Sabine Stehrer

DER GOLDZUG

Federschwert

Sabine Stehrer

DER GOLDZUG

Czernin Verlag, Wien

Produziert mit Unterstützung des Bundeskanzleramtes / Sektion Kunst, des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kunst und der Stadt Wien MA7/Wissenschaft.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Stehrer, Sabine: Der Goldzug (Band X der Bibliothek des Raubes) / Sabine Stehrer
Wien: Czernin Verlag 2006
ISBN: 978-3-7076-0557-0

© 2015 Czernin Verlags GmbH, Wien
Lektorat: Elisabeth Huber
Umschlaggestaltung: Ulrich Schueler
Produktion: www.nakadake.at
ISBN E-Book: 978-3-7076-0557-0
ISBN Print: 978-3-7076-0064-3

Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe
in Print- oder elektronischen Medien

Inhalt

Route

Brennberg

Budapest

Zirc

Brennberg

Hopfgarten in Tirol

Böckstein bei Bad Gastein

Werfen

Feldkirch

Schnann in Tirol

Salzburg

»Salzburger Gold«

Gemälde »Ungarischer Bestand«

Kandelaber & Kreuze

Juwelen, Pelze, Porzellan

Frankfurt am Main

Versteigerungen

Endstastion Miami

Postscriptum

Danksagung

Quellen

Route

1. Zug:
Brennberg (ab 30. 3. 1945) – Wiener Neustadt (an 30. 3. 1945) – Wilhelmsburg an der Traise (an 1. 4. 1945) – Wieselburg (an 6. 4. 1945) – Amstetten (an 7. 4. 1945) –

Version 1: Linz, Salzburg, Freilassing, Rosenheim, Kufstein, Wörgl –
(Version 2: Linz, Salzburg, Hallein, Bischofshofen, Zell am See, Saalfelden, St. Johann in Tirol –)
[Die Routenwahl zwischen Amstetten und Hopfgarten in Tirol ist nicht dokumentiert]

Hopfgarten in Tirol (an 8. 4. 1945, ab 29. 4. 1945) – Schwarzach St. Veit – Böckstein bei Bad Gastein (an 4.–5. 5. 1945) – Werfen (an 16. 5. 1945) – Salzburg (an 19. 7. 5).1

1 US National Archives (US-NA): Records of United States Occupation Headquarters, World War II – Werfen File; Gábor Kádár, Zoltán Vági: Holocaust Era Looted Assets Of Hungarian Jewry, Budapest 2000; Ronald W. Zweig: The Gold Train, New York 2002. Es gibt keine Hinweise auf die Wahl der Route zwischen Amstetten und Hopfgarten in Tirol. Wahrscheinlich fuhr der Zug über Salzburg und das Große Deutsche Eck oder über Salzburg und Hallein durch das Salzachtal und weiter über Zell am See, Saalfelden und St. Johann in Tirol nach Hopfgarten in Tirol. Möglich sind aber auch die Strecken durch das Gesäuse und über den Phyrnpass.

2. Lastwagen und Autos:
Brennberg (ab 30. 3. 1945) – Hallein (an 2. 4. 1945 bis 8. 5. 1945) – Hopfgarten in Tirol (an/ab 13. bis 15. 4. 1945) – St. Anton am Arlberg – Feldkirch (an 28. oder 29. 4. 1945).2

2 Es gibt keine Hinweise auf die Route der Autos und Lastwagen zwischen Brennberg, Hallein, Hopfgarten in Tirol und Feldkirch.

Brennberg

Es ist der 30. März 1945 in Brennberg. Ein Dorf an der ungarisch-österreichischen Grenze. Steinhäuser, die verstreut auf Hügeln stehen. Die Mitte bestimmen die Kirche, der Friedhof und das mächtige Gebäude der Grubendirektion. Die Brennberger leben vom Kohlebergbau, die Schächte sind die tiefsten Ungarns, kriegsbedingt haben die Abbaumengen Rekordwerte erreicht. Die Mineure, die das wichtige Heizmaterial für den Betrieb von Dampflokomotiven und Fabrikmaschinen aus dem Boden fördern, haben in den vergangenen Monaten Gesellschaft bekommen: Das Dorf ist zu einem Versteck ungarischer Faschisten geworden, der Pfeilkreuzler, und zugleich zu einem Sammelpunkt auf der Flucht vor der heranrückenden Roten Armee.

Auf den Gleisen, die direkt am Grubengebäude vorbei führen, steht ein Zug. Zwei Männer gehen die Waggons entlang, sie rauchen: Árpád Toldy und Lászlo Avar. »In ein paar Stunden geht es los«, sagt Toldy. »Ich fahre mit meinen Leuten voraus. Du weißt, was du zu tun hast, du machst das schon. Wir sehen uns in Hallein.« Avar nickt: »Zu Befehl, ja.«

Avar war früher Bürgermeister des Städtchens Senta in der Voijvodina, Finanzbeamter und einer der wenigen Mitarbeiter Toldys im Büro für Beschlagnahmungen in Budapest, die nicht der faschistischen Pfeilkreuzler-Partei angehörten. Vermutlich schweren Herzens hat er von Toldy, dem früheren Gendarmen, der im Innenministerium Karriere machte, das Kommando über den Zug übernommen. Avar weiß ungefähr, was sich im Zug befindet. Er hat beobachtet, wie auf Befehl Toldys Säcke mit Gold, Silber und Diamanten geöffnet wurden, um den Inhalt zu sortieren, und als das Vermögen auf den Zug geladen wurde, kam ihm der Name Goldzug in den Sinn. Die wertvolle Fracht macht ihm Angst. Er denkt an die große Gefahr, in die er sich nun begibt. Räuber werden abgewehrt werden müssen, außerdem sind Luftangriffe zu befürchten. Und er ist mit seiner Frau Lászlone unterwegs und mit den Zwillingen Tomas und Katalin, die erst sechs Monate alt sind.3 Ihr Leben wäre wahrscheinlich ruhig verlaufen, wenn der Krieg nicht alles durcheinander gebracht hätte und er nicht von heute auf morgen aus Budapest abkommandiert worden wäre. Doch jetzt gibt es kein Zurück mehr. Er muss das Beste aus der Sache machen.

3 Ronald W. Zweig: The Gold Train, New York 2002, Appendix 2.

Avar sieht Toldy zu seinem Wagen gehen, der mit laufendem Motor parat steht. Toldy dreht sich noch einmal um, salutiert, steigt ein. Der Wagen fährt an und verschwindet schnell hinter der Kurve auf der schmalen Straße, die durch das enge Tal nach Sopron hinunter führt. Avar raucht zu Ende, geht dann zurück in das Grubengebäude, das ihm und seiner Familie seit Wochen als Unterkunft dient. In einem leer stehenden Büro haben sie Matratzen aufgelegt und es sich so gemütlich wie möglich gemacht. Lászlone und die Kinder schlafen noch.

Dann fallen Schüsse, die Babys wachen auf und schreien. Avar stürzt zum Fenster. Er sieht, dass sich Männer am Goldzug zu schaffen machen. Avar packt sein Gewehr, einen Sack voller Taschenuhren, den er der Zugladung entnommen hat, geht hinunter, droht den Männern erst, sie erschießen zu lassen, wenn sie nicht auf der Stelle verschwinden, gibt ihnen dann die Uhren. Nach einigem Hin und Her geben sich die Männer zufrieden und ziehen ab.4

4 US National Archives (US-NA): Records of United States Occupation Headquarters, World War II – Werfen File.

Avar geht in die Küche des Grubengebäudes, gießt sich einen Wodka ein und trinkt das Glas in einem Zug leer. Vermutlich haben die Männer die Plomben des Güterwaggons gebrochen, er wird sie ersetzen müssen. Schließlich soll er die Ladung unangetastet nach Hallein bringen. Bis zur Abfahrt des Goldzugs, dessen Kommandant er nun ist, sind es nur noch wenige Stunden.

Was war geschehen?

Budapest

Im Jahr 1941 leben in Ungarn 825.000 Juden, 230.000 davon in Budapest. Bis vor wenigen Jahren hat die jüdische Gemeinschaft noch eine wesentliche Rolle in der Gesellschaft des Landes gespielt: 60 Prozent aller Bankiers waren Juden, die Hälfte aller Ärzte und Richter, ein Drittel der Wissenschaftler, Journalisten und Schriftsteller.5

5 Gábor Kádár, Zoltán Vági: Holocaust Era Looted Assets Of Hungarian Jewry, Budapest 2000, S. 6.

Doch nun gehört das der Vergangenheit an.

Denn die nationalsozialistische Rassenideologie ist gesetzlich verankert, die Juden sind schweren Benachteiligungen und Schikanen ausgesetzt. Immer weniger von ihnen dürfen in intellektuellen und ökonomischen Berufen arbeiten.

Am 19. März 1944 lässt Adolf Hitler Ungarn besetzen, um zu verhindern, dass sich das Land der bis dahin Verbündeten auf die Seite der Alliierten schlägt, und wohl auch aus Ärger darüber, dass die Ungarn die Juden und deren Vermögen bislang nicht an das Dritte Reich ausgeliefert haben. Zu den Besatzungstruppen gehört ein Sonderkommando, das von Adolf Eichmann geleitet wird und »die Beratung und technische Unterstützung für die schnelle Durchführung der Endlösung« bietet. Eichmann, der zum ersten Mal hinter seinem Schreibtisch in Berlin hervorkommt, will »zeigen, wie perfekt eine Aufgabe erledigt werden kann, wenn der Kommandant zu 100 Prozent dahinter steht«.

Innerhalb von 56 Tagen lässt Eichmann mehr als die Hälfte der ungarischen Juden, 437.052, wie er bilanziert, nach Auschwitz bringen. In Einzelaktionen werden weitere 11.000 bis 12.000 Juden in andere Konzentrationslager deportiert, auch nach Mauthausen – und meist gleich nach der Ankunft vergast. Im Juli ist praktisch das gesamte ländliche Ungarn »judenfrei«. Am Ende des ungarischen Holocaust steht die Zahl von 564.000 Ermordeten.6

6 Ebd., Study 1.

Das Marionettenregime7 des Landes, die faschistischen Pfeilkreuzler, hilft den deutschen Gesinnungsgenossen nach Kräften, die Juden ihres Lebens und zuvor ihres Eigentums zu berauben – es erlässt die entscheidenden Dekrete. Mit dem Dekret Nummer 1600 vom 14. April 1944 ruft der ungarische Ministerpräsident zur »Registrierung und Beschlagnahmung des jüdischen Eigentums« auf. Er setzt damit die Konfiskation und Enteignung von jüdischen Geschäften, Finanzunternehmen und Industriefirmen sowie die Schließung von Kanzleien und Praxen in Gang – und erreicht, dass Ungarns Juden ihre beweglichen Wertgegenstände in Banken und Pfandhäusern abgeben.

7 Ministerpräsident ist ab 23. März 1944 Döme Szójay, früher ungarischer Botschafter in Berlin, Finanzminister Lajos Reményi-Schneller, Innenminister Andor Jaross. Er wird später von Gábor Vajna abgelöst.

Im Sommer – während die Todesfabriken auf Hochtouren laufen – richtet der ungarische Finanzminister ein eigenes Büro für Beschlagnahmungen ein. Die Beamten, die dort beschäftigt sind, haben verstecktes jüdisches Vermögen aufzuspüren. Oft werden sie von Nachbarn auf die Spur gebracht, so wie im Fall eines Budapester Rechtsanwalts. Zwei Tage lang schlagen die Beamten mit Eisenstangen gegen die Wände der Wohnung, ehe sie Hohlräume finden.

Dort stoßen sie auf 40 Kilogramm Goldbarren, 24.000 Napoleonische Goldmünzen, ein Diadem mit Diamanten, ein Platin-Armband mit Diamanten, Diamantringe mit 23, 16, eine Gürtelschnalle aus Gold, 40 goldene Zigarettenetuis, Armbänder, Kreuze, eine drei Meter lange Goldkette, einen Siegelring, Golduhren, Ohrringe mit Diamanten und noch einmal 30 bis 40 Kilogramm Ketten und Ringe.8

8 Gábor Kádár, Zoltán Vági: Holocaust Era Looted Assets Of Hungarian Jewry, Budapest 2000, S. 17.

»Die Kleider, die er trägt, zwei Garnituren Unterwäsche, Lebensmittel für 14 Tage, Gepäck mit einem Gewicht von maximal 50 Kilogramm, eingeschlossen Betttücher, Decken und Matratzen« darf der Rechtsanwalt nach dem Dekret mit der Nummer 6163 des Innenministers vom 6. April 1944 über zwei Internierungslager nach Auschwitz mitnehmen – wo er ermordet wird.

Sein Vermögen packen die Finanzbeamten in zwei große Koffer. Die tragen sie in das Pfandhaus in der Budapester Lónyay Straße. Sie hätten auch andere Lager zur Auswahl gehabt. Gesammelt wird überall in der Stadt, wo es den geeigneten Platz dafür gibt. Auch aus anderen Städten und Regionen werden in Zügen und Lastwagen jüdische Besitztümer herangeschafft und gelagert. Als Lebensmittel und andere Dinge des täglichen Bedarfs knapp werden, verteilt man einige der Sachen an die Bevölkerung. Dem Internationalen Roten Kreuz, der Armee und Angehörigen der Pfeilkreuzler-Partei räumt die Regierung das Recht ein, sich aus den Lagern zu bedienen und Handel zu betreiben.9

9 Ronald W. Zweig: The Gold Train, New York 2002, S. 64.

Im Oktober drohen die Nazis dem Reichsverweser des Königreichs Ungarn Miklós Horthy mit der Ermordung seines Sohnes. Sie wollen ihn zum Abdanken zwingen, weil er sich angesichts der heranrückenden Roten Armee um einen Waffenstillstand mit den Alliierten bemüht, und sie haben Erfolg. Noch bevor Horthy geht und der Parteichef der Pfeilkreuzler, Férenc Szálasi, zum Staatsoberhaupt ernannt wird, entscheidet der Finanzminister, möglichst viele der in Budapest gesammelten jüdischen Besitztümer zum Schutz vor der Roten Armee nach West-Ungarn zu schaffen. In der Zeit von 16. Oktober bis Ende Dezember 1944 gehen in mehreren Transporten Geld, Gold, Silber und Juwelen hundert Kilometer nach Westen in ein Versteck bei der Kleinstadt Zirc.10

10 Die Transporte werden in Lastwagen und Zügen abgewickelt. In wie vielen Lastwagen, ist nicht bekannt. Die Angaben über die Anzahl der Waggons bewegen sich zwischen 18 oder 22 über 42 bis zu 50.

Zirc

Bei Zirc liegt Schloss Óbánya – ein geeignetes Lager, weil als Versteck für die besonders wertvollen Sachen die großen Keller des Anwesens genützt werden können. Finanzbeamte und Gendarmen sind zur Wache eingeteilt. Anfangs besteht die Truppe aus 47 Männern: eine Zahl, die bald nicht mehr ausreichen wird.

Denn als Ungarns Marionettenregime zwei Wochen nach der Ernennung Szálasis mit dem Dekret Nummer 3840 vom 3. November 1944 alles jüdische Vermögen zum »Eigentum der Nation, also Eigentum der Regierung« erklärt, haben nach den Pfandhäusern und den anderen Sammelstellen auch die Banken des Landes ihre Depots der beschlagnahmten Gegenstände zu leeren. Die Kisten und Säcke, die mit den Namen und Adressen der Eigentümer versehen sind, werden nach Óbánya gebracht.11

11 Gábor Kádár, Zoltán Vági: Holocaust Era Looted Assets Of Hungarian Jewry, Budapest 2000, S. 25.

Der Transport ist einer von unzähligen, die in dieser Zeit die ungarische Hauptstadt verlassen. Die Nazis und ihre Helfer wollen nichts, was nicht niet- und nagelfest ist, den immer weiter herannahenden Russen überlassen. Von Fahrzeugen der Budapester Feuerwehr und Industrieanlagen über Bibliotheksbestände und Kunstsammlungen bis hin zu landwirtschaftlichen Maschinen sowie sogar Kühen und Pferden wird alles Richtung Westen ins Deutsche Reich geschafft. Die Güter füllen 55.000 Eisenbahnwaggons.

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