Erika Borchardt
Petermännchen
Der verwunschene Prinz
2. Auflage 1992
ISBN 978-3-86394-033-1 (E-Book)
EDITION digital®
Pekrul & Sohn GbR
Alte Dorfstraße 2 b
19065 Godern
Tel.: 03860-505 788
Fax: 03860-505 789
E-Mail: verlag@edition-digital.com
Internet: http://www.edition-digital.com
Unser kleiner Kobold im Schweriner Schloss kann uns schon in gehöriges Staunen versetzen. Manchmal ist er ein rechter Spaßvogel. Ohne Scheu neckt er die Leute und treibt Scherze mit ihnen. Er hat aber auch eine feine Nase für die Guten und die Bösen. Die Einen belohnt er reichlich aus seinem großen Schatz, und die Andern verprügelt er schon mal gehörig oder bringt ihre Schandtaten auf andere Weise ans Tageslicht. Damit nicht genug: Petermännchen kann auch Schönes und Schlimmes voraus sagen. Das heißt, er sagt es nicht, sondern zeigt es den Menschen mit der Farbe seiner Kleidung, in der er ihnen erscheint. Das Richtige müssen sie schon selber erraten.
So ist er Spaßmacher, Richter und Prophet dazu. Wahrlich staunenswert.
Damit nicht genug. Petermännchen ist zugleich der Hausgeist des Schweriner Schlosses und ein Wandelgeist. Er hat eine Wohnung im Schloss, aber auch im Ziegelsee, und die Schatzkammer befindet sich im Schweriner See - er ist also auch ein Wassergeist. Weiter wird erzählt, er betreibe auch eine Schmiede im Petersberg bei dem Dorfe Pinnow, und von dem Berg soll ein unterirdischer Gang zum Schloss führen - somit ist er ebenfalls ein Berggeist. Petermännchen wäre aber auch auf einem Pferd zum Schloss geflogen – ist also dazu noch ein Luftgeist! Und unsichtbar kann er sich machen, je nach Laune.
Aber immer noch nicht genug: Tausend Jahre schon und mehr mag er auf dem Buckel haben. Tausend Jahre und mehr! Und auf dreierlei verschiedene Art soll er entstanden sein. Manche erzählten zum Beispiel, er wäre ein verwunschener Prinz. Und wenigstens ein Dutzend Arten gäbe es, wie man ihn erlösen könnte. Ihm sein Schlüsselbund vom Turm der Schlosskirche zu holen oder einen seltsamen Satz zu seltsamer Zeit zu rufen, das mag ja noch recht einfach erscheinen, obwohl: Geschafft hat das bis jetzt noch niemand. Aber diesem kleinen Kerl den Kopf abzuschlagen, damit er wieder ein Prinz würde - wer wollte sich dazu schon ein Herz fassen? Außerdem: Der Prinz würde zwar erlöst, aber dem schönen Schloss und seinen Bewohnern würde Schreckliches geschehen.
Der Schweriner Schlossgeist Petermännchen ist eine herausragende Gestalt in der deutschen Sagenwelt.
Vom Schweriner Schlossgeist gibt es über 200 Berichte, Sagen
und Redensarten. Die Überlieferungen sind aber verstreut und in der Erzählweise
zumeist karg gehalten, wenn nicht sogar recht roh. In dieser Form sind sie
meist allein für den Wissenschaftler von Interesse. Auch ist der geschichtliche
Zusammenhang oft nicht sogleich einsehbar.
So gibt es Gründe, die Sagen zu sammeln und auch neu zu erzählen, wo sie noch
nicht in erzählender Form vorliegen.
Ich beziehe mich in meinen Geschichten in jedem Fall auf die
Überlieferungen bzw. stütze mich auf Motive daraus. Die unterschiedlich freie
Form des Nach- oder Neuerzählens schien mir notwendig, um die Taten und das
Verhalten des Petermännchens und der anderen Gestalten motivieren zu können und
um Sagen, wo nötig, in den geschichtlichen Zusammenhang zu bringen, aus dem
heraus sie möglicherweise erwuchsen.
Bei einigen sehr freien Erzählungen musste ich in Kauf nehmen, dass teilweise
der reine Sagencharakter verloren ging. Deshalb bezeichne ich das Vorliegende
als sagenhafte Geschichten.
Die beiden folgenden Sagen beziehen sich auf Ereignisse in
der Mitte des 12. Jahrhunderts. Damals soll, der Sage nach, ein Königssohn in
einen Zwerg verwandelt worden sein und ein ganzes Volk kleiner Männchen seine
Heimat verlassen haben.
Was veranlasste die „Petermännchen“, wie man die Unterirdischen nannte, in ein
fremdes Land zu ziehen? Weshalb wurde ein Prinz ein Zwerg?
In den Wäldern des westlichen Mecklenburg lebte damals das slawische Volk der
Obotriten. Sie ernährten sich von der Jagd und dem Fischfang, trieben Ackerbau
und unternahmen Beutezüge in benachbarte deutsche und dänische Gebiete. Sie
überfielen auch Schiffe der Kaufleute, die mit kostbaren Waren über die Ostsee
segelten. Die Obotriten und ihr König waren wie alle Völker dieser Zeit, nicht
schlechter und nicht besser.
Eines Tages brachen wieder einmal, wie schon Jahre zuvor, deutsche Krieger in
das weite, aber dünn besiedelte Land der Obotriten ein, um es endgültig in
Besitz zu nehmen. Den Sachsenherzog Heinrich den Löwen gelüstete schon seit
langem danach. Die Obotriten waren der Übermacht nicht gewachsen.
Nach dem Sieg machten sich die Deutschen im ganzen Land breit. Sie brachten
manch nützliche Neuerung mit. Die hölzernen Pflüge ersetzten sie durch
Eisenpflüge. Von nun an konnte man auch den schwereren und fruchtbareren Boden
bearbeiten. Statt mit Holz und Lehm bauten sie mit Ziegelsteinen; die Häuser
waren so haltbarer und wärmer.
Unbarmherzig aber rotteten sie alles aus, was ihrer Lebensart widersprach oder
sich ihnen widersetzte; und sie taten es im Namen des barmherzigen
Christengottes.
Wie alle Slawen, die die Deutschen auch Wenden nannten, verehrten die Obotriten
verschiedene Götter und errichteten ihnen Tempel und heilige Haine. Dort
verehrten sie die Götter und brachten ihnen Opfer dar. Da sie nicht wie die
anderen Völker im benachbarten deutschen Reich dem christlichen Gott huldigten,
bezeichnete man sie verächtlich als Heiden.
Die Deutschen brachten vielen den Tod, die überlebenden Obotriten zwangen sie,
ihren Glauben zu übernehmen. Das nannten sie Christianisierung. Die Slawen
durften von Stund an die Sitten und Bräuche ihrer Vorväter nicht mehr achten.
Sie durften weder ihre alten Götter verehren noch ihnen Opfer bringen. Das erschien
ihnen frevelhaft.
Die Obotriten gerieten dadurch in größere Gewissensnot als beim Verlust von Hab
und Gut. So manch einer ließ lieber sein Leben, als die eigenen Götter zu
verraten. Sie fürchteten deren Zorn und die Rache der Götter, die schon die Väter,
Großväter und Urgroßväter auf den Kriegszügen begleitet hatten, die ihnen in
Dürrezeiten Regen schickten, die Äcker grünen ließen und Glück auf der Jagd
bescherten, wie sie glaubten.
Christliche Priester hatten sie zuvor schon zu bekehren versucht, jetzt aber
kamen sie mit und nach den deutschen Kriegern und nötigten die bedrängten
Menschen, sich und ihren Kindern Wasser auf den Kopf gießen zu lassen. Das
nannten sie Taufe. Damit sollten die Slawen von nun an Christen sein und sich
den christlichen Herren unterwerfen.
Mit der Macht der Gewalt wurde festgelegt, was die Menschen zu glauben und zu
denken hatten. An die Stelle der heidnischen trat die christliche Barbarei.
Die beiden Sagen erzählen davon, dass all das nicht ohne Widerstand geschah.
Nicht jeder unterwarf sich den neuen Herren, nicht jeder war bereit, deren Brot
zu essen.
Die erste Sage spiegelt Elemente der Lebensgeschichte eines der berühmtesten
slawischen Fürsten, die auf der Insel im Schweriner See eine Burg hatten: von
Niklot, dem letzten freien Obotritenherrscher, Knese genannt, und von dessen
Söhnen Pribislaw und Wertislaw.