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Janosch Schobin

Freundschaft und
Fürsorge

Bericht über eine Sozialform
im Wandel

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Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH
Mittelweg 36
20148 Hamburg
www.hamburger-edition.de

© E-Book 2013 by Hamburger Edition
E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-86854-601-9

© der Printausgabe 2013 by Hamburger Edition
Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung
Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras
Typografie und Herstellung: Jan und Elke Enns
Satz aus der Garamond von Dörlemann Satz, Lemförde

Inhalt

Hinführungen

Auf dem Weg zur fürsorglichen Freundschaft?

IZwischen Diskurs und Praxis: Freundschaft und Fürsorge als soziologisches Problem

Der Begriff der Freundschaft: Eine Versuchsanordnung

Von den begrifflichen zu den methodischen Problemen

Das heuristische Untersuchungsprogramm

Prüfsteine der fürsorglichen Freundschaft

IIFinanzielle Fürsorge: Das Geld der Freunde

Hört bei Geld die Freundschaft auf?

Im Diskurs: Das praxeologische Dilemma des Geldes

In der Praxis: Freundschaft und Geld

Zwischen Diskurs und Praxis: Das Geldverbot als Simulacrum

IIIFürsorge im tätigen Leben: Die Freunde, die Arbeitsteilung und die Not

Die doppelte Ordnung der tätigen Fürsorge

Die Ordnung des Alltags I: Im Diskurs – Reziprozitätserwartungen und Komplementaritätsarrangements

Die Ordnung des Alltags II: In der Praxis – von der Notwendigkeit des Zusätzlichen

Die Ordnung der Prüfung I: Im Diskurs – die symbolischen Prüfungen der Freundschaft

Die Ordnung der Prüfung II: In der Praxis – von der Zusätzlichkeit des Notwendigen

Zwischen Diskurs und Praxis: Die Heuristiken der tätigen Sorge

IVFürsorge am Leib: Sterben und Begehren der Freunde

Die Leibessorgemotive der Einseelenlehre

Im Diskurs: Sex, Krankheit und Tod in der Ratgeberliteratur

In der Praxis: Freundschaft, Sex, Altern und Tod – das historische Experiment der 68er

Zwischen Diskurs und Praxis: Konvergenzen, illegitime Referenzen und Disjunktionen

VFürsorge im Gespräch: Die Geheimnisse der Freunde

Das Gespräch als camouflierter Soziolekt

Im Diskurs: Das Mantra von der identitätsstiftenden Freundschaft

In der Praxis: Die Methoden der Geheimniscodierung vertraulicher Mitteilungen

Zwischen Diskurs und Praxis: Das stille Wissen von der sozialen Freiheit

Abschluss

VIDie Grenzen der fürsorglichen Freundschaft

Die Verfreundschaftlichung der Fürsorge

Die Verfürsorglichung der Freundschaft

Das Freundschaftswissens und seine Grenzen

Die Dehnbarkeit der fürsorglichen Praktiken

Der Horizont des durchschnittlich Möglichen

Danksagung

Literaturverzeichnis

Zum Autor

Hinführungen

Auf dem Weg zur fürsorglichen Freundschaft?

Freundschaft ist im öffentlichen Diskurs um die Zukunft der bundesrepublikanischen Gesellschaft zum Fluchtpunkt sozialer Hoffnungen geworden. Wer das einfache Gedankenexperiment durchspielt, wie sich die Verwandtschaftssysteme einer Gesellschaft verändern, deren totale Fertilitätsrate weit unter der Bevölkerungserhaltungsgrenze und deren Scheidungsquote um die 50% liegt, muss zu dem Schluss kommen, dass Familie und Verwandtschaft in Zukunft knappe Güter werden. Zwangsläufig entstehen in den Stammbäumen jede Menge toter Enden und lichter Äste. Das partnerlose Einzelkind zweier Einzelkinder hat einfach keinen Partner, keine Geschwister, keine Tanten, keine Onkel, keine Cousins und Cousinen. Seine einzigen familialen Bezugspersonen sind Eltern und Großeltern – und hier kommt die Freundschaft ins Spiel. Gedankenexperimentell liegt folgender Ausweg nahe: Menschen, denen Partner und Kinder nicht zur Verfügung stehen, sollten sich auf ihre Freunde besinnen, denn die werden auch bei niedrigen Geburtenraten und instabilen Partnerschaften nicht knapp. Warum sollten also nicht Freunde unsere Nächsten sein, wenn es um unsere Bedürfnisse nach sozialer Unterstützung geht?

Wer den öffentlichen Diskurs zur Freundschaft in den letzten Jahren verfolgt hat, wird der Aussage zustimmen, dass zumindest an der diskursiven Plausibilität der Alternative Freundschaft gearbeitet worden ist. Das Fernsehen zeigt vermehrt Sendungen, in denen Freunde einander die wichtigsten Bezugspersonen sind. Man vergleiche etwa die Cosby-Show mit Friends oder Sex and the City. Das öffentliche Bild der Freundschaft hat sich verschoben. Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Betrachtung der Freundschaftsratgeberliteratur. Der normative Freundschaftsdiskurs im Ratgebergenre hat sich im Zeitraum von 1990 bis 2006 tiefgreifend verändert.1 Ein neues Freundschaftsideal hat sich etabliert. Die feminine Freundschaft ist zur kanonischen Form der Freundschaft aufgestiegen. Heute liegt die Deutungsmacht im Freundschaftsdiskurs bei den Frauen und der Fokus des Freundschaftsdiskurses auf Freundinnen und der Freundschaft zwischen Frauen. Die Autoren (darauf deuten zumindest ihre Pseudonyme und öffentlich einsehbaren Profile hin) sind heute meistens weiblichen Geschlechts, während sie noch Anfang der 1990er fast ausschließlich männlichen Geschlechts waren. Die Geschichten der Ratgeber berichten heute üblicherweise von Frauen in engen und intimen Beziehungen und nicht mehr von Männern, die versuchen, Erfolg in der Welt des Berufs oder öffentlichen Angelegenheiten zu haben. Ein als weiblich deklariertes Freundschaftsideal mit einer wertenden Semantik ist entstanden. Männliche Freundschaften werden offen für schwächer gehalten als ihr weibliches Pendant, und das nicht nur von Frauen: »Beim Mann pflegen sich die Freundschaften in der Regel weniger differenziert und darum harmloser zu entwickeln.«2 Im Kielwasser der Feminisierung fährt dabei die Verfürsorglichung des Freundschaftsideals. Das kann man etwa an den Erklärungsweisen gebotener Handlungen der Selbsthilfebücher erkennen: Noch Anfang der 1990er-Jahre war es üblich, Freundschaftspraktiken aufgrund potenzieller Erfolge in der Arbeitswelt oder des Zuwachses an persönlichem Glück zu empfehlen. Freundschaft war der »Weg zu Erfolg, Glück und Einfluss«3. Dagegen werden Freundschaftsregeln heute vor allem kontextsensitiv und beziehungszentriert – also fürsorgeethisch – und nicht mehr instrumentell und universell – also zweck- oder wertrational – begründet. »Weil wir Freundinnen sind«4, lautet die neue Losung. Ihr zugrunde liegendes Prinzip ist die Sorge um die Andere: » ›Unter Freunden ist das so, […] zur Stelle sein, wenn man gebraucht wird, auch wenn es einen selbst zerreißt‹ «.5 Es geht nicht mehr um Ego und was Ego im Leben erreichen will, sondern um die je besondere Beziehung und wie in dieser für die Andere zu sorgen ist: »Was ich für sie tun kann, ist nur bitterwenig. Aber was ich tun kann, das tue ich eben.«6 Anfang der 1990er-Jahre erzählten die Ratgeber hingegen vor allem moralisierte Lehrgeschichten, in denen meist Männer die Pathologie ihres Verhaltens vorführten: »Zunächst blühte das Geschäft, ebenso wie ihre Freundschaft.«7 Oder sie berichteten von den Erfolgsrezepten wichtiger oder prominenter Männer: »Wie sagte schon der kluge Ben Franklin: […]«8 Den Rest der Geschichten mag sich der Leser denken.

Aber nicht nur der Diskurs der Freundschaftsratgeber zeigt, dass der Begriff der Freundschaft tatsächlich wieder die bedeutsame politische Frage nach der kollektiven Lebensgestaltung berührt. Bestimmte Veränderungen der Sozialgesetzgebung legen den gleichen Schluss nahe. So gibt es etwa innerhalb der neuen Gesetzgebung zum Arbeitslosengeld 2 (SGB II) seit 2005 einen Begriff, der die geltende Ordnung der sozialen Fürsorge in Deutschland gehörig umgekrempelt hat: den der Bedarfsgemeinschaft. Zu ihr gehört nicht nur der Ehepartner und das eigene Kind, sondern auch »eine Person, die mit dem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in einem gemeinsamen Haushalt so zusammenlebt, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen«.9

Der rechtliche Terminus technicus, dessen instrumentelles Ziel darin besteht, Ehepaare und eingetragene Partnerschaften nicht gegenüber informellen Partnerschaften zu benachteiligen, greift weiter, als es ursprünglich die Absicht war. Die begriffliche Weichzeichnung von Ehe und Familie hat unvorhergesehene Nebenwirkungen. Bis dato wohlfahrtsstaatlich irrelevante Beziehungsformen sehen sich seit den Hartz-Reformen mit fürsorglichen Ansprüchen konfrontiert. Um in Verdacht zu geraten zu einer Bedarfsgemeinschaft zu gehören, reicht es nämlich laut Gesetzestext aus, mehr als ein Jahr zusammenzuwohnen.10 Leben auch noch Kinder in der gemeinsamen Wohnung, wird es schwer dem Amt zu beweisen, dass es sich nur um eine harmlose Wohngemeinschaft handelt. Es kann daher geschehen, dass man schlicht in einer Haushaltsgemeinschaft zusammenlebt und plötzlich vor dem Staat füreinander verantwortlich ist – sexueller Verkehr oder Verwandtschaft hin oder her. Der deutsche Staat stellt die Mitglieder einer Wohngemeinschaft, oft Freunde oder gute Bekannte, unter den Verdacht, die Nächsten seiner Bedürftigen zu sein. Unter der Hand hat damit das Duo aus kohabitativer Partnerschaft und Familie sein Monopol als Ansprechpartner des Staates in der Frage subsidiärer sozialer Unterstützungsleistungen verloren. Die schwammige Formulierung des SGB II, § 7 vom wechselseitigen Willen zur Verantwortung macht es möglich. Die Semantik der freien Gegenseitigkeit tritt ebenbürtig neben die von Abstammung und Ehe. Zumindest auf der Seite der Pflichten ist damit die Freundschaft implizit zu einer rechtlich ansprechbaren, fürsorglichen Sozialform unter anderen geworden. Der stille Wandel vollzog sich unter der Hand als Nebenergebnis bestimmter begrifflicher Bestimmungen. Wenn staatliche Organe ihre Kategorien verändern, ist das meist kein dummer Zufall. Laurent Thévenot und Luc Boltanski weisen darauf hin, dass solche Erhebungen zu Allgemeinheitsbegriffen mit einer Veränderung der Rechtfertigungsordnung korrespondieren.11 Dem etablierten Dreiklang der ideellen Ordnung der Fürsorge – Partnerschaft, Familie, Wohlfahrtsstaat – ist ein Unterton hinzugetreten: Das Freundschaftsähnliche ist aufgerückt in die Reihe von Begriffen, die im Hinblick auf das Gemeinwohl verwendet werden, weil sich das Eheähnliche mittlerweile zur einen Seite hin zum Freundschaftsähnlichen auflöst.

Die Hoffnungen in die Freundschaft als fürsorgliche Lebensform haben also bereits den Horizont einer folgerichtigen Spekulation verlassen. Sie sind unter der Hand ein öffentliches Ideal und eine rechtliche Pflicht geworden. Dass Ideale und Pflichten aber oft quer zu den realen Möglichkeiten ihrer Träger stehen, ist eine soziologische Binsenweisheit. Es stellt sich daher die Frage, ob der Bewegung im Diskurs auch eine Bewegung in der Praxis entspricht.

Wird Freundschaft tatsächlich auch in der Praxis zu einer fürsorglicheren Sozialform, und wenn ja, in welchem Ausmaß? Zunächst stellt sich natürlich die Frage, woran dies festzumachen wäre. Zumindest als wichtigen Anhaltspunkt kann man die Veränderung der persönlichen Unterstützungsnetzwerke Erwachsener nehmen.12 Hier werden Freunde tatsächlich etwas wichtiger. Der Trend äußert sich in kleinen Veränderungen. So lässt sich etwa nachweisen, dass immer mehr Menschen zwischen 18 und 55 Jahren mindestens einen Freund/eine Freundin haben, mit dem/der sie Wichtiges besprechen (siehe Abbildung 1).

Befragte/r nennt mindestens eine/n Freund/in, mit dem/der persönliche Dinge besprochen werden

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Abbildung 1: Prozentsatz der Befragten zwischen 18 u. 55 Jahren, die mindestens eine/n Freund/in nennen, mit dem/der persönliche Dinge besprochen werden. Balken repräsentieren designbasierte 95%-Konfidenzintervalle.

Datenquelle: DJI-Familiensurvey 1988, 1994 u. 2000, replikativer Survey, SOEP 2006, alle Daten querschnittsgewichtet

Auch haben immer mehr Menschen der Altersgruppe 18 bis 55 zumindest einen Freund oder eine Freundin, zu dem/der sie eine gefühlsmäßige Bindung haben. Gaben 1988 nur ca. 11,3% der Befragten eine solche Freundschaft an, waren es im Jahr 2000 bereits ca. 17,5%.13 Zu einem »ordentlichen« persönlichen Unterstützungsnetzwerk gehört heute folglich immer häufiger zumindest eine emotionale, vertraute Freundschaft. Darüber hinaus gewinnen Freunde in persönlichen Unterstützungsnetzwerken insgesamt etwas an Gewicht. Die Zahl dominant freundschaftszentrierter Unterstützungsnetzwerke ist in den meisten mittleren Alterslagen zwischen dem Jahr 1988 und dem Jahr 2000 in Westdeutschland gestiegen (siehe Abbildung 2).14

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Abbildung 2: Wahrscheinlichkeit der Zentrierung des persönlichen Unterstützungsnetzwerks (1988 u. 2000) in Abhängigkeit vom Alter, gleitende Durchschnitte, (Normalverteilungskern), Glättungsbandbreite durch least-squares cross-validation, geschätzt an 20%-Zufallsstichprobe.

Datenquelle: DJI-Familiensurvey, 1988, 2000, replikativer Survey, alte Bundesländer, ungewichtet

Es deutet sich demnach an, dass den großen Umwälzungen im Diskurs zumindest kleinere Veränderungen in der Praxis entsprechen. Es bleibt die Frage, was man daraus schließen soll. Reichen die hier knapp angedeuteten Veränderungen aus, um der Freundschaft die große Rolle der fürsorglichen Lebensform der Zukunft zuzusprechen?

I Zwischen Diskurs und Praxis: Freundschaft und Fürsorge als
soziologisches Problem

Wie wirkt sich das neue Ideal der fürsorglichen Freundschaft auf die Chance der Durchsetzung fürsorglicher Praktiken in tatsächlichen Freundschaften aus? Begünstigt das Ideal sie? Hat der Diskurs womöglich keinen Einfluss auf die Fürsorglichkeit der Freunde, oder hemmt er sie gar? Die Differenzierung von Diskurs und Praxis gehört zu den grundlegenden Einsichten der Soziologie. Das zeigt sich bei Durkheim: Sein soziologischer Grundbegriff war der fait social, der soziale Tatbestand.15 Ein solcher ist immer schon eine Art Hybrid aus diskursiv gehandelten Handlungsmöglichkeiten und praktischen Vollzügen. Denn ein sozialer Tatbestand besteht darin, dass es objektive Möglichkeiten gibt, deren Realisierung faktisch eingeschränkt ist.16 Der Einzelne könnte anders handeln, denken oder fühlen, aber er wird es niemals tun. Ein seltsamer, externer Zwang hindert ihn. Die Evidenz der Unmöglichkeit des objektiv Möglichen, das ist der fait social. Nichts anderes meint die unter Soziologen gängige Wendung von der »Wirklichkeit der Moral«. Bei Durkheim ist nun das wissenschaftlich Mögliche noch den sozialen Bedürfnissen nachgebildet.17 Überspitzt gesagt: Selbst das Bedürfnis, Kausalitäten zu erkennen, kommt aus der Verkettung von Tat und Strafe, selbst die Vorstellung der Naturgesetze stammt von den Hausregeln ab, und selbst die Logik ist nichts anderes als eine »Moral des Denkens«.18

Ob etwas realisierbar ist oder nicht, wird somit letztlich immer anhand eines sozial-gewachsenen nomologisch-praktischen Wissens entschieden – an einem Wissen, das zumindest in der Moderne dazu tendiert, sich durch seine Anwendung zu erweitern. Durkheims Bestimmung des fait social wird unter dieser Bedingung zu folgender Formel: Der soziale Tatbestand ist ein Eingriff in die soziale Wissensstruktur, der aus dieser selbst heraus notwendig wird. Das Wissen produziert stets eine größere mögliche Welt, als es dann als Werk zulassen kann. Der Produktions- und der Annahmebereich der Episteme differieren. Begrifflich hat die Soziologie diese Einsicht durch die Unterscheidung von Lebenswelt und Wirklichkeit eingefangen: Die Lebenswelt ist nach Alfred Schütz das, was der mögliche Fall ist, das, was stets wiedererreichbar, wiederholbar und wiederherstellbar, das, was aufgrund bestimmter, gewusster Gesetzmäßigkeiten in der Praxis den Umschlag von der leichten Hülle des Wortes in ein schweres Kostüm der Tat überleben kann.19 Die Wirklichkeit im Gegensatz zur Lebenswelt ist dagegen das, was in der gewussten Welt machbar wird, das, was tatsächlich zum Fall aufsteigt und so die Lebenswelt bestätigt oder verändert.20 So gesehen bezeichnet das System, das den Unterschied zwischen Lebenswelt und Wirklichkeit aufrechterhält, den sozialen Tatbestand – und den untersuchen Soziologen seit Max Weber anhand der Differenz von Diskursen und Praktiken.

Auf der Basis dieser Ansätze kehre ich zu Freundschaft und Fürsorge zurück: Auf der einen Seite sind also immer die Geltungsansprüche qua Diskurs zu finden und auf der anderen Seite die sozialen Praktiken, Riten und Aktionen. Dazwischen liegt das, was es zu erfahren und zu erforschen gilt. Aber wie sind Diskurse und Praktiken in unserem konkreten Fall aufeinander bezogen? Die Fürsorge in Freundschaften stellt einen Sonderfall innerhalb der grundlegenden Problematik der Soziologie dar. Die Veränderung des Diskurses, aber auch die statistischen Auswertungen machen auf vielfältige begriffliche und methodische und theoretische Schwierigkeiten aufmerksam.

Der Begriff der Freundschaft: Eine Versuchsanordnung

Noch bevor man von Diskursen oder Praktiken der Fürsorge in Freundschaften sprechen kann, muss man etwas Spezifisches benennen können: Freundschaft. Und hier beginnen die Schwierigkeiten. Wann immer man versucht, genau zu bestimmen, was Freundschaft in unserer Gesellschaft im Gegensatz zu anderen Dingen ist, stellen sich gravierende Probleme ein. Aus den 26 Interviews, die ich für meine Studie geführt habe, und den 20 Freundschaftsratgebern, die ich zu diesem Zweck gelesen habe, ließe sich eine Vielzahl sonderbarer Freundschaftsformen auflisten: Da ist von Kleeblättern, Minutenfreundschaften, Busenfreunden, Geschwisterfreunden, Familienfreunden, Hausfreunden u. v. a. die Rede. Natürlich liegt der Ausweg nahe, die Befragten und die Ratgeber für inkompetente Sprecher zu halten. Wer jedoch den Versuch wagt, eine angemessene Liste von Eigenschaften der Freundschaften zu erstellen oder ein System zu finden, durch das sich Freundschaft sicher feststellen lassen würde, scheitert bald. Versucht man den Freundschaftsbegriff analytisch – also über Abgrenzungen zu anderen Sozialformen und spezifizierende Prädikate, wie etwa nicht verwandtschaftlich, nicht sexuell, affektiv, intim usw. – abzugrenzen, erzeugt man eine zu enge und zudem kulturell extrem verzerrte Definition des Wortes.21 Gemessen an einem solchen Begriff haben die meisten Menschen in Deutschland keine Freunde, und die meisten Menschen, die sie als Freunde bezeichnen, sind keine. Geht man den umgekehrten Weg und versucht, über die Weise, wie die Sprecher Freundschaft feststellen, auf die zwar kontextabhängigen, aber dennoch notwendigen Eigenschaften der Freundschaft zu schließen, gerät man in ähnliche Schwierigkeiten: Wie oben dargestellt werden mit dem Wort Freundschaft oft vollkommen disparate Sozialformen referenziert. Ein Flickenteppich, der sie alle umfasst, kann nur schwer in eine trennscharfe, exklusive Kategorie gepresst werden.22 Man ist logisch stets gezwungen, widersprüchliche Eigenschaften aus der Beschreibung der Kategorie zu löschen. Am Ende verbleibt nur eine Art Minimalbeschreibung wie: »Freundschaft ist eine freiwillige Beziehung, die stets kündbar ist.« Der Begriff ist dann nicht zu eng, sondern zu weit. Er bezeichnet auf einmal alles Mögliche. Auf den ersten Blick entzieht sich Freundschaft daher der präzisen begrifflichen Bestimmbarkeit und damit auch des wissenschaftlichen Zugangs. Über Fürsorge in Freundschaften zu sprechen ist daher müßig, weil man nicht sinnvoll von Freundschaft sprechen kann. Dieses Argument wird im Folgenden zu widerlegen sein.

Freundschaft: Ein abstrakter Familienbegriff

Eines der Grundprobleme des Freundschaftsbegriffs ist taxonomischer Natur. In logischen Termini gesprochen: Freundschaft ist eher der Deckname einer abstrakten Familie als die Referenz einer konkreten Kategorie. Das Wort bezeichnet nicht einfach eine bestimmte Beziehungsart mit feststellbaren Eigenschaften, sondern eine Familie abstrakter Beziehungsformen. Der Begriff hat so aufgefasst zwei Eigenarten, die ihn von üblichen soziologischen Kategorien unterscheidet: Erstens referiert er konzeptuell auf ein Geflecht graduell miteinander verwandter Sozialformen. Das hat folgende Konsequenz: Da man unter Freundschaft implizit eine Gruppe von Sozialformen versteht, die oft nur durch eine intermediäre Kette miteinander verwandt sind, gibt es nicht notwendigerweise irgendeine Eigenschaft, die allen gemein ist. Dieser Umstand erklärt hinreichend, warum Definitionsversuche über das aristotelische Verfahren Genus proximum et differentia specifica zwangsläufig scheitern. Die zweite Bestimmung des Begriffs erzeugt einen weiteren, in der Soziologie durch die traditionelle Verwendung von Idealtypen jedoch üblicheren Sachverhalt. Das Attribut abstrakt soll andeuten, dass es sich bei Freundschaft um eine Tatsache handelt, die niemals als sie selbst, also in »voller Reinheit« beobachtbar ist. Sie muss sich im Medium einer anderen sozialen Tatsache artikulieren. Das Phänomen ist unselbstständig im husserlschen Sinn des Wortes.23 Es muss etwas hinzutreten, damit die besonderen Strukturen der Freundschaft sichtbar werden. Für die Freundschaftsforschung hat das eine gravierende Konsequenz. Freundschaft erforscht man prinzipiell unter dem Gesichtspunkt eines Aspekts. Freundschaft als solche zu erforschen, ist, als ob man versuchte, Farben ohne einen Gegenstand zu sehen, an dem sich das Licht bricht. Man kann also Freundschaft nur erforschen, wenn man einen Aspekt – etwa Fürsorge – an sie heranträgt.

Normatives Gepäck: Freundschaftsideal und Freundschaftsbezeichnung

Neben der falschen Beurteilung der Begriffsart gibt es eine weitere traditionelle Schwierigkeit mit dem Freundschaftsbegriff, die schon in das Problemfeld des Zusammenspiels von Diskurs und Praxis fällt. Der Begriff trägt schweres normatives Gepäck, und das gleich doppelt: Freundschaft bezeichnet nämlich zugleich ein diskursives Ideal und eine strategische Bezeichnungspraxis. Die Eigenschaft, ein Ideal zu benennen, erzeugt in der Feldforschung ein gravierendes Problem. Setzt etwa eine befragte Person Freundschaft als Ideal an, entsteht das forschungslogische Ärgernis, dass er alle seine Beziehungen nur in Distanz zu diesem Vorbild einschätzt. Personen, die ein unerreichbares Muster dieser Art anlegen, kennen dann oft höchstens ein, zwei Bekannte, die den hohen Erwartungen annähernd entsprechen, aber keine Freunde. Ebenso problematisch ist für die Feldforschung die Verwendung des Freundschaftsbegriffs als eine Art strategische Bezeichnungspraxis. Durch das Wort Freundschaft werden traditionell unstatthafte, unorthodoxe und untypische Beziehungen eingekleidet, etwa zwischen Politikern und Lobbyisten, zwischen Liebhabern oder schlicht zwischen unerwarteten Sozialpartnern. Besonders auf der Ebene der Camouflage homosexueller Beziehungen hat das Wort Freundschaft traditionell die besagte Funktion erfüllt, da das antike, durchaus fleischliche Ideal der Freundschaft, ausgehend von Augustinus, über den heiligen Thomas bis hin zur protestantischen Mystik, in der christlichen Theologie zu einer reinen Liebe der Form geworden war.24 Die Verwendung des idealisierten und zudem durch Jahrhunderte der Entsexualisierung unverdächtigen Begriffs der Freundschaft als Code, um über Homosexualität zu sprechen, hat Heinrich Detering in seiner Studie »Das offene Geheimnis« im Detail belegt.25 Der Begriff der Freundschaft erfüllt, gerade weil er mit einem System starker Ideale assoziert wird, besonders gut die Aufgabe, subversive, alternative und präzedenzlose Beziehungen einzukleiden. Nun wäre es bestimmt vermessen, an dieser Stelle zu behaupten, dass all die unbotmäßigen Verwendungen des Freundschaftsbegriffs zur Bezeichnung neu- und andersartiger Beziehungen einfach nur sprachliche Fehler oder Täuschungsversuche seien. Die Bezeichnung als Freundschaft überführt eine ansonsten unbenennbare, strafbare oder unerwünschte Beziehung in eine respektable Form. Ein Soziologe kann untersuchen, wann und unter welchen Bedingungen ein solcher Versuch gelingt oder misslingt. Selbst entscheiden darf er das natürlich nicht. Dessen ungeachtet bleibt das Problem bestehen, dass der Freundschaftsbegriff eine Tendenz zu spontanen Wucherungen hat. So gibt es in Deutschland etwa Tierfreunde aller Art, und internetbasierte soziale Netzwerke wie Facebook haben dem Wort Freundschaft jüngst zu ganz neuen Reichweiten verholfen. Der Begriff hat eine Tendenz zum Uferlosen, besonders dort, wo es Interessen einzukleiden, Leidenschaften zu verkleiden und Namenloses zu benennen gilt.

Von den begrifflichen zu den methodischen Problemen

Der Begriff von Freundschaft ist also schwer zu fassen. Er referenziert eine abstrakte Begriffsfamilie, deren Verwendungspraxis normativ extrem vielschichtig ist und die nur im Zusammenhang mit konkreten sozialen Sachverhalten verstanden werden kann. Man ist daher stets unsicher, welches Familienmitglied gerade gemeint wird und in welcher Situation und mit welcher Absicht es der Sprecher aufruft. Entschieden werden kann, was der sperrige Begriff meint, meist erst nach einer ausführlichen Analyse, die den pragmatischen Kontext der Äußerung und die soziale Position des Sprechers berücksichtigt.26 Die begrifflichen Probleme sind also handhabbar, doch bei den begrifflichen Problemen enden die Schwierigkeiten nicht.

Die begrenzte Möglichkeit von Beobachtungen erster Ordnung

Methodisch ist die Sache besonders deshalb kompliziert, weil Freundschaften hier nicht unter irgendeinem, sondern unter dem Aspekt der Fürsorge untersucht wird. Viele prominente Freundschaftsformen – besonders jene, deren Grundfiguration eine Zweierbeziehung von Personen gleicher Achtung, gleicher Rechte und gleicher Pflichten ist – folgen Montaignes altem Spruch: »Weil er es war, weil ich es war.«27 Freunde dieser Art schulden nur einander Rechtfertigung über die Sorge, die sie füreinander tragen. Dieser Sachverhalt ist so lange kein methodisches Problem, wie die fürsorglichen Praktiken nicht mit einem Tabu belegt sind. Einer geselligen Runde etwa darf man mit etwas Glück gelegentlich beiwohnen. An anderen zentralen fürsorglichen Praktiken darf der Forscher aber definitionsgemäß nicht teilhaben. So verhält es sich zum Beispiel mit dem vertrauten Gespräch, das – so viel kann aus den Ratgebern und den Statistiken bereits geschlossen werden – eine besonders wichtige fürsorgliche Praxis in Freundschaften ist. Wie man sich den Freunden als Forscher auch nähert, man bleibt außen vor, weil die Beobachtung eben die soziale Tatsache zerstören würde, die man zu beobachten hofft. Daraus folgt, dass Freundschaftsbeobachtungen erster Ordnung unter dem Aspekt der Fürsorge oft systematisch nicht möglich sind; sie erfassen zentrale Fürsorgemedien häufig nicht. Ergo verbleiben dem Forscher oft nur Berichte, und damit Diskurse über Praktiken. Das birgt einige Schwierigkeiten. Natürlich kann man sich vertrauenswürdige Informanten besorgen und sie nach ihren Freundschaftspraktiken und ihrer Geschichte befragen. Man kann also zumindest versuchen, Beobachtungen von Beobachtungen erster Ordnung zu machen. Das allein ist schon ein Problem für sich, weil es Vertrauen zwischen dem Forscher und seinem Gesprächspartner voraussetzt, das man nicht einklagen und nur mit Glück durch eine gute Performanz herstellen kann. Aber selbst wenn dies gelingt, sind die Probleme noch lange nicht gelöst. Niemand versichert einem, dass das Tabu sich nicht auch auf den Bericht über die Praxis erstreckt. Es ist folglich keine triviale Aufgabe, aus Erlebnisberichten und biografischen Schilderungen etwas über die alltäglichen fürsorglichen Praktiken der Freundschaft herauszufinden.

Alte Kleider

Forschungspraktisch erschwerend kommt hinzu, dass auf der Sozialform der Freundschaft ein jahrtausendealter Diskurs lastet. Der Begriff der Freundschaft ist in seiner sozialtheoretischen Funktion in etwa so alt wie der Begriff der Geschichte. Er diente schon lange zur Beschreibung und zur Erklärung des sozialen Kosmos, bevor der soziologische Grundbegriff der Vergesellschaftung überhaupt gedacht wurde. Der alte tugendethische Diskurs legt sich über das alltägliche Wissen der Freunde um die Freundschaft. Damit wird es nicht nur problematisch, den Leuten ihre Erzählungen zu glauben, es wird sogar zweifelhaft, ob die normativen Postulate und konstruierten Notwendigkeiten, mit denen die behaupteten Verhaltensweisen gerechtfertigt werden, tatsächlich dem entsprechen, was die Sprecher von der Freundschaft zu wissen glauben. Mit anderen Worten: Nicht nur den Erzählungen über erlebte Freundschaft, sondern auch dem in öffentlichen Diskursen kolportierten Wissen von der Freundschaft muss man systematisch misstrauen.

Das heuristische Untersuchungsprogramm

Die einzige Chance, den besagten methodischen Schwierigkeiten unter diesen Bedingungen beizukommen, besteht darin, die Standpunkte geschickt gegeneinander zu variieren. Es bedarf eines heuristischen Verfahrens, um die Praktiken durch Beobachtungen von Beobachtungen zu ermitteln.28 Die Aussagen der Befragten müssen auf ihre innere Konsistenz überprüft, nach Möglichkeit intersubjektiv trianguliert und mit bekannten Sachverhalten kontrastiert werden. Mit den öffentlichen Diskursen kann auf analoge Weise verfahren werden. Die nackten Praktiken und die nackten Diskurse können aber nicht das Ziel der Untersuchung sein. Es geht schließlich darum, die soziale Tatsache der Fürsorge in Freundschaften zu begreifen. Warum gelten bestimmte fürsorgliche Praktiken wie das Verleihen und Verschenken von Geld als freundschaftsgefährdend und finden trotzdem häufig statt? Warum ist körperliche Pflege kein prominentes Thema, wenn die Hoffnung in die Freundschaft doch gerade lautet, dass die Freunde sich im Alter beistehen sollen? Ist die Sorge um den Leib der Freunde tabu? Was hat es mit all dem Geben und Nehmen auf sich, auf das angeblich zu achten ist, wenn am Ende die meisten stolz sind, keine Gegenleistung für ihre Hilfen zu erwarten? Warum gilt das Gespräch als derart wichtig und ist gleichzeitig von einer Aura der Geheimhaltung umgeben? Wer freundschaftliche Fürsorge als fait social begreifen will, muss die Diskurse an den Praktiken und die Praktiken an den Diskursen messen. Nur so lässt sich der Bruchpunkt finden, an dem ein diskursiver Wirklichkeitsanspruch seine Grammatik, also seinen Zusammenhang mit einer bestimmten Praxis, preisgibt. Mit einer Grammatik ist hier salopp das begleitende Korsett aus gewussten Regeln, Rechtfertigungssystemen und normativen Einstellungen gemeint, die einem bestimmten Ensemble von kollektiv geteilten Handlungsweisen Notwendigkeit verleihen. In foucaultschen Worten reformuliert: Es gilt das Dispositiv aufzufinden, das den Zusammenhang zwischen Wirklichkeitsanspruch qua Erzählung und dem Wirklichen qua Handlung verdeutlicht, das im Diskurs über Praktiken und dem Diskurs über die Notwendigkeiten bestimmter Handlungsweisen mitartikuliert wird.29 Mit etwas Glück kann man also in den Worten eine Archäologie der fürsorglichen Praxis in Freundschaften betreiben, wenn man die Beobachterperspektive so variiert, dass man an vorgeschobenen Begründungen und unerzählten Auslassungen vorbeisehen kann. Letztendlich gilt es also, ein Interferenzmuster zu erzeugen, an dem sich die Widersprüche, die Kommunalitäten, die Disparitäten und die Parallelitäten von Diskurs und Praxis ablesen lassen.

Fürsorge als heuristisches Forschungsgebiet

Aber wie genau soll das im vorliegenden Fall geschehen? Fürsorge ist ein weites Feld. Oberflächlich betrachtet fasst der Begriff die Vielfalt sozialer Praktiken, deren Ziel die Befriedigung elementarer psychophysischer und sozialer Bedürfnisse eines Anderen ist. In der Regel versteht man darunter diverse Haushalts-, Erziehungs-, Pflege- und Betreuungstätigkeiten, ebenso wie viele erbauliche Aktivitäten (etwa Zärtlichkeiten und Gespräche) und die vielgestaltige Welt der praktischen Gefälligkeiten. Erschöpfend auflisten lassen sich die fürsorglichen Tätigkeiten jedoch nicht. Psychophysische und soziale Bedürfnisse werden nämlich in der Regel nicht direkt, sondern durch sogenannte sekundäre Zwischengüter befriedigt.30 Beispielsweise essen die meisten Menschen nicht einfach irgendetwas, das sie zufällig finden: Sie arbeiten, um Geld zu haben, mit dem sie Essen kaufen können. Man kann also jemandem Geld geben oder eine Arbeit besorgen und so dafür sorgen, dass sein Hunger aufhört. Die Welt solcher sekundären Zwischengüter ist in unseren komplexen Gesellschaften nahezu endlos. Man kann also kaum alle Weisen, für jemanden zu sorgen, erfassen oder gar vorhersehen. Der Begriff der Fürsorge adressiert bei genauer Betrachtung daher auch nicht eine benennbare Menge von Tätigkeiten, sondern eine bestimmte Vollzugslogik: Tätigkeiten, die X vornimmt um Y direkt oder indirekt die Befriedigung seiner/ihrer Bedürfnisse zu ermöglichen.31 Aber was genau soll man untersuchen? Gibt es besonders wichtige fürsorgliche Tätigkeiten? Und woran soll man das bemessen? An den Statistiken, an den Aussagen der Befragten oder doch an den Lieblingsthemen öffentlicher Diskurse?

Dass empirische Befunde als Anhaltspunkt für die Auswahl jener Tatsachen dienen, die genauer erforscht werden sollen, entspricht dem methodischen Selbstverständnis heuristischer Sozialforschung.32 Damit ist aber nur geklärt, woran das Auswahlkriterium zu prüfen ist, aber nicht, wie das Kriterium lautet. Zwei teils konkurrierende Ansätze bieten sich an: Der erste besagt, dass ein Bericht über das fürsorgliche Potenzial der Freundschaft möglichst vollständig zu erfassen habe, was an Fürsorge unter Freunden geschieht. Es stellt sich schließlich die berechtigte Frage, auf welchem Nährboden erprobter Handlungsweisen die Praxis der fürsorglichen Freundschaft gedeihen soll. In diesem Fall müsste man die betrachteten Tätigkeitsfelder so wählen, dass sie eine besonders große Bandbreite üblicher fürsorglicher Praktiken einfangen. Der zweite Ansatz besteht darin, die Fürsorge in Freundschaften an Prüfsteinen zu reiben. Er folgt der Erkenntnis, dass Fürsorge ein Vollzugschema und nicht eine Summe von Tätigkeiten ist. Die forschungsleitende Frage lautet in diesem Fall, welche Bedingungen fürsorgliche Vollzüge stören und welche sie stabilisieren. Es wären demnach solche Tätigkeitsfelder zu untersuchen, die in Freundschaften als besonders schwierig gelten.

Beide Kriterien haben ihre Gültigkeit: Eine Arbeit, die nur über sehr seltene Sonderpraktiken spricht, kann kaum einen aussagekräftigen Eindruck des fürsorglichen Potenzials der Freundschaft vermitteln – auch wenn sie dazu in der Lage ist, Bedingungen zu benennen unter denen die Fürsorglichkeit der Freunde zusammenbricht oder gegen Widrigkeiten besteht. Umgekehrt wäre die Beschau all jener üblichen Tätigkeiten, die stets erwartet werden und stets gelingen, bedeutungslos. Es geht hier schließlich um die Frage, ob die Freundschaft zusehends zu einer tragfähigen Sozialform wird. Die Erwartungen des öffentlichen Diskurses der Freundschaft sind nicht gering. Aus einer Beziehung der Freiheit aus Freiheit soll eine Beziehung verbindlicher Fürsorglichkeit werden. Es geht um eine Transformation, die mitunter verlangt, dass Freunde neue Tätigkeitsfelder für sich entdecken und alte ausbauen.

Wenn beide Kriterien beachtet werden sollen, muss ein Kompromiss gefunden werden. Was als besonders relevante Praktiken in Freundschaften gilt, ist ebenso zu untersuchen wie das, was als conditio sine qua non einer sozial tragfähigen Beziehung zu gelten hat. Da nicht alles untersucht werden kann, was untersuchenswert wäre, müssen an dieser Stelle Entscheidungen getroffen werden. Die vier Tätigkeitsfelder, die hier in den Blick genommen werden, sind das Geld, die Taten, die Sorge um den Leib und das Gespräch. Sie setzen die fürsorgliche Freundschaft möglichst schweren Belastungsproben aus, erfassen aber zugleich zentrale fürsorgliche Praktiken. Bei finanzieller Fürsorge ist dieser Gedankengang besonders einfach nachzuvollziehen, heißt es doch im Volksmund: »Bei Geld hört die Freundschaft auf.« Es steht daher zu erwarten, dass Fürsorge im unpersönlichen Medium des Geldes einen besonders schweren, aber auch besonders aussagekräftigen Test für die These von der sozial tragfähigen Freundschaft darstellt. Geld ist in modernen Gesellschaften bekanntlich ein sehr vielseitig einsetzbares Zwischengut. In der Regel nicht monetär für Freunde sorgen zu können, wäre ein schwerer Hemmschuh für eine tragende Sozialform in spe. Kapitel II befasst sich daher mit der Frage der finanziellen Fürsorge unter Freunden.

Ebenso ist die Fürsorge angesichts knapper Ressourcen und zeitaufwendiger, irreversibler und einseitiger Handlungen eine besonders schwere und gewichtige Probe für die These fürsorgliche Freundschaft. Besonders unter erschwerten Bedingungen herrscht hinsichtlich der Verlässlichkeit der Freunde im tätigen Leben Skepsis. »Freunde in der Not gehen tausend auf ein Lot«, lautet das geläufige Urteil. Wie unter den Bedingungen von Knappheit in Freundeskreisen fürsorgliche Unterstützungsleistungen organisiert werden, berührt zudem eine extrem relevante Frage: Wie ist Arbeitsteilung in offenen Gebilden wie Freundeskreisen möglich? Sollte sich herausstellen, dass sich unter Freunden in der Regel keine gelingende Arbeitsteilung entwickelt, wäre an der Realisierbarkeit des fürsorglichen Freundschaftsideals erheblicher Zweifel anzubringen. Kapitel III untersucht daher die Frage der Fürsorge unter Freunden im tätigen Leben.

Eine besonders schwere Prüfung stellt in Freundschaften mit Sicherheit die Fürsorge des Leibes dar. Zwar gehört sie von ihrer Problematik her ebenso zu den zeitaufwendigen, irreversiblen und einseitigen Tätigkeiten. Zur Sorge um den Leib des Anderen treten indes noch zusätzliche erschwerende Bedingungen dazu: das Begehren und der Ekel. Moralisch gelöst wurde diese Problematik bisher durch ein Diktum, das Aristoteles zugeschrieben wird: »Eine Freundschaft ist eine Seele in zwei Leibern wohnend.« Aber überzeugt diese esoterisch anmutende Lehre im 21. Jahrhundert in einer alternden Gesellschaft noch? Wenn die Freunde nicht zur Pflege des Leibes fähig sind, wäre darin ein schweres Hindernis für die fürsorgliche Freundschaft zu sehen. Kapitel IV fragt daher nach dem fürsorglichen Leibesbezug der Freundschaft.

Das Gespräch in die Liste der Prüfsteine aufzunehmen mag eingangs befremden, gilt es doch als eine der großen Stärken der Freundschaft. Ihre soziale Wertschätzung beruht nicht zuletzt auf erbaulichen Gesprächen und guten Ratschlägen. Dennoch ist gerade die vertraute Unterredung auch als eine gefährliche Praxis einzustufen. Die Spannung zwischen dem Gebot zu genauer und der Gefahr übermäßiger Wahrhaftigkeit gehört zum moralischen Haushalt der Freundschaft. Aber kann man sich auf eine Beziehung verlassen, die unter Umständen ständig droht, an ihrem eigenen Wahrheitsregime zu scheitern? Kapitel V ist daher dem Gespräch in Freundschaften gewidmet.33

Prüfsteine der fürsorglichen Freundschaft

II Finanzielle Fürsorge: Das Geld der Freunde

Das folgende Kapitel untersucht die Fürsorge unter Freunden im Medium des Geldes. Die These von der fürsorglichen Freundschaft wird auf eine harte Probe gestellt, heißt es doch im Volksmund »Bei Geld hört die Freundschaft auf.« Der erste Schritt der Untersuchung besteht darin, anhand des Ratgeberdiskurses die diskursive Konstruktion des Geldverbots offenzulegen. In einem zweiten Schritt wird nach den faktischen Praktiken des Geldverkehrs in Freundschaften gefragt. Beides wird in einem dritten Schritt aufeinander bezogen. Es soll gezeigt werden, dass sich das Geldverbot in Freundschaften als Dispositiv verstehen lässt, das die Interaktion im Medium des Geldes strukturiert.

Hört bei Geld die Freundschaft auf?

»Bei Geld hört die Freundschaft auf«, heißt das bekannte Diktum, das einige beherzigen und andere nicht und von dem man nur selten reflektierte Rechenschaft bei Gesprächspartnern bekommen kann. Warum hört denn bei Geld die Freundschaft auf? Warum sollte man seinen Freunden und Freundinnen nicht mit einer Summe aushelfen? Die Vielfalt der wenig reflektierten Begründungen belegt, dass eine genuine Erklärung, insbesondere eine kollektiv geteilte, nicht abrufbar ist. Meist bekommt man zu hören, Freundschaften seien einfach wichtiger als Geld, und dann bleibt einem nichts anderes übrig, als die Frage zu wiederholen: Warum hört denn bei Geld die Freundschaft auf?

Die regelmäßige finanzielle Unterstützung von Freunden ist eher eine Seltenheit. Daten des SOEP aus dem Jahr 2008 zeigen deutlich, dass Freunden Geld zu leihen in nahezu allen Altersgruppen unüblich ist.

Andere Untersuchungen stützen dieses Bild. Gerade einmal 6,5% der vom DJI im Jahre 2000 befragten Personen zwischen 18 und 55 Jahren, die überhaupt finanzielle Unterstützung erhielten und/ oder vergaben, gaben an, einen Freund finanziell zu unterstützen und/oder von Freunden finanziell unterstützt zu werden. Beachtet man hierbei, dass nur 49,8% der Befragten überhaupt finanzielle Unterstützung erhielten und/oder vergaben, so lässt sich daraus schließen, dass es sich um ein marginales Phänomen handelt.34 Es ist damit aber auch gezeigt, dass Transferleistungen im Medium des Geldes Freundschaften nicht notwendigerweise stören.

Wie oft kommt es vor, dass Sie Ihren Freunden Geld leihen?

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Abbildung 3: Lokale Regression der Geldverleihfrequenz.

Datenquelle: SOEP 2008, ungewichtet

Warum hört also bei Geld die Freundschaft angeblich auf, wenn bei Geld die Freundschaft nicht notwendigerweise aufhört? Was ist der Kern der Behauptung? Geht es wirklich um Geld? Ist Geld vielleicht nur eine Metapher für etwas anderes, oder lässt sich tatsächlich eine konstitutive Problematik des Geldes in Freundschaften ausmachen? Die Ziffern weisen schließlich auch darauf hin, dass finanzielle Unterstützungsleistungen unter Freunden nicht unbedingt beliebt sind. Wenn es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen Freundschaftstod und Geld gibt, so stellt sich die Frage: Wie umgehen die Ausnahmen die Schwierigkeiten monetärer Interaktionen unter Freunden?

Die folgenden Passagen versuchen, aufgrund empirischer Daten ein Licht auf diese Fragestellungen zu werfen. Ein oberflächlicher Blick auf das Material weist zunächst darauf hin, dass die Behauptung der Inkompatibilität von Freundschaft und Geld normativ wirksam ist. Nicht nur die Ratgeber sind zumeist dieser Meinung. Auch viele der Befragten antworten auf die Frage, wie sie es mit Geld in Freundschaften hielten, ohne zu zögern mit der besagten Schlagformel. In jedem Fall ist zu konstatieren, dass die Norm »Du sollst mit deinen Freunden keine Interaktionen im Medium des Geldes vollziehen« einen diskursiven Geltungsanspruch qua angedrohtem Beziehungstod hat, der nicht von der Hand zu weisen ist. Aber wie genau artikuliert er sich? Worin besteht die vermeintliche Unmöglichkeit der Freundschaft im Medium des Geldes? Bei genauer Betrachtung handelt es sich nämlich um ein Verbot, das praktisch niemand mit Schärfe beachtet. Wie verfahren diejenigen, die es umgehen? Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Art des Umgangs mit Geld und der inneren Struktur des normativen Unterlassungsgebots? Dieser Frage soll im Folgenden sowohl auf der Ebene des normativen Freundschaftsdiskurses als auch im Feld der lebensweltlichen Praktiken nachgegangen werden, denn um sie zu beantworten, muss man zweierlei Fragen beantworten: Wie ist das Geldverbot eigentlich konstruiert und wie interagieren die Freunde im Medium des Geldes wirklich?

Im Diskurs: Das praxeologische Dilemma des Geldes

Ratgeber verkünden, was man tun oder unterlassen solle, und geben dafür Gründe an. Sie stützen sich dabei auf ein irgendwie geartetes legitimes Wissen. Im Falle von Freundschaftsratgebern findet man vor allem drei Typen: das Expertenwissen, das Heilswissen und die Lebenserfahrung. Wenn es um die Frage des Geldes geht, rekurrieren die Selbsthilfebücher vor allem auf ihre Lebenserfahrung. Freundschaftsratgeber sind mit wenigen Ausnahmen durchgängig der Auffassung, man solle seinen Freunden besser kein Geld leihen, weil man sich damit Probleme einhandelte. Es ist an dieser Stelle immerhin anzumerken, dass finanzielle Transaktionen kein zentrales Thema innerhalb der Ratgeberliteratur sind. Das normative Genre interessiert sich wenig für den wahrscheinlich prominentesten Satz in Sachen Freundschaft. Meist wird Geld nur am Rande, als Nebensache in Beispielgeschichten erwähnt. Die thematische Unterlassung lässt sich normativ als ein Unterlassungs-Gebot interpretieren. Man schweigt mit der Mehrheitsmeinung. Das legen nicht nur der Gemeinsinn und die soziologische Vernunft, sondern auch die wenigen Passagen nahe, die sich mit der Frage finanzieller Unterstützung explizit beschäftigen. In fast allen Fällen kommt die Kombination Freundschaft und Geld dabei nicht gut weg. Ist also aus der Ratgeberliteratur in der hier verhandelten Angelegenheit nichts zu lernen?

Man kann durchaus etwas lernen. Allerdings bedarf es einer bestimmten Strategie, nämlich der Suche nach dem paradigmatischen, hier dem außergewöhnlichen Beispiel: Ein Kuriosum wird gesucht. Die wissenschaftliche Begründung lautet in diesem Fall wie folgt: Die meisten Darstellungen von Problemen im Umgang mit Geld in Freundschaften innerhalb der Ratgeber sind ziemlich wortkarg und erklärungsarm. Man verleiht etwas; der Freund oder die Freundin ist unzuverlässig; man kommt in Konflikt miteinander. Gelehrt wird somit Zuverlässigkeit. Aus solchen Fällen lässt sich nichts lernen, weil das spezifische Problem des Geldes verschwindet. Individuelle Unzuverlässigkeit in regelgeleiteten Interaktionen führt immer zu Störungen – das hat mit dem jeweiligen Interaktionsmedium nichts zu tun. Ob jemand Verabredungen verpasst, Geheimnisse ausplaudert oder Geliehenes nicht zurückgibt, macht in der normativen Argumentation letztlich keinen Unterschied. Ein Einzelner enttäuscht seinen Freund oder seine Freundin. Das Geld-Verbot hingegen ist allgemein verfasst, denn es heißt schließlich nicht: »Bei Geld hört die Freundschaft auf, wenn du unzuverlässig bist!«, sondern es lautet einfach: »Bei Geld hört die Freundschaft auf!« Individuelle Performanz gehört nicht zu den expliziten Randbedingungen der Regel. Aber selbst wenn das Verhalten eines Einzelnen mitgemeint sein sollte, wäre nicht ersichtlich, warum die Geldrückgabe im Allgemeinen eine höhere Hürde darstellen sollte als pünktliches Erscheinen oder rigorose Verschwiegenheit. Warum also eine gesonderte Regel für Geld erfinden? Man müsste im Umkehrschluss behaupten, bei Verabredungen und intimen Gesprächen höre die Freundschaft auf, wenn individuelle Unzuverlässigkeit das Problem wäre.

Wie lässt sich denn nun etwas aus der Ratgeberliteratur lernen? Die springende Idee ist einfach. Einem Gedankengang Giorgio Agambens folgend: Es bedarf eines echten Beispiels, einer Geschichte, die in ihrer Singularität die Differenz des Allgemeinen und Besonderen aufhebt; gesucht wird ein »Exemplar«35. Man muss einen Ratschlag finden, der anders gelagert ist, der mehr Anhaltspunkte bietet, weil er mehr erklären muss, der aber trotzdem die kargen Wesensmerkmale seiner Gattung trägt. Es bedarf eines außergewöhnlichen Falls, eines Modellbeispiels, um in die normative Mechanik des Verbots zu schauen.