Improvisation als soziale Kunst

Improvisation als soziale Kunst

ÜBERLEGUNGEN ZUM KÜNSTLERISCHEN UND DIDAKTISCHEN UMGANG MIT IMPROVISATORISCHER KREATIVITÄT

REINHARD GAGEL

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Bestellnummer SDP 118

ISBN 978-3-7957-8666-3

© 2015 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz

Alle Rechte vorbehalten

Als Printausgabe erschienen unter der Bestellnummer UM 5009

©2010 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz

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Inhalt

Wie über Improvisieren und Lernen nachdenken?

Grundlegende Überlegungen zum „Betriebssystem“ des improvisatorischen Prozesses

Das Unvorhergesehene in der Improvisation – Emergenz

Selbstorganisation

Auf der Schneide des Augenblicks: Wirklichkeit und Wechselwirkungen

Komplexität und Qualität

Affektlogik

Zusammenfassung: System Improvisation

Wirkfaktoren: Improvisieren in der Situation

Situative Aspekte der Improvisation

Die Haltung des Improvisierens

In Interaktion entsteht Form

So-und-auch-anders: das Material zum Improvisieren

Der Hörraum des Improvisierens

Intensität des Körpers: Klang-Gesten

Es improvisiert: das Selbst auf der Gegenwartsbühne

Zusammenfassung: Improvisieren als Aktions- und Erfindungsprozess

Proben- und Unterrichtsmodelle: Improvisieren in der Praxis

Das Besondere am Improvisieren

Auftauchende Gestalten in „Mélismes“

Schwarmbildung: selbstorganisiertes Improvisieren im Ensemble

Von Anziehungspunkten und Zieltönen

Gestisches Musizieren am Instrument

Gestisches Improvisieren nach Bildern

Sieben Impulse: Textkompositionen im „Dazwischen“

Neue Klänge für den Blues – Improvisieren zwischen Pop und Neuer Musik

Improvisieren proben, anleiten und lernen

Abstufungen des Unvorhergesehenen und ihre didaktische Analyse

Gestalten und Lernen durch Ermöglichung

Unterricht und Probe als reflektierte Improvisation

Was lernt man eigentlich beim Improvisieren?

Musikalische Qualität: Wenn diese Musik aus dem Innern kommt… höre!

Proben und Probenschritte

Was tut ein Improvisationsleiter?

Instrumentaltechnik und Üben

Improvisation als soziale Kunst

Mitspielräume: Orte sozialer Kunst und Vision gelebter Improvisation?

Thesen zur Improvisation als sozialer Kunst

Literaturverzeichnis

Wie über Improvisieren und Lernen nachdenken?

Was ist Improvisation? – Ein Erklärungsprinzip.

(frei nach Gregory Bateson)

Wer sich aufmacht, übers Improvisieren nachzudenken, muss sich klar sein, dass er es mit einem definiert labilen Geschehen zu tun hat, dessen Charakter flüchtig und einmalig ist. In jeder Improvisation entsteht etwas, das im Ganzen oder in Details unvorhersehbar ist. Jede Improvisation unterscheidet sich per Definition von der nächsten und entzieht sich so einer allgemein gültigen Bewertung.

Es ergeben sich damit gleich am Anfang einige Grundprobleme. Wir können ja nicht jede Improvisation in ihrer jeweils eigenen Unverwechselbarkeit betrachten. Wir müssen vielmehr ein Verfahren finden, mit dem Einzelfälle sich verbinden lassen und übertragbare Aussagen möglich werden. Dabei gibt es folgende Schwierigkeiten:

  Wenn ich dies tue, muss ich Begriffe verwenden, die die spezielle Eigenheit in Frage stellen. Ich widerspreche dem Einmaligen durch Verallgemeinerung.

  Mit vorbestimmten Kriterien lege ich Charakter und Ergebnisse einer Improvisation im Vorhinein fest.

  Unvorhergesehenes kann eigentlich aus Prinzip nicht im Vorhinein beschrieben werden.

Viele Musikerinnen und Musiker erleben in ihrer künstlerischen Praxis, dass ihre Beschäftigung mit Improvisation in höchstem Maß individuell und scheinbar nicht übertragbar bzw. verallgemeinerbar ist. Jeder Improvisator hat seinen eigenen Weg, sich zu qualifizieren, als individuellen Prozess „von innen heraus“. Improvisieren kann dieser Auffassung nach nicht gelehrt werden: Wenn eine Lehrkraft überhaupt gebraucht wird, dann im jeweils besonderen „Meister-Schüler“-Verhältnis. Improvisatoren lernen voneinander in Workshops, aber nicht in der Musikschule. Institutionen widersprechen dem Gedanken einer „freien Musik“. Eine weitere Meinung improvisierender Musikerinnen und Musiker ist, dass Nachdenken über Improvisation aus all diesen Gründen nicht funktionieren kann, und sie sind Anhänger eines Practicing-Ideals: handwerkliche Verfeinerung am Instrument gepaart mit „Rauslassen“ in der Improvisationssituation. Spieltechniken, Patterns und Licks beherrschen bedeutet aber nicht automatisch, gut zu improvisieren.

Improvisierend nachdenken: ein neues Paradigma

Wenn ich im Folgenden hier übers Improvisieren reflektiere, muss ich fragen: Wie kann das gehen, ohne den genannten Charakter der Improvisation zu verletzen und ohne einem einfachen Practicing-Ideal nachzuhängen? Dazu müssen wir Folgendes bedenken:

  Das Denken und Sprechen übers Improvisieren sollte der Einmaligkeit und Unvorhersehbarkeit des musikalischen Prozesses gerecht werden.

  Die Erkenntnisse sollten auf eine Weise verallgemeinerbar sein, die keine Ergebnisse determiniert (Wege oder Formen festlegt) und keine dem jeweiligen Prozess fremde Logik aufzwingt.

  Es sollte deshalb darum gehen, nicht in einer Theorie zu erstarren, sondern einen anderen Weg zu wählen.

Wir untersuchen Improvisieren als ein Zusammenwirken von beweglichen Elementen, die in der Improvisationssituation zu Ergebnissen bzw. zu musikalischen Strukturen führen. Diese Elemente lassen sich beschreiben und die Bewegungen, die zwischen ihnen wirken, bestimmen: als Kommunikationen. Grundüberzeugung dieser Überlegungen ist, dass musikalisches Improvisieren aus der Kommunikation der handelnden Menschen und aus der Wechselwirkung der Parameter des Klangmaterials entsteht. Dabei kommt dem zeitlichen Faktor dieses Wirkens eine hohe Bedeutung zu. Improvisierende bewegen sich in Echtzeit, ihre Bewegungen sind real, ihr Handeln ist situativ. Unter dieser Perspektive können wir Aussagen erhalten, die dem Improvisieren angemessen sind. Wir können den Prozess der improvisatorischen Strukturbildung mit offenem Ausgang differenziert reflektieren.

Systemtheorie

Wollen wir diesem Prozesscharakter des Gegenstands gerecht werden, dann müssen wir eine Theorie zur Hilfe nehmen, die prozessorientiert ist. Das ist die Theorie von Systemen.

  Systemforschung geht grundsätzlich davon aus, dass innerhalb von Systemdynamiken nichtkausale Zusammenhänge herrschen und unvorhergesehene Ergebnisse entstehen. Das beschreiben einige Autoren mit dem Begriff der „Emergenz“.

  Systemforschung beschreibt elementar Systeme, bestehend aus Elementen, die wechselwirken und die sich selbst organisieren. Dabei spielt die Kommunikation der Elemente eine besondere Rolle.

  Systemforschung benennt das Ergebnis von Emergenz als Strukturbildung im sensiblen „Dazwischen“ von Chaos und Ordnung. Ein anderer Begriff dafür ist „Komplexität“, der zudem die Qualität des Prozesses beschreibt.

  Die systemische Psychotheorie der Affektlogik hilft erklären, wie „Einfälle“ und „Sprünge“ (elementare Kategorien des improvisatorischen Prozesses) aus bioenergetischen Wechselwirkungen im handelnden Menschen entstehen.

Improvisieren als soziale Kunst

Damit haben wir eine Grundlage. Denn nun ist es möglich, Einzelfälle und individuelle Kompetenzen über Elemente und ihre Bewegungen zu definieren. Diese können lernend erforscht, erfahren und differenziert werden, ohne dass eine lineare, kausale Logik bestimmte Ergebnisse determiniert. Mit diesen Begriffen können wir auch über Lernen und Lehren von Improvisation nachdenken. Es können dann Elemente von Planung und Durchführung von Unterricht und Proben benannt werden, mit denen ein dem Improvisieren angemessenes Lehren ermöglicht wird. Zuletzt können wir das System Improvisation auch als so beweglich einstufen, dass es als soziale Kunst verstanden werden kann. Diese Kunstausübung ermöglicht die spontane musikalische Ausdrucksfähigkeit, das Entstehen von Werken aus der musikalischen Kommunikation und die Beteiligung Vieler am schöpferischen Prozess.

Die Struktur des Textes

In diesem Text gehe ich das „System Improvisation“ auf verschiedenen Ebenen an. Diese Ebenen sind nicht hierarchisch, sondern sie wirken vielfältig aufeinander ein und durchdringen sich in einem endlos geflochtenen Band.

  Ebene 1: Das Betriebssystem der Improvisation. Hier benenne ich Grundprinzipien der systemischen Dynamik des Wandels: Emergenz, Selbstorganisation, Wechselwirkung, Kommunikation, Komplexität. Ein Kapitel wird sich der Affektlogik widmen.

  Ebene 2: Wirkfaktoren. Hier beschäftige ich mich mit Haltungen, Handlungen, Wahrnehmungen und Körperlichkeit in der Improvisationssituation: Interaktion, Klangmaterialbeschaffenheit, Hören, Gesten und Präsenz.

  Ebene 3: Erläuterung der Wechselwirkungen an modellhaften Praxissituationen. Dabei beschreibe ich künstlerische Prozesse verschränkt mit didaktischen Reflexionen. Alle Modelle sind praktische Unterrichts- und Übungsvorschläge.

  Ebene 4: Didaktische Überlegungen zum Lernen und Lehren der Improvisation. Hier stelle ich aus den vorigen Kapiteln abzuleitende Konsequenzen für den pädagogischen Umgang mit Improvisation dar. Neben praxisorientierten Folgerungen finden sich auch allgemein didaktische Überlegungen zu einem schöpferisch-experimentellen Musikunterricht.

  Ebene 5: Improvisieren als soziale Kunst. Hier beschreibe ich Anwendungsmöglichkeiten in kulturellen Kontexten und entwickle Visionen einer Beschäftigung mit Improvisation in gesellschaftlichen Zusammenhängen und Institutionen.

Ich wünsche mir, dass dies dazu beträgt, das Gelingen bzw. Misslingen von Improvisationen besser zu verstehen. Ich möchte kompetent machen dafür, Musik alleine und mit anderen spontan und selbstverständlich zu improvisieren. Ich möchte anregen, Improvisieren zu unterrichten und seine Qualitäten zu erleben und zu steigern. Ich möchte vorschlagen, mit Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen, mit Nichtinstrumentalisten, mit Schülerinnen und Schülern, Studierenden und Profis an dem Erlebnis des Improvisierens teilzunehmen. Wenn wir verstehen, wie improvisatorische Dynamik funktioniert, können wir mit großem Gewinn spielen, proben, lernen und lehren.

Grundlegende Überlegungen zum „Betriebssystem“ des improvisatorischen Prozesses

Das Unvorhergesehene in der Improvisation – Emergenz

Definitionen: Das Unvorhergesehene der Improvisation

Um Improvisation zu definieren, wird sie meist der Komposition gegenübergestellt. Aus dieser Dichotomie werden Kriterien abgeleitet, die die eine gegen die andere abgrenzen: Nicht-Schriftlichkeit gegen Notation, Formlosigkeit gegen Form, Moment gegen Architektur, Echtzeit gegen Zeitplanung. Die Kompositions- und Improvisationspraxis der vergangenen Jahrzehnte hat dazu beigetragen, diese dichotome Unterscheidung zu differenzieren und das starre Gegenüber in vielfältig verzahnte Komplexe aufzulösen.1

Solche Übergänge sprechen für das Interesse der Improvisatoren und der Komponisten am jeweils anderen. In der Nachbarschaft solcher „Rekonfigurationen“ und „Grenz-Revisionen“ (Wilson 2003 a, S. 46 ff.) befindet sich auch die lexikalische Begriffsdefinition „Improvisation“ im MGG. Sie differenziert zunächst allgemein, ohne auf Stile u. Ä. einzugehen, Improvisation in Hinsicht auf Durchdringungen, Verzahnungen und Mischungen. Vor allem baut sie auf dem Begriff des „Unvorhergesehenen“ auf, der die besondere Qualität von Improvisation folgendermaßen benennt: „Improvisation bedeutet im allgemeinen Sprachgebrauch unvermutetes, unvorbereitetes, (im lat. Wortsinne adjektivisch: improvisus, adverbial ex improviso) unvorhergesehenes Handeln, genauer: eine Handlung (u. U. auch das Ergebnis einer Handlung), die in wesentlichen Aspekten als unvorhergesehen (eventuell auch unvorhersehbar, lat. improvisibilis) erscheint – und zwar nicht nur für die von der Handlung betroffene(n) Person(en), sondern auch für die handelnden Person(en).“ (MGG 2003)2

Mit dieser Definition wird ein Vorstellungs- und Wortfeld erschlossen, in dem Unvorhergesehenes, Unvorhersehbares, Unerwartetes, Unvermutetes, Unvorbereitetes, aber auch der besondere Einfall und individuelle Spontaneität für die Improvisation als charakteristisch angesehen werden. Hier wird der kreative „Sprung“ des Handelns ins Zentrum der musikalischen Definition gerückt. Er erzeugt die „neue“ Qualität, welche nicht vorhersehbar aus dem „Nichts“ auftaucht. Auch die Praktiker freier Improvisation verwenden ähnliche Begriffe zur Beschreibung ihrer Kunstpraxis: „In einem Konzert der ausschließlich improvisierten Musik werden die Klänge und Ideen der beteiligten Spieler unvorhersehbar im Sinne von unabgesprochen, ohne vorbestimmten Plan zusammengesetzt, also per Definitionem ‚komponiert‘. Je nach Haltung des Spielers und nach Raumästhetik wird, gesteuert von spontanen Einfällen als Ergebnis der Umstände und Möglichkeiten der Konzertsituation sowie der geistigen und körperlichen Verfassung der Spieler, Impulsen gefolgt, die zu klanglichen oder performativen Ereignissen führen. Die eingetretenen Ereignisse lassen sich nicht an einem präexistenten Prinzip messen, sondern stehen als Performanceereignis für sich selbst.“ (Hübsch 2003)

Das Zusammensetzen der Klänge geschieht durch eine Ensemble von Spielerinnen und Spielern ohne Vorabsprache und ohne Vorplanung. Da kein „präexistentes Prinzip“ die Spieler leitet, scheint für die Beteiligten unvorhersehbar, was geschehen wird. Dabei ist aber zu unterscheiden zwischen „aus dem Unvorhergesehenen“ und „ins Unvorhergesehene“. Niemand kann das, „was unvorhergesehen kommt“, vorhersehen. Es kann von außen oder aus dem Inneren des Spielers oder der Spielerin kommen. Wer dies zulässt oder gar herausfordert, der gibt die genaue Realisation einer Vorplanung auf. Er muss akzeptieren, was dann geschieht. Unerwartetes bricht unter Umständen in Geplantes ein, durchkreuzt alle Pläne, es überrascht und man hat darüber keine Macht mehr. Man gibt die Kontrolle auf. Ein solches Spiel mit dem Unvorhergesehenen und ins Unvorhergesehene ist wesentliches Merkmal einer improvisatorischen Handlungsweise.

„Die einfachste Anweisung für freie Improvisation, könnte man sie in Worte fassen, wäre vielleicht diese: Alles kann geschehen – und geschieht – jederzeit.“ (Rzewski 2000, S. 43) Die Frage ist, ob Unvorhergesehenes sich einfach nur als Zufall oder Schicksal ereignet. Mit den Begriffen Intuition oder (göttlicher) Eingebung haben vor allem Künstler ihren schöpferischen Umgang mit dem Neuen versehen. Hier soll interessieren, ob im Lichte neuerer Forschung etwas an der Natur des Improvisierens zu benennen ist, das für Unvorhersehbares – besser Unerhörtes – verantwortlich ist. Kann man gar Spuren finden, warum und wie sich Unerwartetes ergibt? Kann man es eventuell sogar herausfordern? Dabei werden wir uns mit Improvisation als einem System beschäftigen.

Improvisation – ein offenes System

Mit Unvorhersehbarkeit muss man immer rechnen, aber man kann sie auch ins Kalkül ziehen, geradezu herausfordern. Am extremsten geschieht das in der Musizierpraxis, in der Musikerinnen und Musiker ohne vorherige Absprache miteinander spielen, also im Ensemble frei improvisieren. Solche Praxis lässt musikalische Gebilde gewissermaßen „auftauchen“, so wie aus der Tiefe des Wasser etwas nach oben kommt, dessen Ursprung wir nicht verfolgen konnten.3 Damit sind Strukturbildungen gemeint, die nicht voraussagbar sind, „passiv“ entstehen, als hätte es mit den Spielern, die diesen Prozess gestalten, nichts zu tun. Wie aber kann so etwas gelingen? Wie können Musikerinnen und Musiker, die aktiv spielen, dies erreichen? Welche musikalischen Konstellationen, welche Musizierpraxis, welche Klangmaterialien erzeugen solche Phänomene?

In verschiedenen Forschungsrichtungen, die sich mit der Evolution, der Entstehung von physikalischen und biologischen Strukturen oder mit betriebswirtschaftlichen Vorgängen befassen, gibt es ähnliche Fragestellungen.4 Dort wird unter der Prämisse geforscht, dass Unvorhergesehenes und Unvorhersehbares in der Entwicklung von Prozessen eine erhebliche Rolle spielen. Es wird Fragestellungen nachgegangen, woher es kommt, dass Entwicklungen und Vorgänge nicht erklärliche Sprünge machen. Die Erfahrung von auftauchenden Formen und überraschenden Umschlägen hat der improvisierende Musikpädagoge Wolfgang Stroh folgendermaßen beschrieben: „In freien Gruppenimprovisationen ist der Umschlag in eine andere Qualität aufgrund einer infinitesimalen quantitativen Veränderung5 ebenfalls nicht selten. Scheinbar unstrukturierte, chaotische Phasen können urplötzlich in sich zusammenbrechen und einem Thema, einer Pause, einer einfachen Struktur Platz machen. Immer wieder erleben Musikerinnen und Musiker in freien Improvisationsgruppen derartige, rational kaum erklärbare Phänomene. Systemtheoretisch kann man solche ‚Wunder‘ durchaus als den qualitativen Umschlag eines dynamischen Systems deuten und verstehen. Darüber hinaus hat dieser Mechanismus aber auch eine tiefenpsychologische Dimension: Das kollektive Unterbewusstsein aller Mitwirkenden ‚weiß‘, wann ein Break angesagt ist und stattfinden muss. Durch viel gemeinsame Übung und genaue Kenntnis der Gruppe kann die Handhabung derart kollektiver Impulse des Unterbewusstseins durchaus bewusst gelernt werden.“ (Stroh 1994, S. 221)

Die Beschreibung Strohs fokussiert den Begriff des „Umschlags“ als Einbruch des Unvorhergesehenen. Auffallend ist, dass dies als eine Art Hereinbrechen beschrieben wird, als etwas außerhalb jeder einzelnen Verantwortung Stehendes, das überdies auch noch „Unstrukturiertes, Chaotisches“ in „geordnete“ Strukturen umschlagen lässt: Plötzlich ist da ein Zusammenklang, ein gemeinsamer Einsatz, eine Pause usw. aufgetaucht. Verantwortlich für solche rational (oder linear) nicht erklärbaren Veränderungen ist ein „kollektives Unterbewusstes“, das in der Lage scheint, Menschen quasi unbewusst gestalten zu lassen. Stroh erlebt, dass die musikalischen Strukturen durch kollektive Kommunikation entstehen und versteht die Art und Weise der Produktion und die musikalische Strukturbildung innerhalb eines systemischen Zusammenhangs eng verzahnt.

Der Jazzautor Joachim Ernst Behrendt hat ebenfalls in diese Richtung gedacht: „In diesem Sinne ist auch eine Gruppe improvisierender Musiker ein ‚System‘. Sie kann – wenn sie wirklich ‚zusammen‘ ist, reagieren, sich bewegen und sich verändern wie ein einziges Wesen. Wie ein Schwarm6 Vögel oder Fische. Was in solchen Gruppen geschieht, gehorcht eher den Gesetzen der Synchronizität als denen der Kausalität und kann deshalb nicht in allen Details erklärt werden.“ (Behrendt 1985, S. 409)

Für die faszinierende Erfahrung, dass autonome Personen wie ein „Wesen“ reagieren, benutzt Behrendt den Begriff des Systems, das Phänomen unvorhergesehener Entwicklungen versucht er – ähnlich wie Stroh – mit einem Begriff aus der Tiefenpsychologie zu erklären. Synchronizität meint zeitlich synchrone Ereignisse, die nicht als Ergebnis von Ursache und Wirkung erfasst werden können, dennoch als sinnhaft erlebt werden. „Ein System (von griechisch σύσημα, altgriechische Aussprache sýstema, heute sístima, ‚das Gebilde, Zusammengestellte, Verbundene‘; Plural Systeme) ist eine Gesamtheit von Elementen, die so aufeinander bezogen sind und in einer Weise wechselwirken, dass sie als eine aufgaben-, sinn- oder zweckgebundene Einheit angesehen werden können und sich in dieser Hinsicht gegenüber der sie umgebenden Umwelt abgrenzen. Systeme organisieren und erhalten sich durch Strukturen. Struktur bezeichnet das Muster (Form) der Systemelemente und ihrer Beziehungsgeflechte, durch die ein System entsteht, funktioniert und sich erhöht.“ (Wikipedia, Stand: Mai 2010)

In improvisatorischen Prozessen wirken systemisch gesehen physikalisch/akustische Elemente, deren klangliche Parameter aufeinander bezogen sind und miteinander wechselwirken. Es bilden sich in einer bestimmten Zeitdauer Strukturen aus, die auseinander hervorgehen und voneinander abgeleitet sind (klangliches System).7 Musikalische Strukturen werden wiederum geschaffen von Menschen, die aufeinander achten und reagieren und aus diesem Verständnis immer neue Strukturen konstruieren (soziales System). In den Gehirnen der Handelnden laufen neuronale Prozesse ab, die in Wechselwirkungen von Wahrnehmung und Aktion musikalische Bedeutung schaffen (neuronales System) und diese wiederum in Aktionen umsetzen.

Die Strukturbildung improvisatorischer Prozesse ereignet sich also in einem systemischen Zusammenhang, der durch folgende Merkmale gekennzeichnet ist:

  Musikalische Strukturen entstehen durch aufeinander bezogene Aktionen und Kommunikationen. Menschen hören aufeinander, sie weben das in den je eigenen Sinnhorizont ein und setzen dies nicht in Gedanken oder Sprache, sondern in Töne um.

  Alle an diesem Prozess Beteiligten, die Handelnden mit ihren musikalischen Handlungen, das musikalische Material und seine hörbare Klangbildung wirken aufeinander ein. Die Spielerinnen und Spieler kommunizieren in andauernden Wechselwirkungen mit den anderen.

  Es lässt sich nicht genau bestimmen, welches Element letztlich für die Strukturbildung und für Veränderungen oder Variationen im System verantwortlich ist.

Emergenz

Da vielfältigste Faktoren im Spiel sind, sind solcherart ablaufende Prozesse durch einen hohen Grad an Unvorhersehbarkeit gekennzeichnet. Diese entstehen aus Sicht der Systemforschung aber nicht durch Synchronizität, sondern durch Emergenz: „Emergenz ist die spontane Herausbildung von neuen Eigenschaften oder Strukturen auf der Makroebene eines Systems infolge des Zusammenspiels seiner Elemente. Dabei lassen sich die emergenten Eigenschaften des Systems nicht – oder jedenfalls nicht offensichtlich – auf Eigenschaften der Elemente zurückführen, die diese isoliert aufweisen.“ (Wikipedia, Stand: 21.5.2010)

Das Phänomen der Emergenz ist alltäglich: Es kommt mehr heraus, als man erwartet hat, weil etwas entgegen aller Voraussicht geschieht. Man kann das, was herausgekommen ist, nicht einfach und lückenlos logisch zurückverfolgen. Aber es ist nicht reiner Zufall oder ein Schicksal dafür verantwortlich. Dort, wo viele Faktoren im Spiel sind, geschieht Emergenz: Unvorhergesehenes, Unerwartetes, zufällige und nebensächliche Ereignisse können so als Folge dynamischer Vorgänge in einem System erfasst werden.8 Man kann den Vorgang, die Faktoren und Kräfte, die wirken, aufschlüsseln: „Entstehung meint eher Auftauchen (émergence), das Prinzip und das einzigartige Gesetz des Aufblitzens. […] die Entstehung vollzieht sich immer innerhalb eines bestimmten Kräfteverhältnisses. Die Analyse der Entstehung muss das Spiel dieser Kräfte aufzeigen, ihren Kampf untereinander, ihren Kampf gegen widrige Umstände […] Die Entstehung ist also das Heraustreten der Kräfte auf die Szene, ihr Sprung aus den Kulissen auf die offene Bühne. […] Niemand ist verantwortlich, niemand kann sich ihrer rühmen, sie entsteht in einem leeren Zwischen.“ (Foucault in: Wägenbaur 1999)

Das Aufblitzen und der Sprung auf die offene Bühne sind Improvisatoren vertraut. Das charakterisiert ihre Kunst: das Erfinden vor einer Zuschauerschar und der blitzartige Einfall. Was so improvisatorisch entsteht, lässt sich weder im Prozess noch im Nachhinein lückenlos begründen, und es ist überdies fraglich, ob man es überhaupt auf Gründe zurückführen kann. Deshalb spricht Foucault von der Analyse des „Spiels der Kräfte“, nicht von der Analyse von kausalen Wirkungsketten. Dann muss man z. B. diese Fragen klären:

  Welche „Kräfte“ sind es in der Musik, die miteinander kämpfen?

  Wie kann niemand verantwortlich sein, um sinnvolle musikalische Ergebnisse zu erreichen, und trotzdem aktiv gestalten?9

  Unter welchen Umständen werden Menschen auf die offene Bühne kommen und dem Gesetz des Aufblitzens und unerwarteten Ergebnissen ihren Lauf lassen können?

Emergenz ist zwar ein überraschendes, plötzliches Ereignis, aber doch von der Bereitschaft und der Fähigkeit, sie wahrnehmen und entwickeln zu wollen und zu können, abhängig. Man muss etwas jenseits vertrauter Wahrnehmungs- und Deutungsmuster wahrnehmen können. „In dem Moment, wo ich etwas anders sehe, ist etwas Neues da. Man kann dazu ‚Emergenz‘ sagen und damit allgemein verständlich bleiben. Man könnte aber auch den Standpunkt der Selbstorganisation ins Spiel bringen: Dieses selbstorganisierte System ist in neue Eigenwerte geschwungen, über die es vorher nicht verfügte. Und somit sind neue Erkenntnisse zu beobachten, es ist etwas emergiert. Aber nicht dort – nein hier, in mir ist etwas neu konfiguriert, und ich empfinde das als eine neue Einsicht. Emergenz ist meine Fähigkeit, neu sehen zu können.“ (von Foerster 2005, S. 44)

Unvorhergesehenes muss auch der Improvisierende zulassen können, die Krücken der Noten wegwerfen, um sich musikalisch zu bewegen. Improvisierende Musikerinnen und Musiker haben das Interesse, Emergenz an sich heranzulassen. Sie wollen „in neue Eigenwerte schwingen“. Sie wollen mit ihren kreativen Fähigkeiten das Spiel der Kräfte beeinflussen. Da das nicht selbstverständlich ist, muss man Improvisation unterstützen. Improvisatorisch Interessierte und erfahrene Improvisationspädagogen können diese Prozesse durch geeignete Methoden vermitteln und in Gang setzen. In solch einem Zusammenspiel von Kunst und Pädagogik können dauerhaft Sprünge ins „Neue“ gelingen und es kann für die von der Handlung Betroffenen und für die Handelnden Überraschendes, Verblüffendes, Unerwartetes geschehen. Der Komponist und Improvisator Frederic Rzewski hat das so zusammengefasst: „In jedem Augenblick wird die Schöpfung neu dargestellt. Das Universum der Improvisation entsteht fortwährend neu; oder besser: In jedem Augenblick wird ein neues Universum erschaffen. Wenn auch die Ereignisse einander ordentlich zu folgen scheinen, jedes irgendwie aus dem vorhergehenden entstehend, gibt es doch keinen Grund, warum es notwendigerweise so sein muss. In jedem Augenblick kann sich ohne irgendeinen Grund etwas ereignen, das keinerlei Beziehung zum vorausgehenden Ereignis hat. In diesem Universum ist jeder Augenblick eine Entelechie,10 die Ursache und Wirkung in sich selbst beschließt. Für die freie Improvisation ist diese Autonomie des Augenblicks, in dem die Dinge sich aus unerfindlichen Gründen ereignen und nirgendwohin führen, von grundlegender Bedeutung.“ (Rzewski 2000, S. 43)

Selbstorganisation

Nun soll das Zusammenwirken der Elemente eines Systems genauer betrachtet werden. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Selbstorganisation, die sich sowohl in allgemeinen als auch in musikalischen Systemen beobachten lässt. „Improvisation ist ein Spiel des Geistes mit sich selbst, in welchem einer Idee gestattet wird, auf das Spielfeld zu kommen, um für einen Augenblick in hübschen Mustern herumgekickt zu werden, bevor eine andere Idee an ihre Stelle tritt. Der erste Einfall ist absichtslos, ein Irrtum, ein falscher Ton, ein Verspielen, bei der der Ball vorübergehend verloren geht, das momentane Auftauchen eines unbewussten Impulses, der normalerweise unterdrückt wird. Das Spiel, dem er ausgesetzt wird, besteht nun darin, den verspielten Ball elegant zurückzuholen, durch einen zweiten ‚falschen Ton‘ den ersten richtig aussehen zu lassen, um zu rechtfertigen, dass der Einfall überhaupt ausgedrückt werden durfte.“ (Rzewski 2000, S. 43)

Nehmen wir den ironischen „Spielbericht“ auf, dann sehen wir improvisierte Musik als einen Vorgang der spielerischen Selbstorganisation, in der musikalische Bedeutung, also sinnvolle Strukturen aus dem „Herumkicken“ erzeugt werden. Selbstorganisation nenne ich die Art und Weise, wie ein improvisierendes Ensemble aus sich heraus Formen und Strukturen schafft. Alle Elemente einer musikalischen Improvisation, alle musikalischen Kommunikationsangebote, aber auch alle Fehler, Missgriffe, Intonationsunschärfen usw. werden als Faktoren einer gemeinsamen Strukturbildung erlebt und gestaltet. Jeder Impuls und jede Reaktion, jedes Abwarten und jedes Initiativsein dient der Selbstorganisation des musikalischen Prozesses. Je besser wir dies als Prinzip verstehen, desto mehr erfahren wir darüber, wie im Zusammenspiel von Menschen und Klängen sinnhafte musikalische Struktur entsteht. Wir können Aussagen machen darüber, warum die Spielerinnen und Spieler erfüllt und voller Intensität sind und Improvisationen stimmig werden. Es lohnt sich, Selbstorganisation zu beschreiben.

Selbstorganisation schafft Bedeutung – emergent

„Als Selbstorganisation wird in der Systemtheorie hauptsächlich eine Form der Systementwicklung bezeichnet, bei der die formgebenden, gestaltenden und beschränkenden Einflüsse von den Elementen des sich organisierenden Systems selbst ausgehen. Im politischen Gebrauch bezeichnet Selbstorganisation die Gestaltung der Lebensverhältnisse nach flexiblen, selbstbestimmten Vereinbarungen und ähnelt dem Autonomiebegriff.“ (Wikipedia, Stand: Juni 2010)

Selbstorganisation ist ein dynamisches Zusammenwirken von Elementen eines Systems. Einige Neurophysiologen bezeichnen den Vorgang, wie im Gehirn Bedeutung entsteht, als Selbstorganisation. Sie untersuchen, wie Neuronenverbindungen, die physiologisch nur elektrische Spannungsimpulse und -leitungen sind, das hervorbringen, was wir als geistige und emotionale Bedeutung verstehen. Bedeutung ist unter einer solchen Sichtweise emergent. „Gehirne bringen ‚Bedeutung‘ hervor; dies ist das wesentliche Merkmal von Gehirnen. Auf der anderen Seite sind sie zweifellos physikalisch-chemische Systeme […] Bedeutung ist also eine nichtphysikalische emergente Eigenschaft eines physikalischen Systems.“ (Krohn/Küppers 1992 b, S. 13)11

Das Gehirn schafft, was aus der bloßen Summe der wirkenden Einzelelemente nicht voraussagbar und erklärbar ist. Neuronale Prozesse, also elektrische Ladungen ergeben sinnvolle Aktionen. Bedeutung ist die „Wirkung, die ein physiko-chemisches Ereignis innerhalb eines kognitiven Systems auslöst“12 (Krohn/Küppers 1992 b, S. 14). Verantwortlich dafür ist die Spezifik der Prozesse, die während der Verarbeitung sensorischer Erregung im Gehirn ablaufen. „Eine lokale, durch einen Umweltreiz ausgelöste neuronale Aktivität, die als solche völlig bedeutungsfrei ist, tritt im Gehirn eingebettet in ein raumzeitliches Erregungsmuster13 […] auf. Dieses Muster ist der Kontext, durch den der Aktivität eine Bedeutung zugewiesen wird, die nun selbst als eine spezifische Wirkung (Verhalten) beobachtbar ist. Das der Bedeutungszuweisung zugrunde liegende Erregungsmuster besteht wiederum aus vielen lokalen neuronalen Aktivitäten, die alle für sich bedeutungsfrei sind und selbst nur über ihren Kontext, in dem sie eingebettet sind, Bedeutung erlangen. Diese experimentell nachweisbare zirkuläre Bedeutungszuweisung entfaltet sich in einem Prozess der Selbstorganisation.“ (Krohn/Küppers 1992 b, S. 13 f.)

Bedeutung ist ein Ergebnis von Selbstorganisation. Erregungsmuster werden immer wieder neu in Beziehung zueinander gebracht. Es entsteht die zirkuläre Formung „der Bedeutungszuweisung durch Bedeutung“ (Krohn/Küppers 1992 b, S. 14). Dieser Prozess steuert und erneuert sich selbst, indem seine eigene Wechselwirkung sich immer weiter entfaltet. Es gibt keine kausale, starre Ordnung. Man kann keinen „Verursacher“ benennen. Denken wir in diesem Kontext über den Improvisationsprozess nach.

Selbstorganisation in improvisatorischen Prozessen

Stellen wir uns ein Ensemble vor, das ohne Absprache zu improvisieren beginnt. Alle Spielerinnen und Spieler sind auf das Hier und Jetzt des Improvisationsprozesses konzentriert (sie sind in einem raumzeitlichen Erregungsmuster). Es entstehen Klangfolgen, die aufeinander gerichtet sind und voneinander wiederum beeinflusst, aufgenommen oder zerstört werden (zirkuläre Bedeutungszuweisung). Die Spielenden verfolgen mit Interesse, Engagement und Hingabe die entstehenden Strukturen und suchen einen Sinn darin. Die aus diesem Bedeutung schaffenden Prozess entstehende musikalische Struktur lässt sich definieren als Bewegungen, deren Richtung man fortgesetzt hören möchte. Der Improvisationsverlauf ist in Details und/oder im Ganzen unvorhersehbar. Er erhält sich, solange die Beteiligten die selbstorganisierte Bedeutungszuweisung durch Bedeutungen aufrechterhalten, also solange sie miteinander spielen.14 Da im angenommenen Fall niemand von außen vorherbestimmt, es keine Vorabsprachen gibt, wird die musikalische Struktur aus sich selbst geschaffen.

„Selbstorganisation ist das spontane Auftreten neuer, stabiler, effizient erscheinender Strukturen und Verhaltensweisen (Musterbildung) in offenen Systemen. […] Ein selbstorganisiertes System verändert seine grundlegende Struktur als Funktion seiner Erfahrung und der Umwelt. Die interagierenden Teilnehmer (Systemkomponenten, Agenten) handeln nach einfachen Regeln und erschaffen dabei aus Chaos Ordnung, ohne eine Vision der gesamten Entwicklung haben zu müssen.“ (Wikipedia, Stand: 8.12.2006)15

Diese Beschreibung ist ein guter Zugang zur improvisatorischen Ensembledynamik, in der Musikerinnen und Musiker autonom gestalten, selbst gestalten. Gleichzeitig aber provozieren sie das Auftauchen von Unvorhergesehenem, das von selbst geschieht. Das sind die Voraussetzungen, unter denen musikalisches Handeln improvisatorisch wird. Die Mitwirkenden haben den Eindruck, die Musik gestalte sich selbst, sie mache „Sprünge“. Das ist ein erregender Eindruck von aktiver Passivität und wird von vielen Musikern als „Hingabe“16 an die Musik beschrieben.

Prinzipielle Merkmale der Selbstorganisation, wie sie in anderen nicht musikspezifischen Forschungszweigen entwickelt wurden, helfen, noch genauere Einsichten in improvisatorische Prozesse zu bekommen. Selbstorganisation findet in Echtzeit und in der unmittelbaren Einheit von Gestalten und Darstellen statt. Strukturen entwickeln sich in selbstbezogenen Aktionen ohne äußeres Zutun.

Echtzeit bzw. Simultaneität

Der Prozess und die in ihm entstehende Formung geschehen in Echtzeit. Steve Lacy hat das so formuliert: „Der Unterschied zwischen Komponieren und Improvisation ist der, dass du in der Komposition soviel Zeit hast wie du möchtest, um darüber nachzudenken, was du in 15 Sekunden sagen möchtest, während du in der Improvisation nur 15 Sekunden hast.“ (Rzewski 2000, S. 41)17 In der Echtzeitsituation eines improvisierten musikalischen Verlaufs sind alle Spielerinnen und Spieler an eine Grundregel gebunden: Alle spielen mit dem, was sie in die Spielsituation mitbringen und was ihnen dort einfällt. Jeder musikalische Einfall und jede musikalische Aktion, egal von welcher Qualität, hat Anteil an der musikalischen Formbildung und schafft einen Bedeutungskontext für weitere Bedeutungen.

Einheit von Darstellen und Gestalten ohne äußeres Zutun

Darstellen und Gestalten in der Improvisationssituation sind simultan und beruhen auf dem Vermögen der Spielenden, in der Situation schnell, klar und spontan zu handeln. Deshalb darf ihr Verlauf nicht vorher fixiert sein. Eine improvisierte Struktur muss sich ergeben können, wenn sie ins Unvorhersehbare tendieren soll. In einem laufenden Prozess bestimmt niemand allein, was vom Erklingenden oder von welchem der Spieler wichtiger ist als anderes. Kein Dirigent oder Komponist, keine Partitur oder Anweisung determiniert den Verlauf des Musikstücks exakt und bis in die Einzelheiten. Es gibt keine Hierarchie, keine präfixierten Formationen oder festgelegte Haupt- und Nebenstimmen, sondern nur potenzielle Gestalter.

Entwicklung von Korrelationen oder raumzeitlichen Mustern durch selbstbezogene Aktionen (Rückkopplung)

(Emergente) Systeme zeichnen sich durch Rückkopplung aus. Jedes Verhalten eines Systemteils wirkt auf sich selbst und die anderen zurück und wird zum Ausgangspunkt für weiteres Verhalten. Jeder Klang, jede musikalische Handlung einzelner Spieler kann zum Impuls (oder zur Hemmung) für den weiteren Gang eines musikalischen Gebildes werden. Aber sie müssen im Auseinandersetzungsprozess miteinander korrelieren. Dabei kann das oben genannte Beispiel der Bedeutungszuweisung durch Bedeutung bei neuronalen Prozessen wie ein Bild für die musikalischen Prozesse dienen. Improvisieren heißt, Bedeutung im Spielangebot der Mitspieler zu suchen, und daraus neue Bedeutungen, Klangstrukturen zu schaffen. In allen musikalischen Parametern finden sich Anknüpfungen für solche Bedeutungszuweisungen. Besonders in den sekundären Parametern eines Klangs (Klangfarbe, Dynamik, Artikulation) finden sich Qualitäten, die nicht schon durch Tonalität oder Stilistik bestimmt sind: Geräusche haben eine Vielzahl von Nuancen, feinste Artikulationen und Atemqualitäten können aufgegriffen werden und die musikalische Struktur beeinflussen.18 Jede noch so beiläufige musikalische Aktion kann ein Einfall sein, dem nachzugehen sich lohnt. Im simultanen Miteinander werden Unerwartetes und Überraschendes aus dem sich ständig wandelnden Kontext auftauchen.19

Damit haben wir einige Grundlagen der Selbstorganisation in Improvisationsprozessen formuliert. Aus ihnen entsteht eine besondere ästhetische und stilistische Qualität. Musik in Echtzeit, aus dem spielenden Erfinden und dem feinsten Erlauschen aufeinander bezogener Klänge hat eine besondere Klanglichkeit. Klänge entstehen, tauchen auf, werden verworfen, sie zerbrechen, werden wieder erschaffen, aber eben nicht willkürlich, sondern aufeinander bezogen. Wer mit anderen improvisiert, möchte seine Aktionen und die daraus entstehenden Klänge im Spiel der Bedeutungen mit anderen teilen. Die erweiterte Klanglichkeit, in der sich improvisierte Musik ästhetisch präsentiert (und deshalb auch nonidiomatisch genannt wird), ist u. a. auch eine Folge dieses Wechselspiels von authentischem Ausdruck, autonomem Gestaltungswillen und dem Wunsch nach neuen Klängen. Diese Klanglichkeit hat ein notwendiges gemeinsames Merkmal: Sie zeichnet sich durch musikalisch besonders interaktive Wechselwirkungen aus, die im Agieren in Echtzeit entstehen können.

Wir können nun als vorläufiges Fazit formulieren: Die schöpferische Freiheit in der Improvisation orientiert sich immer am Bedeutung schaffenden Mitspieler und an der Beschaffenheit der aus diesen Bedeutungen gerade jetzt in Echtzeit entstehenden Musik.20

Auf der Schneide des Augenblicks: Wirklichkeit und Wechselwirkungen

Die Wirklichkeit, die Wirklichkeit,

trägt wirklich ein Forellenkleid

und dreht sich stumm und dreht sich stumm

nach andern Wirklichkeiten um.

(André Heller)

Menschen erleben die Welt als ein „umfassendes Ineinander von soziopsychophysischen Wechselwirkungen, die insgesamt, als Wirkungs-Getriebe, die Wirklichkeit konstituieren“ (Salber in: Weymann 2004, S. 49). „Wir behandeln (konstruieren, beeinflussen, verändern, bewegen) fortwährend handelnd und ‚im Kopf‘ die Wirklichkeit … und werden umgekehrt durch die Bedingungen dieser Wirklichkeit (zu denen eine Konstruktion derselben gehört) behandelt.“ (Weymann 2004, S. 49 ff.) Aus Sicht des Konstruktivismus wird Wirklichkeit konstruiert, sie existiert nicht „an sich“. Auch die Konstruktion musikalischer Strukturen in der Improvisation schafft in ganz konkreten Spiel- und Hörprozessen eine Wirklichkeit.

Der Wirklichkeit kommt man nicht mit Wahrheiten nahe

Alle Disziplinen musikalischer Aufführung und Deutung sind geprägt davon, bestimmen zu wollen, was Musik ist, wie sie gebaut ist, wie Formen und Satzstrukturen geformt sind,21 um daraus Regeln und Vorschriften, wie man sie spielen und aufführen soll, abzuleiten. Diese Gesetze (z. B. Tonsatzregeln) wollen die Qualität der Musik bestimmen und fixieren, sie sind zwar im besten Fall aus der tatsächlichen Wirklichkeit abgeleitet, aber nur bedingt fürs Improvisieren in der wirklichen Situation gültig. Niemand improvisiert genau nach Regeln. Sogar die kontrapunktischen Improvisationen von Bach unterscheiden sich von den aufgeschriebenen Sätzen.22 Wir müssen also einen anderen Blickwinkel finden. Dazu befragen wir andere Wissenschaftsdisziplinen: Wie funktioniert eigentlich die Wirklichkeit?

„Wirklichkeit ist das, was allem Wirken (und Gegenwirken) zugrunde liegt. Es ist selbstverständlich, dass Wirklichkeit veränderlich ist. Das heißt natürlich nicht, dass es dort keine Gesetze gäbe. Sie sind nur ganz anderer Art als die klassischen Kausalitätsgesetze. Und das merken wir in den Naturwissenschaften erst jetzt, da wir wirkliche Systeme behandeln, Systeme, die wir selber sind: unser eigenes Leben, unser Denken und seine Prozesse, die Realität von Zeugung und Tod.“ (Cramer 1994, S. 12)

Mit den Kausalitätsgesetzen ist ein westliches Denkparadigma angesprochen, mit dem man hauptsächlich mithilfe von Logik zu verstehen sucht. Elementares Bild dafür ist die Maschine. Verfügt man über die Kenntnis der Regeln des Maschinenverhaltens, ihrer ineinandergreifenden Funktionen, kann daraus jeder Zustand in der Zukunft bzw. Vergangenheit vorbestimmt werden. Diese Maschine ist zeitlos, ihr Arbeiten in der Wirklichkeit immer gleich. Ihre Relationen sind „Wenn-dann“-Folgerungen. Ihr Verhalten ist das einer „trivialen Maschine“ mit einfachem Input-Output. Das Wechselwirkungsmodell jedoch, auf dem Emergenz beruht, „sollte einen Verhaltensmodus kennzeichnen, der sich von der üblichen Auffassung der Operationen von Maschinen mit ihrer eindeutigen Ursache-Wirkung, Reiz-Reaktion, Input-output usf. grundlegend unterscheidet. Der Unterschied ist bedingt durch die Anwesenheit von Sensoren, deren (Rück-)Meldungen über den Zustand der Effektoren des Systems auf die Operation dieses Systems einwirken.“ (von Förster in: Winkler 2002, S. 85)

Die Rückkopplung, die Wahrnehmung von vergangenen Zuständen in Bezug auf die Gegenwart, ist der entscheidende Unterschied zu einer trivialen Maschine. Die Rückmeldungen beeinflussen das System, sie wirken auf den Fortgang in die Zukunft ein, sie gestalten jeweils neue Wirklichkeiten. Betrachtet man improvisierte Strukturen unter diesem Blickwinkel, dann kann es nicht darum gehen, das allgemein gültige, zeitunabhängige „Wesen“ einer Struktur, eine wie auch immer geartete „Wahrheit“ zu ergründen.23 Wir müssen vielmehr die vielfältigen Erkenntnisse auswerten, die sich ergeben, wenn man die (soziale und musikalische) Entstehung von Strukturen erkundet, die sich in ihren Aktionen und Reaktionen ständig selbst rückkoppeln, und musikalische Form mit der Zeit „wachsen“ lässt.

Wechselwirkungen und Zeit

Rückkopplungen und zirkuläre Bedeutungszuweisungen bewirken, dass in einem offenen System die Zeit eine große Rolle spielt. Dabei geht es um die von der äußeren Zeit unabhängige Eigenzeit eines Systems. Alles hat seine Zeit: Wann etwas richtig ist, den Zeitpunkt, und wie lange etwas dauert, die Zeitdauer einer musikalischen Gestalt. Alles wird bestimmt durch Rückmeldungen und aufeinander bezogene Prozesse, die eine ganz eigene Zeit brauchen. „Es ist ein Axiom der Chaostheorie, dass es keinen Abkürzungsweg gibt, auf dem man das Schicksal eines komplexen Systems erfahren könnte; seine Entwicklung lässt sich nur in ‚Echtzeit‘ verfolgen. Die Zukunft enthüllt sich nur im Aufdröseln der Gegenwart von Augenblick zu Augenblick.“ (Briggs/ Peat 1990, S. 275)

Fürs Improvisieren gilt: Vorbei ist vorbei. Man kann nicht die Zeit anhalten und etwas verbessern. Alle Fragen – z. B. Was hätte besser sein können? Was wurde vergessen? – sind außerhalb des Echtzeitprozesses. Der Prozess, einmal in Gang gesetzt, entfaltet sich in all seinen aufeinander bezogenen Rückkopplungen und Wechselwirkungen. In gewisser Weise ist so jeder Prozess einmalig. Alle seine Strukturelemente, alle musikalischen Aktionen zwischen dem Vergangenen und dem Zukünftigen haben die Zeit, die sie gedauert haben, „gebraucht“. Ein Heilprozess braucht seine Zeit wie der Kochvorgang von Reis. Dabei kann nur etwas misslingen, wenn man darauf nicht achtet und sich damit über die (nichtkausalen) „Gesetze“ solcher Prozesse hinwegsetzt. Man kann die Zeit nicht zurückdrehen, „den verspielten Ball“ nicht zurückholen, sondern nur neu bewerten. „Zeit ist nicht einfach eine lineare Folge, in der die Vergangenheit die Zukunft bestimmt. Sie ist auch eine kontinuierliche Gegenwart, in der jeder Augenblick ein neuer Anfang ist. In jedem Augenblick wird die Schöpfung neu dargestellt. Das Universum der Improvisation entsteht fortwährend neu; oder besser, in jedem Augenblick wird ein neues Universum erschaffen.“ (Rzewski 2000, S. 43)

Die Qualität einer Improvisation hat u. a. viel mit „Timing“ zu tun. Untrügliches Zeichen dafür ist, wenn die Spielerinnen und Spieler einen stimmigen Schluss setzen. Gelingt das, so haben sie für das, was der Prozess verlangte, was die Struktur brauchte, die richtigen Zeitpunkte und Zeitdauern gefunden.24 Emergente Schlüsse sind keine Frage des Messens oder der Regeleinhaltung, sondern Folge der intensiven Involviertheit in den jeweiligen Prozess.

Improvisation ist ein fraktaler Prozess, ein Wachstumsvorgang

Wollen wir tiefer in das „Wirkungsgetriebe“ des improvisatorischen Prozesses eindringen, müssen wir seine lebendige Dynamik beschreiben. Wieder kann ein kurzer Blick in andere Wissenschaftsformen hilfreich für die Sicht auf die Improvisation sein. Dynamik haben solche Verfahren, die „iterativ“, das heißt in Rückkopplungen arbeiten und qualitative, nicht quantitative Ergebnisse „zeitigen“. Diese Dynamik hat eine fraktale Dimension,25 diese kann mithilfe der Mathematik beschrieben werden. Fraktale Mathematik beruht nicht auf „Abkürzungswegen“, sondern rechnet mit der Zeit. Ergebnisse von Rückkopplungsprozessen sind selbstähnlich. Mithilfe von Computern bildlich realisiert, sieht man ähnliche Strukturen auf verschiedenen Ebenen, z. B. das so genannte „Apfelmännchen“. Fraktale Strukturen „besitzen Selbstähnlichkeit auf verschiedenen Skalen, aber diese Selbstähnlichkeit bedeutet nicht Selbstgleichheit, denn Unvorhersehbarkeit und Zufall sind auch hier am Werk“ (Briggs/Peat 1990, S. 304). Eine Schneeflocke, ihr Aufbau ist das klassische Beispiel für selbstähnliche Strukturen, gleicht nicht der anderen, sogar wenn sie im Computer virtuell (errechnet) entsteht.

Solche Ergebnisse hängen in hohem Maß an der Perspektive des Forschers: Die Bestimmung fraktaler Dimensionen bildet eine „unentwirrbare Beziehung zwischen dem Beobachter und seinem Beobachtungsgegenstand“ (Briggs/Peat 1990, S. 137).26 Fraktale „sind das Maß des relativen Komplexitätsgrades eines Gegenstandes“ (Briggs/ Peat 1990, S. 137), die fraktale Geometrie ist „ein Abbild der Qualitäten des Wandels“ (Briggs/Peat, S. 162).

Christian Kaden bezieht sich darauf, wenn er formuliert, dass Improvisation „ein Wachsendes, ein Wachstumsvorgang“ ist, und das mit dem „fraktalen“ Wachsen eines Baumes vergleicht, der sich im Gegensatz zu den Maschinen der Ingenieure einerseits „voraussagbar“ (es wird ein Baum mit den typischen Merkmalen), aber andererseits „unvorhergesehen“ (es lässt sich nicht jede Position, jeder Winkel, jede Anzahl von Blättern voraussehen) beblättert und verzweigt. Alle Wachstumsvorgänge sind selbstähnlich – es sind immer Äste, Verzweigungen und Blätter. „Strukturen dieser Art setzen sich nicht gegen das Chaos durch, wie die Figur gegen den Grund, sondern ‚zusammen‘ mit ihm, schließen das Chaos ein.“ (Kaden 1992, S. 57) Sie sind damit ein lebendiger Vorgang, der zwischen den Polen Ordnung und Chaos hin- und herschwingt. Improvisation könnte, so formuliert es Kaden, „als fraktale Struktur verstanden werden“ und damit das Natürlichste der Welt sein: „ein Naturgegebenes, ein Musizieren in größter Nähe zur menschlichen Natur“ (Kaden 1992, S. 58).

Statt zu rechnen, improvisieren Musikerinnen und Musiker Klänge von Augenblick zu Augenblick, reagieren aufeinander, beziehen das, was sie tun, auf das Tun der anderen und schaffen auf diese Weise Gebilde von „Rückkopplungen“, die selbstähnlich, aber nicht selbstgleich sind. Motive, Klänge, Spieltechniken und andere musikalische Aktionen sind die schöpferischen Mittel, die ihre ästhetische Wirkung erzielen, indem „im Leser, Zuhörer oder Betrachter eine unauflösliche Spannung zwischen den Ähnlichkeiten und Unterschieden der Bestandteile entsteht“ (Briggs/Peat 1990, S. 302).27 Statt eines mechanischen Vorgangs, der immer wieder dasselbe (re)produziert, finden wir eine Art Wachstumsprozess und bildlich gesprochen einen musikalischen „Organismus“.