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Hanna Berghoff

NUR BIS ANS ENDE DER NACHT

Aus der Reihe
Zärtliche Stunden

© 2016

édition el!es

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Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-171-1

Coverillustration:
© Mariia Pazhyna – Fotolia.com

»Nein, nein, nein, ich kann einfach nicht mehr!« Was ich sonst nie gewagt hatte – endlich sprach ich es aus: Ich hatte so viel Arbeit, dass ich bald zusammenbrach, und immer noch bürdete man mir mehr auf.

Alle meine Kolleginnen und Kollegen schauten mich erstaunt an. So hatten sie mich noch nie erlebt. Sie kannten mich nur als braves, fleißiges Arbeitstier ohne eigene Bedürfnisse.

Das war mein Problem: Ich war zu gutmütig. Sobald jemand kam und mich darum bat, etwas zu tun, versuchte ich mit allen Mitteln, diese Bitte zu erfüllen. Seit meiner Kindheit war mir eingepflanzt worden, dass die Bedürfnisse der anderen immer wichtiger waren als meine eigenen. Aber jetzt, mit vierunddreißig Jahren, ging es plötzlich nicht mehr.

Seit neun Jahren arbeitete ich für diese Versicherung, und ich kam mir vor, als gehöre ich zum Inventar. So wurde ich zumindest behandelt. Ein Möbelstück, das weder Schlafbedürfnisse noch sonstige Wünsche an das Leben hatte.

Überstunden? Ja bitte! Christiane Merdinger wird’s schon machen! Die anderen hatten Urlaub, ich hielt die Stellung; die anderen hatten Kinder, die auch mal krank waren oder sonst irgendwie versorgt werden mussten: ich war kinderlos und deshalb immer verfügbar. So dachten wohl die meisten.

Und hatte ich nicht ein schönes Leben? Wie sagte mein Kollege Klaus immer? »Mensch, Christiane, hast du’s gut! Du kannst dein Geld ganz allein für dich ausgeben, brauchst dich um niemand zu kümmern.«

Ja, das stimmte natürlich, aber die Kehrseite der Medaille? Wer kümmerte sich denn um mich? Eben auch niemand.

Ich hatte kaum gemerkt, wie ich in die Routine hineingerutscht war. Aber plötzlich kam ich nicht mehr heraus. Neben meiner Arbeit als Sachbearbeiterin in einer Versicherung, die zwar nicht sehr viel Kopf, dafür aber umso mehr Zeit verlangte, verblassten alle sozialen Kontakte. Ich machte Überstunden und sagte die Treffen mit meinen Freunden und Freundinnen immer öfter ab. Nur vorübergehend, dachte ich. Das kann ja nicht immer so weitergehen.

Aber es ging so weiter. Ich hatte mich darauf eingelassen, und plötzlich war es selbstverständlich, dass ich um acht Uhr abends noch im Büro saß, während die anderen schon zu Hause vor dem Fernseher die Füße hochlegten oder was sie sonst so taten.

Ich arbeitete durchaus gern, und so fiel mir nicht auf, dass ich immer mehr übernahm, was die anderen abschieben wollten, weil sie sich der Arbeit nicht gewachsen fühlten oder – und das gab es mehr als genug – weil sie einfach zu faul dazu waren. Es gab Kollegen, die schon dreißig Jahre auf die Pensionierung warteten und dementsprechend wenig taten. Und ich – jung und mit frischem Elan, wie ich war – kam ihnen gerade recht, um ihnen auch noch das Wenige abzunehmen, was sie tun mussten.

Das wäre ja alles noch gegangen, wenn ich für meinen Einsatz durch entsprechende Gehaltserhöhungen oder Beförderungen belohnt worden wäre. Aber so war es nicht. Eine einfache Sachbearbeiterin schien weder ein ordentliches Gehalt noch eine Beförderung verdient zu haben.

Wie einen Schlag ins Gesicht empfand ich es, als dann mein Chef auch noch die Bezahlung der Überstunden reduzieren wollte. Zwar sollte ich weiterhin Überstunden machen, aber die schon angesammelten Überstunden sollten zur Hälfte gestrichen werden. Ohne Bezahlung. Ich sollte unterschreiben, dass ich zum Wohle der Firma darauf verzichtete.

Das war das erste Mal, dass ich zumindest leise protestierte. Dennoch ließ ich mir diese Verfahrensweise aufdrücken, weil ich mittlerweile Angst um meinen Job hatte. Das, was mir früher eine gewisse Freiheit garantiert hatte, war verloren gegangen. Wenn ich früher gedacht hatte, dass ich immer einen anderen Job finden würde, dachte ich jetzt: Wer weiß, ob dich noch jemand nimmt, nachdem du schon so lange immer nur dieselbe Arbeit gemacht hast. Und dann noch nicht einmal eine besonders qualifizierte.

Also verstrickte ich mich immer mehr in die Abhängigkeit von einem festen Job, der mir noch nicht einmal gefiel. Je länger ich ihn ausübte, desto weniger.

Jahr um Jahr ging das so weiter, und wie ein wirkliches Möbelstück setzte ich Staub an. Und ich staubte mich noch nicht einmal mehr ab . . . In meinem Kleiderschrank gab es immer die gleichen Ensembles, die fürs Büro geeignet waren. Die etwas auffälligeren Kleidungsstücke, die ich früher noch einmal gern auf einer Party oder beim Ausgehen getragen hatte, hatte ich mittlerweile zur Altkleidersammlung oder in den Second-Hand-Shop gegeben, und ich kaufte mir nur dann etwas Neues, wenn ein altes Kleidungsstück kaputtging. Nur so aus Spaß, wie ich es früher getan hatte, ging ich nie mehr einkaufen.

Seit dem Gespräch mit meinem Chef wegen der Überstunden wurde ich immer öfter krank. Oh nein, ich saß nicht zu Hause, machte absichtlich ›blau‹ und genoss es! Ich wurde wirklich krank. Wie die meisten hatte ich über die Jahre so einmal jährlich meine Grippe gehabt und vielleicht noch einmal eine andere Kleinigkeit. Jedenfalls war ich nicht sehr oft krank gewesen und noch weniger oft war ich zu Hause geblieben. Die Arbeit war ja sooo wichtig! Ich konnte doch nicht einfach drei Tage zu Hause bleiben und meine Krankheit auskurieren, dann wäre ja die Firma zusammengebrochen!

In gewisser Weise war es auch in meinem eigenen Interesse, denn während ich abwesend war, übernahm niemand meine Arbeit. Das hieß, ich kam an einen überquellenden Schreibtisch zurück, der mich erst einmal wieder ein paar Tage zu Überstunden zwang, die auch nicht gerade zu meiner endgültigen Gesundung beitrugen. So schleppte ich mich mit einer ganz einfachen Erkältung oft wochenlang herum, wurde immer missmutiger, versuchte das aber meinen Kollegen nicht zu zeigen – denn so etwas tut man nicht, nicht wahr? So war ich erzogen – und schaffte die Arbeit vor lauter Schwächegefühl kaum. Wenn ich nach Hause kam, halfen mir nur noch ein heißes Bad und eine Menge Tabletten, damit ich schlafen konnte. Den Schlaf der Erschöpfung.

Eines Samstagsvormittags ging ich dennoch früh in die Stadt, weil ich ein paar neue Schuhe brauchte. Ich wollte den Rummel der üblichen Samstagseinkäufer vermeiden, und deshalb war ich schon um neun Uhr auf der Haupteinkaufsstraße. Es war noch relativ ruhig, und ich schlenderte von Schuhgeschäft zu Schuhgeschäft.

Gerade hatte ich in einem der üblichen Ausstellungsregale vor der Tür eines Geschäftes einen Schuh gefunden, der mich interessierte, und hielt mich mit einer Hand am Gitter fest, während ich mit der anderen meinen rechten Schuh auszog, um das Modell anzuprobieren – ich sah wahrscheinlich aus wie ein Storch auf einem Bein –, als mich jemand von hinten ansprach:

»Ja, Christiane, bist du’s wirklich?«

Ich fiel fast um, während ich versuchte, mein Gleichgewicht zu halten und mich gleichzeitig nach derjenigen umzudrehen, die mich angesprochen hatte. Ich schaffte den Balanceakt nicht und stand dann mit einem nicht beschuhten Fuß auf der Straße, während ich in der linken Hand meinen alten Schuh und in der rechten den neuen hielt, den ich hatte anprobieren wollen.

»Oh, das tut mir leid!«, lachte Sabine, eine alte Bekannte aus Party-Tagen, die ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatte.

Ich kam mir sehr komisch vor, wie ich da so stand, eher eine Witzfigur als eine erwachsene Frau. Ich ließ meinen alten Schuh aus der Höhe, auf der ich ihn hielt, einfach auf die Straße fallen und schlüpfte etwas ungeschickt hinein.

»Ich freue mich, dich zu sehen«, fuhr Sabine freudestrahlend fort, während sie mich beim Balancieren beobachtete. »Wie geht es dir denn?«

Ich schämte mich schrecklich, dass ich mich so tolpatschig angestellt hatte, und wollte schon stottern, dass es mir gut gehe – wie man halt so üblicherweise unehrlich auf diese Art von Frage antwortet –, aber im letzten Moment entschied ich mich anders. »Nicht so besonders«, antwortete ich deshalb wahrheitsgemäß.

»Ja, so siehst du auch aus«, erwiderte sie unerwartet direkt. »Wie wäre es mit einem Kaffee? Ich wollte gerade frühstücken gehen.«

»Ich frühstücke eigentlich nie«, stammelte ich ein wenig überrumpelt. »Ich wollte mir nur ein paar Schuhe kaufen, und dann vielleicht zu Hause . . .« Ich war so abgenabelt von den normalen Umgangsformen zwischen Menschen, dass ich zuerst einmal eine Ausweichmöglichkeit suchte, statt mich über die unerwartete Einladung zu freuen.

Sabine unterbrach mich. »Entschuldige«, sagte sie. »aber du siehst mir wirklich danach aus, als ob du einen Kaffee gebrauchen könntest – oder besser noch: einen Schnaps.«

Einen Schnaps um halb zehn Uhr morgens? Ich sah sie wohl ziemlich entsetzt an, aber sie ließ sich nicht beirren.

»Ich gehe sowieso ins Café Schmidt. Komm doch mit. Ich würde mich wirklich freuen«, beharrte sie. »Wäre es nicht schön, mal wieder über die alten Zeiten zu quatschen? Wir haben uns ja ewig nicht gesehen.« Sie strahlte, als ob sie mir ein unwiderstehliches Angebot machen würde, das ich einfach nicht ablehnen konnte.

»Ja, fast neun Jahre«, nickte ich fast erstaunt, als mir plötzlich klar wurde, dass es wirklich schon so lange her war. Ich hatte es gar nicht mitbekommen vor lauter Arbeit.

»Eben, eine lange Zeit«, stimmte Sabine mir zu. »Da haben wir uns sicher viel zu erzählen.« Sie lachte. »Was stehen wir eigentlich hier auf der Straße herum? Im Café ist es doch viel gemütlicher. Oder hast du noch etwas anderes vor?«

Das konnte ich ja nicht gerade behaupten, und Sabines Enthusiasmus überfuhr mich auch etwas. Ich war so etwas nicht mehr gewöhnt. Also schüttelte ich ganz unwillkürlich den Kopf.

»Na dann«, beschloss Sabine entschieden und hakte mich unter, »gehen wir doch ins Café.«

Sie zog mich mit sich, ohne dass ich mich wehren konnte.

Als wir im Café angekommen waren, bestellten wir uns beide Frühstück, und dann begann Sabine sofort, mich auszufragen. Sie war schon immer ziemlich neugierig gewesen, wie ich mich erinnerte, aber eigentlich wusste ich nicht viel über sie. Allzu enge Freundinnen waren wir nie gewesen. Wir hatten uns eigentlich hauptsächlich in Discos und auf Partys getroffen, wenn noch Dutzende andere dabei waren.

Jetzt fragte sie mich: »Na, komm, erzähl schon, was hast du so gemacht die ganze Zeit?«

Ich zuckte die Schultern. »Ach, eigentlich nichts. Nichts Wichtiges. Ich arbeite seit fast neun Jahren in einem Büro und mache jeden Tag immer dasselbe. Noch nicht einmal etwas Anspruchsvolles. Ich hake einfach nur die Anträge der Versicherungskunden ab. Das ist wohl kaum etwas, mit dem man angeben kann.«

»Als Angeberin habe ich dich auch nie empfunden.« Sabine blickte ernster als zuvor, als hätte ich ihrer guten Laune plötzlich einen Dämpfer versetzt.

»Tja.« Ich seufzte wieder. Die Erinnerungen an die alten Zeiten begannen nun langsam zu erwachen. »Das war eine schöne Zeit damals. Da konnten wir alle noch tun, was wir wollten . . .«

»Und jetzt nicht mehr?«, fragte Sabine sofort zurück.

»Nein, jetzt nicht mehr. Damals waren wir jung, jetzt sind wir . . .«

»Alt?«, fragte Sabine. »Ich glaube, man ist so alt, wie man sich fühlt. Der Spruch stimmt. Und ich fühle mich keinen Tag älter als vierunddreißig. Älter bist du doch auch nicht, oder?«

Sie sah mich so zweifelnd an, dass ich daraus entnehmen musste, dass ich wohl älter aussah. Sabine wirkte eher jünger. Sie hätte noch gut für unter dreißig durchgehen können.

»Nein.« Ich schüttelte etwas resigniert den Kopf. »Älter bin ich nicht. Auch wenn ich vielleicht so aussehe.«

»Ach komm!« Sabine stupste mich freundschaftlich gegen den Arm. »So habe ich das nicht gemeint. Du siehst nur einfach etwas mitgenommen aus. Wahrscheinlich hast du zu viel gearbeitet, oder?«

»Ja, das stimmt wohl.« Ich nickte und betrachtete angelegentlich das Tischtuch mit den Croissantkrümeln. Ich wusste eigentlich nicht, was ich mit Sabine reden sollte. Wir kannten uns doch kaum, und zudem hatten wir uns so lange nicht gesehen, dass es sicher nicht mal mehr gemeinsame Bekannte gab.

»Das kenne ich«, seufzte Sabine unbeeindruckt von meinem Schweigen. »Ich arbeite in einer Werbeagentur, und da ist immer ein Mordsstress. Ich sage dir, das heute ist der erste freie Tag seit Wochen. Wir hatten einen Auftrag, der uns sogar an den Wochenenden beschäftigt hat, und das seit drei Monaten.«

Wieder strahlte sie mich an, als ob sie mir gerade verkündet hätte, sie käme aus einem Urlaub in der Karibik zurück. Anscheinend hatten ihr die fehlenden Wochenenden nicht viel ausgemacht.

Ich blickte in ihr Gesicht und sah mich darin, wie ich gern gewesen wäre – wie ich vor zehn Jahren sogar noch gewesen war: jung und dynamisch, überzeugt davon, dass das Leben mir viel zu bieten haben würde. Nur leider hatte sich das nicht bestätigt.

»Du scheinst ja sehr zufrieden zu sein, obwohl du so viel arbeitest«, antwortete ich ein wenig neidisch.

»Och ja, schon. Ich kann nicht klagen.« Sabine musterte mich besorgt. »Ich glaube, das würdest du von dir aber nicht behaupten, oder?« Ich antwortete nicht, deshalb fuhr Sabine nach einer Weile fort, wohl um die Stille zu überbrücken: »Sag mal, hast du eigentlich noch Kontakt zu den Leuten von damals?«

Ich verneinte kopfschüttelnd. »Nein, ich habe von denen schon lange niemand mehr gesehen. Du denn?«

»Ab und zu, aber es wird immer weniger«, erwiderte Sabine.

Ich seufzte etwas resigniert. »Ja, ja, die sozialen Kontakte schlafen ein, wenn man so viel arbeitet.« Anscheinend ging es Sabine da genauso wie mir.

»Nein, das stimmt nicht«, widersprach sie entgegen meiner Erwartung sofort. »Nur mein Freundeskreis hat sich verändert. Ansonsten habe ich eigentlich ziemlich viele soziale Kontakte. Das bringt zum Teil schon mein Beruf so mit sich.«

Ich konnte nicht anders, als erneut zu seufzen. »Ich beneide dich, Sabine. Du scheinst ein sehr ausgefülltes Leben zu führen.«

»Ja, das stimmt.« Sabine nickte ein wenig. »Und du hast keine neuen Freundinnen oder Freunde? Doch sicher auch, oder?« Sie sah mich erwartungsvoll an. Offensichtlich konnte sie sich ein einsames Leben wie meines gar nicht vorstellen.

»Nein«, musste ich sie leider enttäuschen. »Meine Freundschaften sind über die Jahre alle eingeschlafen, und neue habe ich nicht gefunden. Neben der Arbeit hatte ich immer so wenig Zeit –«

»Ach, das ist kein Argument!« Sabine winkte energisch mit der Hand ab. »Das habe ich kurze Zeit auch mal geglaubt, aber das stimmt nicht. Man darf sich von der Arbeit nur nicht auffressen lassen.«

»Ja, das habe ich wohl: mich von der Arbeit auffressen lassen«, erwiderte ich resigniert.

»Nun sei doch nicht so negativ!«, rief Sabine fast schon ein bisschen ärgerlich aus. »So habe ich dich nicht in Erinnerung. Vor zehn Jahren warst du doch eine von denen, die immer was losgemacht haben. Von Party zu Party, von Disco zu Disco. Entschuldige, wenn ich das so sage, aber: so lahmarschig hätte ich mir dich gar nicht vorstellen können.«

»Lahmarschig?« Das forderte doch ein wenig meinen Protest heraus.

»Ja. Du klingst so. Als ich dich vorhin auf der Straße erkannte, habe ich mich sehr gefreut, dich wiederzusehen, aber du scheinst das gar nicht so zu empfinden.«

»Doch, doch, natürlich«, versicherte ich ihr sofort. Aber ich merkte, dass sie mir nicht glaubte.

»Weißt du was?«, fragte sie mich plötzlich. »Wie wäre es, wenn wir einmal zusammen ausgingen? So ein bisschen an die alten Zeiten anknüpfen? Nur so aus Nostalgie?«

Schon wieder überrumpelte sie mich. »Ausgehen? Ja, aber wo . . . wohin . . .?«