Daniel Baumann ist Ressortleiter Wirtschaft der Frankfurter Rundschau, zuvor schrieb er für Berliner Zeitung, Kölner Stadt-Anzeiger und FR. Er ist Schöpfer des Arbeitsmarktindex FRAX und wurde 2014 vom Fachmagazin Wirtschaftsjournalist zu den besten jungen Wirtschaftsjournalisten des Landes gewählt.

Stephan Hebel ist seit zwei Jahrzehnten Leitartikler, Kommentator und politischer Autor für die Frankfurter Rundschau sowie u.a. für Deutschlandradio und Freitag. Er ist regelmäßiger Gast im ARD-Presseclub, festes Mitglied der unabhängigen Jury »Unwort des Jahres« und Autor der Bücher »Mutter Blamage« (2013) und »Deutschland im Tiefschlaf« (2014).

Daniel Baumann, Stephan Hebel

GUTE-MACHTGESCHICHTEN

Politische Propaganda und wie wir sie
durchschauen können

eBook Edition

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ISBN 978-3-86489-627-9
© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2016
Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin
Umschlagabbildung: Fotolia/sveta
Satz: Publikations Atelier, Dreieich
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany

Inhalt

Vorwort

alternativlos

Anspruchsdenken

Arbeitskosten

Arbeitsplatzbesitzer

Armut

Aufstiegsmöglichkeit

Ausbildungsreife

Ausgabenüberschuss

ausgeben (nicht mehr, als man einnimmt)

Autoindustrie

Beitragssatzstabilität

Bevormundung

boomender Arbeitsmarkt

Bürokratieabbau →Steuerstaat

Chancen

Demografie

Deregulierung →Freihandel

Eigeninitiative

Eigenverantwortung

Fachkräftemangel

Finanzprodukt

Fleiß

Flexibilisierung

freier Markt

Freihandel

freisetzen

Geld arbeitet

generationengerechte Vorsorge

gerechter Lohn

geringfügige Beschäftigung

Gutmensch

Hausaufgaben

Hausfrau, schwäbische

Hilfe

Industrie

Kavaliersdelikt →Steuersünder

konsumtiv

Kostenexplosion

Leistungsgerechtigkeit

Leistungsträger

Lohnnebenkosten

Lohnzurückhaltung

Märkte

Neid

politisches Risiko

Reform

Rekordeinnahmen

Rentenlast →Kostenexplosion

Rettungsschirm →Hilfe

scheues Reh

schlanker Staat

Schuldenstaat →Verhältnisse

schwarze Null

sozial Schwache

sozialverträglich

sparen

Standortsicherung →Wettbewerbsfähigkeit

starker Staat

Steuererhöhung

Steuerstaat

Steuersünder

Tarifeinheit

Umbau →Reform

Umverteilung

unternehmerische Freiheit

unterprivilegiert

Verhältnisse

Vermögende

Vollkaskomentalität →Anspruchsdenken

Wachstum

Wettbewerbsfähigkeit

Wirtschaft

Wohltaten →Anspruchsdenken

Zinsenteignung

Anmerkungen

Vorwort

Kommt Ihnen das bekannt vor? Deutschland braucht »Reformen«, und für die europäischen Nachbarn gilt das erst recht, denn die haben ihre »Hausaufgaben« nicht gemacht. Dem »Steuerstaat« müssen wir endlich mit »Bürokratieabbau« zu Leibe rücken, um die »Eigeninitiative« zu stärken, was wiederum ganz sicher der »Wettbewerbsfähigkeit« dient – genauso wie die Senkung der »Lohnnebenkosten«. Und so weiter und so fort. So klingt es, wenn die regierenden Politiker, die Lobbyisten und manche Journalisten zu uns sprechen. Sie reden in einer Art Ikea-Sprache: jede Floskel ein vorgefertigter Bausatz.

Sie gaukeln uns auf diese Art etwas vor: Wenn Politiker »Reformen« sagen, geht es meistens um Lohnverzicht und Rentenkürzung. Den »Steuerstaat« prangern sie an, wenn sie Spitzenverdiener und Vermögende vor einer angemessenen Beteiligung an der Finanzierung des Gemeinwohls schützen wollen. »Bürokratieabbau« heißt übersetzt Abbau des Kündigungsschutzes oder Verzicht auf Kontrolle, zum Beispiel bei Arbeitszeiten und -bedingungen. Die »Eigeninitiative« kommt ins Spiel, wenn die Kosten der Daseinsvorsorge, etwa für Gesundheit und künftige Renten, immer stärker auf uns Bürgerinnen und Bürger abgewälzt werden sollen. »Wettbewerbsfähigkeit« bedeutet, in klares Deutsch übersetzt, einen internationalen Wettlauf um Kostensenkungen für Unternehmen – zum Beispiel bei den »Lohnnebenkosten«, deren Senkung zwangsläufig mit dem Abbau sozialer Leistungen verbunden ist.

Sollten Sie den ganzen Politsprech nicht mehr hören wollen, dann ist das verständlich, aber nicht zu empfehlen. Denn hinter der Formelsprache der Regierenden verbergen sich, sorgfältig verklausuliert, sehr konkrete Inhalte, Ideologien und Ziele. Das gilt ganz besonders in den Bereichen Wirtschaft sowie Finanz- und Sozialpolitik, auf die dieses Buch sich konzentriert – von Börse bis Rente, von Arbeit bis Zins. Wir wollen offenlegen, was die Mächtigen meinen, ohne es zu sagen, wenn sie uns ihre »Gute-Macht-Geschichten« erzählen. Denn wer die Codes der Macht nicht durchschaut, wird sich auch nicht wehren können, wenn es notwendig ist.

Es ist nicht immer einfach, die wirkliche Bedeutung zu erkennen, die hinter dem Wörternebel von Politikern, Interessenvertretern und ihren Gefolgsleuten in der Wissenschaft zu verschwinden droht. Und deshalb schalten viele Menschen – verständlicherweise, wie gesagt – auf Durchzug. Sie halten sich an den Soziologen Niklas Luhmann, der für diese Sprache den Begriff »Lingua Blablativa«1 geprägt hat, und hören einfach nicht mehr zu.

Aber wir, die Autoren dieses kleinen Mythen-Lexikons, sind der Meinung, dass wir es der herrschenden Politik so leicht nicht machen sollten. Denn was Politiker und ihre ideologischen Stichwortgeber wirklich meinen, das kann jeden und jede von uns direkt und im Zweifel existenziell betreffen. Das tut es zum Teil bereits – siehe nur den stetigen Abbau bei der gesetzlichen Rente, die ungerechte Verteilung des Reichtums oder die einseitige Sparpolitik des Staates. Wenn wir wissen wollen, was die herrschende Politik mit uns vorhat, werden wir nicht daran vorbeikommen, ihre Formeln zu entziffern.

Was uns da täglich erzählt wird, ist nicht einfach nur Bla-bla. Es ist die Fassade, hinter der sich ein sehr konkretes Programm verbirgt. Dieses Programm wollen wir auch für politische Laien versteh- und durchschaubar machen. Denn die Macht handelt auch deshalb so ungestört, weil wir ihre Geschichten allzu leicht glauben: »Was ist schließlich ein Papst, ein Präsident oder ein Generalsekretär anderes als jemand, der sich für einen Papst oder einen Generalsekretär oder genauer: für die Kirche, den Staat, die Partei oder die Nation hält?«, fragte einst der große Soziologe Pierre Bourdieu. Und er fuhr fort: »Das einzige, was ihn von der Figur in der Komödie oder vom Größenwahnsinnigen unterscheidet, ist, daß man ihn im allgemeinen ernst nimmt und ihm damit das Recht auf diese Art von >legitimem Schwindel< (…) zuer-kennt.«2 Der Politologe Martin Greiffenhagen drückt es noch prägnanter aus: »Wer die Dinge benennt, beherrscht sie. Definitionen schaffen >Realitäten<.«3 Und von dem SPD-Politiker Erhard Eppler stammt der Satz, dass in der Politik »das Reden sehr wohl Handeln bedeutet«4.

Das heißt: Die Sprache der Politik beschreibt nicht nur unsere Wirklichkeit aus einer bestimmten Perspektive, sondern verändert und formt sie zugleich. Das Klima einer Gesellschaft, das Denken und Handeln ihrer Bürgerinnen und Bürger, die politische Kultur eines Landes – all das bleibt niemals unberührt von den Begriffen, in denen es wahrgenommen wird. Ob die Mehrheit der Deutschen die Lage in Griechenland mit dem Wort »Reformbedarf« verbindet oder mit dem Wort »Armut«, das verändert die politische Realität auch hier: »Begriffe, in denen wir denken, prägen das Bild von der politisch-sozialen Wirklichkeit und beeinflussen Verhalten. Bei dieser >konzeptuellen< Funktion der Sprache handelt es sich um strukturelle Macht.«5 Oder, mit den Worten von Friedrich Nietzsche: »Es genügt, neue Namen und Schätzungen und Wahrscheinlichkeiten zu schaffen, um auf die Länge hin neue >Dinge< zu schaffen.«6

Die Verwendung bestimmter Begriffe wie »Demografie« oder »Arbeitskosten«, die mit bestimmten Bedeutungen aufgeladen werden, dient mehr der Angstmacherei als der treffenden Beschreibung der Realität. Wer das erst einmal erkannt hat, kann befreit und völlig neu über die Zukunft unserer Gesellschaft nachdenken und der Sprache der Macht etwas entgegenhalten. Auch wenn das manchen Interessengruppen nicht gefallen wird. In diesem Sinne, so unsere Hoffnung, könnte dieses Buch sogar ein kleiner Beitrag dazu sein, das erschreckend eindimensionale Denken und Handeln in unserer politischen Öffentlichkeit aufzubrechen.

Die in verschleiernde Worte gekleideten Ansprüche der Mächtigen nicht »ernst zu nehmen« (Bourdieu), bedeutet keineswegs, achselzuckend über sie zu lächeln. Aber dass wir aufhören sollten, ihre Legenden mit der Wahrheit zu verwechseln – das bedeutet es sehr wohl. Der herrschenden Politik die Hegemonie über die Begriffe streitig zu machen, das kann den ersten Schritt zum Besseren bedeuten. Denn einer Gesellschaft, die sich nicht (mehr) belügen lässt, die aber auch nicht abwinkt oder gar resigniert; einer Gesellschaft, die Begriffe wie »Reform« zurückerobert und wieder als Verbesserung des allgemeinen Wohlstands definiert – einer solchen Gesellschaft wird man auch eine Politik nicht länger »verkaufen« können, die vor allem im Interesse mächtiger Minderheiten liegt.

Das ist, zugegeben, ziemlich ehrgeizig gedacht. Wir wissen, dass ein Buch wie dieses die Welt nicht sofort verändert. Aber vielleicht regt es den einen oder die andere an, auf die Worthülsen, mit denen wir Tag für Tag abgespeist werden, mit neuem und kritischem Interesse zu hören. Wenn wir dazu beitragen könnten, hätten wir schon viel erreicht.

Die Idee zu diesem Buch ist aus sehr ähnlichen Erfahrungen entstanden, die wir – trotz unserer Herkunft aus unterschiedlichen Generationen und Lebenszusammenhängen – in unserem journalistischen Alltag gesammelt haben. Uns beiden ist immer deutlicher aufgefallen, wie sehr die Wortprägungen und -erfindungen mächtiger Interessengruppen die Sprache der Politik beherrschen – bis weit in die Medien hinein.

Immer wieder mussten wir uns zum Beispiel in der Griechenland-Krise fragen: Was tun, wenn der »Vorschlag«, die griechischen Rentnerinnen und Rentner auch weiter für die sündhaft teure »Rettung« ihres Landes bezahlen zu lassen, landauf, landab als »Hilfe« beschrieben wird? Was, wenn selbst kritische Kolleginnen und Kollegen sich nicht mehr anders zu helfen wissen, als die Sprachregelung von Angela Merkel und Co. zu übernehmen?

Im Redaktionsalltag mag man sich damit behelfen, so oft wie möglich Anführungszeichen zu setzen oder erklärende Anmerkungen einzufügen, wann immer es geht. Aber die Erfahrung weckte in uns den Wunsch, allen Interessierten eine Dechiffrierhilfe an die Hand zu geben, die die Bedeutung der wichtigsten politischen Schlagwörter zu entschlüsseln und die täglich wiedergekäuten »Gute-Macht-Geschichten« zu entlarven hilft.

Dass es nun vorliegt, verdanken wir unseren aufmerksamen und klugen Kolleginnen und Kollegen, die immer wieder auf Sprach- und Denkfallen aufmerksam machen. Inspiriert wurden wir auch von hellen Köpfen aus unserem privaten Umfeld und aus der Gesellschaft, die uns und unsere Arbeit kritisch, aber wohlwollend begleiten und uns geistig immer wieder herausfordern. Ihnen allen, unserem Lektor Rüdiger Grünhagen, der das Buch an vielen Stellen besser gemacht hat, sowie Verleger Markus J. Karsten, der das Projekt von Anfang an unterstützt hat, gilt unser herzlicher Dank.

Um Ihnen, den Leserinnen und Lesern, das Nachschlagen und Entschlüsseln zu erleichtern, haben wir das Buch nach Art eines Lexikons aufgebaut. Sie sollen die Möglichkeit haben, schnell einmal nachzuschauen und sich der eigentlichen Bedeutung zu versichern, wenn Ihnen – in der Tagesschau, in der Zeitung, im Internet – mal wieder ein Begriff aus dem Reich der Ikea-Sprache begegnet.

Daniel Baumann und Stephan Hebel
Frankfurt, im Februar 2016

al|ter|na|tiv|los: »keine Alternativlösung zulassend, keine andere Möglichkeit bietend, ohne Alternative«, schreibt der Duden neutral.7 Aber in der Politik ist »alternativlos« zu einem gefährlichen Kampfbegriff geworden, mit dem suggeriert wird, das Volk und seine Vertreter im Parlament hätten keine Möglichkeit, anders zu entscheiden als von der Regierung gewünscht.

Damit steht die Rede von der »Alternativlosigkeit« im direkten Gegensatz zu einem Grundelement der Demokratie, nämlich der öffentlichen Debatte über alternative Politikmodelle. Denn, so die Jury, die den Begriff zum »Unwort des Jahres 2010« erklärte: »Das Wort suggeriert sachlich unangemessen, dass es bei einem Entscheidungsprozess von vornherein keine Alternativen und damit auch keine Notwendigkeit der Diskussion und Argumentation gebe.«8

Dieser geradezu antidemokratische Charakter der Formel von der »Alternativlosigkeit« hindert viele Politikerinnen und Politiker nicht daran, sie im Munde zu führen. Das galt zunächst vor allem für die ehemalige britische Premierministerin Margaret Thatcher. Sie begleitete ihre Politik der Marktliberalisierung und des Sozialabbaus mit der Parole »There is no alternative«, die als »TINA« abgekürzt traurigen Kultstatus erreichte.9

Als würdige Nachfolgerin Thatchers erweist sich in Deutschland vor allem Bundeskanzlerin Angela Merkel. Und das sogar an jenem Ort, der wie kein anderer der Auseinandersetzung über politische Alternativen dienen sollte: im Deutschen Bundestag.

Dort sagte die Kanzlerin am 5. Mai 2010: »Die zu beschließenden Hilfen für Griechenland sind alternativlos, um die Finanzstabilität des Euro-Gebietes zu sichern.«10 Was sie unter diesen angeblich alternativlosen →»Hilfen« versteht, war damals so klar wie heute: Das Land erhält Kredite und muss im Gegenzug brutalstmöglich sparen, was sich im Merkel- Deutsch auch damals schon so anhörte: »Wir haben darauf bestanden, dass Griechenland sich zu einer umfassenden Eigenanstrengung verpflichtet. (…) Die Vereinbarung sieht einschneidende Maßnahmen vor.«11 Unter anderem ging es, wie später auch, um Kürzungen bei Beamtengehältern und Renten sowie eine Erhöhung der Mehrwertsteuer.12

Diese Politik, die sich inzwischen mehrmals als untauglich zur Überwindung der griechischen Krise erwiesen hat, ist selbstverständlich so wenig »alternativlos« wie jede andere politische Entscheidung auch. Sowohl die Verfechter der nachfrageorientierten Wirtschaftswissenschaft als auch Teile der leider ziemlich schwachen Opposition im Bundestag betonten im Rahmen der Euro-Debatte unermüdlich, dass Griechenland die Abwärtsspirale aus Sparauflagen und immer neuen Krediten (also Schulden) nur durch ein »Zukunfts- und Investitionsprogramm« überwinden könne, das etwa mit Hilfe der jahrelang versprochenen, aber nicht realisierten Finanztransaktionssteuer oder durch »die Einführung einer europaweiten Vermögensabgabe für Millionäre«13 zu finanzieren sei. Und selbst bei den rechten Parolen national denkender Euro-Ausstiegsbefürworter handelt es sich, so fragwürdig sie auch sind, um Alternativen.

Wenn Merkels Politik hier und da tatsächlich »alternativlos« erscheint, dann nur deshalb, weil selbst die realistischsten Alternativen im politischen Diskurs einer breiten Öffentlichkeit kaum noch Raum greifen können. Zumal in einer Zeit, da die zweite größere Partei, eigentlich geborene Trägerin politischer Alternativen, sich als Partnerin in der großen Koalition Merkels Maximen weitgehend unterworfen hat – gerade auch in der Europapolitik.

Und doch bleibt richtig, was Kritiker den Propheten der Alternativlosigkeit entgegenhalten: zum Beispiel »TATA« (»There are thousands of alternatives«14) oder »TAPAS« (»There are plenty alternative systems«15). Oder auf Deutsch und mit den Worten eines Rundfunkkommentators: »Es gibt zu allem eine Alternative, nur zum Sterben nicht.«16 Für die Demokratie sieht es sogar noch besser aus: Sie muss nicht sterben, wenn man sie nur am Leben hält. Am besten, indem man über Alternativen redet statt über die angebliche »Alternativlosigkeit« der eigenen Politik.

An|spruchs|den|ken, das: »Wenn Ihnen jemand charakterlich ein (überzogenes) Anspruchsdenken unterstellt, ist das selten ein Kompliment, sondern meistens der Vorwurf des Zu-viel-Haben-Wollens«, schreibt der Jurist Claus Loos.17 Damit trifft er auch die Bedeutung des Wortes im politischen Sprachgebrauch genau: Es dient häufig dazu, Ansprüche an →Umverteilung und Sozialstaat als Ausdruck des »Zu-viel-Haben-Wollens« zu diskreditieren. So schreibt die von den Arbeitgebern finanzierte Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM): »So gut Deutschland heute noch dasteht: Unsere Wirtschaft kann nur stark und wohlstandsfördernd sein, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Die aktuelle Politik ist jedoch oft bestimmt von Regulierung, Bürokratie, Anspruchsdenken und immer neuen Umverteilungsplänen.«18

Das ist der bekannte Sound derjenigen, die staatliche Regulierung und Umverteilung als »Verteilung von Wohltaten auf Pump«19 (FDP-Chef Christian Lindner) verdammen, als ginge es bei Sozialleistungen um wohltätig-willkürliche Geschenke. Es ist die Rhetorik derjenigen, die den Sozialstaat nur noch als Auswuchs einer riskanten »Vollkaskomentalität« begreifen können, wie es besonders pointiert der ehemalige österreichische Finanzminister und Sozialdemokrat (!) Hannes Androsch tut: »Die Politik ist ja schon ein Spiegelbild von uns selbst. Wir spüren zwar, dass etwas geschehen müsste, weil sich die Welt um uns ändert. Aber gleichzeitig wollen wir, dass sich nichts ändert. (…) Da wäre Leadership gefragt, sich damit auseinanderzusetzen und den Leuten zu erklären, dass man etwas tun muss. Da ist für Bequemlichkeit, Wehleidigkeit, Vollkaskomentalität und Nulltariffantasien kein Platz.«20

Aber ist »Anspruchsdenken« im politischen Zusammenhang immer so negativ, wie in solchen Zitaten unterstellt wird? Oder werden hier nicht auch ganz reale, legitime und teilweise rechtlich fixierte Ansprüche gezielt diskreditiert? Am Beispiel des Rechts beschreibt Claus Loos, was vor allem die juristischen Ansprüche vom negativen Anspruchsdenken unterscheidet: »Wer auf dem Gebiet des Rechts weiterkommen will, muss ein Anspruchsdenken an den Tag legen, oder besser: Er muss in Ansprüchen denken.«21 Und das lässt sich ohne weiteres auf die Politik übertragen.

Insofern gilt: Wenn ein Unternehmen einen Rechtsanspruch auf Steuerminderung geltend macht, ist das jedenfalls nicht legitimer, als wenn ein Arbeitsloser auf der Basis der existierenden Gesetze Unterstützung beansprucht. Und auch politische Ansprüche über die bestehenden Gesetze hinaus sind natürlich kein verwerfliches »Anspruchsdenken«, sondern schlicht legitim. Allerdings kommt das Wort Anspruchsdenken für den steuersparenden Unternehmer eher selten vor, in Zusammenhang mit den Sozialsystemen dagegen sehr wohl.

Es findet sich hierbei häufig das gleiche Muster: Aus Verhaltensweisen einer Minderheit von Leistungsempfängern – etwa der Verletzung der sehr strengen Regeln für den Bezug von Arbeitslosengeld II – wird ein Generalverdacht gegen staatliche Leistungen und deren Empfänger konstruiert.

Wer nach Belegen sucht, wird nicht nur im Arbeitgeberlager fündig (siehe die Stellungnahme der INSM weiter oben), sondern vor allem in den Leserforen von Zeitungen und anderen Medien. Als ein Beispiel von vielen sei hier nur »moos-mupfel« genannt, der sich auf der Homepage der Augsburger Allgemeinen wie folgt ausließ: »ich hab für das Jobcenter im Telefonservice gearbeitet, danke … ich kenn die Fälle zur Genüge … da gewöhnen sie sich schnell jedes Verständnis ab. (…) ich hab schon tausende Ausreden gehört, warum Termine beim Jobcenter nicht wahrgenommen werden können. (…) Das sind dann erfahrungsgemäß auch die Leute, die sich Erstausstattungen bewilligen Lassen fürs Baby runde 600 EUR, und anrufen dass das Geld nicht reicht, oder für die Erstausstattung der Wohnung 1 500 EUR, aber des reicht ja grad für die Küche. Anspruchsdenken herrscht vor, Pflichten sind lästig und fallen unter den Tisch.«22

Man sieht: Die gezielte Propaganda von Lobbygruppen wie der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft trägt längst dazu bei, das gesellschaftliche Klima zu vergiften.

Ar|beits|kos|ten, die: alle Aufwendungen (Bruttolöhne, Sozialleistungen, Lohnzuschüsse, etc.), die einem Unternehmen durch den Einsatz menschlicher Arbeitskraft entstehen. Aus Arbeitnehmersicht sind es Einnahmen, die die Existenz sichern, aus Unternehmersicht Ausgaben, die stets zu hoch sind und daher den Wirtschaftsstandort Deutschland bedrohen. Kostprobe gefällig? »Hohe Arbeitskosten nach wie vor gravierender Standortnachteil für Deutschland«, analysierte zum Beispiel die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände 2007.23 Auch die Mitteilungen des Statistischen Bundesamtes zum Thema haben bisweilen eine alarmistische Note: »Arbeitskosten in Deutschland 2012 um 32 Prozent höher als im EU-Durchschnitt«, teilten die Statistiker aus Wiesbaden mit.24

Weil Kosten niemand mag, keine Unternehmerin, kein Hausmann, kein Politiker, diskreditiert der Begriff Arbeitskosten etwas ausgesprochen Positives. Denn die meisten Bürger leben von diesen Kosten, es sind ihre Einnahmen, die sie zu einem eigenständigen Leben ermächtigen. Das ist vom Staat so auch gewünscht. Denn zurücklehnen soll sich niemand. Und es sind darüber hinaus längst nicht nur die Arbeitnehmer, die von den Bruttolöhnen und den sogenannten →Lohnnebenkosten profitieren, sondern indirekt auch die Rentner (über das Umlagesystem der gesetzlichen Rentenversicherung), Kranke (über die Beiträge der Arbeitnehmer zur gesetzlichen Krankenversicherung) oder Arbeitslose (über die Arbeitslosenversicherung) – und letztlich auch der Staat selbst über Lohn- oder Mehrwertsteuer, die den größten Teil der Steuereinnahmen ausmachen. Auch den Unternehmen kommen die Arbeitskosten wieder zugute: Nämlich dann, wenn sich der Wirtschaftskreislauf schließt und die Arbeitnehmer einkaufen gehen. Denn die Ausgaben (Kosten!) der Konsumenten sind die Einnahmen der Unternehmen.

Das mag ja stimmen, mögen Sie nun einwenden – allerdings nur für die Binnenwirtschaft. Die Exportfähigkeit, eine der großen Stärken der deutschen Wirtschaft, leide aber unter hohen Arbeitskosten. Könnte sein. Ist aber nicht so. Obwohl die deutschen Arbeitskosten in den zurückliegenden Jahren im EU-Vergleich sogar überdurchschnittlich gestiegen sind, ist es bislang nicht zur Katastrophe gekommen. Im Gegenteil: Exportüberschuss wurde an Exportüberschuss gereiht. Woran liegt das? Warum ist die Wirtschaft angesichts der hohen Lohnkosten nicht längst ein Trümmerhaufen? Warum sind die Arbeitsplätze nicht ins Ausland verschwunden? Warum lassen die Unternehmen nicht viel häufiger in Bulgarien fertigen, wo die Arbeitsstunde nur läppische 3,80 Euro kostet – und verschleudern stattdessen ihr Geld in Deutschland, wo sie für jede Arbeitsstunde Ausgaben von im Schnitt 31,80 Euro haben?25 Vielleicht, weil die Arbeitskosten gar nicht die herausragende Bedeutung haben, die ihnen von interessierter Seite zugeschrieben wird.

In der Tat ist es viel zu einfach und darüber hinaus (gewollt) irreführend, nur die Arbeitskosten zu betrachten. Denn damit eine Firma erfolgreich wirtschaften kann, kommt es auf viel mehr an: auf moderne Technologien, eine leistungsfähige Infrastruktur, qualifizierte und motivierte Mitarbeiter, Rechtssicherheit, Kontakt zu guten Universitäten und Forschungseinrichtungen oder die Größe des Absatzmarktes. Insofern sind die Arbeitskosten nur ein Teil der Gesamtrechnung. Darüber hinaus stellt sich für Unternehmen die Frage nach dem direkten Ertrag der Arbeit: Was stellt ein deutscher Arbeiter für 31,80 Euro pro Stunde her? Und was produziert ein italienischer Arbeiter für 27,40 Euro oder ein polnischer für 8,20 Euro?

Auskunft darüber geben die Lohnstückkosten. Sie messen, wie hoch die Lohnkosten für die Erbringung einer Dienstleistungs- oder Produkteinheit sind. Diese Lohnstückkosten haben sich in Deutschland seit der Jahrtausendwende laut der Industrieländerorganisation OECD im Vergleich zum Durchschnitt aller EU-Mitgliedsstaaten und zu wichtigen Wettbewerbern wie Frankreich, Großbritannien, Italien oder Spanien unterdurchschnittlich entwickelt.26 Die innereuropäische →Wettbewerbsfähigkeit der hiesigen Wirtschaft hat sich also nicht nur nicht verschlechtert – sie hat sich sogar verbessert. Wenn die vergleichsweise hohen Arbeitskosten eines sind, dann ein Qualitätssiegel für den Standort. Die deutschen Arbeitnehmer sind teurer als viele ihrer ausländischen Konkurrenten, aber ihre Arbeit bringt den Unternehmen auch mehr in die Kasse.

Provokativ ließe sich deshalb sogar formulieren: Hohe Arbeitskosten sind gut für Deutschland. Denn sie zwingen die Unternehmen dazu, effiziente Produktionsmethoden und innovative Produkte zu entwickeln, die einen höheren Preis rechtfertigen. Damit sichern sie langfristig ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit. Und sie erhöhen ihre Produktivität, was Mehr-Einkommen für alle möglich macht.

Ar|beits|platz|be|sit|zer, der: jemand, der einen Job in Festanstellung hat. Es handelt sich um eine besonders perfide Wortschöpfung in der wirtschafts- und sozialpolitischen Debatte. Sie verfolgt offensichtlich den Zweck, den Grundkonflikt zwischen Kapital und Arbeit in der öffentlichen Wahrnehmung auszublenden und stattdessen die abhängig Beschäftigten gegen die Arbeitslosen auszuspielen. Diejenigen, die das »Privileg« besitzen, ihre Arbeitskraft wenigstens verkaufen zu »dürfen«, treten – der Wortbestandteil »-besitzer« legt es nahe – an die Stelle der Kapitaleigentümer. Sie geraten damit sozusagen in die Rolle der ausbeutenden Klasse. Wie beabsichtigt, denn so hat das Kapital erst mal seine Ruhe.

Die Propagandisten dieses verdrehten Weltbilds, die es leider auch in vielen Medien gibt, erfinden Schlagzeilen wie »Der große Graben – Arbeitslose gegen Arbeitsplatzbesitzer« und machen gleich klar, wer da gegen wen in Stellung gebracht werden soll: »Arbeitnehmer sind gemütlich geworden – Pendlerpauschale und Arbeitsrechte haben ihnen jahrelang das Leben leichter gemacht. Doch die fetten Jahre sind vorbei. Die Arbeitssuchenden sitzen den Arbeitenden im Nacken.«27

Wer die alte linke These, dass der Kapitalismus die Arbeitslosen als Drohpotenzial gegen die abhängig Beschäftigten geradezu benötige, für überholt gehalten hat, wird bei der Lektüre der einschlägigen Artikel schnell eines Schlechteren belehrt. Mal in etwas differenzierterem Ton, mal mit dem Holzhammer der neoliberalen Ideologie.

Der oben zitierte Autor der Süddeutschen Zeitung hatte zwar, schlimm genug, die »Privilegien« der »Arbeitsplatzbesitzer« in den Mittelpunkt gestellt. Aber wenigstens hatte er auch noch kurz auf das Interesse der Kapitalseite am Drohpotenzial der Arbeitslosigkeit hingewiesen: »Die alte Kapitalistendrohung, hierzulande überwunden geglaubt, zieht wieder: Da draußen stehen Tausende auf der Straße, die würden deinen Job für die Hälfte machen. Sei froh, dass du Arbeit hast.«28

Einer ideologisch gefestigten Autorin wie Ursula Weidenfeld kommen hingegen selbst derartige Differenzierungen nicht in den Sinn. Im Herbst 2002, die von Gerhard Schröder eingesetzte »Hartz-Kommission« hatte gerade ihre Ideen für →»Reformen« am Arbeitsmarkt verkündet, schrieb Weidenfeld im Berliner Tagesspiegel einen Text unter dem Titel »Kartell der Arbeitsplatzbesitzer«. Und machte unmissverständlich klar, wer für sie die Schuldigen am Los der Arbeitslosen sind: »Die Arbeitsplatzbesitzer zum Beispiel haben nach wie vor kein Interesse daran, den Anderen wieder Zugang zum Arbeitsmarkt zu verschaffen. Und bisher haben sie ziemlich erfolgreich verhindert, dass ihr Kartell geknackt wird. Im Gegenteil: Mit vergleichsweise hohen Arbeitslosengeldern und ausgefeilten Kündigungsschutzvorschriften haben sie sich von den Arbeitslosen das Fernbleiben vom Arbeitsmarkt erkauft.«29

Damit war, in absoluter Harmonie mit der jahrelangen Propaganda der Wirtschaftsverbände, die angeblich wahre Ursache der Arbeitslosigkeit benannt: alles, was die abhängig Beschäftigten schützt und die Arbeitsverhältnisse reguliert.

Und natürlich die schrecklich hohen Löhne. Weidenfeld: »Wenn nämlich die Arbeitslosen tatsächlich – wie das der Arbeitsmarktreformer Peter Hartz vorschlägt – als Leiharbeiter aus Personalservice-Agenturen wieder auf den ersten Arbeitsmarkt stürmen, dann werden sie das Lohngefälle und die bisher selbstverständlichen Standards auf diesem Arbeitsmarkt ordentlich ins Rutschen bringen. Ins Rutschen bringen müssen – denn sonst bekommen sie keinen Dauerarbeitsplatz, sonst können keine neuen Jobs entstehen. Das aber heißt: Wenn die Bundesregierung jetzt mit IG Metall und der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi Tarifverhandlungen für diese Agenturen aufnimmt, dann muss sie Löhne verhandeln, die im Niveau weit unter denen liegen, die heute bezahlt werden. Sie muss den Kündigungsschutz für ältere Arbeitnehmer >neutralisieren<, wie Peter Hartz sagt, damit ältere Arbeitnehmer wieder eine Chance haben auf dem Arbeitsmarkt. Und sie muss Arbeitnehmerrechte antasten. Auch wenn sie das nicht will.«30

Damit ist nicht nur die ideologische Zielrichtung des Kampfbegriffs »Arbeitsplatzbesitzer« beispielhaft beschrieben, sondern auch der Zweck der rot-grünen Agenda 2010: Die »Arbeitsplatzbesitzer« haben den Preis für die Schaffung neuer, billiger Jobs zu bezahlen. Die Kapitalbesitzer aber sind und bleiben fein raus. Das ist genau die Richtlinie, die die Politik bis heute bestimmt. Und die von Ursula Weidenfeld damals so unverhohlen propagierte Idee, die »Arbeitsplatzbesitzer« durch Lohnverzicht für neue Jobs bezahlen zu lassen, ist längst Wirklichkeit geworden. An dieser Grundkonstellation wird auch ein Mindestlohn, der mit 8,50 Euro pro Stunde noch deutlich unter der offiziellen Niedriglohngrenze liegt31, nichts ändern. Es handelt sich um einen der größten »Erfolge« neoliberaler Politik – erzielt ausgerechnet von einem Bundeskanzler mit dem Parteibuch der SPD.

Vielleicht ist dieser »Erfolg« der Grund dafür, dass Politik, Interessenverbände und einschlägige Medien das Märchen vom Konflikt zwischen Arbeitslosen und »Arbeitsplatzbesitzern« eine Zeitlang nicht ganz so laut verkündet haben. Aber die nächste Gelegenheit, den Gegensatz von Kapital und Arbeit auf diese Weise zu verschleiern, kommt bestimmt.

Ar|mut, die: Als »Notlage«, die »nicht mehr zeitlich begrenzt, sondern für die Lebenslage bestimmend« zu sein scheint, definiert Gablers Wirtschaftslexikon die Armut.32 Allerdings fügt der Autor gleich hinzu: »(…) wobei herkömmlicherweise zwischen absoluter und relativer Armut unterschieden wird«33. Und spätestens hier fangen die Probleme an.

Im Alltagsverständnis einer reichen Gesellschaft wie der deutschen war Armut lange Zeit etwas, das es nur in »armen Ländern« gab. Man dachte an Menschen, denen es an der Befriedigung der wichtigsten Grundbedürfnisse mangelte: genug zu essen und zu trinken, medizinische Hilfe zumindest bei lebensbedrohlichen Krankheiten, Kleidung und Unterkunft. »Jahrzehntelang«, schreibt der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge, »war Armut in beiden deutschen Staaten (…) ein Tabuthema, das von den Massenmedien höchstens während der Vorweihnachtszeit aufgegriffen, überwiegend mit einer karitativen Zielsetzung (Spendeneinwerbung) behandelt und dann für die nächsten zwölf Monate weitgehend verdrängt, vernachlässigt oder zumindest verharmlost wurde.«34

Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider, stellt sogar fest, dass die Tabuisierung der Armut im Lauf der Zeit zugenommen hat: »Je reicher Deutschland im Lauf der Jahre wurde, je weiter allerdings auch die Einkommens- und Vermögensschere sich öffnete, desto aggressiver wurden jene attackiert, die die schlechte Botschaft von der Armut in Deutschland überbrachten, und desto apodiktischer wurde ihnen praktisch das Recht abgesprochen, jenseits von Obdachlosigkeit oder anderen extremen Erscheinungsformen der Not überhaupt von Armut zu sprechen.«35 Und so ist es bis heute: Wer arm ist, kommt im öffentlichen Diskurs höchstens als →sozial Schwacher vor – so wie man beschwichtigend von →Vermögenden spricht, wenn von den Reichen die Rede sein müsste.

Um die zunehmende Armut in einem sehr reichen Land wie Deutschland nicht auf den Begriff bringen zu müssen, machten sich die Leugner das jahrzehntelang eingeübte Alltagsverständnis des Wortes zunutze: Von Armut, so ihre Argumentation, könne man ja wohl nicht sprechen, wenn jemand weder Hunger noch Durst leiden noch im Winter frieren müsse und zudem über eine Krankenversicherung verfüge. So stellte die Zeit im Jahre 2015 dem Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes36 gezielt das gängige Klischee von »echter Armut« entgegen: »Die meisten Menschen denken bei Armut an Pfandflaschensammler, Bettler und Obdachlose. Doch die statistische, relative Armut beginnt bei knapp 900 Euro netto für einen Single.«37 Was nichts anderes heißen sollte als: Die »statistische, relative Armut« ist gar keine Armut.

Auch das wichtigste Argument der Armutsleugner durfte in diesem Artikel (wie in so vielen anderen) nicht fehlen: »Es ist ja richtig, auf Benachteiligte hinzuweisen, darauf, dass ein Single in einer Großstadt auch mit 900 Euro netto nur schwer über die Runden kommt, und dass viel zu viele Menschen nicht so vom Wohlstandszuwachs profitieren, wie die Mitte der Gesellschaft – aber zu suggerieren, Not und Elend würden immer größer, ist einfach falsch.« Denn »die Armut, so, wie sie hier gemessen wird«, habe »wenig mit dem gemein (…), was die meisten Menschen darunter verstehen. Es ist eine Armut, die auch nicht verschwände, wenn der Wohlstand in Deutschland explodieren würde und alle Menschen plötzlich zehnmal so viel Geld hätten.«

Dieses »Argument« zielt auf die Tatsache, dass nach den Regeln der Europäischen Union diejenigen als »armutsgefährdet« gelten, die weniger als 60 Prozent des mittleren Nettoeinkommens zur Verfügung haben. Und als »arm« gilt der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zufolge, wer über weniger als die Hälfte des mittleren Einkommens verfügt. Insofern ist es natürlich zutreffend, dass auch die Armen immer mehr haben, wenn die Einkommen allgemein steigen.

Aber sind sie deshalb nicht arm? Doch, das sind sie, denn im Verhältnis zum Reichtum der Gesellschaft insgesamt ändert sich ja nichts. Es sei denn, man wollte den Armutsbegriff auf das reduzieren, was man »absolute Armut« nennt. Dann wären diejenigen, die gerade so viel haben, dass sie noch irgendwie Miete bezahlen können und keine Pfandflaschen sammeln müssen, auf einen Schlag nicht arm, sondern kommen halt »schwer über die Runden«. Der Armutsbegriff ist auf die absolute Armut reduziert, die es in unserem Land ja tatsächlich selten gibt – und die Armut ist so gut wie wegdefiniert.

Wegdefiniert ist damit genau das, was seriöse Sozialwissenschaftler unter »relativer Armut« verstehen: der Skandal, dass eine Vielzahl von Menschen zu arm sind, um jenseits des physischen Existenzminimums am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Selbst kleine Freuden sind nicht drin: ein Besuch im Kino, im Zoo oder ein Getränk in einem Restaurant. Und das in einem Land, in dem es mehr als genug Reichtum gäbe, um das zu ändern.

Was also ist Armut in einem reichen Land? Nach der Definition von Christoph Butterwegge bringt sie – über »Mittellosigkeit« oder »Überschuldung« hinaus – unter anderem folgende Nachteile mit sich: »einen dauerhaften Mangel an unentbehrlichen und allgemein für notwendig erachteten Gütern, die es Menschen ermöglichen, ein halbwegs >normales< Leben zu führen (…); Benachteiligungen in unterschiedlichen Lebensbereichen wie Arbeit, Wohnen, Freizeit und Sport; den Ausschluss von (guter) Bildung, (Hoch-)Kultur und sozialen Netzwerken, welche für die gesellschaftliche Inklusion nötig sind; (…) Beeinträchtigungen der Gesundheit und eine Verkürzung der Lebenserwartung (>Arme sterben früher<); einen Verlust an gesellschaftlicher Wertschätzung, öffentlichem Ansehen und damit meistens auch individuellem Selbstbewusstsein; Macht- bzw. Einflusslosigkeit in allen gesellschaftlichen Schlüsselbereichen (Wirtschaft, Politik, staatlicher Verwaltung, Wissenschaft und Massenmedien)«.38

Um mal einen sperrigen Fachbegriff zu nutzen: Ob jemand arm ist in einem Land wie Deutschland, das bemisst sich nicht allein am physischen, sondern eben auch am »soziokulturellen Existenzminimum«. Wem dieser Anspruch zu hoch ist, der stellt sich, wie der Volksmund sagt, selbst ein Armutszeugnis aus.

Auf|stiegs|mög|lich|keit, die: die Chance, seine Position innerhalb der Gesellschaft zu verbessern. In der Regel soll dies durch Bildung ermöglicht werden. »Deutschland zur Bildungsrepublik zu machen, darf kein leeres Wort bleiben«, sagte zum Beispiel 2009 Kanzlerin Angela Merkel (CDU) in ihrer Regie-rungserklärung.39 Und setzte dem hinzu: »Deshalb wollen wir faire Startchancen und Aufstiegsmöglichkeiten für alle.«

Aufstiegsmöglichkeiten für alle? Das Versprechen scheint geradezu kühn, zumal aus dem Mund Merkels. Jeder und jede soll sich verbessern können, sagt die Kanzlerin, ganz egal aus welchen Verhältnissen er oder sie kommt. Wer heute Klempner ist, leitet morgen einen Sanitärbetrieb. Wer aus einem Lehrerhaushalt kommt, wird einmal Universitäts- Professorin. Wessen Eltern arbeitslos sind, hat künftig einen eigenen Beruf und ein eigenes Einkommen. Aufstiegsmöglichkeiten: Der Begriff weckt positive Assoziationen und Emotionen. Die Welt verändert sich zum Besseren!

Doch, Sie ahnen es, so ist die Realität leider nicht. Es sind eben nur Möglichkeiten – im besten Fall. Und wie gut diese Möglichkeiten sind, das bleibt im politischen Diskurs im Ungefähren. Da ist der Spruch von den Aufstiegsmöglichkeiten häufig eine leere Floskel. Politisch ist in den vergangenen Jahren jedenfalls nicht genug getan worden, um die Aufstiegsmöglichkeiten zu verbessern. Das deutsche Bildungssystem ist längst nicht gut genug, um soziale Ungleichheiten einebnen und tatsächlich allen die gleichen Start- und damit Aufstiegschancen bieten zu können. So lassen sich laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung aus dem Jahr 2013 rund 40 Prozent unseres späteren Einkommens mit der Herkunft erklären. Bei der Bildung ist der Zusammenhang zwischen Elternhaus und Lernerfolg noch stärker.40

»Das bedeutet, dass in Deutschland kaum Chancengleichheit besteht«41, so Studien-Autor Daniel Schnitzlein. Im internationalen Vergleich stehe Deutschland auf einer Stufe mit den USA, die sich am unteren Ende der Skala für Chancengleichheit befinden. »Der Traum, vom Tellerwäscher zum Millionär zu werden, ist nicht nur in den USA eine Legende, sondern auch in Deutschland.« Der Studie zufolge hängt der Bildungserfolg in Deutschland sogar stärker mit dem Familienhintergrund zusammen als die größtenteils genetisch bedingte Körpergröße.

Solange es so bleibt, dass das Elternhaus der wesentliche Faktor für den späteren beruflichen Erfolg ist, wird der Begriff Aufstiegsmöglichkeit politisch missbraucht. Er überlässt die Bürger faktisch sich selbst. Und das Versprechen von →Chancen wird zur Ausrede, politisch nichts an den bestehenden Verhältnissen ändern zu müssen. Denn – so der Subtext – wer es nicht packt, hat seine Chancen einfach nicht genutzt und ist folglich selber schuld an seiner Situation. Dass es die Aufstiegsmöglichkeit in Wahrheit gar nicht gab, wird geflissentlich unter den Tisch gekehrt.