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Westend Verlag

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Markus Kompa

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THRILLER

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Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-622-4

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2016

Umschlag: pleasant_net, Büro für strategische Beeinflussung

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhaltsverzeichnis

Titel
Inhaltsverzeichnis
Montag, 24.06.2013
Dienstag, 25.06.2013, 11:43 Uhr
Mittwoch, 26.06.2013, 9:20 Uhr
Donnerstag, 27.06.2013, 9:02 Uhr
Freitag, 28.06.2013
Samstag, 29.06.2013
Sonntag, 30.06.2013
Montag, 01.07.2013
Dienstag, 02.07.2013
Mittwoch 03.06.2013
Donnerstag, 04.07.2013
Freitag, 05.07.2013
Samstag, 06.07.2013
Montag 08.07.2013
Mittwoch, 21.08.2013
Sonntag, 22.09.2013, 21:45 Uhr
Montag, 23.09.2013
Dienstag, 24.09.2013
Nachwort

Montag, 24.06.2013

Von: 1MAD

An: 1BND, 1BfV

Videokonferenz, heute 21:30 Uhr

Die SMS auf ihrem Krypto-Handy hatte ihr gerade noch gefehlt. Bedeutete sie doch nichts anderes, als dass sie, Dr. Ellen Strachwitz, die Präsidentin des Bundesamts für Verfassungsschutz, ihren Feierabend zu früh begonnen hatte und wieder zurück in die Zentrale musste. Noch nie hatte der Chef des Amtes für Militärischen Abschirmdienst, kurz MAD genannt, um eine kurzfristige Videokonferenz mit seinen Präsidentenkollegen gebeten. Da sich die Häuptlinge der drei deutschen Geheimdienste am Folgetag ohnehin wie jeden Dienstag im Bundeskanzleramt zur »Präsidentenlage« trafen, schien es 1MAD definitiv wichtig zu sein. Ellen vermutete, dass es um die Enthüllungen des Whistleblowers Edward Snowden gehen würde, der seit gut drei Wochen die Geheimdienstwelt in Atem hielt. Gerade war Snowden auf dem Moskauer Flughafen Scheremetjewo gelandet.

Gegenüber den Personenschützern und den Pförtnern gab sich Ellen notgedrungen die Blöße und setzte ihre Brille auf, die maximale Tragedauer ihrer Kontaktlinsen war inzwischen erreicht. Wenigstens waren die Flure des zickzackförmigen Gebäudekomplexes in Köln-Chorweiler um diese Uhrzeit leer. Von hier aus wachte der Inlandsgeheimdienst zumindest tagsüber mit seinen rund dreitausend Mitarbeitern über die Verfassungstreue der Deutschen. Im fensterlosen Raum neben Ellens Büro, abgeschirmt gegen jede bekannte Überwachungstechnik, leuchtete auf den Monitoren das Datum: 26.06.2013, 21:29 Uhr. Mit militärischer Pünktlichkeit erschienen dort beinahe synchron die Gesichter ihrer beiden Amtskollegen. Dr. Jens Fricke, der ergraute Leiter des Bundesnachrichtendienstes (BND), begrüßte wie stets kavalierhaft zuerst förmlich die Dame, dann jovial seinen Duzfreund Malte Lehr.

Der MAD galt vielen als der unheimlichste der drei Dienste, vor allem deshalb, weil in der Öffentlichkeit so gut wie nichts über ihn bekannt war. Der Presse war der MAD fast fünf Jahrzehnte gar nicht zugänglich gewesen, erstmals diesen Februar hatte der MAD-Chef ein Interview gewährt. Die Aufgabe, die Zuverlässigkeit der Bundeswehrsoldaten zu überwachen und Fanatiker von den Waffenkammern fernzuhalten, war auch deutlich unspektakulärer als die Jagd auf Agenten und das Spionieren in exotischen Ländern. In den Siebzigerjahren hatte der MAD den Rücktritt des eigenen Verteidigungsministers verursacht, nachdem der Dienst eigenmächtig dessen Sekretärin abhörte. Ein weiterer Verteidigungsminister bot in den Achtzigerjahren seinen Rücktritt an, nachdem der MAD einen US-kritischen General mit Gerüchten über seine Homosexualität in damals erheblichen Misskredit brachte. Nach Ende des Kalten Krieges mussten die uniformierten Agentenjäger zähneknirschend zur Kenntnis nehmen, dass ein inzwischen verstorbener stellvertretender MAD-Kommandeur selbst ein Doppelagent des Ostens gewesen war. Im Zuge der NSU-Affäre geriet der MAD ins Zwielicht, weil er im rechtsextremen Thüringer Heimatschutz nicht weniger als zwölf V-Leute geführt und einen davon lange verschwiegen hatte. Und jetzt schien erneut etwas so sehr zu brennen, dass es keinen Aufschub duldete.

»Guten Abend. Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben«, begrüßte der drahtige Generalmajor Malte Lehr seine Amtskollegen. »Ich möchte Sie vor unserer morgigen Sitzung mit Bogk schon vorab über ein Problem mit einem KSK-Soldaten informieren. Ich werde jetzt unter uns ein bisschen offener sprechen, als ich es morgen in Anwesenheit von Bogk und Irion tun werde.« Eine offenbar erwartete Reaktion seiner beiden Zuhörer blieb aus. »Heute Vormittag haben wir beobachtet, dass der bislang äußerst zuverlässige Soldat KSK 656 den Enthüllungsjournalisten Michael Reinecke in der Berliner Redaktion des ›Komet‹ aufgesucht hat, um ihm eine Story anzubieten. Er wurde auf sein heftiges Drängen hin zu Reinecke vorgelassen. KSK 656 behauptete Reinecke gegenüber, jemand vom Geheimdienst habe ihm eine verdeckte Liquidation einer Zielperson im europäischen Ausland angetragen. Die konkreten Befehle zu dieser Aktion will er über ein Smartphone erhalten haben. Als er das besagte Handy Reinecke zeigte, fuhr es wegen eines angeblich schwachen Akkus runter. Reinecke hielt ihn offenbar für einen Spinner und hat ihn rausgeworfen. Ist eh mit der Snowden-Sache beschäftigt genug.«

»Woher haben Sie die Informationen über diese Kontaktaufnahme?«, erkundigte sich Ellen. Lehrs Blick wirkte zunächst verständnislos, dann dozierte er mit angesäuerter Miene gegenüber Ellen. »Nach der Story, die Reinecke über das G36-Gewehr gebracht hat, wird niemand ernsthaft erwarten, dass wir den nicht überwachen, oder? Das G36 ist ein ausgezeichnetes Gerät, nur Affen und Journalisten schießen damit Dauerfeuer. In meiner Amtszeit wird es mit Reinecke keine Überraschung mehr geben.«

»Sie hören Journalisten ab?«

»In meinem Bericht wird nichts davon stehen, und auch Sie haben nichts davon gehört. Bogk braucht und will vermutlich nichts davon wissen. Oder sieht das jemand anders?«

Ellen sparte sich die auf der Hand liegende Kritik. Nachdem vor einem Jahrzehnt herausgekommen war, dass der BND Ende der Neunzigerjahre im Inland Journalisten bis in die Sauna hinein beschattete, ihr Altpapier durchwühlte und sie mit hohem technischen Aufwand abhörte, hatte die Presse Pullach über Monate hinweg die Zähne gezeigt. Seither war die Überwachung von Journalisten tabu – zumindest offiziell. Fricke verzog keine Miene. Lehrs Bespitzelung von Reinecke hatte sich nun offenbar als ertragreich erwiesen, was in der Geheimdienstwelt mehr zählte als der Fairnesspokal. Lehr war auch nicht der Typ, der sich beim Falschspiel erwischen lassen würde.

Der kam nun wieder zu seinem Fall zurück: »Wie KSK 656 zu so einer Räuberpistole kommt, können wir uns derzeit noch nicht erklären. Beunruhigend ist aber, dass seine Reise nach Berlin mit einer Funktäuschung getarnt war. Denn während wir sein Stimmprofil zweifelsfrei im Berliner Büro von Reinecke identifizieren konnten, fingen wir die Signale seines privaten Handys und seines Diensthandys aus Wuppertal auf. Er wohnt dort gerade im Urlaub bei seiner Mutter. Von seinem privaten Smartphone in Wuppertal aus wurden zudem trotz seiner Abwesenheit die ihn üblicherweise interessierenden Websites aufgerufen. Offenbar eine Simulation. Möglicherweise war ihm bewusst, dass jede signifikante Änderung seines Nutzerverhaltens, sollte er überwacht werden, automatisch eine Warnung ausgelöst hätte.«

»Das hört sich ganz nach unserer Alibi-App an«, kommentierte BND-Chef Fricke. »Die geben wir unseren Agenten, damit sie unauffällig zu Treffen gehen können. Die gleichzeitige Anwesenheit zweier Personen innerhalb einer Funkzelle während eines Agententreffs wäre selbst in hundert Jahren noch nachvollziehbar. Das Programm simuliert die gewohnte Aktivität und täuscht damit überzeugend einen am Handy anwesenden Nutzer vor, während sich der ganz woanders befindet. Ist inzwischen Standard, wie Sie vermutlich wissen.«

»Hinzu kommt, dass wir die Handys im Pkw der Mutter geortet haben, anscheinend irgendwo im Kofferraum. Vermutlich sollte der durch Umherfahren verursachte Funkzellenwechsel die vorgetäuschte Anwesenheit in Wuppertal noch zusätzlich unterstützen. Die Mutter hat davon offenbar keine Kenntnis. Sie hat das Smartphone auch nicht bedient, als es heute Abend wieder eine Nachrichtenseite anwählte.«

»Haben KSK-Soldaten denn Zugang zur Alibi-App?«, erkundigte sich Ellen.

»Nein. Das sind reine Geheimdienst-Werkzeuge. KSK 656 hat auch keine informationstechnischen Kenntnisse, mit denen er so etwas programmieren könnte. Wir folgern daraus, dass er professionelle Unterstützung von unbekannter Seite haben muss.«

»Hat er denn eine Story anzubieten?«, wollte Fricke wissen.

»Keine spezielle. Beim KSK ist grundsätzlich alles streng geheim. Wie wir alle wissen, dürfen KSK-Männer ihrer Ehefrau gerade einmal ihre Abkommandierung zum KSK erzählen. KSK 656 hat in Afghanistan einiges gesehen und mitgemacht. Aber darunter befindet sich nach meiner bisherigen Kenntnis nichts so Außergewöhnliches, dass ein Enthüllungsjournalist Geld dafür bezahlen würde. Für den Afghanistan-Einsatz interessiert sich die Presse doch sowieso kaum. Außerdem zahlen Redaktionen so lächerlich, dass sich für keinen Soldaten das Risiko im Verhältnis zu den Nachteilen lohnt.«

»Du sagtest vorhin, dass während des Gesprächs das Handy ausging?«, fragte Fricke.

»Ja, als Reinecke es in die Hand nahm, zeigte es offenbar Akku leer an und war dann tot. KSK 656 beteuerte, das Gerät gerade erst aufgeladen zu haben, wirkte aber offenbar dabei wie ein Spinner. Dem Reinecke laufen fast täglich solche Typen zu, die ihm von Chemtrails, UFOs und tödlichen Strahlen der CIA berichten. Unsere Auswerter haben deshalb schon großes Mitleid mit dem Mann.«

»Die Sache mit dem Handy kommt mir jedenfalls bekannt vor. Als die Handykameras aufkamen, hatten die Amerikaner ihren Leuten Handys gegeben, die auf ihre Nutzer biometrisch geeicht wurden. Guckt der Falsche in die Kamera, verabschieden die Geräte sich genauso höflich, wie du es gerade bei Reinecke beschrieben hast. Dieser Zaubertrick hat sich allerdings in der Branche schnell rumgesprochen und war damit witzlos. Wir fangen mit solchen Spielereien gar nicht erst an. Ich glaube auch kaum, dass das KSK Verwendung für so etwas hat. Aber fahr bitte fort!«

»Wir haben uns danach für eine Klaransprache entschieden, weil der Rechtsbruch eindeutig war und der Mann offenbar kein eigenes Handy bei sich trug, mit dem wir ihn weiter hätten überwachen können. Wir wollten nicht abwarten, bis er noch jemand anderes seine Story anbietet und uns dann entwischt. Außerdem war nicht klar, ob er nicht tatsächlich eine wahre Geschichte erzählte. Zwei meiner Leute in Berlin haben ihn mit vier Feldjägern in Zivil in einem Biergarten in Berlin Tiergarten angesprochen und informell zur Begleitung ins Ministerium aufgefordert.«

»Feldjäger in Zivil …?«, fragte Ellen ungläubig.

»In meinem Bericht werden sie vermutlich Uniform tragen …«, raunte Lehr lakonisch. »KSK 656 hat meinen Leuten gegenüber zunächst auf seinen Urlaub gepocht. Da er jedoch nicht einmal seinen Truppenausweis oder sonstige Papiere dabei hatte, haben wir ihm mit einem offiziellen Tadel gedroht, der in seine Personalakte eingegangen wäre. Er zeigte sich daraufhin kooperativ und begleitete das Team zu den beiden Pkws. Beim Einsteigen hat er dann zwei Feldjäger überraschend k.o. geschlagen und ist erfolgreich in den Tiergarten getürmt. Der Mann ist ein durchtrainierter Elite-Soldat, der mit bloßen Händen auf sechsundfünfzig verschiedene Arten töten kann und Marathon läuft. Seine Beurteilungen sind in jeder Hinsicht exzellent. Den Feldjägern ging schon nach zwei Minuten die Puste aus. Aus der Wäsche in seinem Rucksack, den er bei seiner Flucht zurückgelassen hat, schließen wir, dass er seit drei oder vier Tagen unterwegs ist. Und genau das ist aus einem weiteren Grund merkwürdig. Wir haben seine Kontobewegungen rekonstruiert, die eine solche Reise nicht tragen. Er hat vor einer Woche das letzte Mal einhundert Euro am Automaten abgehoben, in der Zwischenzeit aber keine Fahrkarten übers Internet gebucht oder mit Karte getankt. Die Reise nach Berlin und die letzte Woche kann er also nicht selbst finanziert haben.«

»Vielleicht hat er seine Mutter angepumpt?«, gab Ellen zu bedenken.

»Das wäre dann aber recht ordentlich gewesen. Als er heute im Biergarten seine Rechnung bezahlte, sahen unsere Leute lauter Scheine in seiner Geldbörse. Und KSK 656 ist alles andere als vermögend. Im Gegenteil wird sein Sold seit Neuestem bis auf das Existenzminimum von einer Bank gepfändet. Auch die Mutter hat in letzter Zeit keine großen Mengen Bargeld abgehoben. Es ergibt einfach alles keinen Sinn. Wenn er schon Geld hatte, warum bietet er dann seine Story einer Zeitung an?«

»Vielleicht ist er schon mit einem anderen Journalisten ins Geschäft gekommen und will mehrmals kassieren?«, vermutete Fricke.

»Kaum. Reinecke ist die erste Wahl für Storys dieser Art. Und die anderen üblichen Verdächtigen überwachen wir natürlich auch ein bisschen. Wir haben außerdem die Aufzeichnungen der Videokameras in Berlin ausgewertet. Unser Mann kam direkt mit der U-Bahn vom Hauptbahnhof. Verlage, die für solche Storys gutes Geld bezahlen, sitzen außer in Berlin nur in Hamburg. KSK 656 ist aber mit einem Zug aus Calw angereist, wir haben ihn an den Bahnhöfen optisch erfasst. Er hat gerade Sonderurlaub, da ein vorgesehener Afghanistan-Einsatz wegen Problemen der Flugbereitschaft verschoben werden musste. Dabei hat er zuvor gerade erst seinen regulären Jahresurlaub abgeschlossen, den er teilweise offenbar in Österreich verbracht hat.«

»Hat er vielleicht in Österreich jemandem seine Geschichte verkauft?«

»Unwahrscheinlich. Die bezahlen kaum für Storys aus Deutschland. Das Handy, das er Reinecke heute gezeigt hat, haben wir in seinem Rucksack gefunden. Die einliegende SIM-Karte war unbenutzt, ein Bewegungsprofil war daher nicht möglich. Im Rucksack waren noch achtundvierzig weitere unbenutzte SIM-Karten von zum Teil unterschiedlichen GSM-Netzanbietern.«

»Aber wer könnte sonst noch ein Interesse daran haben, einen KSK-Soldaten dafür zu bezahlen, dass er mit Schauergeschichten hausieren geht?«, fragte Ellen.

»Vielleicht hat es was mit dem Wahlkampf zu tun«, argwöhnte Lehr. »Jemand will vielleicht die Truppe in Misskredit bringen und seine Partei damit profilieren.«

»Spekulation!«

»Im Moment möchte ich die Sache so klein wie möglich halten. Der Mann hat langfristig wohl gar keine andere Perspektive, als sich zu stellen. Bleiben wir also gelassen.«

»Das sehe ich auch so«, meinte Fricke. »Ich möchte sowohl dich als auch Sie, Ellen, darum bitten, von Notizen über diese Unterredung abzusehen.«

Ellen nickte, während Lehr das Gespräch mit den Worten: »Selbstverständlich. Dann bis morgen in Berlin. Ich wünsche dir und Frau Dr. Strachwitz eine gute Anreise.«

Der Mann, der als Angehöriger des Kommandos Spezialkräfte mit KSK 656 gelistet war, lag zur gleichen Zeit in einem Schlafsack irgendwo im Spreewald. Vor einer Woche war sein Leben noch in geordneten Bahnen verlaufen. Nun lag er versteckt im Unterholz nahe der Hauptstadt des Landes, auf das er seinen Treueeid geleistet hatte. Seit heute also war er offiziell vor diesem Staat auf der Flucht, und es sah nicht danach aus, als ob er je wieder in sein altes Leben zurückkehren könnte. Nach seiner Flucht durch den Tiergarten hatte er sich in einer Einkaufspassage in ein Fahrradgeschäft verdrückt, um mögliche Verfolger abzuschütteln. Da er ein flexibles Verkehrsmittel brauchte, das ihn nicht ins Blickfeld neugieriger Kameras in Bahnhöfen und Bussen rückte, nahm er die Gelegenheit war und erstand ein straßentaugliches Geländerad. Der schattenwerfende Fahrradhelm und die breite Sonnenbrille boten für eine möglicherweise eingesetzte Gesichtserkennungssoftware zusätzliche Hindernisse. Als Radfahrer würde er zudem einheimisch oder wenigstens harmlos wirken und wäre auch von kameraüberwachten Tankstellen unabhängig. Mit dem Rad konnte er notfalls unbefestigte Wege nehmen, falls es galt, einem Auto zu entkommen. Außerdem verbarg das Radfahren sein biometrisches Bewegungsprofil.

In Afghanistan hatte die Feldnachrichtentruppe von Drohnen aus Zielpersonen anhand ihres Gehrhythmus überwacht. Durch den Schattenwurf konnte eine Software auf große Entfernung Menschen automatisch an der Art identifizieren, wie sie sich bewegten, und automatisch verfolgen. KSK 656 zog es vor, in jeder Hinsicht unsichtbar zu bleiben und keine Spuren zu hinterlassen, auch nicht in Hotels, die in Deutschland die Namen ihrer Übernachtungsgäste an die Sicherheitsbehörden melden mussten. Im Outdoor-Geschäft hatte sich KSK 656 zusätzlich zu dem Fahrrad noch einen Schlafsack besorgt und war nach seinem kurzen Ausflug in die zivile Welt nun wieder mobil und flexibel wie ein Feldsoldat.

Während der Baum gleich neben seinem Unterschlupf nur notdürftig den Regen abhielt, erinnerte sich KSK 656 an seinen letzten Arbeitstag, an dem es ebenfalls nieselte. Jörg, wie der Zweiunddreißigjährige eigentlich hieß, hatte vor dem Urlaub in der Kaserne der KSK in Calw trainiert. Die dortige Schießanlage war nach wie vor weltweit einzigartig. Auf drei Stockwerken konnte dort der Grundriss jeder der im Computer gespeicherten deutschen Botschaften automatisch nachgestellt werden. Aus über sechzig Ländern reisten Spezialeinheiten an, um unter realistischen oder künstlichen, erschwerten Bedingungen zu trainieren und mit scharfer Munition auf Puppen oder Projektionsflächen zu schießen. Anders als die GSG 9, die Antiterroreinheit der Bundespolizei, oder das SEK, das Spezialeinsatzkommando der deutschen Polizei, operierte das KSK in militärischem Gebiet, wo man auch den Rücken freihalten und Fluchtrouten organisieren musste. Beim KSK durften sich nur die Besten der Besten bewerben. Wer keinen besonderen Ehrgeiz bewies oder sich zuvor jemals irgendwo beschwert hatte, brauchte beim strengen Auswahlverfahren gar nicht erst anzutreten. Vor dem ersten Einsatz lag eine dreijährige Sonderausbildung, die auch ein intensives Studium von Politik, Strategie und Fremdsprachen beinhaltete. Seit die Bundeswehr vor fünfzehn Jahren diese spezielle Kommandoeinheit ins Leben gerufen hatte, war sie der ganze Stolz des Heeres. Geübt wurden nahezu unsichtbares Bewegen in Wüstenregionen, Klettern im Eis, amphibische Operationen und Schießen mit modernsten Waffen. Beim KSK gab es an Ausrüstung nur vom Feinsten. Die Pistole des KSK hatte keine Sicherung, um lebenswichtige Sekunden einzusparen. Die Männer des KSK wussten mit Waffen umzugehen.

Kurz nachdem Jörg am Freitag die Kaserne in Calw verlassen hatte und auf seinen Bus wartete, wäre er am liebsten wieder umgekehrt. Das KSK war sein Abenteuer, sein Leben und seine Familie. Das enge Verhältnis zu den Kameraden und die gegenseitige Treue gingen ihm über alles. Zu Hause in Wuppertal erwartete ihn nichts, was er hätte Leben nennen wollen. Mit dem Urlaub wusste er nichts anzufangen. Geld für Reisen hatte er nicht, noch weniger eine Freundin, mit der er die Welt hätte entdecken können. Er ertappte sich dabei, einen Besuch bei Renate in Erwägung zu ziehen. Sie war die Frau von Frank, seinem vormaligen Team Leader und engsten Kameraden. Renate war wie geschaffen für Frank gewesen. Wie er war sie sportversessen und duldete an ihrem Körper kein Gramm Fett zu viel. Als braun gebrannte Blondine mit vom Kajalstift betonten Augenbrauen verkörperte sie perfekt das Klischee der deutschen Soldatenbraut. Für Jörg hatte Renate allerdings einen Schönheitsfehler: Sie sah bereits vormittags fern. Aber sie war nun einmal sehr nett. Das letzte Mal hatte Jörg Renate gesehen, als sie im achten Monat war. Auf Franks Beerdigung. Beerdigt wurde, was von Frank noch übrig war. Wie alle Todesfälle beim KSK war auch dieser vertuscht worden. Beim KSK starb man nicht. Offiziell war ohnehin niemand beim KSK. Renate besuchen? Da würde ihn nun ein schreiendes Kind erwarten, außerdem eine gebrochene, allein erziehende Mutter und viele Erinnerungen an gemeinsame Stunden im Garten des schmucken Einfamilienhauses. Vielleicht war ein Besuch doch keine so gute Idee.

Der an der Kaserne eintreffende Linienbus war fast leer gewesen. Nachdem Jörg Platz genommen hatte, setzte sich überraschend ein Unbekannter auf die benachbarte Sitzbank.

»Na, Soldat, geht es in den Heimaturlaub?«

Der schneidige, etwa sechzigjährige Mann mit für sein Alter ausgesprochen schwarzem Haar hatte definitiv etwas Militärisches an sich. Die Narbe, die sich über seinen Handrücken bis zum Ellenbogen zog, wies ihn als einen Mann der Tat aus. Seine sommerliche Kleidung machte einen gepflegten Eindruck. Jörg antwortete mit einem freundlichen Lächeln, wandte dann aber seinen Blick ab. Zwar war es offensichtlich, dass ein an der Kaserne in Calw zugestiegener Fahrgast zum KSK gehörte, doch die Elitesoldaten beachteten streng die Regeln der Geheimhaltung. So, wie der Unbekannte wirkte, war er vermutlich selbst einmal bei der Truppe gewesen. Hätte ihm Jörg mehr Aufmerksamkeit gewidmet, würde ihm der Alte zweifellos gleich ein Gespräch über seine eigene Bundeswehrzeit aufdrücken. Um es gar nicht erst soweit kommen zu lassen, kramte Jörg die Ohrhörer seines Handys aus seinem Rucksack. Während er das Kabel einstöpselte und nach geeigneter Musik suchte, öffnete der Unbekannte einen Aktenhefter.

»Weberling, Jörg. Hauptfeldwebel. Eintausendneunhundertvierzig Euro netto. Aktuelle Verwendung: Information gesperrt, also Kommando Spezialkräfte oder BND … Voriger Jahrgangsbester. Bei den Kameraden beliebt. Afghanistan Badge der US-Delta Force. Auszeichnung für besondere Tapferkeit des Schweizer Bundesheeres … Wie kommt ein deutscher Soldat denn zu Schweizer Ehren?«

»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.«

»Ach nein? Na gut … Ihre jüngsten Tests sind sehr vielversprechend. Sämtliche Vorgesetzten befürworten Ihre Beförderung. Schade, dass es dazu leider nicht kommen wird.«

Der Mann besaß nun Jörgs ganze Aufmerksamkeit.

»Eigentlich eine Schande. Ein Mann mit Ihren Talenten. Die ganze Ausbildung! Alles für die Katz!«

»Wovon reden Sie? Wer sind Sie?«

»Aus Ihrer Beförderung wird leider nichts. Und auch das KSK werden Sie wohl nie wieder von innen sehen. Na ja, es gibt ja beim Militär noch genügend andere spannende Aufgaben. Freizeitlotse zum Beispiel. Oder Kantinendienst.«

»Genug jetzt. Was reden Sie da für eine gequirlte Scheiße?«

In Sachen KSK verstand Jörg nicht den geringsten Spaß.

»Ihre Geheimschutzprüfung ist unerfreulich. Ihre finanziellen Angelegenheiten sind leider nicht geordnet, um es einmal höflich zu formulieren. Für einen Geheimnisträger Ihrer Stufe ist diese Vermögenssituation untragbar. Sie sind erpressbar oder könnten sich langfristig genötigt sehen, inadäquate Einkommensquellen zu erschließen oder mit dem Saufen anzufangen. Bislang hat man wegen Ihrer überdurchschnittlichen Leistungen beide Augen zugedrückt. Aber nachdem nun auch noch in Ihren Sold gepfändet wird, haben wir leider keine Spielräume mehr. Vor zwei Jahren haben Sie eine Bürgschaft für Ihre Schwester geleistet, weil die sich ein Bauherrenmodell zum Steuersparen hat aufschwatzen lassen – eine einfache Krankenschwester … Leider waren die Neubauten in Dessau nicht vermietbar, klassischer Ostimmobilienfall. Ihre Schwester ist in die Insolvenz gegangen, und Sie werden für dieses schlechte Geschäft zahlen müssen. Von Ihrem Sold, der nach der Steuer nicht einmal mehr zweitausend Euro beträgt, werden Sie in den kommenden zwanzig Jahren nur den pfändungsfreien Teil bekommen.«

Jörg blieb äußerlich gelassen, doch innerlich kochte er. Ein scheinbar unabhängiger Finanzberater hatte seiner Schwester damals eine Vermögensanlage aufgeschwatzt. Es ging um »Steuersparen« und todsichere Rendite. Die Bürgschaft sei reine Formsache. Der »Berater« hatte in Wirklichkeit gar keine Ahnung, sondern wollte sich nur eine Provision seines Vertriebsunternehmens verdienen. Als sich die getätigte »Investition« dann als ein Fass ohne Boden erwies, blieben die Schulden an Jörg hängen, was die Familie schwer belastete. Aber eine Insolvenz hätte ihn seine Geheimschutzeinstufung gekostet, wie es nun auch so zu passieren drohte. Wann immer Jörg im Schießcenter in Calw trainierte, stellte er sich den »Berater« auf der Personenzielscheibe vor. Seither wies keiner der Pappkameraden, die Jörg vor die Flinte kamen, jemals einen Fehlschuss auf.

Jörg fiel die Armbanduhr des Fremden auf, ein Modell, das er schon einmal gesehen hatte. Es handelte sich um die limitierte Edition eines deutschen Nobelherstellers, die von Mitgliedern eines Bundeswehr-Veteranenverbands getragen wurde.

»Eine Aussicht auf eine Erbschaft besteht auch nicht. Seit Ihr Vater ein Pflegefall geworden ist, geht alles dafür drauf. Wie es aussieht, wird vom Geld Ihrer Eltern nichts übrig bleiben. Deren Immobilie gehört ohnehin längst der Bank. Eine Familie werden Sie die nächsten zwanzig Jahre wohl auch nicht ernähren können. Wann genau wollten Sie mit Ihrer Vermögensvorsorge fürs Alter anfangen?«

»Wer sind Sie, und was geht Sie das überhaupt an?«, fragte Jörg mit dem ihm maximal möglichen höflichen Tonfall, konnte ein leichtes Beben in der Stimme jedoch nicht unterdrücken. Der Fremde sah ihm für einige Sekunden in die Augen.

»Kamerad, Sie sind ein guter Mann. Einer unserer besten. Wir werden Sie nicht hängen lassen. Sie haben damals in Afghanistan unter Einsatz Ihres Lebens Leute rausgeholt, jetzt ist es an uns, Sie aus Ihrer misslichen Lage zu holen. Männer wie Sie brauchen wir! Sie haben eine zweite Chance mehr als verdient. Deutschland wird sie Ihnen geben. Ihre Personalakte und das Finanzielle bekommen wir geregelt. Ich mache Ihnen jetzt ein Angebot. Hören Sie einfach zu. Ich steige an der nächsten Haltestelle aus. Wenn es nichts für Sie ist, sind wir uns nie begegnet und sehen uns nie wieder. Dann allerdings werden Sie in der Bundeswehr bald nur noch Munitionsdepots bewachen oder in der Grundausbildung eingesetzt. Wie Sie wissen, gibt es einige Dinge, die für Deutschland getan werden müssen. Sie selbst haben in Afghanistan schon Dinge getan, die viele Zivilisten nicht verstehen werden. Und auch nicht müssen, da sie davon nie erfahren werden. Sie aber kennen die Welt, wie sie wirklich ist. Wir möchten, dass Sie das, was Sie für uns in Afghanistan getan haben, auch woanders tun – allerdings weniger formal. Juristen gewinnen keine Kriege, oder?«

»Nein …«

Der Fremde raunte nun noch leiser. »Die Bundesregierung hat sich inzwischen im Krieg gegen den Terror der amerikanischen Sichtweise angeschlossen. Wir können nicht abwarten, bis ein Anschlag passiert, sondern ziehen die Terroristen rechtzeitig aus dem Verkehr. Um Leben zu retten, müssen wir manche Personen manchmal auch etwas härter verhören, als es die Vorschriften zulassen. Das geht aber aus politischen Gründen nicht offiziell. Können Sie sich vorstellen, Spezialaufträge zu erledigen, über die nicht Buch geführt wird? Die sozusagen außerhalb des Protokolls sind? Wir brauchen eine Handvoll qualifizierter Leute, die zupacken können, die verlässlich sind und schweigen können. Leute wie Sie. Wenn Sie interessiert sind, treffen wir uns gleich morgen. Das Treffen verpflichtet Sie zu nichts. Oder haben Sie morgen schon etwas Besseres vor?« Offenbar wusste der Fremde, dass Jörg derzeit nur bei Muttern abhing. »Sie joggen doch so gerne! Warum joggen Sie morgen nicht einfach zum Kriegerdenkmal in Wuppertal gleich bei Ihnen um die Ecke? Ich werde morgen dort sein und ab 11:00 Uhr auf Sie warten. Ihr Handy lassen Sie bitte zu Hause.«

Der Bus verlangsamte sein Tempo, der Unbekannte lächelte und erhob sich. »Das Treffen ist ein einmaliges Angebot. Eine zweite Chance wird es nicht geben. Ob Sie kommen oder nicht, wir erwarten absolutes Stillschweigen über unseren Kontakt. Haben wir uns verstanden?«

Jörg nickte stumm. Der Fremde stieg an der Haltestelle aus, wo bereits ein dunkler Audi Q7 mit getönten Scheiben auf ihn wartete.

Der Regen im Spreewald hatte inzwischen aufgehört. Nach einem ereignisreichen Tag war Jörg endlich eingeschlafen.

Zur gleichen Zeit hielt im Prenzlauer Berg ein Taxi, dem eine Frau Ende zwanzig mit dunkelrot gefärbtem langem Haar entstieg. Der Fahrstuhl hievte Conny und ihren Trolley ins letzte Stockwerk unterhalb ihres Penthauses. Die Reise war anstrengend gewesen – vor allem das Feiern. Auf dem Anrufbeantworter blinkte eine zweistellige Anzahl von Nachrichten. Bevor Conny diese abhören konnte, klingelte ihr häufigster Anrufer durch.

»Felix, es ist nach 23:00 Uhr. Was ist so dringend?«

»Dein Handy war mehrere Tage aus. Der neue Kunde besteht darauf, mit dir persönlich zu sprechen.«

»Läuft nicht. Ich treffe mich nicht mehr mit Politikern.«

»Es geht um einen wirklich fetten Job und Folgeaufträge. Wenn wir jetzt nicht …«

»Du kennst meine Antwort. Warum erzählst du denen überhaupt von mir, du alte Quasseltante?«

»Habe ich nur indirekt. Habe keinen Namen genannt. Du weißt schon, ich …«

»Sag den Leuten: Take it or leave it! Letztes Wort. Ende Gelände! Wir haben es nicht nötig. Und jetzt gute Nacht.«

»Conny, ich …«

Aber Conny hatte bereits aufgelegt und das Telefon stumm geschaltet. Die Social-Media-Agentur Hegemann & Friends, die offiziell auf den Namen von Felix Hegemann lief, hatte im Hintergrund Conny aufgezogen. Zwanzig Leute vom Kernteam und in Stoßzeiten sogar bis zu achtzig Personen saßen an ihrem Heimarbeitsplatz vor der Tastatur, um im Web 2.0 den von Connys Kunden gewünschten Spin zu liefern. In den Diskussionsforen, deren Kommentare unter jeder Meldung in den Online-Medien erschienen, gaben die digitalen Söldner von Hegemann & Friends häufig den Ton an und ließen nichts anbrennen. Manchmal waren die Hofmänner bereits einen Tag vor Erscheinen wichtiger Artikel informiert, meistens mussten sie spontan reagieren. Seitdem Twitter die Reaktionsgeschwindigkeit von Trends auf Echtzeit beschleunigt hatte, ging im PR-Business ohne Social-Media-Profis nichts mehr. Keine Online-Umfrage, in der nicht die »Friends« von Hegemann den Ausschlag gaben. Da die Beteiligung in Medienforen häufig lächerlich gering war, konnte die Firma fast immer die gewünschte Dominanz liefern. Conny hatte anfangs das für sie tippende Personal noch in der Rolle des scheinbar auf Stundenbasis angeheuerten Coachs »Sabine« ausgesucht und angeleitet, inzwischen überwachte sie online die festangestellten Controller und traf für Felix, den sie vor anderen unterwürfig siezte, die strategischen Entscheidungen. Jeder der »Friends« sollte fünf qualifizierte Social-Media-Kontakte die Stunde vorweisen. An einem Arbeitstag von sechs Stunden injizierte die Agentur mindestens fünfhundert Kommentare und Tweets in die Pipeline, die Journalisten für die öffentliche Meinung im Internet hielten. In Zeiten, in denen das Publikum den etablierten Medien immer weniger traute und sich zunehmend im Internet und in Büchern von Verschwörungstheoretikern informierte, war die Kontrolle über die Lufthoheit in den Social Media immer wichtiger geworden.

Längst hatten auch andere PR-Agenturen dieses Geschäftsfeld für sich entdeckt. Felix hatte sich scherzhaft den Titel »geschäftsführender Troll« gegeben, tatsächlich aber bestand seine Hauptaufgabe darin, Conny von allem abzuschirmen. Über Dreiecksgeschäfte ließen sich die Geldflüsse an sie verschleiern. Die Kunden bekamen sie nie zu Gesicht. Im aktuell anlaufenden Wahlkampf nun waren die Auftragsbücher voll. Ein täglicher Ausstoß von zweitausend Qualitätskommentaren war ein realistisches Ziel. Ein neuer Großkunde war sogar bereit, für fünftausend ein anständiges Honorar zu bezahlen. Aber auch in dieser Branche war es schwierig, kurzfristig gutes Personal zu finden. Sogar für unqualifiziertes Personal bot Hegemann & Friends Arbeit: So tippten dort schlichte Gemüter fotografierte Zahlen ein, um auf diese Weise online die Eingabe authentischer Menschen vorzutäuschen. Danach bewerteten Sie die Produkte der Kunden in Verbraucherportalen positiv mit fünf Sternchen. Manchmal verlangten die Kunden auch, dass konkurrierende Anbieter nur einen Stern erhielten. Der Preis war der gleiche. Um bei Amazon glaubwürdig kommentieren zu können, ohne von den dortigen Admins als Fake entlarvt zu werden, sponserten Hegemanns Kunden sogar Testkäufe von Produkten, welche die Mitarbeiter dann freundlicherweise behalten durften.

Doch Hegemanns Miet-Trolle stellten nur das Fußvolk von Connys digitaler Armee. Die Veteranen von Connys Streitkräften waren die »Wikinger«. Zu dem Zeitpunkt, als die Wikipedia noch ein kleines Nerd-Projekt gewesen war, hatte sich Conny bereits in die Community der Wikipedia-Aktiven eingeklinkt. Denn wer in der Wikipedia Inhalte platzieren wollte, benötigte innerhalb der Gruppe ein Standing. Dieses erwarb man sich durch Fleiß, langjährige Projektzugehörigkeit, offline-Freundschaften und perfekte Beherrschung der Insider-Kommunikation. Die deutsche Wikipedia-Community bestand überwiegend aus männlichen Nerds um die Dreißig, meist Singles, die oftmals wegen Krankheit langzeitarbeitslos waren und online ihr vermeintliches Expertentum auslebten. Als eine der wenigen attraktiven Frauen wurde Conny bei den Wikis schnell die Femme fatale, deren Wort galt. Wenn Conny beim Bearbeiten eines Artikels eine andere Meinung hatte und einen Edit War vom Zaun brach, waren Minuten später Connys Guardian Angels zur Stelle, die grundsätzlich für sie Partei ergriffen und hartnäckigen Gegnern das Leben schwer machten. Neben ihren tatsächlichen Wikipedia-Freunden kommandierte Conny natürlich auch ein streitfreudiges Regiment an sogenannten Sockenpuppen. Das waren inszenierte Pseudo-Accounts, die sich alle Wikipedianer anlegten, damit wenigstens irgendjemand der eigenen Meinung beipflichtete. Mit den Sockenpuppen ließen sich außerdem Abstimmungen manipulieren. Was der von der Wikipedia angestrebte »neutrale Standpunkt« genau war, sah jeder anders, vor allem bei politischen oder religiösen Themen. Da die Manipulation mit Sockenpuppen gegen die Wikipedia-Regeln verstieß, hatte die Community einen internen Geheimdienst aufgebaut, der solche Betrügereien aufspüren sollte. Eine Handvoll Wiki-Admins war mit der Checkuser-Berechtigung ausgestattet, die Zugang zu professionellen Tools erlaubte, um Fakes zu identifizieren. So konnte man etwa an der IP-Nummer erkennen, wer vom gleichen Anschluss aus editierte. Oft verrieten sich Sockenpuppen auch durch identische Rechtschreibfehler und gleiche Ausdrucksweisen, die automatisch mit auch im Geheimdienst üblichen Stilometrie-Tools abgeglichen wurden. Verdächtige Nutzer wurden auf Schreibgewohnheiten oder identische Tageszeiten gerastert. Da sich jeder Wikipedianer, der etwas auf sich hielt, mindestens eine Sockenpuppe hielt, hatten die Checkuser allerhand zu tun. Conny steuerte sechzehn Nutzer, die von der Wikipedia-Community über viele Jahre hinweg als echt anerkannt worden waren. Jede ihrer Sockenpuppen hatte ein bestimmtes Profil. So war »Herbert« scheinbar ein pensionierter siebzigjähriger Lehrer aus Darmstadt. Herbert formulierte als Philologe zurückhaltend und akademisch. Eine Software sorgte dafür, dass Herbert automatisch noch immer ein scharfes »ß« verwendete, wo nach der Rechtschreibreform schon lange ein Doppel-S gesetzt werden musste. »Ingo« war hingegen ein aggressiver Hitzkopf aus Hannover, schrieb jedes »dass« grundsätzlich nur mit einem »s« und ließ dank der Software jegliches Komma weg. Ingo ging mit seinen Gesprächspartnern rüde um, sperrte schnell andere Nutzer, kassierte selbst befristete Sperren und gab den reumütigen Sünder. »Denise« war ein Küken, das ebenso wie Conny die männliche Community um den Finger wickelte und sich den Neid der optisch weniger vorteilhaften Wikipedianerinnen zuzog. Connys erfolgreichster Charakter »Heidrun« hingegen bediente die Netzfeministinnen, die sich in einem subjektiven Stellungskrieg gegen die Männerwelt profilierten, sich aber in erster Linie gegenseitig wegen des »einzig richtigen Feminismus« bekriegten. Heidrun war deshalb so beliebt, weil sie statt sich ständig zu zanken möglichst allen Feministen Recht gab und nur gegen die gemeinsamen Feinde schoss. Vor allem ihre Gefechte mit einem gewissen »Boris« brachten Heidrun großen Respekt und Solidarität bei den Netzfeministinnen ein. Auch der so schrecklich frauenfeindliche Boris war in Wirklichkeit ein von Conny inszeniertes Fake, das regelmäßig für Aufmerksamkeit sorgte. Auf diese Weise profilierte sie nicht nur ihre Avatare, sie erhielt auch bezüglich jeder Strömung per Direktmail vertrauliche Informationen zugesteckt und wusste stets, was lief. Inzwischen hatte sie ihre Freunde und Sockenpuppen in praktisch allen wichtigen inoffiziellen Kanälen, in denen innerhalb der zerstrittenen Wikipedia-Community Intrigen geschmiedet wurden. An der Authentizität von Connys sechzehn Wiki-Admins, die sich allesamt täglich um das Projekt verdient gemacht hatten, gab es in der größtenteils anonymen Community keinen Zweifel, obwohl sich diese Admins nie auf Offline-Treffen sehen ließen. Einmal war Conny ein Berliner Admin mit Checkuser-Berechtigung auf die Schliche gekommen, doch Conny hatte dieses Problem auf ihre Art gelöst: Sie hatte den übereifrigen Wikipedianer, der noch nie eine Frau berührt hatte, aufgesucht, verführt und ihm dann sanft auf die Finger geklopft. Ihm Schreibverbot in der Wikipedia zu erteilen, wäre für sie keine Option gewesen.

Auch bei Facebook hatte Conny eine Privatarmee von Sockenpuppen aufgestellt. Ihr inszeniertes Beziehungsgeflecht an langjährigen Scheinidentitäten überschnitt sich teilweise mit ihren Wikipedia-Sockenpuppen. Weil sie jedoch die Gefahren von Facebook für ihre Privatsphäre bereits sehr früh erkannt hatte, installierte sie dort ausschließlich Fakes. Mit Faszination verfolgte sie die Tricks, mit denen Hacker naive Zeitgenossen dazu brachten, Rückschlüsse auf ihre echte Identität oder verbreitete Passwörter wie die Namen von Haustieren preiszugeben. Während Conny etliche Identitäten auf Facebook laufen hatte, suchte man die wahre Conny in Social Media nach wie vor vergeblich. Wer ihre Freunde waren, ging niemanden etwas an.

Ihr aktuellstes Projekt war die ebenfalls mit Felix diesmal allerdings hochkonspirativ aufgezogene Agentur »Call Carlo«. So hatte Conny mit Hilfe von Insidern und Hackern die Software eines Meinungsforschungsinstituts manipuliert, das von mehreren Call-Centern aus scheinbar zufällig ausgewählte Personen befragte. Ein nicht unerheblicher Teil der Call-Center-Anrufe wurde jedoch auf die Leitungen von zwölf besonders vertrauenswürdigen Personen umgeleitet, die alle die gleiche käufliche Meinung hatten. Damit kein Auswerter mehrfach an den gleichen Carlo-Mitarbeiter geriet, glich ein Programm die Profile der Anrufer ab, die sich im Call-Center ins System einloggen mussten. Pro Umfrage lieferte Conny zwischen dreihundert und sechshundert Gespräche, was die Ergebnisse signifikant beeinflusste. Während die Social-Media-Trolle in der Branche ein offenes Geheimnis waren, lief Call Carlo nur unter dem Siegel absoluter Verschwiegenheit und über Strohleute. Zwar war alles nach dem Need-to-know-Prinzip organisiert, so dass keiner vom anderen wusste, denn alle arbeiteten im Homeoffice. Da aber niemand wissen konnte, ob einer der Call-Center-Kunden oder einer der Berufsmeiner eines Tages von der Fahne gehen und auspacken würde, war das Projekt ohnehin nur auf Zeit angelegt. Zu Conny gab es nicht die geringste Spur, und Felix würde dicht halten. Insgeheim vermutete Conny, dass das Meinungsforschungsinstitut selbst hinter dem Auftrag steckte, um seine Hände, sollte der irgendwann auffliegen, in Unschuld waschen zu können. Doch das war ihr, solange sie für ihre Arbeit bezahlt wurde, herzlich egal.

Da sich Conny den größten Teil ihres Tages im Internet bewegte, gehörten auch ihre ernsthaft gepflegten Twitter-Accounts zum festen Inventar der Online-Szene. Hieraus resultierten vor allem online-Bekanntschaften zu Hackern, die sich als nützlich erwiesen. Vielen Nerds fehlte es an Sozialkompetenz und Geschäftssinn. Conny hingegen wusste die Leute miteinander zu vernetzen und Projekte einzutüten. Mit nun beinahe dreißig Jahren war ihr klar, dass ihr verschlepptes Studium ohne Abschluss enden würde. Doch in ihrem Abi-Jahrgang war niemand, der es finanziell auch nur annähernd so weit gebracht hatte wie sie. Connys Berliner Penthaus-Wohnung mit neuer, aus dem Stand bezahlter Luxusküche und einem Dachgarten, in dem sie sich ungestört nackt sonnen konnte, hätten jeder Managerin den Neid ins Gesicht getrieben.

Bevor sie ihre Koffer auspackte, wollte sie noch schnell einige ihrer Wiki-Avatare bespielen. Die Netzfeministinnen warteten bestimmt schon sehnsüchtig auf Heidrun, um in ihrer Filterblase Bestätigung zu finden. Mit dem obligatorischen Whisky setzte sich Conny an einen der Rechner, die vierundzwanzig Stunden am Tag liefen und zur Tarnung zeitversetzt Postings und Tweets absetzten. Da Connys Alkoholpegel erst noch ansteigen musste, bevor sie Heidrun-Content absetzen konnte, checkte sie vorher noch den Rechner, auf dem sie sensibelste Informationen lagerte. Dazu tippte sie ein paranoid langes, fünfundzwanzigstelliges Passwort ein. Access denied. Wahrscheinlich hatte sie sich nur vertippt. Doch auch ihre nächsten beiden Versuche scheiterten. Sie schrieb das Passwort auf Papier und strich nach jedem quittierten Tastendruck ein Zeichen durch. Doch der Rechner wollte nicht aufgehen. Sie trank das Glas auf ex. Mehr aus Trotz versuchte sie es mit einem Neustart und schenkte sich ein weiteres Glas ein. Noch war ein Softwareproblem nicht gänzlich auszuschließen. In Connys Rechner einzudringen, war eigentlich unmöglich. Während des Neustarts vergewisserte sie sich, dass sie ihren Schlüsselanhänger in Form eines Miniatur Darth Vader noch bei sich trug und nahm ihn beinahe ängstlich in ihre Faust. Er war ihr wertvollster Schatz.

Auch nach dem Neustart blieb der Rechner versiegelt. Conny schwante Übles: Im besten Fall waren ihre Daten künftig weg. Im schlechtesten war die Hackerin selbst gehackt worden.