum müssen mir immer alle meine Größe und mein Gewicht unter die Nase reiben? Ich bin schließlich nur ein klein wenig kleiner als andere. Und für meine Magerkeit kann ich nicht.“ Line aß gern und auch viel. Aber nichts schlug an. Sie hatte nun mal eine zierliche Figur, das sagte jedenfalls ihr Bremer Pastor.

Heimlich hatte sie sich darum einen Unterrock mit unendlich vielen Falten genäht. Der trug in der Taille und über den Hüften auf und machte sie dicker. Frau Eltermann hatte den Schwindel aber gleich durchschaut und gelacht. Und bei der Hitze in der Küche war der dicke Rock unangenehm. Line hatte ihn nur selten getragen. Bei diesem Thema war sie sehr empfindlich und wurde leicht wütend.

„Du weißt, dass gerade deine Figur das erste war, was mich an dir gefangen nahm“, besänftigte Früllerk seinen ärgerlichen Schatz. Er erklärte versöhnlich mit beruhigender Stimme weiter: „Wir transportieren und verkaufen auch den Torf von Hans, unserem Nachbarn. Louise ist seine Frau, von den beiden habe ich dir ja schon öfter erzählt. Ich habe inzwischen so viele Aufträge, dass mein Torf nicht mehr reicht. Allein kann ich nicht so viel stechen. Vor allem mit der kaputten Hand nicht. Aber Louise und die Kinder arbeiten mit Hans zusammen. Und vielleicht kann ich ja auch noch andere Nachbarn überreden mir den Torf mitzugeben.“

Die Hamme hatte an Ritterhude entlang nur wenige Biegungen und floss darum schneller. Seitwärts wuchsen nur einige Grasbulten, zwischen denen das Wasser schimmerte. Mit dem Wind kamen sie im Fahrwassser zügig voran. Die Landschaft wurde immer karger, der hohe Himmel hing über der unendlichen flachen grünen Weite des Moores. Line war inzwischen müde geworden, Früllerks Stimme erreichte sie nur noch von weitem.

Plötzlich schreckte das Boot Enten am Ufer aus dem Schilfröhricht auf, laut schnatternd flogen sie knapp über dem Kahn hinweg. Line riss, genauso erschrocken wie die Tiere, die Augen auf und wurde wieder munter.

Da sie so schon so lange unterwegs waren, meldete sich langsam der Hunger. Line entnahm einem der beiden Strohkörbe ein Bündel, wickelte es aus und stellte einen Topf auf den kleinen Ofen mit Schornsteinrohr. Sie hatte Früllerks Lieblingsgericht – Labskaus – gekocht. Es sollte eine Überraschung für ihn sein. Sie hatte extra frisch gebackenen Zwieback dazu genommen. Das kleine Torffeuer war bald entfacht. Als der Duft von Labskaus zu Früllerk wehte, gab er seiner Liebsten schnell einen Kuss. Da er mit seiner gesunden Hand den Kahn lenken musste, fütterte ihn Line. Beide wurden ganz ausgelassen dabei und prusteten vor Lachen, als Line beim Pellen ein gekochtes Ei über die Reling des Bootes fiel. „Da werden sich die Fische aber freuen! Wirf ihnen doch noch etwas Labskaus hinterher!“, neckte Früllerk. „Das wird ihnen ein Festmahl sein.“ Sie genossen dieses erste ganz private Beisammensein in vollen Zügen.

Kurz hinter dem Nadelkissen, der kleinen rundlichen Insel, bogen sie mit dem Kahn rechts in einen schmalen Graben ein und machten das Boot am Landungsplatz fest. „Bis Worpswede müssen wir nun noch ein Stück zu Fuß gehen“, erklärte Früllerk. Sie gingen einen zum Damm aufgeworfenen Sandweg zwischen grünen, aber nassen Wiesen und einer Windmühle entlang. Ein harziger Geruch erfüllte die Luft. „Hier riecht es nach Porst“, sagte Früllerk im Weitergehen. Gemeinsam trugen sie den Weidenkorb mit Lines Sonntagskleid und den beiden gut in Leintuch gewickelten Kloben. In seiner gesunden Hand hielt Früllerk eine große braune Kruke Brammwien, den guten Bremer Brantewein. Alles war für die Hochzeit bestimmt.

Bei den ersten Worpsweder Bauernhöfen begann der Sandweg ziemlich steil anzusteigen. „Das ist der Weyerberg“, deutete Früllerk nach vorn. „Auf der flachen Anhöhe vorn steht die Kirche mit dem hölzernen Turm in der Mitte des Daches. Es heißt, Jürgen Christian Findorff hat sie geplant und bauen lassen. Du kennst ihn ja, hast du mir erzählt. Früher soll dort ein Schloss gewesen sein. Hier, die Scheune heißt noch Slott-Schüün.“

Früllerk wusste viel über den Weyerberg und die Kirche, denn er war mehrmals gekommen, um mit dem Pastor alles für die Hochzeit zu regeln. Da der Geistliche Früllerks Interesse bemerkte, hatte er ihm seine Fragen gern beantwortet.

Zwischen den Grabsteinen hindurch führte der Weg zur Kirchentür. Am Rand des Friedhofs standen Pfarrhaus und Pastorenscheune. Der Pastor begrüßte beide mit Handschlag. Lines Hand hielt er etwas länger und schaute sie forschend an: „Na, Line, wirst du dich im Moor zurechtfinden und hier heimisch werden? Hier ist es anders als in der Stadt! Du wirst sehr viel Gottvertrauen brauchen! Aber du kannst jederzeit zu uns kommen, wenn du Kummer hast.“

„Vielen Dank auch, Herr Pastor“, mehr wusste Line nicht zu sagen. Ihr Herz begann schnell zu pochen und das blieb noch lange so.

Die Frau Pastor nahm sie im Haus freundlich in Empfang, schickte aber Früllerk fort: „Früllerk, morgen ist sie deine Frau. Heute können wir dich hier nicht brauchen. Line wird es bei mir an nichts fehlen, verlass dich drauf!“

Line erhielt eine Schlafstelle in der Butze der Mägde zugewiesen. Frau Pastor wollte ihr später die Hochzeitskrone zeigen. Und dann, so hatte sie angekündigt, gäbe es noch etwas Wichtiges zu besprechen. Line war beunruhigt – was gab es denn zu besprechen?

Ein lauter Schrei riss sie jäh aus ihren Gedanken. Sie lief auf das Flett und schaute um sich. Frau Pastor stand am langen Tisch und wirkte aufgebracht. Line wollte helfen und fragte vorsichtig: „Was ist denn passiert?“

„Schau dir nur den Käse an“, klagte Frau Pastor und zeigte auf eine irdene Schüssel. „Ich habe ihn extra 24 Stunden geräuchert, damit keine Würmer an ihn gehen. Und jetzt sieh selber, alles voller Käsemaden. Das muss am warmen Wetter liegen. Was mach ich jetzt nur? Der Herr Pastor isst doch abends so gern ein Stück davon. Ich werde ihn wohl abwaschen müssen, aber wenn er doch eine Made findet? Er ist da sehr genau. Was mach ich nur, was mach ich nur?“

Line sah die Frau des Pastors erstaunt an: „Frau Pastor, darf ich Euch einen Rat geben?“

„Du, was weißt du denn über Käse?“, rief Frau Pastor. „Deern, du kennst doch nur Quark und Kochkäse, aber echten Labkäse?“ Sie fuchtelte nervös mit den Händen und schaute dabei etwas herablassend auf die junge Frau. Line war so klein und zart und wirkte still und zurückhaltend. Frau Pastor hatte sich so ihre Gedanken gemacht, nachdem sie von Früllerks Hochzeit erfahren hatte.

Eine Frau, die aus der Stadt ins Moor kommt, die freiwillig die Schwerstarbeit und die Kargheit auf sich nimmt, die ist sicher unbedarft. Die Feuchtigkeit im Moor, die grausam schwere Arbeit, Unfälle und Krankheiten, das lockt doch nur Menschen, die nirgendwo sonst Arbeit finden, die etwas zu verbergen haben oder die Tragweite ihrer Entscheidung nicht begreifen. Sind sie erst einmal auf ihrer Moorstelle, gibt es kein Zurück mehr. Niemand stellt einen ehemaligen Moor-Jan ein. Die Körper von Männern und Frauen, ja selbst schon der Kinder, sind früh verbraucht und verfallen. Ausgemergelt und hohlwangig, mit tränenden Augen durch den ständigen Torfrauch, immer hustend, schwindsüchtig, so werden die Kolonisten nach wenigen Jahren. Der Tod hält bei ihnen reiche Beute. Aus freien Stücken geht niemand ins Moor.

Frau Pastor hatte sich von Früllerks Braut ein deutliches Bild gemacht: In Bremen auf einer unerträglichen Arbeitsstelle wirkte das fremde Leben im Moor wahrscheinlich erstrebenswert. Und sicher war Line genauso verliebt wie Früllerk und hatte alle Bedenken verworfen.

Sie erinnerte sich daran, wie ihre Eltern den Mann für sie ausgewählt hatten. Sie führte eine gute Ehe, sie ehrte und schätzte ihren Mann inzwischen sehr. Aber Liebe? Das war ein Gefühl für schlichte Gemüter. Line war im doppelten Sinne naiv. Liebe und ins Moor heiraten, welch eine Dummheit! Und richtigen Käse hatte so eine Deern bestimmt noch nie gesehen – oder gar in der Hand gehabt.

Sie war darum äußerst erstaunt, als Line mit Bestimmtheit sagte: „In Bremen in meiner Küche duldete ich jedenfalls keine Maden. Aber im Sommer kommen die kleinen Würmer nun mal. Und der holländische Käse, der Edamer, der wimmelte nach der langen Reise nur so von ihnen.“

„Der holländische Käse …?“

„Ja, der Edamer gehört zu den Leibspeisen von Herrn Eltermann, meinem bisherigen Dienstherrn.“

„Der Bremer Kaufmann Cornelius Eltermann?“

„Ja, kennt Ihr ihn?“, fragte nun Line erstaunt.

„Er hat vor einiger Zeit zusammen mit Herrn Findorff hier bei uns in Worpswede übernachtet und sich dabei im Moor umgesehen. Aber“, meinte die Pastorenfrau ehrfürchtig: „Herr Eltermann ist sehr wohlhabend.“

„Ja, das ist er wohl“, Line sah Frau Pastor fragend an.

„Und … du hast in seiner Küche gearbeitet?“ Frau Pastor sah Line mit erwachendem Interesse an.

Line schaute wieder auf den Käse: „Wir sollten jetzt sofort den Käse in starkes Salzwasser legen, die Maden kommen dann raus und sind schnell tot. Bis der Herr Pastor zu Abend isst, schaffen wir es. Und für die Zukunft legt Ihr frische Johanniskrautzweige mit in die Schüssel. Den Geruch mögen die Maden nicht.“

„Wenn deine Köchin in Bremen das so gemacht hat, dann wird das wohl ein gutes Mittel sein“, meinte nachdenklich Frau Pastor. „Sie ist ja schließlich Köchin im Hause Eltermann!“

„Nicht ist, sie war es“, entgegnete Line.

„War …?“

„Frau Pastor, ich bin ja nun hier. Frau Eltermann hat jetzt nur Manda als Köchin. Ich habe sie lange Zeit angelernt, aber sie hat ihre Gedanken doch zu oft beim Knecht und dann brennt ihr das Fleisch an. Und den Kaffee, den Herr Eltermann so gern trinkt, den würzt sie viel zu stark, obwohl ich es ihr schon so oft gezeigt habe.“ Line seufzte.

„Du? Du warst Köchin bei Eltermanns? Haben sie denn mehrere Köchinnen?“

„Nur eine Hauptköchin, das bedeutet doch sicherlich Eure Frage?“, fragte Line mit einem leicht spöttischen Unterton in der Stimme. Sie ärgerte sich, dass die Pastorenfrau sie so gering schätzte.