Ulf Prelle

Leichtigkeit

Eine ergänzende Streichermethodik zur Befreiung der rechten und der linken Hand

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Bestellnummer SDP 125

ISBN 978-3-7957-8548-2

 

© 2015 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz

Alle Rechte vorbehalten

Als Printausgabe erschienen unter der Bestellnummer ED 22401

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Inhalt

1Einleitung

2Leichtigkeit?

3Bewegungsgrundlagen unseres Körpers (Gastbeitrag von Prof. Dr. Albrecht May)

Bewegung als Zeitgestalt

Strukturelemente der Bewegung

Die Muskelketten der oberen Gliedmaßen

Einfluss des Sitzens auf die Armbewegungen

Differenzierter Muskeleinsatz zwischen links und rechts

Einfluss der Armdrehung auf die Muskelketten

4Spielbewegungen ohne Instrument

Beckenbewegungen als Auslöser einer freien Bewegung

Die verschiedenen Beckenbewegungen

a)Vor-Zurück-Kippbewegung

b)Die seitliche Kippbewegung in Richtung Achselhöhle

c)Drehbewegung des Beckens

d)Kreiselbewegung

Dynamisierung des Spielens durch verstärkte Becken-/Oberkörperbewegungen

5Die Haltung der Instrumente

Die Haltung der Geige und der Bratsche

Die Cellohaltung

Die Basshaltung

6Die Leichtigkeit der linken Hand

Koordinierung der Spielbewegungen

Leichtigkeit in der Greifhand auch in der Vorspielsituation

Die Kitzeltonleiter

7Händigkeit

Zwei Hände – zwei Bewegungsqualitäten

Wie viel Kraft ist sinnvoll?

Auswirkungen der Händigkeit

8Auswirkungen der Händigkeit auf den Rechtshänder

Rechts-Links-Organisation

Die rechte trainiert die linke Seite

Wenn die linke Seite die Leichtigkeit verinnerlicht hat

Auch die rechte Seite braucht eigenständige Übung

9Das bewusste Einspielen als Rechtshänder

Einspielen

Einspielen für Rechtshänder

10Auswirkungen der Händigkeit auf den Linkshänder

Links-Rechts-Organisation

Einspielen für Linkshänder?

Methodische Ausrichtung bei Linkshändern

11Einspielen für Linkshänder

Vorteile der Linkshänder in der Bewegungskoordination

Problematische Aspekte bei Linkshändern

Vibrato beim Linkshänder

12Pädagogik mit Kindern

Gedanken zum Anfangsunterricht

Einbeziehen der Händigkeit in den Anfangsunterricht

Der Rechtshänder im Anfangsunterricht

Der Linkshänder im Anfangsunterricht

13Leichtigkeit und

Leichtigkeit für die Folgehand

Leichtigkeit und Intonation

Leichtigkeit und virtuose Bogenpassagen

Leichtigkeit und Flow

Leichtigkeit und Vibrato

14Leichtigkeit und Gesundheit

15Leichtigkeit durch Medikamente?

Die Wirkung von Stress in unserem und auf unseren Körper (Gastbeitrag von Prof. Dr. Albrecht May)

Können Betablocker eine Lösung sein?

16Probespielen – mit Leichtigkeit!

Die Ich-Stärkung

Die musikalische Stärkung

Andere Interpreten im Vergleich

17Das mentale Training

Mentales Üben in einem sinnvollen Aufbau

Das Vorspiel in der positiven mentalen Vorbereitung

Probespielen mit Leichtigkeit?

18Schlusswort

19Übevorlagen

20Literaturangaben

1Einleitung

Der Solist1 betritt das Podium. Er nimmt seinen Platz ein, der Beifall verstummt. Erwartungsvolle Stille. Vom ersten Ton an fasziniert sein Können auf dem Instrument. Der Vortrag wirkt leicht und zugleich kraftvoll zupackend. Bei komplizierten wie bei einfachen Passagen fließt sein Spielen gleichermaßen mühelos und lässt die begeisterten Zuhörer alles um sie herum vergessen.

Diese Leichtigkeit, die wir bei den großen Solisten bewundern, ist keine angeborene Fähigkeit, sondern das Ergebnis von vielen Jahren konzentrierten Trainings. Aber andere trainieren nicht weniger. Woran liegt es, dass manche Schüler sich schnell entwickeln und andere langsamer?

Wir nennen es Talent, wenn ein Kind von klein auf besonders musikalisch ist und sehr gut hört. Wenn es instinktiv ungeschickte Bewegungsmuster vermeidet und stattdessen aus sich heraus Bewegungen findet, die effizient und organisch sind.

Aber vieles ist erlernbar!

Allen Menschen, die nicht zu diesem kleinen Kreis der Hochbegabten zählen, aber trotzdem ihr Instrument wirklich gut spielen wollen, ist dieses Buch gewidmet. Hier werden Anregungen gegeben und Wege aufgezeigt, wie ein Gespür für die individuell richtigen Bewegungen gefunden werden kann. Ausgehend von allgemein gültigen Grundlagen führt es den Studenten oder interessierten Laien Schritt für Schritt in eine Bewegungskultur, die ihn zu nicht geahnten Möglichkeiten auf seinem Instrument befähigt. Parallel dazu findet der Pädagoge zu allen Themenbereichen methodische Anregungen, um seine Schüler auf diesem Weg zu begleiten.

Dieses Buch kann man auf unterschiedliche Weise lesen. Liest man es in der vorgegebenen Reihenfolge, bauen die Texte im vorderen Teil ein Wissen auf, das hilft, die späteren Kapitel gut zu verstehen.

Es ist aber auch möglich, in einem späteren Kapitel einzusteigen, das vom Thema her vielleicht besonders anspricht, und sich die weiteren Kapitel über die im Text befindlichen Querverweise zu erschließen. Um den Text in dieser Lesart verständlich zu halten, sind einige kurze Textdopplungen nötig.

2Leichtigkeit?

Wenn wir Musik machen, sind immer unser Körper, unsere Seele und unser Geist an dieser Tätigkeit beteiligt. Je nach Art der Musik, die wir spielen, ist mal mehr der seelische Ausdruck, mal mehr unser rationales Verstehen, z. B. der formalen Zusammenhänge, im Vordergrund. Immer aber ist es unser Körper, von dem wir erwarten, dass er Bewegungen findet, die unsere innere Stimme zu Klang werden lassen. Diese Bewegungen sind je nach Instrumentengattung sehr verschieden. Ein Bläser muss die Umsetzung mit ganz anderen Körperbereichen vollziehen als ein Streicher.

In der Familie der Violinen sind viele Bewegungsabläufe trotz der Größenunterschiede ähnlich strukturiert. Alle Streicher haben die Aufgabe, mit beiden Armen unterschiedliche Bewegungen auszuführen. Sie sind nicht nur unterschiedlich, sondern haben auch noch eine grundsätzlich verschiedene Bewegungsqualität. Während die linke Greifhand auf eine extrem genaue, eher punktorientierte Bewegungsabfolge festgelegt ist, ist die Bewegungsart der Streichhand und des Streicharms dynamisch und situationsabhängig.

Daher ist es sinnvoll, das Thema Leichtigkeit gemeinsam für alle Streicher zu behandeln. In den seltenen Fällen, in denen eine Differenzierung nötig ist, wird dies in der Aufteilung Violine, Bratsche, Cello und Kontrabass angeboten.

Wenn es in diesem Buch um Leichtigkeit geht, ist eine Bewegungsqualität gemeint, die unabhängig vom musikalischen Ausdruck existiert. Sie entsteht in dem Moment, in dem sich unsere Vorstellung von dem, was wir mit unserem Instrument erreichen wollen, in optimale Bewegungen umsetzt.

Die Ansätze, die hier entwickelt werden, basieren auf wissenschaftlichen Erkenntnissen über unseren Körper, die hier kurz dargelegt werden sollen.

Wenn wir uns bewegen, unterstehen diese Bewegungen einer ständigen Kontrolle und Korrektur, die aus unserem Bewegungsgedächtnis und der direkten Wahrnehmung der Bewegung erfolgt. Die mögliche Korrekturgenauigkeit hängt davon ab, wie stark die beteiligten Muskeln belastet sind. Dies nennt man die Reizschwelle eines Muskels. Ein Experiment kann verdeutlichen, wie unser Körper auf muskuläre Anstrengung reagiert: Wenn wir einen Zementsack mit 40 kg Gewicht auf unseren Armen tragen und jemand stellt auf diesen Sack ein Glas mit Wasser, werden wir keinen Unterschied im Gewicht bemerken. Erst ab ungefähr 1 kg zusätzlichem Gewicht würden wir in der Lage sein, eine Differenz wahrzunehmen. Deutlich sensibler reagieren wir, wenn wir nur eine Untertasse auf unserer Hand tragen. Hier würden wir natürlich sofort das Glas Wasser spüren. Wir würden sogar merken, wenn jemand nur ein Teil des Wassers aus dem Glas in die Untertasse schüttete. An diesem Experiment wird deutlich, dass die Wahrnehmungsschwelle des Muskels von der Stärke der Belastung abhängig ist. Dies bedeutet für unsere Muskulatur, dass sie, um die geforderte Genauigkeit in den Bewegungen leisten zu können, einer möglichst geringen Belastung ausgesetzt werden sollte.

Die Muskeln des Menschen sind sehr flexible »Alleskönner«. Mit ihnen ist es uns möglich, filigranste Arbeiten auszuführen oder auch »Berge zu versetzen«.

Ein Muskel setzt sich aus vielen Fasern zusammen, die in kleineren oder größeren Fasergruppen zusammengefasst sind. Synapsen, die die Aktivität der einzelnen Muskelfasergruppen auslösen, sind über Nervenbahnen mit unserem Gehirn verbunden. Jeder Muskel hat eine große Gruppe von Synapsen, die nur sehr wenige Muskelfasern bündeln. Es sind oft nur zehn Fasern, zusammen noch nicht einmal einen Millimeter dick. Sie sind für die Feinmotorik zuständig. Soll der Muskel sich zusammenziehen, kann das Gehirn über die Synapse bei jedem einzelnen Muskelfaserbündel entscheiden, ob es als weitere Kraftquelle in die Bewegung dazugeschaltet werden soll. Dadurch werden ganz genau steuerbare Bewegungen möglich. Da diese so fein arbeitenden Muskelgruppen aber wegen ihrer geringen Masse wenig Kraft haben, kann diese sensible Steuerung nur in einem Muskel aktiv werden, der eine sehr geringe Grundspannung hat. Bei einer höheren Grundspannung haben sich die kleinen Muskelfaserbündel schon zusammengezogen und stehen für die Steuerung des Muskels nicht mehr zur Verfügung. Für sie springen dann wenige, aber dafür deutlich größere Muskelbündel ein, die die Bewegung zwar kraftvoller, aber auch schlechter steuerbar, also grobmotoriger werden lassen. So wird klar, warum es für uns so wichtig ist, in unseren Spielbewegungen der linken Greifhand die Grundspannung möglichst niedrig zu halten.

Die kleinen Muskelfaserbündel für die Feinmotorik haben neben der Möglichkeit, die Bewegungen besonders genau steuern zu können, auch noch eine weitere für uns sehr wichtige Eigenschaft: Sie haben im Vergleich zu den großen Muskelbündeln eine vielfach niedrigere Empfindlichkeitsschwelle. Das heißt, dass sie in der Lage sind, feinste Unterschiede in den Bewegungen zu realisieren. Dies ist für eine genau geführte Bewegung sehr wichtig, da wir eine Bewegung nie zweimal gleich ausführen. Gerade so komplexe Bewegungen wie z. B. Lagenwechsel, bei denen viele Gelenke und Muskelgruppen beteiligt sind, werden – egal, ob wir versuchen, sie in gleicher Weise zu wiederholen oder nicht – immer wieder neu zusammengesetzt. Jede kleinste Winkelveränderung in einem der vielen beteiligten Gelenke wird wahrgenommen und im Bewegungsaufbau berücksichtigt. Starten wir einen Lagenwechsel, vergleicht unser Bewegungsgedächtnis die momentane Bewegung mit früheren Versionen desselben Lagenwechsels und löst die nun noch nötigen Muskelbewegungen aus, die den Finger auf einen Bruchteil eines Millimeters genau am Zielton ankommen lassen. So ist es für uns möglich, aus immer neuen Situationen heraus eine exakte Bewegung zu vollziehen, vorausgesetzt, dass wir unserer Feinmotorik eine Chance geben zu arbeiten.

Diese biologische Gegebenheit ist für die Zielrichtung der in diesem Buch entwickelten Methodik von grundlegender Bedeutung. Wollen wir eine verlässliche, größtmögliche Genauigkeit in unserer Bewegungsführung erreichen, kann sie nur auf sehr feinen, ausschließlich die kleinen Muskelbündel ansprechenden Bewegungsstrukturen aufgebaut sein. So liegt die Frage nahe, wie wir uns und unsere Schüler in diese Richtung sensibilisieren können.

Die Bewegungen eines Menschen sind so individuell, und die Umstände, in denen sie stattfinden, so wechselhaft, dass sich eine Bewegung nie exakt wiederholen lässt. Sogar nach mehreren tausend Wiederholungen weicht jede Bewegung von den vorherigen ab und beinhaltet etwas, was bisher noch nie vorkam. Wie kann das sein?

Der menschliche Körper hat eine schier unendliche Zahl an Bewegungsmöglichkeiten: Nimmt man vereinfacht zwölf Hauptgelenke an (jeweils zwei Fuß-, Knie-, Hüft-, Schulter-, Ellenbogen- und Handgelenke) und ändert erst den Winkel eines Gelenks, dann den von zweien und so weiter, ergeben sich schon 2 hoch 12 Variationsmöglichkeiten. Nimmt man noch zusätzlich an jedem Gelenk drei Bewegungsebenen an und schließt noch eine rhythmische Abfolge ein, so ergeben sich allein schon (2 hoch 14) hoch 4 Möglichkeiten. Plant man nur eine Sekunde für eine Variante, so reichen schon 300 Millionen Jahre nicht aus, um alle auszuführen. Es liegt auf der Hand, dass es uns kaum gelingen kann, identische Bewegungswiederholungen auszuführen. Trotzdem ist es uns aber möglich, am Ende dieser verschiedenen Bewegungskombinationen am selben Punkt (z. B. in einem Lagenwechsel am selben Ton) anzukommen.

Experimente zeigen auch, dass eine Bewegung umso genauer wieder ins Ziel führt, je mehr Muskelgruppen sich sinnvoll beteiligen und je mehr die Ausführung der Bewegung sich auf verschiedene Teilbewegungen im Körper verteilt.

Das bedeutet, dass wir Bewegungsabfolgen am Instrument nicht dahingehend üben müssen, dass die Bewegung zum Ziel immer gleich und möglichst bewegungsreduziert ist (dies hat sich sogar als kontraproduktiv erwiesen), sondern, dass wir die Bewegungen auf eine möglichst leichte und lockere Weise ausführen. Dann können wir Bewegungen finden, die oft auf extrem feine Weise möglichst viele Bereiche unseres Bewegungsapparates mit einbeziehen. So kann unser dann sehr sensibel eingestelltes Bewegungsgefühl immer wieder ähnliche, aber doch neue Wege zum Ziel finden.

Diese Ausführungen, die ich als Musiker nur aus der Sicht des Laien leisten kann, werden im folgenden Kapitel von Prof. Dr. Albrecht May (Medizinische Universität Dresden) anatomisch genau erklärt. Sie sollen dem Leser, der sich noch fundierter mit den anatomischen Grundlagen der Muskelbewegungen beschäftigen will, wissenschaftliches Material dafür reichen.

Besonders wichtig ist mir dabei der mit Abbildungen versehene Teil, der die Verbindung von Becken und Armmuskeln zeigt, die vom Instrumentalisten und im Unterricht häufig zu wenig berücksichtigt wird.

3Bewegungsgrundlagen unseres Körpers

Gastbeitrag von Prof. Dr. Albrecht May

Die menschliche Bewegung ist zielgerichtet. Das bedeutet, dass sie nicht – wie in vielen Büchern vereinfacht dargestellt – als Impuls im Gehirn entsteht und dann mechanisch-mechanistisch als Programm abläuft, sondern dass sie nur als integriertes Phänomen von Aktivität, Wahrnehmung und Zielorientiertheit adäquat beschrieben werden kann.2 Man kann zwar einzelne Aspekte dieser Bildeinheit voneinander trennen, muss sich jedoch von der Vorstellung verabschieden, damit eine Bewegung verstanden zu haben.

Wenn wir uns in diesem Kapitel mit den Grundlagen der Bewegung auseinandersetzen, dann geschieht dies aus dem Blickwinkel der zielgerichteten Aktivität. Aspekte der Wahrnehmung finden sich in anderen Kapiteln.

Bewegung als Zeitgestalt

Wir beschreiben Bewegungen unseres Körpers häufig anhand bestimmter, definierbarer Muskeln und vergessen dabei meistens, dass solche Bewegungen im alltäglichen Leben nicht vorkommen. Ein einfaches Beispiel ist die Beugung des Armes im Ellenbogen, die landläufig mit dem zweiköpfigen Oberarmmuskel (Bizeps) assoziiert wird. Beobachtet man an sich selbst diese Bewegung genauer, wird man feststellen, dass hier nicht nur der Bizeps eingesetzt wird, sondern in der Regel eine ganze Gruppe von Muskeln am Oberarm sowie an der Schulter und eventuell am Rumpf. Scheinbar so einfache Bewegungen wie die Armbeugung entwickeln sich bei solch einer Betrachtung zu einem komplizierten Zusammenwirken unterschiedlichster Muskeln, das in seiner Komplexität nicht mehr beschreibbar ist.

Selbst unter isolierten, experimentellen Bedingungen kann eine Bewegung nicht zweimal identisch durchgeführt werden. Das liegt neben den schon genannten Bewegungsmöglichkeiten des Skeletts und seiner Gelenke auch am Aufbau und der Möglichkeit eines Muskels: Für eine bestimmte Kraft- bzw. Bewegungsdosis verwendet der Muskel eine definierte Anzahl von Muskelfasern, die auch bei größter Belastung niemals mehr als 70 % der Gesamtanzahl eines Muskels erreicht. Welche Fasern bei einer konkreten Bewegung aktiviert werden, hängt von verschiedensten Faktoren ab (z. B. wann wurde die Muskelfaser zuletzt eingesetzt, welche verschiedenen Fasertypen befinden sich an einer bestimmten Stelle im Muskel). Die Kombination erfolgt als »statistischer Zufall« und ändert sich während der Muskelaktivität laufend, um den einzelnen Muskelfasern eine Erholung zu ermöglichen. Eine konstante Position oder Bewegung ist auf dieser Ebene eine Illusion. Der Vorteil dieser Unruhe liegt in einer schnellen Reaktionsfähigkeit und Korrigierbarkeit; der Wechsel von Bewegung und Haltearbeit gelingt so fließend. Der Muskel passt sich in seiner Zusammensetzung der einzelnen Fasern an seine Beanspruchung an – eines der zentralen körperlichen Aspekte des Trainierens / Übens.

Die Muskeln stehen in enger Beziehung zum Nervensystem, das die Bewegung wahrnehmen und koordinieren kann. Die Bewegung selbst wird vom Muskel durchgeführt, der sich an einem vom Willen ausgemachten Ziel in der Zukunft orientiert. Da der Wille nur einen Impuls für die Bewegung geben kann, die einzelnen Muskeln diesen Impuls jedoch nicht selbst an die Gesamtsituation anpassen können, bedarf es eines komplexen Nervensystems, welches diese Koordination übernimmt.

Die Zielgröße für die Bewegung ist beim Streichinstrument auf der körperlichen Ebene die Lage der Finger am Griffbrett und am Bogen. Die Beherrschung der Finger ist dabei eine durch Üben erreichbare Fähigkeit, verschiedene Bewegungsmöglichkeiten auf das Ziel bezogen zu korrigieren. Dieser komplizierte Satz soll klarlegen, dass es beim Spielen eines Instruments nicht wie bei manchen anderen Trainings- oder Übungsaspekten um die Bildung von starren Bewegungsprogrammen geht (die generell als kritisch zu bewerten sind), sondern vielmehr um den virtuosen Einsatz der Koordinationsmöglichkeiten des Nervensystems. Die verschiedenen Bewegungsmöglichkeiten hängen von der Menge unterschiedlicher Muskeln ab, die eine Variation ihres Einsatzes erlauben. Eine daraufhin ausgerichtete Muskel-Lehre unterscheidet zweckmäßig zwischen eingelenkigen Muskeln, die jeweils klar definierbare Bewegungen ermöglichen, und mehrgelenkigen Muskeln, deren Aufgabe in der spielerischen Variation und Kombination mehrerer Gelenke liegt.

Je mehr eingelenkige Muskeln in eine Bewegung integriert werden, desto starrer (automatenhaft) wird der Bewegungsablauf und desto weniger ausgeprägt sind die Korrekturmöglichkeiten. Ziel einer fließenden Bewegung ist also die Einbeziehung möglichst vieler mehrgelenkiger Muskeln im Sinne von übergreifenden Muskelketten. Diese beginnen am Rumpf und ziehen bis zu den Finger-Endgliedern. Wird ein Gelenk durch übermäßige Muskelanspannungen der eingelenkigen Muskeln funktionell »blockiert«, dann können auch die mehrgelenkigen Muskeln nicht mehr effektiv agieren. Schon das Eigengewicht des Arms kann da störend wirken!

Strukturelemente der Bewegung

Der zur Verfügung stehende Bewegungsapparat gliedert sich in eine statische Komponente (Knochen und Gelenke), die Grundlage für die Gestalt und Beweglichkeit ist, und eine dynamische Komponente (Muskulatur), die aktiv Form und Bewegung immer wieder neu realisiert.

Die Skelettgestalt der Gliedmaßen (Arme und Beine) ist durch die Bildung eines Strahlenfächers charakterisiert, der über ein einzelnes, in viele Richtungen bewegliches Gelenk (Schulter bzw. Hüfte) am Rumpf seinen Ausgang nimmt und sich dann zunehmend auffächert. Mit der Zunahme der Gelenkzahl reduziert sich die Beweglichkeit der einzelnen Gelenke, sodass diese nur noch in einer Ebene bewegt werden können (z. B. Beugung und Streckung der Finger und Zehen). In der Summe der Einzelgelenke entsteht jedoch am Ende der Gliedmaßen ein feines, differenziertes Bewegungsfeld, das die strahlenförmigen (radiären) Tendenzen abbremst und eine Raumstruktur bildet: das eher starre Fußgewölbe bzw. die flexible Hohlhand.

Die Muskeln der Gliedmaßen kann man nach ihrer Anordnung in zwei Gruppen einteilen: Die eine Gruppe zeichnet sich durch einen langen Verlauf über mehrere Gelenke aus; sie sind besonders geeignet, Kräfte zu verteilen und harmonische Bewegungen zu führen (lila Verbindungen in Abb. 1). Die zweite Gruppe besteht aus eher großen Muskeln, die jeweils nur über ein Gelenk ziehen; sie sind besonders geeignet zur Kraftentwicklung und zum Stabilisieren des Gleichgewichts (rote Verbindungen in Abb. 1). Dieses Grundprinzip findet sich bei allen Gliedmaßen, wobei die eingelenkigen Muskeln zu den Fingern und Zehen hin abnehmen.

Abbildung 1: Schema der Muskelverbindungen einer Gliedmaße (rot: eingelenkige Muskeln; lila: mehrgelenkige Muskeln)

Die Muskelketten der oberen Gliedmaßen

Beobachtungen beim Menschen zeigen, dass es zwei grundsätzlich gegenläufig angelegte Muskelketten am Arm gibt. In ihrer Beschreibung von der Hand zum Rumpf beginnt die eine in der Handinnenfläche und zieht über die Beugerseite des Unterarms an die Vorder- und Innenseite des Oberarms und an die vordere Brustwand (ventrale Muskelkette). Die andere beginnt am Handrücken und zieht über die Streckerseite des Unterarms an die Hinter- und Außenseite des Oberarms und von dort zum Rücken (dorsale Muskelkette). Die großflächig angelegten und oberflächlich liegenden mehrgelenkigen Muskeln vom Rumpf zum Arm deuten auf eine wichtige Integration dieser Muskeln bei der Armbewegung hin.

Dorsale Muskelkette (Abb. 2)

Der breite Rückenmuskel ist bis an den oberen Beckenkamm ausgebreitet. Damit kann eine Bewegung aus der Beckenregion vom Rumpf her die dorsale Muskelkette des Arms beeinflussen und regulieren. Umgekehrt ist eine gestörte Beckenmuskulatur in der Lage, bis in die Fingerbewegung störend auszustrahlen.

Der Ellenbogenstrecker (Trizeps3) ist mit seinem langen Kopf an das Schulterblatt angebunden und integriert damit besonders den mittleren Anteil des Trapezmuskels in diese Bewegung, d. h. die unteren Hals- und oberen Brustwirbel.

Mit einer Überschneidung am hinteren Ellenbogen verbindet sich der Trizeps mit den Handgelenks- und Fingerstreckern. Die Sehnen der letztgenannten Muskeln ziehen über den Handrücken flächig an die Fingerrückseite und bewirken eine summierte Streckung aller Fingergelenke.

Die Streckung des Daumens ist durch die Anordnung des Muskelverlaufs eigenständig und weniger intensiv in die dorsale Muskelkette integriert.

Abbildung 2: Die dorsale Muskelkette des linken Arms am Cello. 1 = breiter Rückenmuskel; 2 + 7 = Köpfe des Ellenbogenstreckers (Trizeps); 3 = Fingerstrecker; 4 = langer Daumenstrecker; 5 = Trapezmuskel; 6 = großer Rundmuskel; 8 + 9 = Handgelenksstrecker.

Ventrale Muskelkette (Abb. 3 und 4)

Die Fingerbeuger sind dreifach geteilt: Die Beugung des Grundgelenks wird im Wesentlichen von den kurzen Zwischenknochenmuskeln der Hand geführt, das Fingermittelgelenk vom oberflächlichen Fingerbeuger, das Fingerendgelenk vom tiefen Fingerbeuger. Da die langen Sehnen der beiden letztgenannten Muskeln vom Unterarm aus über mehrere Fingergelenke ziehen, unterstützen sie auch deren Beugung mit. Bei der linken Hand ist besonders die Beugung im Grundgelenk aktiv; damit spielen die kleinen Handmuskeln eine wichtige Rolle beim Aufsetzen der Finger. Die leichte Bewegung der Fingerbeuger im Ellenbogengelenk wird vom Bizeps aufgenommen und zur Schulter weitergeführt. Der große Brustmuskel bildet die direkte Verbindung vom Rumpf zur ventralen Muskelkette des Armes. Allerdings ist dieser Muskel stärker in das Muskelsystem des Rumpfes integriert als der breite Rückenmuskel auf der Rückenseite. So bildet besonders der untere Anteil des großen Brustmuskels mit dem oberen Anteil des inneren schrägen Bauchmuskels eine quer über die Mitte laufende Bewegungsachse, die zum gegenseitigen Beckenkamm zieht. Insofern ist auch an der Vorderseite eine funktionelle Verbindung zum Becken gegeben.

Abbildung 3: Die ventrale Muskelkette des linken Arms an der Violine. 1 = großer Brustmuskel; 2 = Ellenbogenbeuger (Bizeps); 3 = Fingerbeuger; 4 = Oberarmmuskel; 5 = Oberarmspeichenmuskel; 6 + 7 = Handgelenksbeuger. Die Sehnen der Fingerbeuger sind in dieser Darstellung an der Oberfläche eigentlich nicht sichtbar (deshalb gestrichelt).

Abbildung 4: Ventrale Muskelkette am Rumpf. 1 = großer Brustmuskel; 2 = äußerer schräger Bauchmuskel; 3 = innerer schräger Bauchmuskel; 4 = gerader Bauchmuskel (Rektus); 5 = kleiner Brustmuskel. Alle Muskeln existieren parallel auf beiden Seiten, sind jedoch nur auf einer Seite hier skizziert. Großer Pfeil = funktionelle Verbindung von 1/2 und 3; kleiner Pfeil = funktionelle Verbindung von 4 und 5.

Einfluss des Sitzens auf die Armbewegungen

Bei einem Instrument, das im Sitzen gespielt wird, kommen die Bewegungsimpulse vor allem aus dem Becken: Das Becken wird im Sitzen (im Gegensatz zum Stehen) unmittelbar als Kontaktfläche eingesetzt und projiziert damit die im Feld der Schwerkraft verankerte Balance auf den unteren Rumpf (und weniger auf die Füße). Die Kontaktfläche soll jedoch in einem schwebenden Zustand gehalten werden, um den Bewegungsimpuls für die Arme leicht auslösen zu können. Bei einer funktionellen »Versteifung« des Beckens ist eine Impulsentwicklung aufwendiger und damit leichter blockiert.

Abbildung 5: Die mehrgelenkigen, vom Rumpf ausgehenden Muskeln des Beins (Blick von vorne; gestrichelte Bereiche sind hinter der angedeuteten Knochenstruktur). 1 = Lendenmuskel (Psoas); 2 = Birnenmuskel (Piriformis); Lwl = erster Lendenwirbelkörper.

Die »schwebende Beckenhaltung« wird über die Beine aufgebaut und reguliert. Dabei wird ein größerer Teil der Schwerkraft auf die Füße gelegt und das Becken dadurch entlastet. Diese Sitzweise unterscheidet sich daher vom »normalen« Sitzen, bei dem das Hauptgewicht auf dem Becken ruht und die Beine leicht angehoben werden können. Die schwebende Sitzweise ähnelt der ersten Phase beim Aufstehen, bevor die Streckermuskulatur zu einer (reflektorischen) Bewegung aktiviert wird. In dieser Phase erhöht sich durch Anspannung des großen Lendenmuskels (Psoas) die Spannung der vorderen Oberschenkelmuskulatur, was wiederum den Fuß etwas stärker auf den Untergrund drückt (Abb. 5). Durch eine gespreizte Stellung der Oberschenkel (für das Cello gleichzeitig eine Stabilisierung des Instruments) wird der Birnenmuskel (Piriformis) aktiviert. Es kommt damit zu einer harmonischen Anspannung von (partiell) gegensinnig wirkenden Muskeln, sodass die schwebende Haltung nicht zu einer Überbeanspruchung in eine Richtung wird.

Die Anpassung der Beine auf solch eine haltende Schwebe zeigt sich in der Lage und Richtung der dazugehörigen Muskeln: durch die Stabilisierung der Beckenknochen an das Rumpfskelett erklärt sich der kompakte, tiefliegende Verlauf der beiden genannten Muskeln (Psoas und Piriformis) im Gegensatz zu den entsprechenden Muskeln der oberen Gliedmaße (breiter Rückenmuskel und großer Brustmuskel), die flächig ausgebreitet an der Oberfläche liegen.

Bei der schwebenden Sitzweise ist neben dem Kontakt der Beine auch auf die ausgewogene Kippung des Beckens zu achten. Fällt das Becken zu stark nach hinten, entsteht ein Rundrücken; wird es übertrieben nach vorne gestellt, bildet sich ein Hohlkreuz.

Werden die Füße nicht zum Halten, sondern nur zum Ausbalancieren eingesetzt, verlagert sich die gesamte Stabilisierung auf das Becken und eine schwebende Haltung ist nicht möglich. Dies passiert leicht bei Geige und Bratsche, bei denen die Beine nicht mit dem Instrument in Beziehung stehen – hier muss deshalb bewusst an ein »schwebendes Sitzen« gedacht werden. Eine nach vorne abschüssige Sitzfläche (Keilkissen) führt zwingend zu einem intensiveren Einsatz der Füße und kann das Finden einer richtigen Sitzhaltung unterstützen.

Differenzierter Muskeleinsatz zwischen links und rechts

Für die Führung der Bogenhand ist das weiche Abwechseln zwischen ventraler und dorsaler Muskelkette entscheidend. Die Ketten werden dabei in ihrer gesamten Länge eingesetzt: Beim Abstrich führt die dorsale Muskelkette über die Handgelenksstrecker, den Trizeps und den Rückenmuskeln; beim Aufstrich wird die ventrale Muskelkette betont (Beugemuskeln und Brust-Bauch-Bereich). Die Finger dienen bei der Grundbewegung zum elastischen Ausgleich und werden nur ausnahmsweise als aktive Bewegungskomponente eingesetzt (z. B. auch beim Finger-Staccato oder Martellato). Das Schultergelenk der Bogenhand wird bei den verschiedenen Streichinstrumenten sehr unterschiedlich eingesetzt. Bei Geige und Bratsche begleitet das Schultergelenk aus einer mehr oder weniger stark vom Rumpf abgespreizten Lage (Einstellung der Saitenhöhe aktiv mit der Schulter) die Bewegungen überwiegend passiv. Bei Cello und Bass wird die Schulterbewegung (überwiegend ein Anziehen und Abspreizen vom Körper) aktiv eingesetzt. Zur Bogenspitze hin wird vor allem der Schultermuskel (Deltoideus) benötigt, am Frosch genügt die Schwerkraft. Bei der Geige und Bratsche kann es sogar notwendig werden, aktiv das Bogengewicht über die Schultermuskulatur wegzunehmen. Beim Spielen der hohen Saiten von Cello und Bass ist die Schulterbeteiligung größer als bei den tiefen Saiten.

Bei der Greifhand führen die Fingerstrecker die Bewegung über die gesamte dorsale Muskelkette; die Beugebewegung erfolgt überwiegend lokal im Grundgelenk (auch die ventrale Muskelkette ist in die Gesamtbewegung eingebunden). Das Handgelenk stabilisiert die Fingerbewegungen und ermöglicht dadurch eine lineare Bewegung aus dem Ellenbogen beim Lagenwechsel. Diese Muskeln haben somit bei der linken Hand mehr gemeinsam eingesetzte Haltefunktion (und nicht abwechselnde Bewegungsfunktion wie bei der rechten Hand). Die linke Schulter dient zum elastischen Ausgleich der Bewegungen und ist nur beim Übergang in die hohen Lagen gefordert. Bei Geige und Bratsche ist dies ein übermäßiges Heranführen des Ellenbogens an die Vorderseite des Rumpfes, bei Cello und Bass eine Anhebung des Ellenbogens und damit ein Abspreizen des Schultergelenks.

Wichtig für den fließenden Wechsel der Muskelketten auf beiden Seiten ist ein am Rumpf locker aufgehängtes Schultergelenk, das besonders nicht nach seitlich vorne verrutscht sein sollte, was häufig bei einer brustmuskelbetonten Haltung des Oberkörpers passiert. Diese »schlaffe« Haltung hat ihr Grundproblem meistens im Becken (Art des Sitzens) und den unteren Wirbelsegmenten. Eine Aufrichtung dehnt den Brustmuskel und bringt das Schultergelenk in eine mittlere Frontalebene und das Schulterblatt in eine ausgewogene dorsale Lage. Bei den hohen Streichern Geige und Bratsche wird eine einseitige Schulterbelastung durch das Halten des Instruments leicht provoziert. Macht man sich diese Anspannung nur isoliert bewusst und positioniert die Schulter »richtig«, sollte man unbedingt darauf achten, dass sich das Schulterblatt durch eine Flügelbewegung nicht unbewusst vom Rumpf abhebt und damit die Fehlspannung von der Schulter auf den Rücken verlagert wird.

Einfluss der Armdrehung auf die Muskelketten

Neben der Beugung und Streckung und den dazugehörigen Muskelketten gibt es an der oberen Gliedmaße noch eine weitere Bewegungskomponente, nämlich die Einwärts- und Auswärtsdrehung des Unterarms und damit der Handflächen.

Für die Einwärtsdrehung (eingesetzt bei der Bogenhand von Geige, Bratsche und Cello sowie beim französischen Bassbogen, außerdem bei der Greifhand von Cello und Bass) stehen zwei eigene Muskeln am Unterarm zur Verfügung, die unabhängig von den Muskelketten eingesetzt werden. Bei einer solchen Handstellung gibt es also keine Beeinträchtigung. Anders ist dies bei der Auswärtsdrehung: Hier gilt es von anatomischer Seite zu berücksichtigen, dass es zwar auch einen eigenen Muskel für diese Bewegung gibt, dieser jedoch nur bei gestrecktem Arm (also beim deutschen Bassbogen) eingesetzt werden kann. Bei Beugung im Ellenbogen verliert dieser Muskel seine Drehmöglichkeiten. Als Ersatz (bei der Greifhand von Geige und Bratsche) übernimmt der Bizeps, der auch die Ellenbogenbeugung führt, die Drehung. In diesem Fall ist die ventrale Muskelkette jedoch in die Drehbewegung einbezogen und damit nicht mehr unabhängig einsetzbar. Dies bedeutet eine weitere »Belastung« der Brustmuskulatur und damit der Schulterstellung. Beim deutschen Bassbogen wird die Verbindung der Auswärtsdrehung mit der Beugemuskulatur zur leichteren Kraftentwicklung positiv eingesetzt.

Bei der linken Hand der hohen Streicher sollte die Drehbewegung nicht im Bizeps isoliert steckenbleiben, sondern über die Schulter an den Rumpf weitergeführt werden (Beweglichkeit des Ellenbogengelenks unter dem Instrument, bzw. des Instruments am Schlüsselbein zur Mitte oder Seite).

Weiterführende Literatur

Frederik Jacobus Johannes Buytendijk: Allgemeine Theorie der menschlichen Haltung und Bewegung. Springer Verlag, 1956.

Friedrich Edelhäuser: »Intentionalität und Bewegung«. In: L’homme machine? Anthropologie im Umbruch. G. Olms Verlag, 1998.

Christian Albrecht May: »Bewegungsapparat«. In: Taschenlehrbuch Anatomie. Thieme Verlag, 2011.

Robert Paul Narcessian: »Die menschliche Bewegung ist mehrgelenkig ausgerichtet«. In: Gesundheitssport und Sporttherapie 3/2001: S. 129–131.

Viktor von Weizsäcker: »Der Gestaltkreis«. In: Gesammelte Schriften in zehn Bänden, Bd. 4. Suhrkamp Verlag, 1997.

4Spielbewegungen ohne Instrument

Die ausführlichen anatomischen Erläuterungen machen genau das verständlich, womit wir uns bei der Haltung am Instrument beschäftigen müssen: mit einer bewegungsbereiten Körpermitte. Sie ist die Grundlage für gute Bewegungen. Vom Becken aus laufen die Muskelketten über den Rücken und die Brust in die Arme und bis in die Fingerspitzen (siehe voriges Kapitel, Seiten 16 und 17). Der so entstehende Bewegungsfluss lässt uns eine Harmonisierung aller beteiligten Gliedmaßen und Gelenke erreichen.

Wie können wir diesen Bewegungsfluss bewusster wahrnehmen?

Wenn wir unser Instrument spielen, berühren wir das Instrument und den Bogen mit unseren Händen. In diesem Prozess ist unsere Körperwahrnehmung hauptsächlich in diesen Kontaktpunkten, in unseren Fingerspitzen und ihren direkt anschließenden Gelenken konzentriert. Je weiter wir uns von diesen Schwerpunkten der Wahrnehmung entfernen, desto mehr zieht sich das Bewusstsein zurück. Die »Bewegungen hinter den Bewegungen« werden aus unserer biologischen Anlage heraus intuitiv so vom Körper gesteuert, dass die Hände möglichst optimal arbeiten können. In unseren alltäglichen Verrichtungen sind wir gewohnt, unserer Händigkeit folgend die nötigen Bewegungen so auf unsere Gliedmaßen aufzuteilen, dass ein Bewegungsfluss entsteht (siehe auch Seite 48).

Die Bewegungen, mit denen wir unser Instrument spielen, sind sehr viel komplexer. Beide Hände und Arme müssen sich in verschiedenen Richtungen, mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und mit einem differenzierten Kraftaufwand unabhängig, aber doch miteinander koordiniert, bewegen. Dazu kommt die Aufgabe, die genetisch veranlagte Gesetzmäßigkeit unserer Händigkeit konstruktiv in diese komplexe Bewegungsorganisation zu integrieren (siehe auch Seite 51). Wahrlich kein leichtes Unterfangen, das viele Jahre intensives Training benötigt!

Von den Händen aus gesehen, fließen diese Bewegungen im Schultergürtel zusammen. Leider hat die Natur es so eingerichtet, dass sich durch Stress hervorgerufene Spannungen in unserem Körper vor allem im Nackenbereich niederschlagen. So kommt es, dass sich unsere Bewegungen weniger frei anfühlen, wenn wir in einer Vorspielsituation nervös sind. Uns »sitzt die Angst im Nacken«, unser Schultergürtel hat eine höhere Grundspannung und alle Bewegungen sind dadurch mühsamer und grobmotorischer.

Die Bewegungsketten, die zwischen Becken und Fingerspitzen hin- und herlaufen möchten, werden durch diesen Spannungsgürtel unterbrochen. Beide nun getrennte Bereiche bewegen sich dadurch weniger organisch, und besonders die Muskeln des Oberkörpers, die ja nicht direkt in die Spielbewegungen involviert sind, neigen dazu, eine unnötig hohe Spannung aufzubauen. So ist es sinnvoll, durch ein bewusst bewegungsbereit gehaltenes Becken, oder sogar durch in die Spielbewegung eingebundene Beckenbewegungen, diesen negativen Auswirkungen der Vorspielsituation entgegenzuwirken. Unser Becken kann zu einem Bewegungszentrum, zu einem positiven Impulsgeber werden, der uns hilft, die Muskelketten geöffnet zu lassen und unsere Bewegungen – trotz Nervosität – freier und geschmeidiger zu halten.

Wenn wir nun diese Bewegungen deutlicher und damit auch bewusster wahrnehmen möchten, liegt es nahe, den Tastreiz, der von unseren Fingerkuppen ausgehend unsere Wahrnehmung von diesen Basisbewegungen wegzieht, abzustellen.

Beckenbewegungen als Auslöser einer freien Bewegung

Wir legen unser Instrument und den Bogen aus der Hand und nehmen unsere gewohnte Spielhaltung ein. Nun stellen wir uns vor, dass wir ein gut bekanntes Stück spielen und versuchen, die Spielbewegungen mit unseren Händen und Armen in der Luft zu imitieren. Dass wir dies nur ungefähr realisieren können, muss uns nicht weiter beschäftigen. Dafür werden wir gleich merken, dass die Möglichkeit, unseren Oberkörper und das Becken wahrzunehmen, deutlich gestiegen ist. Die Schritte, in organische, sich ganz richtig anfühlende Bewegungen hineinzufinden, sind sehr individuell und daher hier schwer zu beschreiben. Der Übende sollte viel ausprobieren, um ein Gefühl für die Becken-/Oberkörperbewegungen zu entwickeln. Dabei ist es günstig, immer wieder Instrument und Bogen in die Hand zu nehmen und die gleichen Passagen, die vorher »trocken« bewegt worden waren, nun wie gewohnt mit dem Instrument, aber mit einer in den Oberkörper geöffneten Bewegungswahrnehmung zu spielen. So können Unterschiede schnell deutlich werden.

Grundsätzlich ist es sehr zu empfehlen, begleitend zu dem individuellen Üben am Instrument, etwas aus dem großen Angebot der ganzheitlichen Schulungswege wie Feldenkrais, Alexandertechnik, Yoga usw. zu praktizieren. Erfahrungsgemäß steigert dies die Körperwahrnehmung sowie die Sensibilität für den Verlauf der Bewegungsfunktionen, deren Koordinationsfähigkeit und Effizienz und lässt uns neue Bewegungen in einem unbelasteten Umfeld entdecken. Für mich persönlich bietet die Feldenkraismethode optimale Entwicklungsmöglichkeiten: Sie arbeitet mit feinmotorischen Bewegungen, die am Ende einer Lektion eine Selbstregulation entstehen lassen, die einer idealen Bewegung nahekommt.