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Band 17

 

Der Administrator

 

von Frank Borsch

 

 

 

Im Spätsommer 2036 steht die Menschheit vor einer neuen Ära ihrer Geschichte: Nachdem Perry Rhodan den Kontakt zu Außerirdischen hergestellt hat, steht nun die Einigung der zerstrittenen Menschheit an. Terrania City soll die Hauptstadt der Terranischen Union werden – danach können die Menschen gemeinsam weiter ins All vorstoßen.

Viele von Rhodans Weggefährten sind überzeugt: Der neue Staat benötigt einen Visionär an der Spitze der Regierung. Das kann nur Perry Rhodan selbst sein – er soll zum ersten Administrator werden, der die Menschheit in die Zukunft führt. Wird Rhodan sich dieser Herausforderung stellen?

Währenddessen durchforschen Wissenschaftler die uralten Artefakte, die man im Atlantischen Ozean gefunden hat. Der arkonidische Gelehrte Crest stößt auf geheimnisvolle Fragmente – dabei macht er eine Entdeckung, die nicht nur sein Weltbild erschüttert ...

1.

Perry Rhodan

Im Wega-System, 13. September 2036

 

Die TOSOMA blieb hinter den beiden Menschen und dem Ferronen zurück.

Das Schiff war ein Gigant, eine stählerne Kugel mit einem Durchmesser von rund achthundert Metern. Ein technisches Wunderwerk, das bis vor wenigen Wochen jenseits von absurden Wunschträumen unvorstellbar gewesen war. Jetzt war die TOSOMA das Flaggschiff der Menschheit – und vorerst das einzige Schiff von der Erde, das in der Lage war, die unvorstellbaren Entfernungen zwischen den Sternen zurückzulegen.

Die TOSOMA, erleuchtet von einer Vielzahl von Positionslichtern, wurde zusehends kleiner, verwandelte sich schließlich zu einem Stern unter unzähligen. Mit dem Schiff blieb ihre Heimat zurück, blieb Lesly K. Pounder zurück, der als Flight Director der NASA Perry Rhodan und drei Kameraden auf eine wahnwitzige Mission zum Mond geschickt hatte. Derselbe Lesly K. Pounder, der jetzt das Wunderwerk des arkonidischen Schiffs befehligte und Rhodans Absicht in seiner gewohnt direkten Art kommentiert hatte. »Lassen Sie den Mist, Rhodan! Auf der Erde wartet man auf Sie!«

Rhodan hatte nicht auf seinen ehemaligen Mentor gehört. Er hielt nichts davon, anderen zu befehlen, was er selbst nicht zu wagen bereit war.

Perry Rhodan streckte den Arm aus, berührte den Touchscreen, der seinem Platz zugeordnet war, und löschte das Bild des gewaltigen Kugelraumers von den Schirmen.

Perry Rhodan konzentrierte sich ganz auf das Hier und Jetzt.

Die Luft in der engen Kabine der ferronischen Fähre war stickig, unterlegt mit einem Hauch kühlen Metalls und der herben Note, die die Raumfahrer der Wega hinterlassen hatten. Sie erinnerte Rhodan in ihrer Enge an die Kabine der STARDUST, die ihn und seine Gefährten zum Mond getragen hatte. Nur, dass dort der scharfe Geruch von Schweiß in der Luft gehangen hatte. An Bord der PANERC fehlte er. Ferronen kannten keinen Schweiß.

Zu seiner Linken war Reginald Bull, Rhodans bester Freund, in den aufwendig gepolsterten Sitz geschnallt und checkte die Systeme der Fähre durch. Sie hatten ihn zum Bordingenieur des Flugs bestimmt. Bull trug einen arkonidischen Kampfanzug, den Helm eingeklappt. Der Mann mit den roten Stoppelhaaren bemerkte Rhodans forschenden Blick nicht. Er hatte die Lider zusammengekniffen, versuchte die Kolonnen ferronischer Schriftzeichen zu deuten, die über die Schirme der Diagnoseanzeigen huschten.

Zu seiner Rechten war Chaktor, der Raumfahrer aus dem Wega-System. Wie die meisten Ferronen war er kleiner und kompakter als ein Mensch, angepasst an die deutlich höhere Schwerkraft seiner Heimatwelt. Seine Haut war blau, sein Haar war kupferrot. Die Augen lagen in tiefen Höhlen, geschützt von einer weit vorspringenden Stirn, und waren dadurch kaum zu erkennen.

Chaktor trug ebenfalls einen arkonidischen Kampfanzug. Das Material hatte sich als flexibel genug erwiesen, um sich dem Körper eines Humanoiden anzupassen, der es nur auf ein Meter sechzig Größe, aber eine unpassend erscheinende Breite brachte. In den Gürtel eingeklinkt waren zwei schwere Strahler. Die größten für den Ferronen noch tragbaren Waffen, die sie in den Arsenalen der TOSOMA hatten auftreiben können. Die Waffen waren Chaktors Bedingung gewesen, um die beiden Menschen auf ihrer Wahnsinnsmission zu begleiten.

Rhodan betrachtete das eigene Gesicht einen Augenblick lang im Spiegelbild eines der Displays: Wache graublaue Augen erwiderten seinen Blick. Rhodan hatte kurzes blondes Haar und ein Gesicht, das zuweilen als schmal, zuweilen als hager, zuweilen als energisch bezeichnet wurde. Sah man genau hin, erkannte man auf dem rechten Nasenflügel eine kleine Narbe.

Es war das Gesicht eines Menschen.

Chaktor hielt es für das Antlitz des Lichtbringers, der sein Volk gerettet hatte. Nur, um den Lichtbringer zu beschützen, hatte sich der Ferrone zu diesem Flug bereitgefunden. Nur dank des Lichtbringers, glaubte Chaktor, blieb ihnen wenigstens eine geringe Chance zu überleben, was vor ihnen lag.

Rhodan holte es auf das große Frontdisplay.

Eine verwaschene Scheibe hing in der Schwärze des Raumes. Sie erinnerte den erfahrenen Astronauten an den aus dem irdischen Sonnensystem vertrauten Jupiter, einen so genannten Gasriesen.

Doch die Welt, der sie sich mit stetig zunehmender Fahrt näherten, hieß Gol. Er war der vierzehnte von zweiundvierzig Planeten der Wega, und im Vergleich zu Gol mutete Jupiter wie ein heimeliger, kuscheliger Ort an.

Gol durchmaß beinahe 200.000 Kilometer. Hauptbestandteil seiner Atmosphäre war Wasserstoff, gefolgt von Helium, Methan und Ammoniak. Seine Schwerkraft betrug nahezu das Zwanzigfache der irdischen, und statt einem roten Punkt zierten Hunderte von Flecken, die an Rorschach-Kleckse erinnerten, seine Atmosphäre. Die Stürme, die auf Gol tobten, hielten die Flecken in Bewegung, zerstieben sie, formten unentwegt neue. Im Lauf der Jahrtausende hatten die Ferronen festgestellt, dass sich gewisse Muster immer wieder bildeten.

Chaktor, der erfahrene, unerschütterliche Raumfahrer, japste beim Anblick des Planeten. Er fasste nach dem metallenen Ei, das er an seinem persönlichen Display angebracht hatte, und drückte es gegen den Leib. Wenn der Ferrone daran rieb, entfaltete sich ein dreidimensionales Bild. Es zeigte seine Familie: drei Frauen und zwei Dutzend Kinder. Seit einigen Wochen beschwor Chaktor das Bild nur noch selten herauf. Es schmerzte ihn zu sehr. Nach dem Abzug der Topsider aus dem Wega-System hatte sich herausgestellt, dass nur zwei seiner Frauen und siebzehn seiner Kinder die Invasion der Echsenwesen überlebt hatten.

»Unser Kurs ist korrekt?«, fragte Rhodan, um den Ferronen abzulenken.

Chaktor ruckte hoch und rief auf seinem persönlichen Display Datensätze und Ausschnittsvergrößerungen auf. Er war der Navigator des Teams. Kurz darauf entstanden Linien auf dem Frontdisplay und verbanden die roten Flecken auf der Oberfläche Gols.

Sie erinnerten Rhodan an irdische Sternbilder. Nicht ganz zu Unrecht, wie sich rasch erwies.

»Ja«, antwortete der ferronische Raumfahrer. »Sehen Sie hier ...« Eines der »Sternbilder« leuchtete auf. »Wir befinden uns über dem ›Wächter der Hölle‹. Behalten wir den Vektor bei, tauchen wir über dem ›Nest der Raubschlangen‹ in die Atmosphäre ein.«

»Reizende Aussichten!«, brummte Bull. »Hoffentlich springt uns keine an ...«

»Alle Systeme einsatzbereit?« Rhodan ignorierte den Kommentar des Gefährten.

Bull rührte keinen Finger, um die Touchscreens vor ihm zu bedienen. »So bereit, wie sie jemals sein werden.« Es klang beinahe beleidigt. Seit ihrer Begegnung mit den Arkoniden auf dem irdischen Mond verbrachte Bull jede freie Minute damit, mit nicht irdischer Technik herumzuspielen. Sei es die der Arkoniden, der Fantan, der Topsider oder der Ferronen. Wenn es so etwas wie einen Experten in Sachen außerirdischer Technologie gab, dann Reginald Bull.

»Gut«, antwortete Rhodan. »Ich starte den Reaktor.«

Die Polster unter Rhodan begannen zu vibrieren. Ein hohes Summen erfüllte die Kabine, senkte sich allmählich zu einem tiefen, durchdringenden Brummen. Rhodan wurde nach unten gezogen, als die Antigravneutralisatoren ihre Arbeit aufnahmen und die Schwerelosigkeit des Alls aufhoben.

Die PANERC hatte bis zur Invasion der Topsider als Zubringerfähre auf einem der Monde der äußeren Planeten gedient. Sie hatte Arbeiter und Versorgungsmaterialien aus dem Orbit zur Oberfläche gebracht und Arbeiter und Mineralien zurück in den Orbit. Die PANERC war ein hässliches Gefährt, ein gedrungener Zylinder, an dessen Heck man eine Handvoll Landestützen geflanscht hatte. Ein Zweckfahrzeug, bei dessen Konstruktion man auf den atmosphärelosen Monden überflüssigen Luxus der Aerodynamik verzichtet hatte. Ein Arbeitspferd, dazu geschaffen, übelste Schläge ohne Murren einzustecken. Ein Gefährt, dessen Verlust die Menschheit im Gegensatz zu dem der TOSOMA würde verkraften können.

Mit anderen Worten: genau die Art von Gefährt, die sie für ihren Vorstoß benötigten.

Sie hatten noch einen draufgesetzt. Die Topsider hatten erhebliche Mengen Kriegsschrott bei ihrem Abzug aus dem Wega-System zurückgelassen. Ausgebrannte, verkohlte Wracks, nicht einmal für die unersättlichen Fantan von Interesse. Doch von Zeit zu Zeit trog der Schein, fanden sich in den Trümmern Komponenten, die wie durch ein Wunder funktionstüchtig geblieben waren.

Die PANERC hatte einen topsidischen Fusionsreaktor erhalten, dazu Andruckneutralisatoren, schubstarke Unterlichttriebwerke und einen Schutzschirmgenerator. Jede einzelne Komponente war rettungslos überdimensioniert – und, so hofften sie, damit ausreichend für ihren Abstieg in die Hölle der Ferronen.

»Helme schließen!«, ordnete Rhodan an. »Ich leite den Abstieg zur Oberfläche ein.«

Knisternd entfalteten sich die Helme der Kampfanzüge, schlossen die beiden Menschen und Ferronen in ihre perfekten, autarken Umgebungen ein. Rhodan gab für mehrere Sekunden Schub. Die topsidischen Triebwerke reagierten augenblicklich und exakt.

»Ich aktiviere den Schirm!«

Das Brummen des Reaktors wurde lauter, als der fünfdimensionale Schild entstand. Eine halbtransparente, leuchtende Glocke legte sich um die PANERC. Das Leuchten stammte von den Gasen, die im Schirm vergingen. Rhodan registrierte aus dem Augenwinkel die Belastung des Schirms: zwischen neun und elf Prozent. Ihnen blieb noch viel Spielraum.

Chaktor begann zu murmeln. Rhodans Anzugtranslator übersetzte die Worte nicht, aber er glaubte, eine Art Gebet zu hören, eine Beschwörung. Der Ferrone presste das metallene Ei fest gegen den Bauch. Es musste die Entsprechung zur menschlichen Geste des an die Brust Pressens sein.

Bull sagte laut: »Siehst du schon die ersten Gespenster, Chaktor?«

Es war eine unverzeihlich respektlose Bemerkung. Die Art von Bemerkung, auf die nur Reg kam – und mit der nur der Freund durchkam.

»Keines, das nur annähernd so schrecklich wie du wäre, rothaariger Mensch!«, entgegnete Chaktor im selben bissigen Tonfall.

Bull lachte auf. »Na also! Dann kann ja nichts schiefgehen ...«

»Du sagst es!«, pflichtete der Ferrone bei.

Rhodan lauschte dem Wortwechsel verblüfft. Zwischen Bull und Chaktor hatte sich rasch eine ruppige Männerfreundschaft entwickelt. Der Mensch und der Ferrone schienen sich einander als Gleichwertige zu sehen – während Chaktor im Umgang mit ihm selbst immer noch Ehrfurcht an den Tag legte. Rhodan hatte den Ferronen das Licht zurückgebracht. Es garantierte ihm bedingungslosen Respekt. Doch die Kehrseite war eine gewisse, unüberbrückbare Distanz.

»Wenn ihr mich fragt ...«, sagte Bull. »Ich kann hier keine Geister sehen. Nur Giftgas und Stürme. Allerdings von der ganz fiesen Sorte.«

»Wenn du sie so einfach sehen könntest, wären es keine Geister«, wandte der Ferrone ein.

Bull schwieg einen Augenblick, dann schüttelte er langsam den Kopf. »Chaktor, du bist Raumfahrer. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass du an diese abwegigen Legenden über Gol glaubst.«

»Nicht abwegiger als die Legenden über die Lichtbringer. Und doch seid ihr gekommen!«

»Klar. Und jetzt guck dir mal an, welche Überwesen du dir eingehandelt hast! Den lausigsten Baseballspieler, den Columbus High je gesehen hat. Frag meinen alten Sportlehrer!«

»Ihr habt uns Ferronen gerettet, das steht fest.« Chaktor hatte offensichtlich weder mit »Baseballspieler« noch mit »Columbus High« etwas anfangen können. »Über den Rest sehe ich großzügig hinweg.«

»Edel von dir. Du ... was?«

Ein Ruck schnitt Bull das Wort ab.

»Kein Grund zur Beunruhigung«, schaltete sich Rhodan ein. »Die Andruckabsorber arbeiten nicht komplett synchron. Ein Jetstream der oberen Atmosphäre hat uns erfasst. Schätzungsweise fünfhundert Kilometer die Stunde schnell, relativ zur Oberfläche.«

»›Schätzungsweise‹!«, machte Bull. »Du bist mir ein schöner Astronaut. Hast du das nicht exakt?«

»Leider nicht.« Rhodan wandte sich nach rechts. »Chaktor?«

Der Ferrone ließ die Finger geschickt über die Touchscreens huschen, lehnte sich schließlich zurück. »Nichts. Weder Infrarot noch Radar, noch Mikrowellenortung bringen uns weiter. Ich habe es doch gesagt.«

Chaktor war im Vorfeld ihres Aufbruchs der größte Mahner gewesen. Gol war ein Rätsel. Die Ferronen beherrschten seit Jahrtausenden die Raumfahrt innerhalb ihres Systems. Aber noch nie war eines ihrer Fahrzeuge, bemannt oder unbemannt, in die unteren Schichten der Atmosphäre eingetaucht und wieder zurückgekehrt. Angesichts der physikalischen Daten gab es keinen Mangel an wissenschaftlichen Erklärungen für dieses Scheitern, doch Chaktor, der ansonsten stocknüchterne Raumfahrer, wollte sie nicht gelten lassen. Für den Ferronen gab es nur eine Erklärung: die Geister von Gol.

Schlechte Menschen fuhren nach dem Tod zur Hölle oder dem Äquivalent, das ihr jeweiliger Glauben diktierte. Die Seelen schlechter Ferronen wurden auf Gol eingesperrt.

Daran glaubte Chaktor felsenfest, daran glaubten alle Ferronen. Eine bemerkenswerte Tatsache, fand Rhodan, der die kulturelle Zersplitterung der Wega-Bewohner am eigenen Leib erlebt hatte. Es gab offenbar nur drei Dinge, die die Ferronen einte: ihre bedingungslose Verehrung des Thort, ihre Sprache – und der Glaube an die Geister von Gol.

Es war ein Aberglaube. Anachronistisch, aber erklärbar. Rhodan hielt ihn für das Produkt der langen Bruderkriege der Ferronen, des Dunklen Zeitalters. Unzählige Verbrechen waren damals begangen worden. Verbrechen, von denen nur ein Bruchteil gesühnt worden war. Die Legende von den Seelen der Bösen, die auf Gol eingesperrt waren, verschaffte wenigstens den Anschein einer höheren Gerechtigkeit.

Bull ruckte plötzlich hoch, wurde von den Gurten zurückgehalten. Er musterte ungläubig das Display vor ihm. »Was ist da los?« Er hieb mit der flachen Hand gegen das Display, als habe das Gerät einen störrischen Willen, den es zu brechen galt. Als es nicht fruchtete, besann er sich und rief die Diagnosefunktionen auf.

Nach einigen Sekunden sank er zurück in die Lehne, die Augen geweitet. »Wir ... wir haben die Verbindung zur TOSOMA verloren! Aber wie kann das sein? Pounder ist uns oberhalb der Atmosphäre gefolgt. Uns trennen keine zehntausend Kilometer ...«

»Die Geister«, flüsterte Chaktor leise. »Sie mögen keine Eindringlinge.«

»Es hat nichts zu bedeuten«, schaltete sich Rhodan ein. »Auf Gol herrschen extreme physikalische Verhältnisse, das ist bekannt. Sonst wäre es den Ferronen in den letzten Jahrtausenden gelungen, mehr über den Planeten herauszufinden.« Er wandte sich an Bull. »Reg, alle Systeme einwandfrei?«

»Ja ... ich glaube schon.« Der Freund sah ihn nicht an. Er arbeitete sich durch die Tiefen der ferronischen Bordsoftware.

Rhodan nickte. »Ich hatte nichts anderes erwartet. Wir setzen unseren Flug fort.« Er schob den Steuerstick von sich weg und drückte die PANERC nach unten. Die Atmosphäre verdichtete sich zusehends. Doch die Instrumente der Fähre mühten sich vergeblich, den Nebel zu durchdringen. Die Oberfläche Gols blieb ihnen verborgen.

Die beiden Menschen und der Ferrone schwiegen. Das Brummen des Fusionsreaktors nahm zu, als die Schirme zunehmend höhere Leistung erforderten. Die Werte pendelten sich bei knapp fünfundzwanzig Prozent Auslastung ein.

»Wir müssen den Kurs ändern«, brach Chaktor nach einigen Minuten das Schweigen.

»Wieso?«

»Eine Wirbelzone liegt zwischen uns und unserem Ziel«, erklärte der Ferrone. »Zwei Sturmfronten treffen dort aufeinander.«

»Wir besitzen einen Schutzschirm«, wandte Bull ein.

»Die Geschwindigkeit der Fronten liegt bei jeweils über achthundert Stundenkilometern«, hielt Chaktor dagegen. »Wir sollten kein unnötiges Risiko eingehen.«

»Chaktor hat recht«, stimmte Rhodan zu. »Ausweichkurs?« Der Ferrone spielte dem ehemaligen Astronauten einen Vorschlag auf das persönliche Display.

Rhodan folgte ihm, führte die PANERC in weitem Bogen um die Wirbelzone; dennoch wurde die Fähre in unregelmäßigen Abständen von Böen erfasst. Der erfahrene ehemalige Testpilot fing sie mit Unterstützung des Bordcomputers ab, brachte die PANERC erneut auf Zielkurs.

»Perry?« flüsterte Bull.

»Ja?«

»Du weißt ja, ich bin ein wohlerzogener und rücksichtsvoller Mensch und eigentlich ist es nicht meine Art, andere bei der Arbeit zu unterbrechen, aber ...«

»Aber was?«

»Aber ich empfehle dir dringend, nicht nur auf deine Instrumentendisplays zu glotzen und stattdessen den Blick nach Backbord zu wenden. Du wirst es nicht bereuen, ich verspreche es dir.«

Rhodan erfasste die Statuswerte, registrierte, dass die PANERC sich im stabilen Sinkflug befand, und folgte der Aufforderung des Freundes.

Er blickte in die Wirbelzone. Sie leuchtete von innen heraus, als brenne in ihr ein Feuer. Ein wütendes, vielfarbiges Feuer, das sich stellenweise aufblähte, wieder zusammenfiel – und dabei Formen bildete, die dem Verstand Figuren vorspiegelten.

Menschen sahen darin Schemen, die einen wilden Tanz aufführten.

Ferronen sahen darin gemarterte Seelen.

»Die Geister von Gol!«, brüllte Chaktor. »Wir müssen ...«

Der Ferrone kam nicht weiter. Sprunghaft stieg die Schwerkraft in der Fähre an. Rhodan fühlte sich von einer unsichtbaren Faust in den Sitz gepresst. Sie drückte auf seine Brust, machte es ihm unmöglich zu atmen. Ein Schleier legte sich über seinen Blick. Rhodan kniff die Augen zusammen, las die Werte der Instrumentendisplays ab und erkannte, dass sie keinen Sinn ergaben.

Der Sinkflug der PANERC verwandelte sich in einen taumelnden, unkontrollierten Fall.

Die Triebwerke brüllten auf, als der Bordrechner reagierte. Das Taumeln ging in zunehmend schnelle Rotation über, der Sturz der PANERC hielt an. Etwas knirschte. Überbeanspruchter Stahl riss kreischend.

»Die Werte!« Bull schrie keuchend. »Sie sind falsch! Der Rechner ...« Die Triebwerke setzten einen Augenblick lang aus und in einem anderen Vektor wieder ein. Der Schub raubte dem Freund den Atem.

Der Rechner! Rhodan winkelte den Arm ab, versuchte die Notabschaltung zu erreichen. Es gelang ihm nicht, obwohl sie nur einen Armbreit vor ihm angebracht war. Ein Mensch war nicht stark genug, um ... ein Gedanke kam Rhodan. »Chaktor!«, brüllte er. »Der Bordrechner. Schalten Sie ihn ...«

Der Ferrone verstand. Zentimeter um Zentimeter kroch seine Hand auf die Notabschaltung zu. Rhodan sah, wie die Muskeln seiner Arme hervortraten. Die Heimatwelt Chaktors wies beinahe die anderthalbfache Schwerkraft der Erde auf. Ferronen waren stärker als Menschen, Chaktor konnte gelingen, was einem Menschen unmöglich war.

Chaktor spannte die Muskeln an, stöhnte auf – und seine Hand überwand die letzten Zentimeter, die sie von der Notabschaltung trennten.

Die Triebwerke setzten schlagartig aus.

Rhodan umklammerte den Steuerstick. Er schloss die Augen, ignorierte die absurden Werte der Instrumentendisplays. Mit der linken Hand schaltete er die Hilfssysteme der PANERC aus. Die Proteste Bulls – »Perry, hast du jetzt komplett den Verstand verloren?« – ignorierte er.

Perry Rhodan dachte zurück an den 14. März 2032. Den Tag, an dem er eigentlich hätte sterben sollen. Unweit der Landebahn von Nevada Fields, als der Prototyp des Interplanetary Shuttles ins Trudeln geraten war. Rhodan hatte die Instrumente der Fähre ignoriert, die gut gemeinten Anweisungen des Kontrollzentrums, die Befehle Pounders. Er hatte in sich hineingelauscht. Er hatte gefühlt, was zu tun war. Mit geschlossenen Augen hatte er das Shuttle abgefangen und auf die Landebahn gezwungen. Eine Bruchlandung, mehr nicht. Aber eine Sensation, die Pounder endgültig zu seinem Mentor gemacht hatte und schließlich dazu führte, dass Pounder ihn mit der STARDUST zum Mond gesandt hatte, wo er auf die Arkoniden getroffen war ...

... um jetzt hier zu sterben?

Nein.

Rhodan gab Schub auf die Steuerdüsen, die um den Rumpf der PANERC liefen. Die Fähre reagierte augenblicklich, als hätte sie nur darauf gewartet, die richtigen Anweisungen zu bekommen. Weitere Schubstöße stoppten das Taumeln, richteten die PANERC wieder auf.

Rhodan öffnete die Augen. Die Gasnebel Gols wallten vor den Scheiben der Kanzel. Sie leuchteten von innen. Und plötzlich blieben sie zurück und gaben den Blick frei auf eine Hügellandschaft.

»Die Oberfläche!«, brüllte Bull.

Rhodan hatte bereits reagiert. Er gab Vollschub auf die topsidischen Triebwerke. Die PANERC schüttelte sich und ächzte, aber sie hielt, obwohl die Verzögerungswerte weit über die Belastungen gingen, für die ihre Konstrukteure sie ausgerichtet hatten.

Zweihundert Meter über der Oberfläche war die Fahrt der PANERC aufgezehrt. Rhodan fuhr die Triebwerksleistung herunter, hielt die Fähre in der Schwebe.

Bull prustete laut. »Das war knapp. Verdammt knapp.« Während er es sagte, ging er über die Werte seiner Displays. Er erstarrte. Und fluchte. »Mist! Wir müssen hier weg, Perry! Schnell!«

»Wieso? Der Rumpf hat gehalten.«

»Ja. Aber nicht der Reaktor. Er verliert an Leistung. Lass uns verschwinden, solange wir noch können!«

»Nein!«, sagte Chaktor laut und bestimmt.

»Was?« Bull sah verdutzt zu dem Ferronen. »Eben noch konntest du nicht schnell genug deinen Geisterplaneten hinter dir lassen. Und jetzt plötzlich ...«

»... jetzt sehe ich klar«, brachte Chaktor den Satz zu Ende und zeigte durch die Panzerfenster der Kanzel nach Steuerbord.

Rhodan und Bull blickten in die Richtung, die der Ferrone angab.

Ein lang gestrecktes Tal. In der Mitte ein sich windendes, ausgetrocknetes Flussbett, das von anderen Flüssigkeiten als von Wasser geschaffen worden sein musste. Geröll und Felsen. Und ein langer, glatter Zylinder, der sich in der Mitte zu einer Kugel verdickte.

Ein topsidisches Raumschiff.

Der Köder, der sie in die Hölle der Ferronen gelockt hatte.

Rhodan leitete, ohne zu zögern, die Landung ein.

2.

Crest da Zoltral

Vor den Azoren, 13. September 2036

 

Es war Nacht in der stählernen Kuppel am Grund des Atlantiks.

Zumindest das, was die Menschen mit diesem Begriff bezeichneten. Mehrere Hundertschaften von ihnen hatten die von Arkoniden errichtete Kuppel zu ihrer Heimat gemacht. Es waren Wissenschaftler aller Sparten. Sie versuchten, der Kuppel ihre Geheimnisse zu entreißen.

Sie brannten vor Eifer. Sie arbeiteten sechzehn, ja achtzehn Stunden ohne Pausen, um dann ausgelaugt auf ihre Betten zu sinken. Die Menschen hofften, mithilfe von Medikamenten ihren Bedarf an Schlaf zu senken. Doch es gelang ihnen nicht. Sank ihre Schlafzeit unter sechs Stunden, sank ihre Leistungsfähigkeit drastisch.

Die Menschen brauchten ihren Schlaf. Ungestörten, tiefen Schlaf.

Ungestörter, tiefer Schlaf war ein Luxus, der einem alten Arkoniden nur selten vergönnt war. Ein Luxus, auf den Crest da Zoltral verzichten konnte. Drei oder vier Stunden genügten ihm.

Damit standen ihm zwei Stunden zur Verfügung, in denen er ungestört von den Menschen war.

Crest da Zoltral blieb vor dem schweren Schott stehen. Lautlos glitt es zur Seite. Der Arkonide trat in den Raum. Licht flammte auf, enthüllte, dass die Zentrale der Kuppel verlassen war. Crest trat in den runden Raum, befahl der Kuppelpositronik mit einer Handbewegung, das Licht zu löschen.

Der Computer gehorchte.

Dunkelheit senkte sich über den Raum, durchbrochen nur vom sanften Glimmen der Bereitschaftsanzeigen. Es genügte Crest, um den Weg in die Mitte der Zentrale zu finden. Er ließ sich in den Kontursessel des Kommandanten sinken. Das Material war weich und warm, erinnerte an die Haut eines Tieres und passte sich dem Körper des Arkoniden automatisch an.

Virtuelle Konsolen flammten auf, boten Crest ihre Dienste an.

Der Arkonide verscheuchte sie mit einer Geste.

Er lehnte sich zurück, schloss die Augen und horchte. Tiefes, vielfältiges Summen erfüllte die Kuppel, verriet die Vielzahl der Aggregate, die in Bereitschaft auf die Anweisungen des Arkoniden warteten. Sie erinnerten Crest an die AETRON, das Schiff, mit dem er in das System der Menschen gekommen war. Oft hatte er im Bett seiner Kabine gelegen, hatte den Schiffsgeräuschen gelauscht und sich gefragt, was wohl vor ihm liegen mochte. Die Ausgeburten seiner Phantasie waren verwegen gewesen – und doch hatte keine von ihnen auch nur im Ansatz dem geähnelt, was tatsächlich geschehen war.

Crest da Zoltral hatte Arkon nur widerstrebend verlassen. Man hatte ihn dort verehrt, manche hatten ihm sogar als Gelehrten gehuldigt, der beispiellos in der langen Geschichte der Arkoniden war. Andere wieder hatten ihn verhöhnt und verachtet. Der Regent wiederum hatte den alten Mann mit dem scharfen Geist argwöhnisch beobachtet. Zu Recht hatte er befürchtet, dass Crest seiner Herrschaft hätte gefährlich werden können, dass der Gelehrte das brüchige weltanschauliche Fundament, auf dem seine Macht ruhte, vernichten könnte.

Anfangs hatte der Regent sich gegen die Expedition der AETRON gewandt. Aus Prinzip, glaubte Crest im Nachhinein, weil ihm alles verdächtig erschien, was der Gelehrte unternahm. Schließlich hatte er ihn und Thora ziehen lassen, im Glauben, den intellektuellen Plagegeist ein für alle Mal los zu sein.

Eine wohlfundierte Prognose. Wie vom Regenten nicht anders zu erwarten. Crest missfielen Mittel und Ziele des Herrschers, sein von Paranoia geplagtes Weltbild. Aber der alte Arkonide war zu klug, als dass er seinen Gegner als unfähig abgetan hätte.

Der Regent war außergewöhnlich intelligent, außergewöhnlich kompetent – und genau das war das Übel für Arkon.

Crest öffnete die Augen, stellte sich für einen Augenblick vor, er schwebe allein im Weltraum und bei den Bereitschaftslichtern handele es sich um Sterne.

Arkon, der Kampf gegen den Regenten hatten ihm alles bedeutet – und nun schien die Heimat unendlich weit entfernt. Ja, unwichtig.

Er, der große Gelehrte des Großen Imperiums, war unter Barbaren gestrandet. An der Peripherie des Imperiums, das seit langer Zeit nur noch dem Namen nach unter der Herrschaft Arkons stand. Die Barbaren hatten ihn misshandelt, ihn vor Gericht gestellt und gedroht, ihn umzubringen. Doch andere Barbaren hatten ihn gerettet. Sie hatten die Immunschwäche geheilt, die ihn mit jedem Tag hatte schwächer werden lassen und ihm innerhalb kürzester Zeit das Leben gekostet hätte.

Die Krankheit, die arkonidische Ärzte nicht hatten heilen können. Oder es aus Furcht vor dem Zorn des Regenten nicht gewagt hatten?

Crest hatte diese Barbaren, die Menschen, zu schätzen, ja zu lieben gelernt. Sie rührten etwas in ihm an, was er nicht in sich vermutet hätte.

War es ihr Tatendrang? Ihre Begeisterung? Ihr Optimismus? In einem Wort: ihre Jugend?

Konnte eine intelligente Art überhaupt jung oder alt sein?

War diese Art von Kategorisierung nicht hanebüchener Unsinn? Eine fahrlässig grobe Verallgemeinerung, die mehr über seine eigenen Sehnsüchte verriet als über diese Menschen?

Crest wog den Gedanken ab. Früher hätte er diese Fragen nicht auf sich selbst gestellt erörtern müssen. Sein unsichtbarer Gedankenfreund wäre an seiner Seite gewesen, hätte ihn mit seinen erbarmungslos ungeschminkten Beobachtungen daran gehindert, unsaubere Schlüsse zu ziehen. Doch der Extrasinn, Zeichen seines privilegierten Standes, war verstummt.

Hatte ihm die Wendung von Crests Schicksal die Sprache verschlagen? Oder hatte ihn die Behandlung der Menschen, die ihm, Crest, das Leben gerettet hatte, umgebracht?

Oder hatte der Extrasinn es einfach aufgegeben, auf den alten Narren einzureden, an den seine Existenz unentrinnbar gekettet war?

Der Extrasinn hatte vehement gegen die Expedition der AETRON argumentiert. Er hatte Crest verspottet, hatte den Flug als intellektuelle Fehlleistung eines alten Arkoniden bezeichnet, der mit seiner Angst vor dem Tod nicht zurechtkam. Eine Flucht aus der Verantwortung. Er hatte Crest einen ebenso elenden wie unvermeidlichen Tod prophezeit.

Zu Recht?

Crest lebte. Und er war in dem abgelegenen System der Menschen auf Dinge gestoßen, die er nicht für möglich gehalten hatte. Wie diese stählerne Kuppel, die dreitausend Meter unter der Meeresoberfläche lag, von seinen Artgenossen vor etwa zehntausend Erdjahren errichtet. Oder die Zuflucht auf der Venus. Oder die TOSOMA, das Schlachtschiff, das sie nur wenige Kilometer von der Kuppel entfernt gefunden hatten, halb im Meeresboden versunken.

Wer mochte vor ihm auf dem Platz des Kommandanten gesessen haben?

Was mochte in ihm – oder ihr? – vorgegangen sein?

Vor zehntausend Jahren hatte das Große Imperium einen mörderischen Krieg gegen die Methans ausgefochten. Er hatte die Arkoniden an den Rand des Untergangs gebracht.

Unzählige Geschichten berichteten von den Heldentaten der damaligen Arkoniden. Sie schienen überlebensgroß, aus einem anderen Holz geschnitzt als gegenwärtige Generationen. Crest und seine Zeitgenossen schienen nur ein Abklatsch.

Traf das zu?