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Eine Namensliste der Personen und eine Liste aller schwierigen Wörter findet ihr ganz am Schluss des Buches.

1

Ein Hilferuf! Keine Frage, das war ein Hilferuf von Miss Agatha!

Ich hatte mein Handy auf Vibrationsalarm gestellt, darum hätte ich ihre SMS fast verpasst. Immer, wenn ich für Onkel Vusi den Jeep abschrubbe, nehme ich mein Telefon vorsichtshalber aus der Hosentasche, damit es nicht nass wird. Nur weil ein Tourist (ziemlich unhöflich!) vom Parkplatz nach mir gepfiffen hatte, damit ich zu ihm kommen sollte (keine Ahnung, warum), hab ich mein Handy plötzlich auf dem Boden tanzen sehen.

Hilfe! Hilfe! Hilfe! Wenn Miss Agatha es so dringend machte, musste irgendetwas los sein. Der Safari-Jeep konnte warten, der unhöfliche Tourist sowieso. Für solche Notfälle hat Miss Agatha mir das Handy schließlich geschenkt, und dafür bezahlt sie mir auch die Karte.

Meine Damen und Herren, was tut man, wenn man einen derart dringenden Hilferuf erhält?

Ich habe mein Handy also zurück in die Hosentasche gesteckt und bin losgerannt. Sollte der Tourist mir doch hinterherpfeifen. Im Augenblick gab es Wichtigeres.

Aber ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt! Miss Agatha sagt, der wahre Gentleman stellt sich immer zuerst vor.

Ich heiße Thabo. Thabo Sonnyboy Shongwe.

Wie alt ich bin, kann ich leider nicht verraten. Miss Agatha sagt, der wahre Gentleman fragt nie nach dem Alter, weil das unhöflich ist. Und sagen ist, recht überlegt, doch eigentlich noch unhöflicher als fragen. Darum muss ich über mein Alter schweigen.

Selbstverständlich bin ich in Wirklichkeit noch kein wahrer Gentleman, aber ich möchte einer werden. (Als Junge kann man noch keiner sein.) Ein wahrer Gentleman hat nämlich meistens ein sehr großes Haus (manchmal mit Park) und ein sehr großes Auto und eine sehr schöne Frau, und sehr viel Geld sowieso, es lohnt sich also.

In allen anderen Dingen kann es allerdings sein, dass ein Gentleman es eher langweilig hat, nach allem, was ich bisher mitgekriegt habe. Darum überlege ich seit einiger Zeit, ob ich nicht doch lieber Privatdetektiv werden soll. Miss Agatha hat einen Fernseher, da gucken wir gerne Kriminalfilme, und ich habe festgestellt, dass Privatdetektiv ein spannender Beruf für mich sein könnte. Allerdings habe ich auch festgestellt, dass Privatdetektive meistens kein sehr großes Haus und kein sehr großes Auto haben und auch nicht viel Geld. (Nur eine sehr schöne Frau kriegen sie manchmal am Schluss.)

Darum weiß ich nicht so genau, ob Privatdetektiv wirklich der richtige Beruf für mich ist. Solange ich mich nicht entschieden habe, versuche ich also erst mal beides, wo immer sich die Gelegenheit bietet. Die Gelegenheit, sich wie ein Gentleman zu benehmen, bietet sich natürlich öfter als die Gelegenheit, sich wie ein Privatdetektiv zu benehmen. Als Gentleman reicht es schon, wenn man höflich ist, vor allem zu den Damen. Aber als Privatdetektiv muss man mehr tun. Da muss man einen Kriminalfall lösen. Und dazu muss es erst mal einen Kriminalfall geben. Und leider, leider, meine Damen und Herren, gibt es so was bei uns nicht so oft. Wenn ich ganz ehrlich bin, muss ich sogar zugeben: Einen richtigen Kriminalfall hat es bei uns in Hlatikulu überhaupt noch nie geben. (Jedenfalls nicht, seit ich lebe.)

Vielleicht kommen die Verbrecher gar nicht erst hierher, weil sie sich sagen, dass bei uns sowieso nichts zu holen ist? (Was aber nicht stimmt. Bei Miss Agatha ist ein Fernseher zu holen und ein DVD-Player und ein CD-Player und ein Computer. Und in Lion Lodge gibt es sogar noch mehr teure Sachen. Irgendwer müsste das diesen Verbrechern vielleicht mal erzählen, damit Sifiso Lovejoy und ich überhaupt eine Chance kriegen, den Beruf des Privatdetektivs zu testen.)

Sifiso Lovejoy Madlopha ist mein bester Freund. (Jetzt habe ich ihn auch höflich vorgestellt.) Als wir jünger waren, das war, gleich nachdem ich zu Onkel Vusi gezogen war, wollten wir beide Fußballprofis werden, aber da waren wir natürlich auch noch klein und dumm. Inzwischen glauben wir nicht mehr, dass wir international eine echte Chance haben. Sifiso sagt, dafür muss man jeden Tag mit einem Lederball trainieren, und woher sollten wir den wohl nehmen? (Natürlich könnten wir einen stehlen, dann hätten wir gleich beides, einen Lederball, um Fußballprofi zu werden, und einen Kriminalfall fürs Privatdetektivtraining. Wir müssten uns dann selbst verhaften.) Außerdem muss man täglich ziemlich viel Zeit mit Kicken verbringen, und das kriegt Sifiso mit seinen drei Geschwistern nicht hin.

Darum habe ich ihm schon vor einer ganzen Weile vorgeschlagen, dass statt Fußballprofi vielleicht Privatdetektiv ein guter Beruf für uns sein könnte. Ich erzähle Sifiso nämlich immer die Filme, die ich mir mit Miss Agatha angucke, weil Sifiso wegen seiner Geschwister nicht mitgucken kann. Außerdem weiß ich auch gar nicht, ob Miss Agatha das gut finden würde. Ein Junge mit nicht immer ganz sauberen Hosen auf ihrem echt englischen Seiden-Chintz-Sofa ist ihr vielleicht gerade genug.

Miss Agatha muss ich auch noch vorstellen. Bei Miss Agatha ist es leicht, höflich zu sein und ihr Alter nicht zu verraten, weil ich es nämlich selbst nicht kenne. (Ich habe sie mal danach gefragt, daher weiß ich jetzt, dass ein wahrer Gentleman das niemals tun darf.) Auf alle Fälle ist sie der älteste Mensch in meiner Bekanntschaft, aber dafür ist sie noch ziemlich gut erhalten. Miss Agatha hat schon in Hlatikulu gelebt, als die englische Königin noch Chef über das Land war und deshalb unglaublich viele Engländer bei uns gelebt haben. Damals hätte man in Mbabane glauben können, man wäre in London, sagt Miss Agatha, jeden Abend eine Cocktailparty. Als dann unser eigener König Chef im Land geworden ist, sind die meisten Engländer abgereist. Aber Miss Agatha ist geblieben.

Sie wohnt in einem sehr vornehmen Cottage gleich hinter Lion Lodge, und es sieht genauso aus wie die Häuser in England. Natürlich war ich noch nie in England, aber ich weiß es aus den Filmen, die Miss Agatha und ich uns zusammen angucken. Draußen um das Cottage herum sieht alles aus wie Hlatikulu, aber in Miss Agathas Wohnzimmer könnte man glauben, man wäre in Cornwall oder Devon oder Milchester. (Das sind Orte in England, in denen immer sehr viele schreckliche Verbrechen passieren, die eine alte Frau mit ihrem Freund aufklären muss. Die Polizei klärt in England nämlich nicht viele Verbrechen auf, das habe ich aus den Filmen gelernt und das hat mich ein bisschen überrascht. Sie überlässt das alten Frauen und ihren Freunden. Vielleicht wäre es darum gut, wenn Sifiso und ich nach England ziehen würden, da hätten wir als Privatdetektive ordentlich zu tun.)

Aber jetzt dieser Hilferuf!

Miss Agatha stand vor ihrer Tür, als ich angekommen bin. »Thabo!«, hat sie gerufen. »Gott sei Dank hast du meine Nachricht bekommen! Ich weiß bei diesem verdammten Minitelefon nie so genau, ob ich es richtig mache!«

(Erstens: Miss Agatha ist ganz bestimmt eine Lady – das ist als Frau das, was als Mann ein Gentleman ist. Zweitens: Leider gebraucht Miss Agatha trotzdem manchmal Wörter, die ein Gentleman nicht gebrauchen dürfte, wie zum Beispiel »verdammt«.)

Erst mal war ich erleichtert, dass Miss Agatha am Leben war. Wenn man eine SMS kriegt, in der »Hilfe! Hilfe! Hilfe« steht, stellt man sich ja gleich alles mögliche Schreckliche vor. Also, dass sie von einer Schwarzen Mamba gebissen worden ist, zum Beispiel (das ist tödlich, leider), oder von gemeinen Verbrechern überfallen worden ist (das würde mir besser gefallen, weil es endlich ein Kriminalfall wäre.)

Dass man ihr einfach nur noch mal erklären soll, wie sie ins Internet kommt, stellt man sich nicht vor.

2

So war es aber.

»Emma ist vorhin angekommen!«, hat Miss Agatha gerufen und mich am Ärmel ins Haus gezogen. »Ich hatte ganz vergessen, dass Wendy es mir gesagt hatte, und nun haben wir den Ärger!«

Wendy, meine Damen und Herren, ist Miss Agathas Nichte Ms Wendy Chapman, der Lion Lodge gehört; und Emma ist ihre Tochter.

Früher haben Emma und ich immer zusammen gespielt. Onkel Vusis Quartier liegt ja viel näher an Lion Lodge als an den anderen Hütten im Dorf, weil die Ranger alle in einem Wohnkomplex im Park leben, gleich hinter dem Parkplatz. Aber jetzt geht Emma in England zur Schule und kommt nur in den Ferien nach Hause, da kennen wir uns nicht mehr so gut.

Miss Agatha ist es sehr peinlich, dass sie immer wieder vergisst, wie man E-Mails schreibt. Ich habe zugeguckt, als Emma es ihr erklärt hat, es ist ganz einfach. Emma wollte, dass Miss Agatha es lernt, damit sie ihr mailen kann, wenn sie auf ihrem Internat in England ist. Aber Miss Agatha hat hinterher sofort wieder vergessen, wie es geht, darum schickt sie mir immer eine SMS, wenn sie Emma mailen will, ich habe es mir nämlich gemerkt.

(Ein Gentleman, glaube ich, hat auch immer einen Computer. Ein Privatdetektiv vielleicht auch. Wenn ich mir nicht rechtzeitig einen für meinen Beruf leisten kann, frage ich Miss Agatha, ob ich ihren mitbenutzen darf. Der steht sowieso nur rum, außer wenn sie mit meiner Hilfe an Emma schreibt.)

»Du kennst doch Emma!«, hat Miss Agatha gesagt und sich auf ihr englisches Seiden-Chintz-Sofa fallen lassen. »Sie ist doch so misstrauisch! Wenn sie kommt, wird sie sofort wieder fragen, ob ich denn wirklich noch mit dem Laptop umgehen kann und alles behalten habe, was sie mir erklärt hat, und dann wird sie verlangen, dass ich es ihr zeige. Du weißt ja, wie streng Emma ist!«

Das stimmt beides. Emma kann sehr misstrauisch sein und auch sehr streng. Ich verstehe nicht, warum Miss Agatha sich das gefallen lässt. Eigentlich müsste Emma doch Respekt vor Miss Agatha haben, nicht umgekehrt, jeder hat doch Respekt vor dem Alter. Aber Emma ist Emma, meine Damen und Herren, besser kann ich es nicht beschreiben.

»Ich kann es Ihnen ja noch mal zeigen, Miss Agatha!«, habe ich gesagt. »Dann können Sie es, wenn Emma kommt.« Natürlich habe ich mich gefreut. Jeder freut sich doch, wenn er an einen Laptop darf.

Miss Agatha hat geseufzt. »Ngiyabonga, Thabo!«, hat sie gesagt. »Was würde ich bloß ohne dich machen!« Dann hat sie sehr feierlich auf die Ein-/Aus-Taste gedrückt. Ich wusste sofort, dass sie stolz war, weil sie sich wenigstens gemerkt hatte, was man als Allererstes machen muss.

»So!«, hat Miss Agatha zufrieden gesagt. »Jetzt ist er eingeschaltet! Und was nun?«

Aber eingeschaltet war der Laptop keineswegs, und wer auch nur ein kleines bisschen nachdachte, konnte das deutlich sehen. Der Bildschirm war immer noch dunkel, und kein einziges von den kleinen Lämpchen in Grün und Rot, die sonst immer blinken, war zum Leben erwacht.

»Wo ist das Kabel, Miss Agatha?«, habe ich gefragt. »Der Akku ist nämlich leer! Da brauchen wir das Kabel!«

Miss Agatha hat ein bisschen verwirrt ausgesehen. »Ich weiß, dass ich es neulich in der Hand hatte!«, hat sie gemurmelt. »Es ist mir immer so verdammt zwischen die Füße geraten! Wo kann das verdammte Teil denn bloß sein?«

(Dass Miss Agatha Wörter benutzt, die eine Lady eigentlich nicht benutzen sollte, hatte ich ja schon erklärt. Eine sehr alte Lady darf es vielleicht. Man hat sowieso Respekt vor ihr.)

Sie hat hinter allen Kissen auf dem Sofa und auf den Sesseln nachgesehen. Ich weiß nicht, wo Miss Agatha ihre Kabel hintut, wenn sie sie aus dem Weg haben will. Darum habe ich nur zugeguckt und nicht mitgesucht.

Es war aber alles umsonst.

»Machen Sie sich keine Sorgen, Miss Agatha!«, habe ich gesagt. »Wenn der Akku leer ist und wenn das Kabel nicht da ist, kann man den Laptop sowieso nicht anschalten. Auch Emma nicht. Dann müssen Sie ihr gar nichts beweisen.«

Miss Agatha hat die Stirn gerunzelt. »Bist du dir sicher, Thabo?«, hat sie gefragt. »Auch Emma nicht? Es gibt nicht vielleicht einen Trick?«

»Das kann nicht mal Emma, Miss Agatha!«, habe ich gesagt. »Seien Sie beruhigt! Es geht nicht ohne Strom.«

Mit Strom kenne ich mich aus. Onkel Vusis Hütte hat Strom, alle Ranger im Wohnkomplex von Lion Park haben das. (Und Funkgeräte haben sie auch. Die könnte ein Privatdetektiv genauso gut brauchen.)

Miss Agatha hat den Laptop seufzend zugeklappt und mich angesehen. »Eine Tasse Tee, Thabo?«, hat sie gefragt.

Miss Agatha und ich trinken immer gerne ein Tasse Tee zusammen, stark, heiß und süß. Die alte Dame in den Filmen, die wir zusammen gucken (sie heißt Miss Marple), tut das auch. Daher weiß ich, dass eine gute Tasse Tee (stark, heiß und süß) in jeder Situation hilft. (Nicht jeder will das glauben, natürlich. Onkel Vusi und seine Kollegen glauben mehr an Buganu, das ist Marula-Bier. Oder an Tjwala im Karton, das ist unser Mealie-Bier, oder auch an das teure Bier aus der Dose.)

»Sehr gerne eine Tasse Tee, Miss Agatha!«, habe ich gesagt.

Dazu ist es aber nicht mehr gekommen, weil mit lautem Knall die Haustür aufgeflogen ist.

»Auntie?«, hat eine vertraute Stimme gerufen, und da habe ich auf einmal gemerkt, wie sehr ich mich gefreut habe, dass Emma wieder da war. »Auntie, ich bin’s! Emma!«

Ich weiß nicht, warum, meine Damen und Herren, aber irgendwie habe ich gleich gewusst, dass es in der nächsten Zeit spannend werden würde.

3

Als sie mich auf dem Sofa gesehen hat, ist Emma so erschrocken in der Zimmertür stehen geblieben, als wäre, zum Beispiel, direkt vor ihr ein Löwe aufgetaucht. Oder, noch schlimmer, ein Nilpferd. (Was in Miss Agathas Wohnzimmer natürlich unwahrscheinlich war.)

»Oh, Thabo!«, hat sie gesagt. »Du bist ja auch hier!«

Und plötzlich war es mir auch peinlich. Bevor Emma nach England geflogen ist, um da auf eine gute Schule zu gehen (ich weiß nicht, warum Ms Wendy Chapman die Schulen bei uns im Königreich nicht gut findet), war es mir nie peinlich gewesen, wenn wir uns getroffen hatten.

»Ja. Hallo, Emma«, habe ich gesagt und bin vom Sofa aufgestanden. Der wahre Gentleman steht auf, wenn er eine Dame begrüßt.

»Na?«, hat Emma gesagt.

Darauf kann man ja nicht so viel antworten.

Aber zum Glück ist Miss Agatha jetzt auf Emma losgestürmt (soweit eine so alte Dame noch losstürmen kann) und hat sie in die Arme genommen.

»Emma!«, hat sie gerufen. »Wie ich mich freue!«

Das konnte sie jetzt, wo ihr Laptop keinen Strom hatte, ja auch tun.

»Puuuh!«, hat Emma gesagt und sich freigekämpft. Dann hat sie sich aufs Sofa fallen lassen. »Bin ich froh, dass ich wieder zu Hause bin!«

Ich hab nicht so richtig gewusst, ob ich bleiben sollte oder nicht. Vielleicht wollte Miss Agatha jetzt ihre Tasse Tee lieber mit ihrer Großnichte allein trinken.

Aber mein Handy hat mir die Entscheidung sowieso abgenommen. Es hat geklingelt, und auf dem Display hat die Nummer der Rangerstation aufgeleuchtet.

»Onkel Vusi?«, habe ich gefragt.

»Wo bist du, Thabo, zum Teufel?«, hat Onkel Vusi am anderen Ende gerufen. (Es ist natürlich gut, dass Miss Agatha mir das Handy bezahlt, meine Freunde beneiden mich. Aber manchmal ist es auch unpraktisch.) »Was ist mit dem Wagen?«

»Ich komme!«, habe ich gesagt. »Es war ein Notfall, Onkel Vusi! Ich wasch ihn gleich zu Ende! Es war ein Notfall!«

Den Safari-Jeep hatte ich ganz vergessen.

»Ich muss leider gehen, Miss Agatha!«, habe ich gesagt. »Ich muss Onkel Vusis Wagen waschen. Die Touristen regen sich immer auf, wenn er zu dreckig ist. Dann kriegen sie beim Einsteigen Flecken auf ihre Kleider.«

Fast hätte ich gelacht. Es sieht sehr komisch aus, wenn die Touristen mühsam über die kleine Seitenleiter auf die Aussichtsplattform mit den Bänken hochklettern, besonders wenn es dicke alte Damen in Hosen sind. Aber ein wahrer Gentleman lacht nicht über dicke alte Damen in Hosen.

»Danke, dass du eben so schnell gekommen bist, Thabo!«, hat Miss Agatha gesagt. »Hamba kahle!«

»Sala kahle, Miss Agatha!«, habe ich gesagt. »Ja, dann vielleicht bis irgendwann, Emma!«

»Klar!«, hat Emma gesagt und mich dabei nicht angesehen.

Irgendwas ist zwischen uns los, ich weiß nur nicht, was.

4

Auf dem Parkplatz stand noch immer der Safari-Jeep, und davor kniete Sifiso Lovejoy und hat ihn sehr langsam und genüsslich abgeschrubbt. Das Wasser war jetzt natürlich kalt.

»Sifiso!«, hab ich gerufen. »Mann! Ngiyabonga! Danke sehr!«

Sifiso hilft mir immer gerne, den Wagen zu putzen, wenn er Zeit hat. Er findet Autos toll.

Ich finde Autos auch toll, aber nicht wenn ich sie putzen muss. Das würde Sifiso bestimmt auch nicht mehr tun, wenn er den Jeep so oft putzen müsste wie ich. Aber vielleicht wäre es ihm immer noch lieber, als sich um seine Geschwister zu kümmern.

»Dein Onkel schäumt!«, hat er gesagt. »Nachher hat er gleich eine Drei-Stunden-Safari, und der Wagen sieht aus, als wäre er durchs Wasserloch gefahren! Onkel Vusi sagt, wenn du so unzuverlässig bist …«

»Miss Agatha hat SOS gesimst«, habe ich gesagt und Sifiso den Lappen aus der Hand genommen. Falls Onkel Vusi auftauchen sollte. »Sie hat Hilfe mit dem Internet gebraucht.«

»Die hat Probleme!«, hat Sifiso gesagt.

Sifiso mag Miss Agatha nicht so sehr. Oder vielleicht mag er es auch einfach nur nicht, dass Miss Agatha und ich Freunde sind, kann sein. Vielleicht ist er eifersüchtig.

Und dass ich das mit dem Internet gesagt hatte, war natürlich ein bisschen Angabe gewesen. Ich glaube nicht, dass Sifiso in seinem Leben schon mal gesurft hat.

»Emma ist zurück!«, habe ich gesagt. Ich glaube, Emma mag Sifiso noch weniger als Miss Agatha. Und vermutlich aus dem gleichen Grund. »Wir nehmen den Schlauch! Wo du jetzt hier bist, kannst du hinterher oben gleich die Bänke trocken rubbeln. Das geht dann schneller.«

Sifiso hat mich angestarrt. »Vielleicht möchte deine Emma das ja machen?«, hat er gefragt.

Hatte ich es nicht gesagt?

»Ach, die braucht doch ewig dafür!«, habe ich deshalb geantwortet. Ich wusste, dann macht Sifiso es. »Kommst du nachher mit auf die Tour? Wenn noch ein Platz frei ist?«

Sifiso hat den Kopf geschüttelt. Vielleicht musste er zurück zu seinen Geschwistern, vielleicht war es aber auch, weil Sifiso lieber auf dem Parkplatz bleiben wollte wegen der Autos. Es gibt sehr große Autos bei uns auf dem Parkplatz, Geländewagen, die Touristen mieten sie am Flughafen. Sie werden extra aus Johannesburg gebracht, und man kann am Auto immer gleich sehen, ob ein Tourist ordentlich Geld hat.

Während die Touristen mit Onkel Vusi auf Safaritour sind, guckt Sifiso sich ihre Autos immer ganz genau an. In manche kann man sogar ohne Schlüssel einsteigen. Sifiso sagt, die Autos auf dem Parkplatz findet er tausendmal interessanter als Busch und Natur und Tiere. Busch und Natur und Tiere gibt es immer und jeden Tag kostenlos für jeden, aber Autos kosten.

Dabei sind Busch und Natur und Tiere für die Touristen eigentlich auch nicht kostenlos. Busch und Natur können sie natürlich überall im Land gratis angucken, aber für Lion Park müssen sie bezahlen, wenn sie Elefanten und Nashörner und Löwen (die Touristen wollen immer Löwen, meine Damen und Herren) und Nilpferde und Krokodile und überhaupt Tiere von Nahem sehen wollen. (Dabei weiß ich gar nicht, ob sie sich auch so freuen würden, wenn sie denen außerhalb des Parks begegnen würden, mehr so zufällig irgendwo und ganz kostenlos. Touristen sind merkwürdig.)

Onkel Vusi ist auf den Parkplatz gekommen. »Na endlich!«, hat er gesagt. »Sawubona, Sifiso. Na, hast du Thabo mal wieder die Arbeit abgenommen?«

»Yebo«, hat Sifiso gesagt. »Viele Gäste heute Nachmittag?«

Onkel Vusi hat einen Zettel aus der Tasche gezogen. »Nur sechs!«, hat er gesagt. »Für dich ist noch Platz.«

Sifiso hat wieder den Kopf geschüttelt.

»Ich komm aber mit, Onkel Vusi!«, hab ich gesagt. »Gatter öffnen!«

Ich dachte, es könnte vielleicht ganz gut sein, bei Onkel Vusi wieder für ein bisschen bessere Stimmung zu sorgen. Wenn ich dabei bin, muss er nämlich an den beiden Übergängen zwischen den verschiedenen Teilen des Parks nicht immer selbst aussteigen, um die Gatter zu öffnen. Und auch nicht, um irgendwas an den Pflanzen zu zeigen oder ein Chamäleon einzufangen oder sonst etwas zu tun, das die Touristen bei Laune hält, falls sie auf einer Safari nicht sofort mindestens eine Giraffe oder ein Zebra sehen. (Nach den ersten großen Tieren sind die Touristen dann meistens einigermaßen zufrieden, und Onkel Vusi und ich können eine Weile im Wagen sitzen bleiben. Und wenn wir Löwen sehen oder Elefanten, geht es den Touristen sowieso gut. Danach braucht auf der Rückfahrt nicht mehr viel zu passieren.)

Onkel Vusi hat mich angesehen und geseufzt.

»Ja, dann komm mit, Thabo«, hat er gesagt. »Das gibt auch mehr Trinkgeld.«

Die Touristen, meine Damen und Herren, finden uns Kinder nämlich immer interessant. Ich habe mich gefragt, ob es in ihren Ländern vielleicht zu wenige davon gibt. In den Kriminalfilmen bei Miss Agatha sieht man jedenfalls überhaupt keine, ich achte schon immer extra darauf. Und wenn die Touristen zu uns kommen, haben sie auch keine Kinder dabei. Jetzt leihen wir den Engländern ja wenigstens für einen Teil des Jahres Emma aus. (Aber wo es ein Internat gibt, muss es natürlich eigentlich auch noch mehr Kinder geben. Also vielleicht finden die Touristen auch nur schwarze Kinder so spannend.)

Sifiso hat sich verabschiedet, als die ersten Gäste auf dem Parkplatz aufgetaucht sind. »Essen!«, hat er gesagt. In Wirklichkeit mag er es einfach nicht so, wenn die Touristen ihn fotografieren. Seine Schuluniform und seine Schuhe zieht Sifiso natürlich immer gleich nach der Schule aus (um sie zu schonen, das tut ja jeder), und über die Kleidung, die er dann anzieht, wollen wir lieber nicht reden. Darum machen die Touristen immer gerne Fotos von ihm. Und Sifiso darf ihnen dafür nicht auf die Fresse hauen, weil er dann Ärger mit Onkel Vusi kriegen würde. (Verzeihung, meine Damen und Herren, ngiyacolisa, ich weiß, dass ein Gentleman »auf die Fresse hauen« nicht sagen würde. Ein Privatdetektiv aber bestimmt.)

»Warte, Sifiso!«, hat Onkel Vusi gerufen. Dann hat er mich in unsere Hütte geschickt, damit ich die Ananas holen sollte, die er gestern Abend aus der Lodge mitgebracht hatte. Wenn im Restaurant Sachen übrig bleiben oder so sind, dass man die Touristen nicht mehr dafür bezahlen lassen kann, dürfen die Ranger sie immer haben.

Sifiso hat die Ananas gerne genommen. Da hat es sich für ihn doch wieder gelohnt, dass er den Touristen nie eine reinhaut und Onkel Vusi nicht wütend macht. Seine Geschwister freuen sich über die Ananas, hat er gesagt. Er hatte schon mal eine von Onkel Vusi bekommen.

Ich hab am Jeep auf die Gäste gewartet und fröhlich gelacht, wie man das für sie soll, und ihnen die Leiter hinaufgeholfen. Die ersten beiden waren so ein Paar, das eigentlich graue Haare haben sollte, die hatte aber nur der Mann. (Aber nicht mehr viele.) Bei den Touristen, meine Damen und Herren, haben die Frauen eigentlich nie graue Haare, obwohl sie meistens so alt sind, dass sie bei uns längst eine Gogo wären. (Aber ich habe ja schon gesagt, dass es in ihren Ländern wahrscheinlich nur wenige Kinder gibt, da wird man nicht so leicht eine.) Der Mann ist die Leiter allein hochgekommen, bei der Frau musste ich ein bisschen helfen. Sie hat aber gelacht.

»Was für ein Abenteuer!«, hat sie gerufen. Ich habe gedacht, wenn die Leiter für sie schon ein Abenteuer war, würde sie bestimmt auch gleich im Park mit wenig zufrieden sein, das war gut. Und Trinkgeld würde ich hinterher bestimmt auch kriegen.

Das zweite Paar war ganz jung, das hat leider keine Hilfe gebraucht. Sie haben mich nicht mal richtig angeguckt und sich immer so geküsst und miteinander geflüstert, dass man sich schämen musste. Ich wusste aber, dass sie sich in ihren Ländern nicht schämen. Wie ich gesagt habe, meine Damen und Herren, Touristen sind merkwürdig.

Bestimmt hatten diese beiden gerade erst geheiratet, Miss Agatha hat mir erklärt, dass sie das so machen: Zuerst heiraten sie, und dann reisen sie gleich irgendwohin, es heißt Hochzeitsreise. Das ist die zweite Sorte von Paaren, von denen Onkel Vusi viele durch den Park fährt. Von ihnen gibt es weniger Trinkgeld, und sie finden Kinder auch nicht so spannend wie die alten Gäste.

Der nächste Gast war leider der unhöfliche Kerl, der mir vorhin auf dem Parkplatz hinterhergepfiffen hatte. Er hatte eine riesige Kamera vor dem Bauch und keine Frau. (Männer alleine kommen auch manchmal zu uns. Frauen alleine nicht so viele.) Und übrigens war er ein Chinese. Man erkennt es an den Augen. Da war es eigentlich ein Wunder, dass er sich so aufgeführt hat, weil ich von Miss Agatha weiß, dass die Chinesen ein sehr höfliches Volk sind und viel lächeln. Das galt für diesen aber nicht. Er hat meine Hand weggewischt wie ein lästiges Insekt, als ich ihm die Leiter hinaufhelfen wollte, und er hat nicht mal »Hallo!« zu den anderen vier Gästen gesagt, die schon oben auf der Plattform gesessen haben.

Im Kopf hab ich überschlagen, wie viel Trinkgeld es nach dieser Tour geben würde, es sah nicht sehr gut aus. Die beiden alten Leute, okay, aber der Chinese bestimmt nicht, und die Verliebten würden auch geizig sein. Man muss es nehmen, wie es kommt.

Onkel Vusi ist aus der Rangerstation gekommen in seinem Hemd mit dem Park-Logo auf der Brusttasche und mit seinem Hut auf dem Kopf. Er sieht damit aus wie einer, der sich auskennt, dann glauben die Touristen, dass sie vor den Tieren keine Angst haben müssen. (Haha, die sollten mal erleben, was passiert, wenn unser Wagen aus Versehen zwischen eine Elefantenmutter und ihr Kalb gerät. Ich schreibe es hier nicht. Aber da hilft dann auch Onkel Vusis Uniform nicht mehr.)

»Alle da?«, hat Onkel Vusi auf Englisch gerufen und gelächelt. »Schön! Ich freue mich auf unsere Tour! Mein Name ist John, und als Erstes erkläre ich Ihnen jetzt, wie Sie sich in den kommenden drei Stunden bitte verhalten sollen!«

Onkel Vusi sagt immer, dass er John heißt. Das können sich die Touristen leichter merken, und sie fühlen sich auch wohler bei einem Ranger mit englischem Namen als bei einem mit afrikanischem. Sie glauben dann, dass er klüger und zuverlässiger ist, sagt Onkel Vusi. Wenn die Gruppe nur aus Franzosen besteht, heißt er Pierre, und bei Deutschen Johannes. Es funktioniert gut.

Er hat dann aber doch nicht erklärt, wie die Gäste sich verhalten sollten, weil jetzt nämlich aus der Richtung der Lodge noch ein Mann angestürmt gekommen ist. Er war blond und groß und hat ausgesehen wie die Helden in diesen Filmen, die Miss Agatha auch manchmal anguckt. Es sind amerikanische Filme.

»Entschuldigung, Entschuldigung!«, hat er gerufen. »Ich habe auf der Terrasse die Zeit vergessen! Ich hoffe, ich habe den Betrieb nicht allzu sehr aufgehalten!« Dann ist er die Leiter hochgeklettert wie ein Affe (das soll jetzt keine Beleidigung sein, sondern ein Lob) und hat alle angelacht, und alle haben zurückgelächelt, nur der Chinese nicht.

»Winterbottom!«, hat er gesagt. »Großbritannien!«

Das ältere Paar war aus Kanada und das jüngere aus Deutschland. Der Chinese hat den Kopf zur Seite gedreht und nichts gesagt. Da war schon klar, dass er mit keinem reden wollte, nur Fotos machen. Solche gibt es auch immer mal.

Onkel Vusi hat auf seine Uhr geguckt und sich hinters Steuer gesetzt. Ich bin auf den Beifahrersitz gestiegen.

»Alles klar?«, hat Onkel Vusi nach oben gefragt. »Kann es losgehen?«

Natürlich habe ich gedacht, es wird eine Tour wie die tausend Touren, bei denen ich in den letzten Jahren für Onkel Vusi die Gatter geöffnet und Chamäleons eingefangen habe. Aber, wie Miss Agatha sagt, meine Damen und Herren: Das Leben hält immer wieder Überraschungen bereit – bis zum Schluss.

Und manchmal auch solche, die man sich nicht gewünscht hätte.

5

Die ersten zwei Stunden werde ich hier überspringen, sie waren sozusagen durchschnittlich: nicht so viele Tiere wie bei den Touren in der Dämmerung natürlich, aber genug, um die Touristen oben auf den Bänken glücklich zu machen. Ein Zebra gleich zwei Minuten hinter dem Tor unter einer Schirmakazie, fünf Giraffen im hohen Elefantengras, massenhaft Antilopen zwischen den Dornbüschen der Steppe, eine kleinere Elefantenherde am Wasserloch und natürlich eine Löwenfamilie. Nach der Löwenfamilie war die Stimmung blendend. Selbst wenn in der letzten Stunde nicht mehr viel passierte, würden die Gäste trotzdem reichlich Trinkgeld geben. (Nicht der Chinese, das war klar.)

Der Chinese setzte während der ganzen Fahrt seine digitale Spiegelreflex nicht ab; der alte Mann zückte alle paar Minuten eine kleine Automatikkamera (immer, wenn seine blonde Frau rief: »Da, Alfred, da!«); und der Verliebte und der freundliche Mr Winterbottom haben pausenlos mit dem Handy fotografiert und gefilmt. Wenn ich für jedes Touristenfoto auf unseren Touren einen Cent bekäme, wäre ich reich.

Der Jeep hat den roten Staub der Straße aufgewirbelt, aber davon bekamen nur Onkel Vusi und ich unten etwas ab; bis zu den Gästen auf der Plattform wehte er nicht. Wir fuhren schon länger durch Dornbuschsteppe, aber bis auf vereinzelte Antilopen waren keine Tiere mehr zu sehen. Hinter dem großen einsamen Baobab würden wir in das Akazienwäldchen abbiegen, und von da war es dann nicht mehr weit bis zum Parkplatz.

»Verdammt!«, hat Mr Winterbottom plötzlich gemurmelt. Er ist halb aufgestanden, damit er in sämtlichen Hosentaschen kramen konnte. »Wo ist mein Kopfhörer?«

Der Verliebte hat mit seiner Braut nämlich gerade das Video angeguckt, das er zehn Minuten vorher von den Löwen gemacht hatte, jeder von den beiden hatte dabei einen Ohrstöpsel vom Kopfhörer im Ohr. Die Touristen halten es nie aus zu warten, meine Damen und Herren, sie gucken ihre Videos schon auf der Safari an. Zum Glück hatte der männliche Löwe seine Mähne geschüttelt und gegähnt, als wir im Schritttempo an ihm vorbeigefahren sind, da waren die Gäste bestimmt alle mit ihren Bildern zufrieden.

Und jetzt wollte Mr Winterbottom sein Video natürlich auch angucken, und das Löwenbrüllen gehörte dazu. Aber wenn er seinen Kopfhörer bisher in einer der Hosentaschen gehabt hatte, dann war er jetzt jedenfalls nicht mehr da. Vielleicht war er ihm irgendwann herausgefallen, als er nach einem Taschentuch oder dem Schlüsselbund gesucht hatte. So was passiert einem ja leicht, und es war doch ein Glück, dass er nur den Kopfhörer verloren hatte und nicht seine Schlüssel. Mir ist dabei sofort wieder Miss Agathas verschwundenes Laptop-Kabel eingefallen. Ich war gespannt, ob sie es inzwischen gefunden hatte und ob sie Emma dann jetzt doch noch zeigen musste, wie sie ins Internet kam.

»Na, ohne Ton geht ja auch!«, hat Mr Winterbottom gemurmelt. »Verdammt gute Bilder, verdammt nah dran! Da werden sie zu Hause staunen! Willst du auch mal gucken?« Und er wollte mir das Handy über die Schulter nach vorne reichen.

(Übrigens haben Sie sich vielleicht auch schon gefragt, meine Damen und Herren, ob Mr Winterbottom wirklich ein Gentleman ist, so häufig, wie er »verdammt« sagt. Die Antwort ist: Ich weiß es nicht. In Miss Agathas Filmen wäre er keiner.)

Aber jetzt hat Onkel Vusi plötzlich »Pssst!« gezischt. »Sie haben Glück!«, hat er geflüstert. »Zum Abschluss kann ich Ihnen wahrscheinlich im Akazienwäldchen noch eine Gruppe Breitmaulnashörner zeigen. Darum seien Sie jetzt bitte besonders leise; Nashörner sind fast blind, aber dafür hören sie ausgezeichnet. Und wenn etwas sie beunruhigt, können sie äußerst unfreundlich werden.«

»Greifen sie an?«, hat die junge Verliebte erschrocken gefragt und sich ihre Hälfte des Kopfhörers aus dem rechten Ohr gezogen. »Auch Autos? Würden die unser Auto angreifen?«

Ihr Bräutigam hat sie noch fester in den Arm genommen. »Keine Angst, Schatz, die sind viel zu langsam!«, hat er gesagt. »Da sind wir längst über alle Berge, bevor die uns auf die Hörner nehmen können.«

Oh, sie sind so klug, die Touristen! Sie wissen alles, sie kennen sich aus!

»Fünfzig Stundenkilometer, leicht«, hat Onkel Vusi gesagt, ohne sich zur Plattform umzudrehen. »Und was glauben Sie, woher all die Beulen in unserer Motorhaube stammen?«

»Die hat ein Nashorn …?«, hat die Verliebte gefragt.

Die alte Frau hat leise aufgestöhnt. »Vielleicht sollten wir dann lieber nicht …?«, hat sie gesagt.

Aber da hat Onkel Vusi schon nach vorne gezeigt. »Psssst!«, hat er wieder geflüstert. »Rechts am Wegrand, unter der großen Schirmakazie! Ein Nashornbaby!«

Sie können es mir glauben, meine Damen und Herren, oder es meinetwegen auch für Angabe halten: Schon in diesem Augenblick hatte ich ein schlechtes Gefühl. Das war einfach etwas, was es nicht geben sollte und was es normalerweise auch nicht gab: ein Nashornkalb ganz allein auf der Straße. Ein Nashornkalb, das sich nicht regte und rührte. (Nur sein Schwanz hat ein bisschen hin und her gependelt.)

Ich habe blitzschnell zum Wegrand gegenüber geguckt. Wenn seine Mutter auf der anderen Seite graste und wir gleich zwischen den beiden durchfuhren, würde das der Nashornkuh nicht gefallen. Unser Wagen hatte nicht nur Beulen in der Motorhaube, sondern auch in den Seitenblechen.

Aber ich hätte mir keine Sorgen machen müssen.

»Oh mein Gott!«, hat der alte Mann geflüstert. Die alte Frau hat jetzt so laut gestöhnt, als wollte sie ohnmächtig werden.

Ich hatte auf die falsche Seite geguckt, darum habe ich es erst nach ihnen entdeckt. Wir mussten keine Angst vor der Nashornmutter haben. Direkt vor ihrem Kind lag sie reglos im Elefantengras, ein riesiger grauer Berg mit einer Blutlache um ihren Kopf. Wo die beiden Hörner hätten sitzen sollen, waren nur noch zwei unvorstellbar große Wunden, von denen die Fliegen aufstoben.

Da musste man gar nicht genauer hinsehen. Irgendwer hatte ihr die Hörner abgesägt. Sie war verblutet.

6

Der Chinese hat seine Kamera überhaupt nicht mehr abgesetzt; die Verliebte hat ihr Gesicht mit leisem Wimmern dem Verliebten gegen die Schulter gepresst, und die alte Frau hat gestöhnt: »Nein, nein, nein!«

Nur Mr Winterbottom ist nicht hysterisch geworden.

»Sollten wir uns das vielleicht genauer ansehen, John?«, hat er gefragt und ist mit einem Satz an der Leiter vorbei einfach so auf den Weg gesprungen.

Onkel Vusi hat ihn nicht gehört. Ganz vorsichtig ist er aus dem Wagen gestiegen. Das Nashornbaby hat helle Töne ausgestoßen, als ob es weinte.

»Sie ist tot«, hat Onkel Vusi gesagt. »Also jetzt auch bei uns. Im Krüger waren es im letzten Jahr über tausend.«

Der Krüger, meine Damen und Herren, das wissen Sie wahrscheinlich, ist der große Nationalpark gleich nebenan.

»Wer tut denn so was?«, hat die alte Frau geflüstert.

Die Verliebte hat jetzt laut geschluchzt.

Onkel Vusi hat sein Funkgerät genommen und der Rangerstation Bescheid gegeben, was wir gefunden hatten und wo. Die Ranger dort würden sofort per Telefon die Polizei benachrichtigen und dazu die Leute vom Tierschutz, damit sie das Baby abholen und nach Südafrika ins Nashornwaisenhaus bringen konnten. (So weit ist es also gekommen. Dass wir ein Nashornwaisenhaus brauchen, weil die Wilderer so viele Nashornmütter töten.)

Der Chinese ist um die beiden Nashörner herumgeschlichen und hat fotografiert. Der alte Mann hat sich hingekniet, als wollte er das Kalb streicheln.

Aber Onkel Vusi ist wieder eingestiegen. »Ich fahre Sie zurück zur Station«, hat er grimmig gesagt und die Gäste in den Wagen gewunken.

Die Touristen haben nicht mehr gesprochen auf der Rückfahrt (Onkel Vusi hat den kürzesten Weg genommen). Nicht mal mehr fotografiert, so düster war die Stimmung. Wir sind noch an einer Herde Impalas vorbeigekommen und an zwei Giraffen, zum Schluss, schon fast am Parkplatz, wo der Weg zum alten Farmhaus abgeht, an den alten verfallenen Geräteschuppen. Dass das Trinkgeld nach dieser Tour nicht allzu reichlich geflossen ist, wird niemanden überraschen. Alle wollten so schnell wie möglich weg.

Nur Mr Winterbottom hat mir zum Abschied auf die Schulter geklopft. »Schlimm!«, hat er gesagt. »Ganz schlimm! Was müssen das bloß für Menschen sein!«

Dann hat er mir zehn Emalangeni in die Hand gedrückt und ist in seinen Wagen gestiegen.

Vielleicht leben in Ihrem Land keine Nashörner, meine Damen und Herren, in England zum Beispiel sollen keine leben. Dann haben Sie vielleicht auch nie davon gehört, dass es Wilderer gibt, die Nashörner umbringen, um ihnen die Hörner abzusägen.

Warum?, fragen Sie sich jetzt vielleicht. Warum tun Menschen etwas so Grausames?

Weil sie dadurch reich werden können, meine Damen und Herren! Ein Kilogramm Horn ist 750000