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Inhalt

Irisches Tagebuch

7

Dreizehn Jahre später

139

Nachwort

149

Anmerkungen

193

|7|Irisches Tagebuch

|9|Es gibt dieses Irland: wer aber hinfährt und es nicht findet, hat keine Ersatzansprüche an den Autor.

 

Ich widme dieses kleine Buch dem, der mich anregte, es zu schreiben: Karl Korn.

H. B.

|11|1

Ankunft I

Als ich an Bord des Dampfers ging, sah ich, hörte und roch ich, daß ich eine Grenze überschritten hatte; eine von Englands lieblichen Seiten hatte ich gesehen: Kent, fast bukolisch – das topographische Wunder London nur gestreift – dann eine von Englands düsteren Seiten gesehen: Liverpool – aber hier auf dem Dampfer war England zu Ende: hier roch es schon nach Torf, klang kehliges Keltisch aus Zwischendeck und Bar, hier schon nahm Europas soziale Ordnung andere Formen an: Armut war nicht nur »keine Schande« mehr, sondern weder Ehre noch Schande: sie war – als Moment gesellschaftlichen Selbstbewußtseins – so belanglos wie Reichtum; die Bügelfalten hatten ihre schneidende Schärfe verloren, und die Sicherheitsnadel, die alte keltisch-germanische Fibel, trat wieder in ihr Recht; wo der Knopf wie ein Punkt gewirkt hatte, vom Schneider gesetzt, war sie wie ein Komma eingehängt worden; als Zeichen der Improvisation förderte sie den Faltenwurf, wo der Knopf diesen verhindert hatte. Auch als Aufhänger für Preisschildchen, als Hosenträgerverlängerung, als Manschettenknopf-Ersatz sah ich sie, schließlich als Waffe, mit der ein kleiner Junge durch den Hosenboden eines Mannes stach: erstaunt war der Junge, erschrocken |12|dann, weil der Mann keinerlei Reaktion zeigte; dann klopfte der Junge vorsichtig mit dem Zeigefinger den Mann ab, um festzustellen, ob er noch lebte: er lebte noch, schlug dem Jungen lachend auf die Schulter.

Immer länger wurde die Schlange vor dem Schalter, wo es den Nektar Westeuropas in großzügigen Portionen um billiges Geld gab: Tee; als wären die Iren bemüht, unbedingt auch diesen Weltrekord, den sie knapp vor England halten, nicht preiszugeben: fast zehn Pfund Tee werden jährlich pro Kopf in Irland verbraucht: ein kleines Schwimmbassin voll Tee also muß in jedem Jahr durch jede irische Kehle laufen.

Während ich langsam in der Schlange vorrückte, blieb Zeit genug, mir die anderen irischen Weltrekorde ins Gedächtnis zu rufen: nicht nur den im Teetrinken hält dieses kleine Land: als zweiten den im Priesternachwuchs (die Erzdiözese Köln etwa müßte fast tausend Neupriester jährlich weihen, um mit einer kleinen Erzdiözese in Irland konkurrieren zu können); als dritten Weltrekord hält Irland den im Kinobesuch (wiederum – wieviel Gemeinsamkeit bei allen Gegensätzen!– knapp vor England); als vierten schließlich einen bedeutsamen, von dem ich nicht zu sagen wage, daß er mit den ersten dreien in ursächlichem Zusammenhang stehe: In Irland gibt es die wenigsten Selbstmörder auf dieser Erde. Noch sind die Rekorde im Whiskeytrinken und im Zigarettenrauchen nicht ermittelt, doch auch in diesen Disziplinen liegt Irland weit vorne, dieses kleine Land, das soviel Bodenfläche wie Bayern, aber weniger Einwohner hat, als zwischen Essen und Dortmund wohnen.

Eine Tasse Tee so um Mitternacht, wenn man fröstelnd |13|im Westwind steht, während der Dampfer sich langsam in die offene See schiebt – dann einen Whiskey oben in der Bar, wo das kehlige Keltisch immer noch, aber nur aus einer einzigen irischen Kehle klang; Nonnen duckten sich im Vorraum der Bar wie großes Geflügel für die Nacht zurecht, warm unter ihren Hauben, ihren langen Habits, zogen ihre langen Rosenkränze ein, wie Taue eingezogen werden, wenn ein Boot abfährt; einem jungen Mann, der mit einem Säugling auf dem Arm an der Bartheke stand, wurde eben das fünfte Glas Bier verweigert, auch seiner Frau, die mit einem zweijährigen Mädchen neben ihm stand, nahm der Kellner das Glas ab, ohne es neu zu füllen; langsam leerte sich die Bar, schon war das kehlige Keltisch verstummt, die Köpfe der Nonnen nickten leise im Schlaf; eine hatte vergessen, ihren Rosenkranz einzuziehen, die dicken Perlen rollten mit der Bewegung des Schiffes hin und her; die beiden mit ihren Kindern auf dem Arm, denen der Trunk verweigert worden war, wankten vor mir, steuerten auf eine Ecke zu, wo sie aus Koffern und Kartons sich eine kleine Burg erbaut hatten: dort schliefen zwei weitere Kinder, zu beiden Seiten an die Großmutter gelehnt, deren schwarzes Umhängetuch Wärme für drei zu bieten schien; der Säugling und das zweijährige Schwesterchen wurden in einen Waschkorb verstaut, zugedeckt, die Eltern verkrochen sich stumm zwischen zwei Koffern, eng aneinandergeschmiegt, und die weiße schmale Hand des Mannes zog einen Regenmantel wie ein Zeltdach über dem Paar zurecht. Stille, nur die Kofferschlösser klirrten leise im Rhythmus des fahrenden Schiffes.

Ich hatte vergessen, mir einen Platz für die Nacht zu |14|sichern, stieg über Beine, Kisten, Koffer; Zigaretten glühten im Dunkeln, ich schnappte aus geflüsterten Gesprächen Brocken auf: »Connemara ... keine Chance ... Kellnerin in London.« Ich duckte mich zwischen Rettungsboote und Schwimmgürtel, aber der Westwind war scharf und feucht, ich stand auf, wanderte über das Schiff, das mehr einem Auswandererschiff als einem Heimkehrerschiff glich; Beine, glühende Zigaretten, Brocken aus geflüsterten Gesprächen – bis ein Priester mich am Mantelsaum festhielt und lächelnd einlud, mich neben ihn zu setzen; ich lehnte mich zurück, um zu schlafen, aber rechts von dem Priester, unter einer grün-grau gestreiften Reisedecke hervor, sprach eine zarte klare Stimme: »Nein, Father, nein, nein ... es ist zu bitter, an Irland zu denken. Einmal im Jahr muß ich ja hinfahren, um meine Eltern zu besuchen, und meine Großmutter lebt auch noch. Kennen Sie die Grafschaft Galway?«

»Nein«, sagte der Priester leise.

»Connemara?«

»Nein.«

»Sie sollten es sich ansehen, und vergessen Sie nicht, auf der Rückfahrt im Hafen von Dublin achtzugeben, was aus Irland exportiert wird: Kinder und Priester, Nonnen und Biskuits, Whiskey und Pferde, Bier und Hunde ...«

»Mein Kind«, sagte der Priester leise, »Sie sollten diese Dinge nicht in einem Atem nennen.«

Ein Streichholz flammte unter der grün-grauen Reisedecke auf, ein scharfes Profil wurde für wenige Sekunden sichtbar.

»Ich glaube nicht an Gott«, sagte die zarte klare Stimme,|15| »nein, ich glaube nicht an Gott – warum sollte ich da nicht Priester und Whiskey, Nonnen und Biskuits in einem Atem nennen; ich glaube auch nicht an Kathleen ni Houlihan, an dieses Märchenirland ... Ich war Kellnerin in London, zwei Jahre lang: ich hab’ gesehen, wieviel leichte Mädchen ...«

»Mein Kind«, sagte der Priester leise.

» ... wieviel leichte Mädchen Kathleen ni Houlihan nach London geliefert hat; die Insel der Heiligen.«

»Mein Kind!«

»So nannte mich auch der Pfarrer zu Hause: mein Kind... Er kam mit dem Fahrrad, einen weiten Weg, um uns sonntags die Messe zu lesen, aber auch er konnte nichts dagegen tun, daß Kathleen ni Houlihan ihr Kostbarstes exportierte: ihre Kinder. Gehen Sie nach Connemara, Father – soviel schöne Landschaft auf einmal, mit so wenig Menschen drin, haben Sie sicher noch nie gesehen; vielleicht lesen Sie einmal eine Messe bei uns, dann sehen Sie mich sonntags fromm in der Kirche knien.«

»Aber Sie glauben doch nicht an Gott.«

»Aber denken Sie, ich könnte es mir leisten – und ich würde es meinen Eltern antun –, nicht in die Kirche zu gehen? ›Fromm ist unser gutes Mädchen geblieben – fromm; ein gutes Kind.‹ Und meine Großmutter küßt mich, wenn ich wieder zurückfahre, segnet mich und sagt: ›Bleibe so fromm, wie du bist, mein gutes Kind!‹ ... Wissen Sie, wieviel Enkel meine Großmutter hat?«

»Mein Kind, mein Kind«, sagte der Priester leise. Scharf glühte die Zigarette auf, ließ wieder für eine Sekunde das strenge Profil sehen.

|16|»Sechsunddreißig Enkel hat meine Großmutter: sechsunddreißig; achtunddreißig hatte sie: einer ist abgeschossen worden in der Schlacht um England, ein zweiter mit einem englischen U-Boot versenkt worden – sechsunddreißig leben noch: zwanzig in Irland, die anderen ...«

»Es gibt Länder«, sagte der Priester leise, »die Hygiene und Selbstmordgedanken exportieren, Atomkanonen, Maschinengewehre, Autos ...«

»Oh, ich weiß«, sagte die zarte klare Mädchenstimme, »ich weiß das alles: ich habe selbst einen Bruder, der Priester ist, und zwei Vettern: sie sind die einzigen in der ganzen Verwandtschaft, die ein Auto haben.«

»Mein Kind ...«

»Ich versuch’ jetzt, ein wenig zu schlafen – gute Nacht, Father, gute Nacht.«

Die glühende Zigarette flog über die Reling, die grüngraue Decke wurde fest um die schmalen Schultern gezogen, der Kopf des Priesters bewegte sich wie im ständigen Kopfschütteln hin und her; vielleicht war es auch nur der Rhythmus des fahrenden Schiffs, der den Kopf bewegte.

»Mein Kind«, sagte er leise noch einmal, aber er bekam keine Antwort mehr.

Er lehnte sich seufzend zurück, klappte den Mantelkragen hoch; vier Sicherheitsnadeln hatte er als Reserve innen auf dem Revers stecken: vier, die an einer fünften, quergesteckten, hin und her schaukelten unter den leisen Stößen des Dampfers, der in die graue Dunkelheit hinein auf die Insel der Heiligen zufuhr.

|17|2

Ankunft II

Eine Tasse Tee, so bei Sonnenaufgang, wenn man fröstelnd im Westwind steht, während die Insel der Heiligen sich noch im Morgendunst vor der Sonne verbarg; auf dieser Insel also wohnt das einzige Volk Europas, das nie Eroberungszüge unternahm, wohl selbst einige Male erobert wurde, von Dänen, Normannen, Engländern – nur Priester schickte es, Mönche, Missionare, die – auf dem seltsamen Umweg über Irland – den Geist thebäischer Askese nach Europa brachten; vor mehr als tausend Jahren lag hier, so weit außerhalb der Mitte, als ein Exzentrikum, tief in den Atlantik hineingerutscht, Europas glühendes Herz... So viele grün-graue Reisedecken waren eng um schmale Schultern gezogen, so viele strenge Profile sah ich und an so manchem hochgeschlagenen Priesterkragen als Reserve die quergesteckte Sicherheitsnadel, an der zwei, drei, vier weitere Nadeln leise baumelten ... schmale Gesichter, übernächtigte Augen, im Waschkorb der Säugling, der seine Flasche trank, während der Vater am Teeschalter vergebens um Bier kämpfte. Langsam stach die Morgensonne weiße Häuser aus dem Dunst heraus, ein Leuchtfeuer bellte rot-weiß dem Schiff entgegen, langsam schnaufte der Dampfer in den Hafen von Dun Laoghaire. Möwen begrüßten |18|ihn, die graue Silhouette von Dublin wurde sichtbar, verschwand wieder: Kirchen, Denkmäler, Docks, ein Gasometer: zögernde Rauchfahnen aus einigen Kaminen: Frühstückszeit, für wenige nur: noch schlief Irland, Gepäckträger rieben sich unten am Kai den Schlaf aus den Augen, Taxichauffeure fröstelten im Morgenwind. Irische Tränen begrüßten die Heimat und die Heimkehrenden. Namen flogen wie Bälle hin und her.

Müde taumelte ich vom Schiff in den Zug, aus dem Zug nach wenigen Minuten in den großen dunklen Bahnhof Westland Row, von dort auf die Straße: vom Fensterbrett eines schwarzen Hauses nahm gerade eine junge Frau einen orangefarbenen Milchtopf ins Zimmer; sie lächelte mir zu, und ich lächelte zurück.

Wäre ich von so ungebrochener Naivität gewesen wie der deutsche Handwerksbursche, der in Amsterdam Leben und Tod, Armut und Reichtum des Herrn Kannitverstan erforschte – so wäre ich in Dublin fähig gewesen, Leben und Tod, Armut, Ruhm und Reichtum des Herrn Sorry zu erforschen, denn wen ich auch fragte, nach was ich auch fragte, ich bekam die einsilbige Antwort: Sorry. Nun wußte ich zwar nicht, aber ahnte, daß die Stunden zwischen sieben und zehn Uhr morgens die einzigen sind, in denen die Iren zur Einsilbigkeit neigen, und so entschloß ich mich, meine geringen Sprachkenntnisse nicht anzuwenden, und fand mich betrübt damit ab, nicht so ungebrochen naiv zu sein wie der beneidenswerte Tuttlinger Handwerksbursche in Amsterdam. Wie schön wäre es gewesen, zu fragen: Wem gehören die großen Schiffe da im Hafen?– Sorry. Wer steht so hoch da droben, einsam im Morgennebel |19|auf einer Denkmalssäule? – Sorry. Zu wem gehören diese zerlumpten, barfüßigen Kinder? – Sorry. Wer ist dieser geheimnisvolle junge Mann, der von der hinteren Plattform des Omnibusses aus so täuschend ähnlich ein Maschinengewehr nachahmt – tak tak tak tak – im Morgendunst? – Sorry. Und wer reitet so früh da mit Stöckchen und grauem Zylinder durch Morgen und Wind? – Sorry.

Ich beschloß, mehr meinem Auge als meiner Zunge und dem Ohr der anderen zu vertrauen und mich am Studium der Ladenschilder schadlos zu halten, und da kamen sie als Buchhalter, Wirte, Gemüsehändler auf mich zu: die Joyce und Yeats, McCarthy und Molloy, O’Neill und O’Connor, sogar Jackie Coogans Spuren schienen hierhinzuführen, und ich mußte mich entschließen, mir selbst einzugestehen, daß der Mann so hoch da droben auf der Denkmalssäule, immer noch einsam wirkend in der Morgenkühle, natürlich nicht Sorry hieß, sondern Nelson.

Ich kaufte mir eine Zeitung, eine Zeitschrift, die Irischer Digest hieß, und ließ mich von einem Ladenschild, das Bed and Breakfast reasonable versprach, verführen, »vernünftiges Bett und vernünftiges Frühstück« übersetzte ich mir dieses Versprechen, und entschloß mich zunächst zu einem vernünftigen Frühstück.

Gleicht der kontinentale Tee einem vergilbten Postscheckbrief, so gleicht er auf diesen Inseln westlich von Ostende den dunklen Tönen auf russischen Ikonen, durch die es golden durchschimmert, bevor die Milch ihm eine Farbe ähnlich der Hautfarbe eines überfütterten Säuglings verleiht; auf dem Kontinent serviert |20|man den Tee dünn, aber aus kostbarem Porzellan, hier gießt man aus ramponierten Blechkannen gleichgültig ein Engelsgetränk zu des Fremden Labsal, und spottbillig dazu, in dicke Steinguttassen.

Das Frühstück war gut, der Tee des Ruhmes würdig, und kostenlos hinzu gab es das Lächeln der jungen Irin, die ihn servierte.

Ich blätterte in der Zeitung und fand als erstes einen Leserbrief, der forderte, daß Nelson so hoch da droben gestürzt und durch eine Muttergottesstatue ersetzt werden müsse. Noch ein Brief, der Nelsons Sturz forderte, noch einer...

Acht Uhr war es geworden, Gesprächigkeit flammte auf, bezog auch mich ein: ich wurde mit Worten überschüttet, von denen ich nur ein einziges verstand: Germany. Ich beschloß, freundlich, aber bestimmt, mit der Waffe des Landes, mit dem Sorry zurückzuschlagen, das kostenlose Lächeln der schlampigen Teegöttin zu genießen, bis ein plötzliches Brausen, ein Donnern fast, mich aufschreckte. Konnte der Zugverkehr auf dieser merkwürdigen Insel so lebhaft sein? Das Donnern hielt an, artikulierte sich, der vehemente Einsatz zum Tantum ergo wurde von Sacramentum veneremur cernui an klar und sauber hörbar, bis zur letzten Silbe ausgesungen klang es über die Westland Row aus der St.-Andreas-Kirche gegenüber, und so, wie die ersten Tassen Tee so gut waren wie die vielen, die ich noch trinken würde – in verlassenen, schmutzigen kleinen Nestern, in Hotels und an Kaminfeuern –, so blieb auch der Eindruck einer überwältigenden Frömmigkeit, wie sie kurz nach dem Tantum ergo die Westland Row überschwemmte: so viele Menschen würde |21|man bei uns nur nach der Ostermesse oder nach dem Weihnachtsgottesdienst aus der Kirche kommen sehen; aber die Beichte der Ungläubigen mit dem scharfen Profil hatte ich noch nicht vergessen.

Acht Uhr morgens war es erst, Sonntag, zu früh noch, den Gastgeber aus dem Schlaf zu wecken: doch der Tee war kalt geworden, im Café roch es nach Hammelfett, die Gäste rafften Kartons und Koffer zusammen, strebten ihren Omnibussen zu. Lustlos blätterte ich im Irischen Digest, übersetzte mir stockend einige Anfänge von Artikeln und Kurzgeschichten, bis eine Einzeilenweisheit auf Seite 23 mich aufmerksam machte: ich verstand den Aphorismus lange, bevor ich ihn mir hatte übersetzen können: unübersetzt, nicht in Deutsch gefaßt und doch verstanden, wirkte er fast noch besser als ins Deutsche übertragen: Die Friedhöfe, stand da, liegen voller Menschen, ohne die die Welt nicht leben konnte.

Diese Weisheit schon schien mir eine Reise nach Dublin wert zu sein, und ich beschloß, sie tief in meinem Herzen zu verschließen, für die Augenblicke, in denen ich mir wichtig vorkommen würde (später erschien sie mir wie ein Schlüssel zu dieser merkwürdigen Mischung aus Leidenschaft und Gleichmut, zu jener wilden Müdigkeit, mit Fanatismus gekoppelten Wurschtigkeit, der ich so oft begegnen sollte).

Kühle, große Villen lagen hinter Rhododendron, hinter Palmen und Oleandergebüsch versteckt, als ich mich entschlossen hatte, trotz so barbarisch früher Zeit den Gastgeber zu wecken; Berge wurden im Hintergrund sichtbar, lange Baumreihen.

Acht Stunden später schon wurde mir von einem deutschen |22|Landsmann kategorisch erklärt: »Hier ist alles schmutzig, alles teuer, und Sie werden nirgendwo eine richtige Karbonade bekommen«, und schon verteidigte ich Irland, obwohl ich erst zehn Stunden im Lande war, zehn Stunden, von denen ich fünf geschlafen, eine gebadet hatte, eine in der Kirche gewesen war, eine mich mit dem Landsmann stritt, der ein halbes Jahr gegen meine zehn Stunden setzte. Ich verteidigte Irland leidenschaftlich, kämpfte mit Tee, Tantum ergo, Joyce und Yeats gegen die Karbonade, die für mich um so gefährlicher war, als ich sie gar nicht kannte (erst als ich längst wieder zu Hause war, mußte ich im Duden nachschlagen, um sie zu identifizieren: Gebratenes Rippenstück las ich dort), dunkel nur ahnte ich, als ich gegen sie kämpfte, daß es ein Fleischgericht sein müsse – aber mein Kampf war vergebens; wer ins Ausland geht, möchte die Nachteile des eigenen Landes – oh, diese Hetze zu Hause! – zwar gern missen, dessen Karbonaden aber mitnehmen; wahrscheinlich wird man nicht ungestraft in Rom Tee trinken, sowenig wie man ungestraft – es sei denn bei einem Italiener – in Irland Kaffee trinkt. Ich gab den Kampf auf, fuhr im Bus zurück und bewunderte die endlosen Menschenschlangen vor den Kinos, deren es reichlich zu geben schien: Morgens, dachte ich, drängen sie sich in und vor den Kirchen, abends offenbar in und vor den Kinos; an einer grünen Zeitungsbude erlag ich wieder dem Lächeln einer Irin, kaufte Zeitungen, Zigaretten, Schokolade, dann fiel mein Blick auf ein Buch, das unbeachtet zwischen Broschüren lag: sein weißer Titel, rotumrandet, war schon beschmutzt, antiquarisch war’s für einen Schilling zu haben, und ich kaufte es. Es war |23|der Oblomow von Gontscharow in englischer Übersetzung. Ich wußte zwar, daß Oblomow runde 4000 Kilometer weiter östlich beheimatet war, ahnte aber auch, daß er nicht schlecht in dieses Land paßte, wo man das Frühaufstehen haßt.

|24|3

Bete für die Seele des Michael O’Neill

An Swifts Grab hatte ich mir das Herz erkältet, so sauber war St. Patrick’s Cathedral, so menschenleer und so voll patriotischer Marmorfiguren, so tief unter dem kalten Gestein schien der desperate Dean zu liegen, neben ihm Stella: zwei quadratische Messingplatten, blank geputzt wie von deutscher Hausfrauenhand: die größere für Swift, die kleinere für Stella; Disteln hätte ich haben mögen, hart, groß, langstielig, ein paar Kleeblätter, und noch ein paar dornenlose, milde Blüten, Jasmin vielleicht oder Geißblatt: das wäre der rechte Gruß für die beiden gewesen, aber meine Hände waren so leer wie die Kirche, so kalt und so sauber. Regimentsfahnen hingen nebeneinander, halbgesenkt: rochen sie wirklich nach Pulver? Sie sahen so aus, als röchen sie danach, aber es roch nur nach Moder, wie in allen Kirchen, in denen seit Jahrhunderten kein Weihrauch mehr verbrannt wird; es war mir, als würde mit Eisnadeln auf mich geschossen, ich floh, entdeckte erst am Eingang, daß doch ein Mensch in der Kirche war: die Putzfrau, die mit Lauge den Eingang aufwusch, sie machte sauber, was sauber genug war. Vor der Kathedrale stand ein irischer Bettler, der erste, dem ich begegnete; nur in südlichen Ländern gibt es sonst solche Bettler, aber im Süden scheint die Sonne:

|25|hier, nördlich des 53. Breitengrades, ist Zerlumptheit, Zerrissenheit etwas anderes als südlich des 30. Breitengrades; Regen fällt über die Armut, und Schmutz könnte hier selbst von einem unverbesserlichen Ästheten nicht mehr als malerisch empfunden werden; das Elend hockt hier in den Slums um St. Patrick herum, in manchen Winkeln, manchen Häusern noch so, wie Swift es 1743 gesehen haben mag.

Dem Bettler hingen beide Rockärmel leer vom Körper: schmutzig waren diese Hüllen für Glieder, die er nicht mehr hatte; epileptisches Zucken fuhr ihm gewitterig übers Gesicht, und doch war sein schmales, dunkles Gesicht von einer Schönheit, die in einem anderen als meinem Notizbuch aufgezeichnet werden wird; die Zigarette mußte ich ihm angezündet zwischen die Lippen, Geld ihm in die Rocktasche stecken; es schien mir fast, als statte ich einen Leichnam mit Geld aus. Dunkelheit hing über Dublin: alles, was es zwischen Schwarz und Weiß an grauen Tönen gibt, hatte sich am Himmel sein eigenes Wölkchen ausgesucht, der Himmel war bedeckt wie mit einem Gefieder unzähliger Graus: keine Streifen, kein Fetzchen vom irischen Grün; langsam, zuckend wechselte unter diesem Himmel der Bettler aus St. Patrick’s Park in die Slums hinüber.

In den Slums liegt an manchen Stellen der Schmutz in schwarzen Flocken auf den Fensterscheiben, als sei er absichtlich dagegengeworfen worden, aus Kaminen, aus Kanälen gefischt; aber absichtlich geschieht hier so leicht nichts, und von selbst nicht viel: Trunk geschieht hier, Liebe, Gebet und Fluch, Gott wird heftig geliebt und gewiß ebenso heftig gehaßt.

|26|In den dunklen Hinterhöfen, die Swifts Auge noch gesehen hat, haben Jahrzehnte und Jahrhunderte diesen Schmutz abgelagert: das bedrückende Sediment der Zeit. In den Schaufenstern der Trödler lag wilder, bunter Kitsch, und endlich fand ich eins meiner Reiseziele: die Einzelsäuferkoje mit dem Ledervorhang; in diese sperrt sich der Trinkende selbst ein wie ein Pferd; um mit Whiskey und Schmerz allein zu sein, mit Glauben und Unglauben, versenkt er sich tief unter die Zeit, in den Caisson der Passivität, solange das Geld reicht; bis er gezwungen ist, wieder an die Oberfläche der Zeit zu tauchen, an den müden Paddelbewegungen irgendwie sich zu beteiligen, sinnlose und hilflose Bewegungen, da doch jedes Boot unweigerlich auf die dunklen Wasser des Styx zutreibt. Kein Wunder, daß für die Frauen, die Tätigen dieser Erde, in diesen Kneipen kein Platz ist: hier ist der Mann allein mit seinem Whiskey, weit entfernt von all den Unternehmungen, auf die er sich notgedrungen eingelassen hat, Unternehmungen, die den Namen Familie, Beruf, Ehre, Gesellschaft tragen; bitter ist der Whiskey, wohltuend, und irgendwo westlich, 4000 Kilometer Wasser bis dahin, und irgendwo östlich, zwei Meere zu überqueren bis dahin – gibt es solche, die an Tätigkeit und Fortschritt glauben. Ja, es gibt sie; so bitter ist der Whiskey, wohltuend; der bullige Wirt reicht das nächste Glas in die Koje hinein. Nüchtern sind seine Augen, blau: er glaubt an das, woran die, die ihn reich machen, nicht glauben. Im Holzwerk der Kneipe, in Täfelung, Wandung der Einzelsäuferkoje, sitzen Witze und Flüche, Hoffnungen und Gebete der anderen; wie viele mögen es sein?

Schon ist zu spüren, wie sich der Caisson – die Einzelsäuferkoje |27|– immer tiefer auf den dunklen Grund der Zeit senkt: vorbei an Wracks und Fischen, aber auch hier unten gibt es keine Ruhe mehr, seit die Tiefseetaucher ihre Geräte entwickelt haben. Auftauchen also, Luft holen, und wieder einsteigen in die Unternehmungen, die Ehre, Beruf, Familie, Gesellschaft heißen, bevor der Caisson von den Tiefseetauchern angebohrt wird. »Wieviel?« Geldmünzen, viele, in die harten, blauen Augen des Wirtes geworfen.

Immer noch war der Himmel mit der Vielfalt der Graus gefiedert, keines von den unzähligen irischen Grüns zu sehen, als ich auf die andere Kirche zuging. Nur wenig Zeit war vergangen: im Kircheneingang stand der Bettler, und die Zigarette, die ich ihm in den Mund gesteckt hatte, wurde ihm gerade von Schuljungen aus dem Mund genommen, sorgfältig geköpft, damit kein Krümelchen Tabak verlorenging, der Rest wurde vorsichtig in die Rocktasche des Bettlers gesteckt, die Mütze wurde ihm abgenommen – wer wird, auch wenn er beide Arme verloren hat, mit der Mütze auf dem Kopf das Haus Gottes betreten? –, die Tür wurde ihm aufgehalten, schwer klatschten die leeren Rockärmel gegen den Türrahmen: naß waren sie und schmutzig, als habe er sie durch die Gosse geschleift, aber da drinnen fragt niemand nach Schmutz.

So leer, so sauber und so schön war St. Patrick’s Cathedral; voller Menschen, voller Kitsch war diese Kirche, und sie war nicht gerade schmutzig, aber schusselig: so sehen in kinderreichen Familien die Wohnzimmer aus. Einige Leute – ich hörte, einer davon sei ein Deutscher, der so die Segnungen deutscher Kultur über Irland ausbreitet – müssen in Irland viel |28|Geld an Gipsfiguren verdienen, aber der Zorn gegen den Kitschfabrikanten wird schwach denen gegenüber, die vor seinen Erzeugnissen beten; je bunter, desto besser; je kitschiger, desto besser; möglichst »wie das Leben selbst« (Vorsicht, Beter: denn das Leben ist nicht »wie das Leben selbst«).

Eine dunkelhaarige Schönheit mit dem Trotz eines beleidigten Engels im Gesicht betet vor der Statue der heiligen Magdalena; grün ist die Blässe dieses Gesichts: aufgezeichnet werden diese Gedanken und Gebete in dem Buch, das ich nicht kenne. Schuljungen mit Hurlingschlägern unter dem Arm beten den Kreuzweg ab; Öllämpchen brennen in dunklen Winkeln vor dem Herzen Jesu, vor der little Flower, vor St. Antonius, Franziskus: hier wird Religion bis zur Neige ausgekostet; der Bettler sitzt in der letzten Bank und hält sein epileptisch zuckendes Gesicht in den Raum, in dem noch Weihrauchwolken hängen.

Neu und bemerkenswert sind als Errungenschaften der Devotionalienindustrie der Neon-Heiligenschein um Mariens Haupt und das phosphoreszierende Kreuz im Weihwasserbecken, das im Dämmer der Kirche rosig leuchtet. Wird wohl in dem Buch getrennt aufgezeichnet werden, wer hier vor Kitsch, wer in Italien vor Fra Angelicos Fresken gebetet hat?