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2013

© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

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Alle Rechte vorbehalten.

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

ISBN 9783954621552

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

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BERNHARD SPRING

FLIEDERBORDELL

Ein Till-Thamm-Krimi

PROLOG

Er konnte ihn förmlich riechen, konnte ihn lachen hören, dort hinter dem schmalen Lichtstreifen, den die Tür freigab. Und der in seine Dunkelheit fiel. Wie auch das Lachen – und dieser unbestimmte Geruch, der schwer in der Luft lag und ihn würgen machte.

Seine Hand ballte sich zu einer Faust. Wie lange hatte er auf diesen Augenblick gewartet, wie oft schon hatte er sich hierher gesehnt! Und nun war es endlich soweit, nun stand er hier im Schatten, bereit, jeden Moment hervorzuschnellen, in das Licht hinein, um dem Kerl den Schädel einzuschlagen. Immer wieder auf ihn einzuschlagen, bis er zu Boden gehen würde.

Er spürte, wie sein Puls allein schon bei der Vorstellung an das Kommende zu rasen begann, wie ihm das Blut gegen die Schläfen hämmerte und ihn berauschte. Das war gut.

Langsam tastete er sich durch den Raum, suchte das Licht, den Spalt in der Tür, die Öffnung, durch die noch immer das Lachen des anderen drang. Bald schon würde es verstummen, für immer, dachte er grimmig, nun vor Anspannung schnaubend, und hob seine Faust. Und trat mit einem letzten Schritt in das Licht.

15. KAPITEL

Anja fragte nicht, wo er so lange geblieben war.

Seit er mit den Müllbeuteln in der Hand aus der Wohnung verschwunden war, waren beinah zwei Stunden vergangen. Zum zweiten Mal an diesem Tag hatte er sie einfach so versetzt, hemmungsloser konnte man sich eigentlich gar nicht mehr danebenbenehmen bei seiner eigenen Freundin – aber Anja machte ihm einfach keine Szene.

Nein, sie lächelte nur, als er endlich kam, umarmte ihn und hörte nur mit dem halben Ohr auf seine Entschuldigung. Dass es da einen Notfall gegeben hatte und keine Zeit mehr war, sie auch noch …

„Ich hab mit dem Essen auf dich gewartet“, sagte sie und drückte ihm eine Flasche in die Hand. „Kriegst du die auf?“

Süffiger moldawischer Rotwein, viel zu süß für seinen Geschmack, aber genau Anjas Ding. Was ging hier vor, staunte Thamm. Der Tisch im Wohnzimmer war gedeckt, Anja hatte extra Brötchen aufgebacken, der angenehme Duft lag noch im Zimmer, aber die Brötchen dürften inzwischen längst kalt und hart sein. Auch die Kerze war schon ordentlich runtergebrannt – Anja musste doch einen Wahnsinnshunger haben, dachte Thamm verdutzt – und was erst für eine Wut! Aber sie ging ganz gelassen ihm voran in das Wohnzimmer, ließ sich auf dem Sofa nieder und sah ihn vollkommen entspannt an. Sie wirkte müde, ihre Bewegungen waren langsamer als zum Mittag, ihre ganze Erscheinung weniger aufgekratzt. So wie jetzt, wenn sie anlehnungsbedürftig wurde, hatte er sie eigentlich am liebsten.

„Was ist? Setz dich doch her“, rief sie ihm lächelnd zu, doch er schüttelte den Kopf. Wenn er jetzt zu ihr gehen würde, sich einfach so darauf einlassen würde – Aber so konnte es doch nicht weitergehen! Verdammt noch mal, dachte Thamm, warum musste ausgerechnet er den ersten Schritt machen! Er hatte doch nun wirklich alles getan, um sie zum Überkochen zu bringen. Endlich brach es aus ihm heraus.

„Ich möchte nicht, dass wir so weitermachen“, sagte er, vielleicht etwas zu pathetisch. Er kam sich dämlich vor. Warum sagte sie nichts dazu?

„Ich möchte nicht mehr dieses Hin und Her. Ich will, dass es fester zwischen uns wird, irgendwie“, fügte Thamm unbeholfen hinzu und knaupelte an dem Flaschenetikett.

„Setz dich“, sagte Anja leise, doch das war Thamm jetzt nicht genug. Ihre Sturheit machte ihn innerlich rasend. „Nein“, beharrte er und kam sich nicht weniger behämmert vor. Wie ein bockiges Kind, dachte er. Aber es gab kein Zurück mehr. „Ich will das jetzt geklärt haben. Wenn ich mich jetzt zu dir setze, dann geht das immer so weiter. Dann essen wir und glotzen in die Röhre und reden dabei über irgendwelches belangloses Zeug und an den eigentlichen Themen zwischen uns schippern wir vorbei. Das ist schwer genug, überhaupt damit …“ Er kam nicht weiter. So auf die Distanz von zwei, drei Metern war es ihm unangenehm, über Gefühle zu sprechen. Noch dazu, wo Anja so völlig über den Dingen zu stehen schien. Berührte es sie denn überhaupt nicht?

„Du solltest dich trotzdem besser setzen“, meinte Anja wieder und diesmal klang sie irgendwie anders. Wärmer, dachte Thamm, vielleicht auch etwas spöttisch wegen seines peinlichen Gefühlsausbruchs. Gerade von ihm.

Er ging zu ihr und sie nahm ihm die ungeöffnete Flasche ab, stellte sie weg. Nahm seine Hände und sah ihn an. Direkt in die Augen, von unten her, Thamm ahnte eine große Geste, das ultimative Geständnis, irgendwie dachte er an Weihnachten. So war sie ja sonst nie drauf.

Sie schwieg. Sein Blick irrte von einem Auge zum anderen, er wurde ungeduldig. Was denn nun?, hörte er sich fast schon fragen, aber er wollte diese komische Stimmung nicht kaputt machen.

„Wir sind demnächst zu dritt, wenn du magst.“

Ein dumpfer Schlag in die Magengrube. Thamm fühlte seine Stirn heiß werden, dahinter jagten sich die Gedanken. Deshalb also hatte sie ihn ständig nach Kindern gefragt. Das Kleine war schon in den Brunnen gefallen, bevor es zur Debatte gestanden hatte. Tatsachen geschaffen. Hatte sie sich deshalb von ihm zurückgezogen – um die Sache erst mal mit sich selbst auszumachen? Und die ständige Nörgelei: Doch nur, weil sie sich mit ihm sicher sein wollte? Aber da war nichts zu finden, Thamm hatte ja keine Ahnung. Das war alles so weit weg gewesen, völlig abstrakt und gar kein richtiges Thema. Die Wohnung – da war kein Platz für ein Kinderzimmer. Er würde umziehen müssen. Aber das müsste er eh, wenn Anja wirklich zu ihm ziehen würde. Ihr ganzer Kram passte ja doch nicht hier rein. Mittwochs und sonnabends standen die Anzeigen in der Zeitung. Oder er suchte sich einen Makler. Irgendwo mit mehr Grün vielleicht.

Thamm bemerkte, dass Anjas Augen wässrig wurden. Sie versuchte ein Lächeln. Erst machte sie ein riesen Geheimnis aus ihrem ganzen Getue und dann – plauzte sie einfach so damit raus. Ein Kind – Thamm wusste nicht, was er denken sollte. Da war Unsicherheit, aber anders als das bekannte Gefühl, und ein bisschen auch Enttäuschung, weil er sich das wenn überhaupt dann ein bisschen romantischer mit einem Paar Kinderschuhe gedacht hatte, die ihm Anja schenken würde.

Und jetzt sagte sie das einfach so. Wenn er mochte, wären sie zu dritt. Wenn er mochte – Was sollte das heißen? Dachte sie etwa an …?

„Wenn ich möchte?“, fragte Thamm. Irgendwie kam es zu kritisch raus, so absolut sachlich und darüber erhaben. Am liebsten hätte es Thamm zurückgenommen, denn nun richtete sich Anja auf. Er sah es ihren Augen an, dass das nicht die Reaktion war, die sie erhofft hatte.

„Entweder du nimmst uns beide oder keinen“, sagte Anja lauernd. Sie hatte ihn genau im Visier.

Nun war es Thamm, der nicht zu Potte kam. „Ja, okay“, stammelte er. „Versuchen wir’s. Ich meine – okay.“

Anja war sichtlich erleichtert. Sie fiel ihm geradewegs in die Arme. Schweigen. Dann hörte er sie nahe bei seinem Ohr flüstern: „Aber okay? Das sagt man zu einer Flasche Bier, aber nicht zu einem Kind.“ Da war er wieder, dieser leicht schelmische Unterton, den er so an ihr mochte.

„Gutes Stichwort“, meinte Thamm. „Jetzt wäre wohl ein Schluck ganz angebracht.“ Anja machte sich sofort von ihm los und reichte ihm den Wein. „Für mich nicht“, strahlte sie. „Gott, ich hätte ja nicht gedacht, dass ich das so schnell mal sagen würde.“

Tatsächlich, da stand nur ein Glas auf dem Tisch. Thamm entkorkte die Flasche, schenkte sich ein, trank, zurückgelehnt. Was für ein Tag, dachte er sich. Wenn es kam, dann aber richtig. Nur zu gern hätte er sich jetzt einfach nur treiben lassen, hätte ein wenig geplauscht über das, was so als nächstes anstand – ja, er staunte über seine Gelassenheit, er brauchte wohl noch eine Weile, um das von den Gefühlen her zu kapieren und dann durchzudrehen. Aber Anja war ganz weit oben. „Willst du das Ultraschallbild sehen?“, fragte sie und war schon aufgestanden.

Später kam sie langsam runter. Sie legte seine Musik auf, kroch zu ihm aufs Sofa und steckte die Füße unter die Flanelldecke, so wie immer. Thamm aß endlich ein paar Brocken Brot mit Tomatenbutter, dazu immer wieder Wein. Er schwebte in einem angenehmen, subtilen Suff durch den Abend. Dann war er nur noch beim Wein. Sie redeten nicht mehr, jeder hing seinen eigenen, um diese Uhrzeit immer dünner werdenden Gedanken nach. Leiser Jazz im Hintergrund, Einschlafmusik …

Gerade als Thamm dabei war, langsam wegzupennen, spürte er, wie sich Anjas Füße auf seinem Schoß vorsichtig bewegten. Zuerst war es nicht ganz eindeutig – wusste sie, was sie da machte? Aber für eine zufällige Berührung war sie zu beharrlich. Sofort wurde er wieder munter, ließ sich aber nichts anmerken. Sollte sie doch erstmal ihr Ding durchziehen. Und tatsächlich: Anja arbeitete sich zu ihm vor und wusste ganz genau, wo sie da mit ihren Fußspitzen rumfummelte. Da konnte sie noch so gleichgültig tun und mit den Augen ganz woanders sein. Dafür war sie einfach zu zielsicher.

Thamm war nie gut darin gewesen, irgendwen zu verführen. Das konnte er einfach nicht und zum Glück erwartete das Anja auch nicht von ihm. Dieses Heranpirschen und Spielen mit Erwartungen – Thamm war eher für klare Ansagen und eindeutiges Vorgehen.

Auch jetzt, als er glaubte, dass Anja ihm eigentlich deutlich genug ihr Interesse signalisiert hatte und langsam mal loslegen könnte, stand er auf, schaltete die Musik ab und verschloss die angebrochene Weinflasche. Er brachte die Gläser und das übrige Geschirr in die Küche, weil er es hasste, am nächsten Morgen als erstes dieses unappetitliche Spektakel zu sehen. Er bemerkte, dass Anja ihm lächelnd hinterher blickte – sie kannte ihn ja, vielleicht wie keine andere. Und das hier waren eben so seine kleinen Macken.

Als er aus der Küche zurückkam, fuhr er mit den Armen unter ihren Körper, hob sie samt Decke an und trug sie die Treppe hinauf. Anja lachte vergnügt auf und hielt sich an seinem Hals fest. „Bin ich dir auch nicht zu schwer?“, fragte sie neckend, doch er grinste nur. Bei solchen Fragen konnte er mit jeder Antwort nur falsch liegen. Und nach großartig Reden war ihm jetzt eh nicht. Er kam mit Anjas kleinen, fraulichen Figur bestens zurecht, sie waren wie füreinander geschaffen. Und er schätzte es sehr, sie wie ein Beutestück in das Schlafzimmer zu tragen, das wusste sie genau und hatte nichts dagegen einzuwenden.

Es war komisch, jetzt an Sex zu denken – und es auch noch zu machen – jetzt, wo Anja schwanger war. Thamm versuchte, nicht daran zu denken. Im Bett, beide nackt, war sie die gleiche, wie immer. Ihre Bewegungen kamen ein bisschen langsam, gemütlich und irgendwie total anmachend in ihrer – Trägheit? Damit überließ sie ihm das Ruder und stellte sich schon mal ganz auf Genuss ein. Die Stimmung war perfekt. Aber er kriegte das Kind nicht aus dem Kopf. Da war schon was drin – wie es wohl aussehen würde? Auf Anjas Kopie aus dem Krankenhaus waren nur schwarze Schatten zu erkennen gewesen.

Aber trotzdem war irgend so ein Wurm in ihr drin. Anja hatte hässliche Wörter dafür: Uterus, Gebärmutterhals, Muttermund – da kam die Krankenschwester in ihr durch. Thamm hörte da gar nicht richtig hin, um sich nicht den Appetit zu verderben. Und wenn sie so dalag, unter ihm, sich ihm entgegen drängte – dann hatte er ihre ganzen Begrifflichkeiten komplett vergessen. Aber das Kind ging nicht so leicht aus seinem Kopf.

Jetzt konnte nichts mehr schiefgehen, dachte er, weil Anja ja schon schwanger war. Dämlicher Gedanke – als ob das so wichtig bei der ganzen Sache war. Aber doch: Irgendwie spielte es schon eine Rolle. Thamm hatte den Eindruck, an irgendwas nicht denken zu müssen, was immer beim Sex hinten im Kopf rumspukte. Verhütung – das war jetzt kein Thema mehr. Und zum ersten Mal fühlte er sich dabei nackt – aber so richtig.

„Liebst du mich?“, fragte Anja hinterher leise. Thamm war eigentlich mehr nach einem Glas Wasser als nach einer Antwort. Da war es schon wieder – dieser plötzliche Zwang, über Gefühle reden zu müssen. Gar nicht sein Ding.

Er versuchte es mit einem Ablenkungsmanöver, kitzelte erst ihre Hüften und ließ dann seine Hand auf ihrem zuckenden und sich windenden Körper höher wandern, wo er sie direkt unter den Brüsten krabbelte, genau da, wo sie es überhaupt nicht aushielt. Aus Anjas welligen Gezappel wurde Protest, sie versuchte, sich unter ihm freizukämpfen, doch ihr Widerstand spornte ihn nur mehr an und so kniff sie ihn und biss ihn schließlich in die Schulter, was er mit einem Schlag auf ihr Hinterteil quittierte. Zuletzt fielen sie aus dem niedrigen Bett, suhlten sich auf dem Teppich, bis sie in einem Knäuel aus Decken und Kissen auf der Brücke gelandet waren, wo er sie schließlich niederringen konnte. Dort hielt er sie auf dem Boden gedrückt, biss sich spielerisch in ihrem Hals fest und blieb dann, erschöpft von dem Gerangel, auf ihr liegen.

„Nein ehrlich: Liebst du mich?“, fragte sie wieder.

„Du hast wohl immer noch nicht genug?“, fragte er zurück und drückte seinen halbharten Schwanz näher an sie heran. Aber Anja winkelte sofort ein Bein an und drückte es ihm in seine empfindlichste Gegend, sodass er schleunigst von ihr rutschte und sich neben sie legte.

„Aber dir ist es doch schon ernst, oder?“

Sie ließ einfach nicht locker. Warum konnte sie es nicht einfach sein lassen, ohne dieses ganze Gerede, dachte Thamm. Das schnürte ihm irgendwas ab. Und jetzt drehte sie sich auch noch zu ihm mit ihrem warmen Körper, ihre Brust sackte auf seinen Bauch, sie schmiegte sich an ihn, kroch regelrecht unter und spielte an dem Haar um seinen Bauchnabel. Thamm wurde es immer enger. Extrem unangenehm, diese fordernde Nähe.

„Ich meine nicht, wegen dem Kind. Es geht jetzt nur um uns zwei. Das ist dir doch ernst, oder?“

Weil er noch immer nicht antwortete, hob sie den Kopf und sah ihn an. Jetzt kam er nicht mehr drumherum, er sah es ja ein. Und irgendwie hatte sie ja auch ein Recht darauf, ihn so was zu fragen.

Er nickte – reichte das? Die großen Sätze hatte er doch eh nicht in petto, das wusste sie ja … Anja legte den Kopf wieder auf seinen Bauch und eine zenterschwere Last fiel von Thamms Schultern. Der anstrengende Teil des Abends dürfte nun endgültig vorbei sein. Jetzt hieß es einfach nur noch hinlegen, Augen zu, genießen …

„Denn wenn nicht, dann bringe ich dich um“, alberte Anja schon wieder mit gespieltem Ernst drauflos. „Verstehst du mich, Herr Kommissar? Wenn du mich verarscht, muss ich dich leider kalt machen. Ich misch dir einfach was unters Essen, das kriegst du gar nicht mit. Denk dran, ich bin Krankenschwester. Ich komm an alles ran. Und wenn du was nebenbei anfängst, schneid ich dir vorher noch dein bestes Stück ab, genau in dem Moment, wo das Gift anfängt zu wirken.“ Wie zum Beweis griff sie herzhaft nach seinem Schwanz. Er zuckte zusammen.

„Hey“, knurrte er ärgerlich, aber da strich sie schon besänftigend über ihn und Thamm sank wieder zurück und schaltete auf Schlafmodus.

Aber Anja ließ nicht locker.

„Ich mach dich eiskalt“, meinte sie und fuhr ihm dabei mit der Fingerspitze so federleicht über den Rücken, dass Thamm erschauerte. Irgendwie war sie gerade voll morbide drauf. Das Krankenhaus kam jetzt wohl wieder in ihr durch. Diesen Leuten fehlte manchmal einfach der normale Abstand zu Tod und Ekel. Die waren bei so was viel härtete Dosen als normale Menschen gewohnt, das bekamen die gar nicht mehr mit.

„Ich mach dich eiskalt“, betonte sie geradezu genüsslich. „Wenn du’s überhaupt nicht ahnst. Ich mach’s genau wie die Pohle.“

Zuerst glaubte Thamm, sich verhört zu haben.

„Die Pohle?“, fragte er ungläubig.

„Weißt du doch“, fertigte ihn Anja ab und war schon wieder über seine Nachfrage weg und ganz bei ihren Mordgelüsten. „Ich bring dich einfach um. Ohne mit der Wimper zu zucken – Also überleg’s dir vorher gut, ob du mich betrügst.“

Das sollte wohl romantisch sein und vielleicht war das ja Anjas Art, ihm zu sagen, wie sehr ihr an ihm lag. Aber Thamm hatte dafür grad keinen Nerv. Die ganze Leichtigkeit, die dämmrige Stimmung, in die er am versinken gewesen war – alles verschwunden.

Anja hatte von seinem Interesse nichts mitbekommen, vielleicht weil sie sich ausschließlich mit seiner unteren Hälfte beschäftigte. Sie spielte noch immer an seinem Bauchnabel, wanderte mit ihren Fingern seinen Glückspfad entlang in Richtung Süden und fuhr ihm zärtlich über den Schwanz, wie sie es schon einmal kurz zuvor getan hatte. Sie ließ nicht mal davon ab, als sich Thamm leicht aufrichtete.

„Sag mal, wie meinst du das genau mit der Pohle?“, fragte er ganz sachlich. „Ich mein, nur mal so: Wir sprechen doch beide von ein- und derselben Frau Pohle, oder?“ Sie musste doch noch wissen, dass er den Fall Pohle bearbeitet hatte – oder plapperte er so oft von seiner Arbeit im Büro, dass sie schon automatisch abschaltete, wenn er damit anfing?

Anja sah ihn fragend an – er versuchte zu spät, einen irgendwie harmonischen Gesichtsausdruck aufzulegen. Es war zu offensichtlich, dass Thamm überhaupt nicht mehr bei der Sache war. Anjas zärtliche Berührungen kamen gar nicht mehr so richtig bei ihm an. Konnte man auch an dem sehen, was Anja noch immer in der Hand hielt.

„Ist das jetzt alles, was dich interessiert?“, fragte sie und eine aufziehende Schlechtwetterfront donnerte schon ein kleines bisschen mit. „Verdammt noch mal, Till, ich hab hier grad deinen Schwanz in der Hand und wenn du einfach mal die Klappe gehalten hättest, wär er jetzt vielleicht schon in meinem Mund – und du denkst an irgendwas ganz anderes?“

Thamms Stimmung wanderte nun ganz in den Keller. Weil sie den Ernst der Lage nicht kapierte. Weil er ihr jetzt ewig erklären müsste, dass die Sache mit Pohle wirklich wichtig war. Und auch ein bisschen, weil sie gerade jetzt darauf gekommen waren – wo sie ihn so selten in den Mund nahm!

Aber sei’s drum, dachte er verärgert, das musste jetzt sein.

„Christina Pohle war auf einer Schönheitsfarm, als sich ihr Mann erhängt hat“, sagte er geradeheraus. „Ich hab die Ermittlungen damals geleitet – ich weiß, was ich sage. Wie kommst du darauf, dass sie trotzdem ihren Mann umgebracht hat?“

„Du meinst das hier jetzt wirklich ernst“, versicherte sich Anja noch einmal. Völlig achtlos ließ sie seinen Schwanz fallen. „Das glaub ich jetzt echt nicht!“

Sie setzte sich von ihm weg, an das Geländer gelehnt. Hinter einer Decke verbarg sie ihre Brüste – und war plötzlich ganz weit weg. Er hatte es verkackt, aber richtig mit Anlauf. Gerade noch war alles astrein gewesen zwischen ihnen und nun fing der ganze Terz schon wieder an.

Vielleicht hatte er auch übertrieben reagiert und das war alles nur völlig unwichtiges Gerede gewesen. Und er hasste es ja auch, dass er mit einem Mal den Kommissar raushängen ließ. Und dass seine Stimme dann immer gleich so einen Verhörton bekam, das wusste er doch auch. Aber trotzdem. Das hier war jetzt wichtig.

Er strich ihr über die Wange, sie zuckte leicht weg – immerhin nur ein bisschen, nicht ganz.

„Anja, ich muss das wissen“, bettelte er beinah und kam sich so ganz nackt vor ihr total albern vor. Weil sie sich versteckt hatte, weil sie weggerutscht war von ihm.

Anja sah ihn nicht an. Er versuchte wieder, sie zu streicheln – sie ließ es zu. Er fuhr ihr mit den Fingerkuppen die Wange entlang und dann weiter, unter das Kinn, weil er wusste, dass sie es dort nicht aushalten würde. Und wirklich, sie schlug seine Hand weg.

„Lass das“, rief sie, aber ihr Ärger war schon halb verflogen. Sie blickte kurz zu ihm rüber, dann warf sie ihm ein Kissen zu. „Du bist echt blöd, weißt du das? Immer im absolut falschen Moment.“

Er zog seine Büßermiene auf, die sie natürlich durchschauen musste. Sie rollte mit den Augen und versuchte, sein Gesicht mit einem leichten Klaps wegzudrehen. Jetzt hatte er sie!

„Also gut“, maulte sie schließlich entnervt. „Du gibst ja sonst eh keine Ruhe. Die Pohle arbeitet doch bei uns im Haus, weißt du ja. Irgend so ein hohes Tier in der Personalverwaltung – da kannst du dir ja denken, wie beliebt die bei uns ist. Naja, und im Krankenhaus erzählt man sich halt, dass ihr Mann sie betrogen hat. Und das ist auch schon alles.“

Thamm konnte das nicht glauben.

Der Mann? So ein Leisetreter soll seine Frau betrogen haben?“

Er dachte an die Rechenmaschine namens Joachim Pohle. Das sollte wohl ein schlechter Scherz sein! Der war doch bestimmt nicht mal zu einem feuchten Traum in der Lage gewesen, geschweige denn zu einem Seitensprung. Anja aber zuckte nur teilnahmslos mit den Schultern.

„Was weiß ich. Das sagt man halt nur so. Aber bei der Frau kann ich’s mir schon vorstellen …“

„Ja, aber deshalb muss sie ihn doch nicht gleich umgebracht haben!“

Anja warf ihm einen mitleidigen Blick zu. „Ach Till, du hast echt keine Ahnung von den Leuten, stimmt’s? Mensch, das sagt man doch nur so – das kann man doch nicht alles gleich so auf die Goldwaage legen. Das ist doch nur Treppenhausgeschwätz, was man sich halt so erzählt in der Mittagspause. Da wird da ein bisschen geklatscht und dort ein bisschen … Und komm mir jetzt nicht mit Verleumdung, ich weiß, was das ist. Aber das hier ist was ganz anderes, das ist normal. Man erzählt sich halt so einen Mist und weiß, dass es nicht stimmt. Die Pohle mag eh keiner. Aber dass der ihr Mann fremdgegangen ist, das ist Tatsache. Und deshalb war ja die Pohle auch auf der Beautyfarm – ich meine, ich hab den Kerl zur Weihnachtsfeier gesehen: Wenn dich sogar so ein Lahmarsch betrügt, das geht doch jeder Frau an die Nieren – und dann lässt du dich halt auf so einer Farm polieren. Nicht wegen ihm – für dich.“

Thamm verstand noch immer nicht so genau. „Und du meinst, Pohles Frau ist ihm irgendwie auf die Schliche gekommen – und deshalb hat er sich umgebracht?“ Warum hatte das niemand der Polizei gemeldet? Das hätte eine Menge Arbeit erspart.

„Was weiß ich“, sagte Anja wieder. „Das soll irgendwas Dreckiges gewesen sein. Pohle ist wohl immer zu so einer Prostituierten gegangen. Hat zumindest die Hülsenreiter vom Rechnungswesen erzählt. Und die muss es ja wissen, schließlich ist die ja ganz dicke mit der Pohle. Wenigstens eine. So, und wenn du jetzt noch Fragen hast, hast du Pech. Ich hab nämlich keine Lust mehr.“

Sie stand auf und ging ins Schlafzimmer.

„Komm, wenn du fertig bist“, sagte sie noch und war schon weg.

16. KAPITEL

Thamm lag noch lange wach.

Anja war neben ihm schon eingeschlafen, ab und zu zuckte sie leicht im Schlaf, dann zog er sie ein wenig enger an sich heran und sie lag gleich wieder still. Ihre Ruhe war ansteckend, Thamm merkte allmählich die tückische Wirkung des Weins – und trotzdem konnte er nicht abschalten.

Was war da dran an der Geschichte mit Pohle? Die angebliche Beziehung zu einer Prostituierten war ihm völlig neu. Dazu hatte nie jemand irgendwelche Angaben bei seinen Ermittlungen gemacht – aber was bedeutete das schon? War ja auch nicht gerade ein besonders sauberes Thema, das man gern zu Protokoll gab.

Aber abseits der offiziellen Stellen wurde scheinbar getratscht, was das Zeug hielt. Wahrscheinlich, weil Christina Pohle einen nicht gerade unbedeutenden Posten innehatte. Gegen Chefs hatte jeder was, dachte Thamm und war in Gedanken kurz bei seinem Chefchen. Ja, das war überall das gleiche: Wenn’s kein Arschloch wäre, wär’s ja auch kein Chef.

Und von der Seite betrachtet, war so eine kleines Nebenvergnügen plötzlich nicht mehr so ganz unpassend. Ja, Thamm sah in Pohle nicht mehr den langweiligen Bankangestellten, der sauber und präzise arbeitete wie eine Schweizer Taschenuhr und genauso unspektakulär wirkte. Nein, da war der Typ, der irgendwo auf der Karriereleiter steckengeblieben war, während seine Frau im öffentlichen Dienst ganz oben mitspielte. Eine große Nummer in der Verwaltungsabteilung. Das musste ihn doch irgendwo gekratzt haben. Das machte doch jeden Kerl zu schaffen, zumindest ein bisschen: Sie hatte die fettere Lohntüte, bei ihr kam es viel mehr auf Repräsentation und Was-Darstellen an – und er dagegen, mit seinen mickrigen Kunden im Servicebereich, der Dämlack für jeden x-Beliebigen, der gerade mal eben reingeschneit kam und irgendwas mit Geld wollte …

Thamm hatte es direkt vor Augen: Dieses arme Würstchen, das mit der großartigen Frau zusammenwohnte. Sie: die Beautyfarm, die restaurierte Fassade, das Geschäftsessen. Er: die zweite Geige, der Ehemann, den man lieber im Schrank bei den Mottenkugeln ließ, wenn man wichtige Leute erwartete. Entfremdung, unterdrückte Abscheu – Scheidung. Das nur nicht, weil es ihr nicht ins Portfolio passte. Und so lange er stillhielt und nicht überall dabei war, mochte es ja für sie so einigermaßen schleichen.

Aber er, was hatte er? Woher bekam er das bisschen Bestätigung, das er brauchte? Doch nicht im Kundenbereich der Bankfiliale! Nee, der hatte irgendwo eine Prostituierte aufgegabelt, weil das leichter war, als eine normale Frau zu umgarnen. Und vielleicht hatte er sich dabei sogar ein bisschen verguckt – auf jeden Fall brauchte er bald die regelmäßige Dosis bezahlten Sex. Der musste schon ganz schön runter gewesen sein mit den Emotionen, dass ihm so was Halt gab, dachte Thamm und kam sich viel zu mitfühlend vor. Immerhin hatte Pohle doch das Spielchen mitgemacht. Hatte die kleinbürgerliche Fassade gewahrt, obwohl dahinter längst alles in die Brüche gegangen war. Geheuchelte Idylle, einstudierte Gesichter, hysterisches Lachen und belanglose Gespräche …

Aber dann hatte sich Pohle dumm angestellt, war leichtsinnig geworden. Irgendwie hatte er sich verraten. Vielleicht hatte es am Parfüm der anderen Frau gelegen. Vielleicht hatte er an irgendeinem Abend nach ihr gerochen oder das legendäre einzelne Haar, das nur Frauen jemals zu Gesicht bekommen, hatte sich auf seinem sonst so fusselfreien Anzug gefunden. Wie auch immer – die Pohle hatte ihn eines Tages durchschaut und ihm die Hölle heiß gemacht. Ausgerechnet er, der Leisetreter, ruinierte ihr alles, gefährdete das Bild von der kleinen, heilen Welt. Hatte sie ihn deshalb umgebracht? Nein, sie war auf eine Schönheitsfarm gefahren und hatte ihren gekränkten Stolz mit ein paar Botoxspritzen und einem Moorbad aufgepäppelt. Und Pohle, dieses Weichei, hatte nicht den Arsch in der Hose gehabt, auf dieses Weib endlich mal zu pfeifen, sondern hatte sich ganz akkurat und bedripst das Leben genommen.

So oder so ähnlich musste es gewesen sein. Fall Pohle gelöst.

Thamm war mit sich zufrieden. Endlich hatte er ein Motiv, endlich konnte er sich zumindest ansatzweise vorstellen, was Pohle in den Tod getrieben hatte.

Und seine Frau hatte natürlich geschwiegen. Warum hätte sie auch an die große Glocke hängen sollen, dass ihr Mann eine andere gebumst hatte, noch dazu eine Nutte? Nein, dann lieber eine Depression – das ging immer, merkte ja keiner von draußen. Und der Mitleidsbonus kam noch dazu: Mensch, wie haben Sie das nur so lange ausgehalten? Das muss doch schrecklich für Sie gewesen sein …

Thamm grinste vor sich hin. Ehe tot, Fassade gerettet. Alles perfekt. Wäre eigentlich nur mal noch interessant, bei was für einer Sorte Frau sich Pohle so ausgeheult hatte. Eine Prostituierte – seit der Alte Graf Mansfeld dicht gemacht hatte, gab es keine Bordells mehr in Merseburg, auch in der Umgebung nicht. Zumindest nicht offiziell. Was hintenrum passierte, erfuhr die Polizei traditionell als letztes.

Und eigentlich war das auch gar nicht so spannend – irgendein so ein Straßenmädchen halt, dachte Thamm und war schon halb weg. Die Luft war raus, er merkte es. Und dieser verdammte Wein würde ihm einen ordentlichen Kater bescheren, das spürte er jetzt schon am Hinterkopf hochziehen.

Die Augen fielen ihm wie von alleine zu. Er legte den Arm um Anja, deren nackter Körper eine herrlich einladende Wärme ausstrahlte. Auch wenn er es ihr nie sagen würde – er hatte sie extrem vermisst …

Mit einem Mal war Thamm hellwach. „Scheiße“, stieß er unterdrückt aus, noch bevor er den Gedanken überhaupt zu Ende gedacht hatte. Auf der Seite von Pohle fehlte eine Frau – und bei den Oummas auch. Was, wenn es sich bei denen um ein und dieselbe – um Khammeung Oumma handelte?

„Scheiße“, entfuhr es Thamm erneut. Da zermarterte er sich das Hirn wegen einem toten Banker und an die seit einem Jahr verschwundene Frau verschwendete er dabei überhaupt keinen Gedanken! Irgendwie war er so zu gewesen mit seiner Mörderjagd, mit dem Zusammensuchen der Hinweise und dem Druckmachen nach allen Seiten – da war der Fall um Khammeung Oumma von ganz alleine auf die lange Bank gekommen. Genauso die Dienstaufsichtsbeschwerde, die ja auch noch wartete …

Und jetzt war diese Frau vielleicht das letzte fehlende Puzzleteil und brachte alles, was irgendwie noch nicht zusammenpassen wollte, aneinander, ging es Thamm durch den Kopf. Er war mit einem Mal viel zu aufgetrottelt, das Thema viel zu unappetitlich, um hier weiter in der Kiste rumzuliegen! Thamm drehte sich von Anja weg, schlich sich aus dem Schlafzimmer und ging über die Brücke in sein kleines, offenes Arbeitszimmer, wo er unablässige Runden über das Parkett drehte. Jetzt nur nicht verrennen, ermahnte er seinen eigenen Grips, nur nicht wieder verrennen. Also versuchte er den ganz sachlichen Ansatz: Khammeung Oumma also. Vor etwa einem Jahr als vermisst gemeldet von ihrem eigenen Mann, Philippe Oumma. Davor anscheinend mit ihm und seinem Bruder im Familienrestaurant. Zwei Möglichkeiten: Sie ist durchgebrannt und will nicht gefunden werden – hätte Oumma das vermutet, wäre er nicht zur Polizei gegangen, sondern hätte sie aufgegeben. Oder sie auf eigene Faust gesucht – oder sie war entführt worden, Opfer irgendeines Verbrechens geworden. Menschenhandel stand irgendwie verklausuliert in ihrer Akte von damals.

Und lag das nicht auch auf der Hand: Khammeung Oumma wurde entführt und zur Anschaffung gezwungen. Dieser Spießer Pohle, der schon lange mal so richtig Dampf ablassen wollte, kriegte über zwei, drei Ecken davon Wind und machte mir ihr rum. Das Illegale an der ganzen widerwärtigen Sache dürfte ihn noch mehr aufgegeilt haben. Endlich mal ein bisschen Action in seinem sonst so beschissenen Leben, endlich mal der Macker sein! Aber mit der Zeit fing er doch mal an, den Kopf einzuschalten. Oder empfand plötzlich irgendwas. Mitleid. Scham. Reue?

Und dann saß da eines schönen Tages dieser Oumma vor ihm und bat ihn um einen Kredit. Möglichst gute Konditionen, bitte. Und genau da knickte Pohle ein. Nicht, dass er auch nur im Entferntesten etwas davon geahnt hätte, dass er die Frau von seinem Kunden gebumst hatte – aber wie oft hatte schon ein Banker mit einem Asiaten zu tun? Schuldbewusstsein, auf Oumma übertragen: Nachdem sich das Arschloch in ihm geoutet hatte, kam jetzt wieder der Spießer in Pohle durch. Und für den war das alles zu viel. Er schanzte Oumma einen sensationellen Kredit zu, als könnte er mit einer milden Gabe an dem nächstbesten Asiaten gutmachen, was er an Khammeung Oumma verbrochen hatte! Dieser Scheißer wollte sich freikaufen, dachte Thamm zähneknirschend. Aber es hatte ihm nicht geholfen, das schlechte Gewissen, vielleicht auch die Angst, mit der Kiste aufzufliegen, blieben. Also griff er zum Strick und Ruhe war.

War das möglich? Thamm stand mitten in seinem Arbeitszimmer, Totenstille um ihn herum, nur der Lichtkegel von irgendeinem vorbeifahrenden Auto zuckte ab und zu mal durch den Raum, sonst nichts. Nur er und eine ziemlich abgedrehte Theorie. Zu viel Wein, dachte er zögerlich und lächelte über seine eigene Leichtgläubigkeit. Wäre auch zu schön gewesen. Nein, das war doch eine Nummer zu abgefahren für Merseburg.

Aber so sehr er die ganzen dürren Fakten auch drehte und wendete – er bekam sie anders nicht unter einen Hut. Verdammt, er hatte zwei Leichen im Keller und seit ein paar Stunden sogar schon drei, dazu noch eine Vermisste, einen mordenden Neonazi, der frei rumlief – „Scheiß drauf!“, knurrte Thamm. Er hatte keinen Bock, es anders als komplett durchzuziehen. Volles Rohr also.

Er stolperte im Halbdunkel die Treppe runter und griff sich in der Küche die angefangene Weinflasche. Würde er sich halt noch den Rest geben. Vielleicht half es ja, diese Bremse in seinem Kopf zu lockern.

Wenn er Recht hatte, bedeutete das, dass Khammeung Oumma noch am Leben war. Und mehr noch: Mit fast an Absolutheit grenzender Wahrscheinlichkeit war sie sogar noch hier in Merseburg. Anders hätte Pohle seine Visiten ja wohl kaum unauffällig in den Feierabend drücken können.

Und die Oummas? Die waren erst bei der Polizei abgefertigt worden und hatten dann auf eigene Faust ihre Frau und Schwägerin gesucht. Irgendwann waren sie fündig geworden. Aber statt so einen Einsatz den Profis zu überlassen – okay, Thamm verstand nur zu gut, warum ausgerechnet die Oummas nicht noch mal auf dem Revier angetanzt waren, nachdem sie zuvor so abgefertigt worden waren. Sie hatten es selbst erledigen wollen, hatten am Sonntag irgendwo in Merseburg einen Volltreffer gelandet und waren dort fertiggemacht worden. Die ganze Sache ging ordentlich nach hinten los. Der Mörder drehte erst mal ordentlich am Rad, aber dann raffte er, dass er mit einem Schrecken davon gekommen war. Leiche Nummer eins entsorgte er auf ziemlich dumme Art und Weise. Hauptsache weg, dürfte hier das Motto gewesen sein, dachte Thamm zynisch. Aber dann tauchte dieser leblose Körper viel zu schnell wieder auf. Pech für den Mörder, der nun bei Leiche Nummer zwei ganz bewusst eine andere Spur legte: Thamm hatte ja zwangsläufig an irgendwas mit Nazis denken müssen, so ausgestellt wie Philippe Oumma da im Schweinegehege gelegen hatte. Und gleichzeitig war es eine unmissverständliche Warnung an potentielle Nachahmer. Egal, wer da noch kommen sollte – lautete die Botschaft – das hier sollte er bekommen.

Es passte alles. Reschke, Koslowski – Kollateralschäden, dachte Thamm ungerührt. Einer tot, der andere bald im Bau: Die Politik der kleinen Schritte nannten das die Sozis. Darum sollten sich die Jungs von der Streife kümmern, er hatte jetzt Wichtigeres auf dem Plan.

Er schwankte ins Wohnzimmer und griff sich das Telefon. Wolffs Nummer! Ging keiner ran – wieso um alles in der Welt hatte der sein Handy ausgeschaltet? Aber Thamm wusste ja, wen er stattdessen anrufen konnte. Die war genauso gut.

Es klingelte eine halbe Ewigkeit. Wollte sie sich denn gar nicht mal bequemen?

„Ja?“, fragte Jette endlich völlig verschlafen aus irgendeinem Traum heraus.

„Wir müssen einen Zuhälterring ausheben“, nuschelte Thamm in das Telefon rein. Die Müdigkeit, der Wein – böse Kombination.

„Was bitte? Wer …?“

„Und eine Dienstaufsichtsbeschwerde. Das mach ich gleich morgen früh. Aber vor allem müssen wir an den Zuhälter ran. Ich weiß, wir haben nichts. Aber die Oummas haben den gefunden, also können wir das auch. Aber nicht erst in einem Jahr. Das muss schneller gehen.“

„Till, bist du das?“

Thamm stutzte. „Ja, hast du jemand anderes erwartet?“