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Nr. 2727

 

Am Gravo-Abgrund

 

Der Widerstand plant die Sabotage – und Luna stürzt in die Katastrophe

 

Michelle Stern

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

Prolog

1.

2.

3.

4.

5.

Zwischenspiel

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

Kommentar

Leserkontaktseite

Risszeichnung CHUVANC

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Seit die Menschheit ins All aufgebrochen ist, hat sie eine wechselvolle Geschichte hinter sich: Die Terraner – wie sich die Angehörigen der geeinten Menschheit nennen – sind längst in ferne Sterneninseln vorgestoßen. Immer wieder treffen Perry Rhodan und seine Gefährten auf raumfahrende Zivilisationen und auf die Spur kosmischer Mächte, die das Geschehen im Universum beeinflussen.

Im Jahr 1514 Neuer Galaktischer Zeitrechnung, das dem Anfang des sechsten Jahrtausends entspricht, gehört die Erde zur Liga Freier Terraner. Tausende von Sonnensystemen, auf deren Welten Menschen siedeln, haben sich zu diesem Sternenstaat zusammengeschlossen.

Doch die Galaxis ist unruhig: Auf der einen Seite droht ein interstellarer Krieg, auf der anderen Seite ist das Atopische Tribunal in der Milchstraße aktiv. Es beansprucht die Rechtshoheit über die Milchstraße und verurteilt als erste offizielle Amtshandlung Perry Rhodan und Imperator Bostich zu einer 500-jährigen Isolationshaft.

Die Exekutive des Tribunals scheinen die Onryonen zu sein, die sich auf dem Erdmond Luna eingenistet haben und diesen beherrschen. Luna wird von einem Technogeflecht überzogen, das den Mond zur interstellaren Fortbewegung befähigt. Als die Onryonen diesen Antrieb einsetzen, sieht sich Luna allerdings plötzlich AM GRAVO-ABGRUND ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Fheyrbasd Hannacoy – Der onryonische Kanzler steht am Gravo-Abgrund.

Pri Sipiera – Die Anführerin des Lunaren Widerstands sieht rot.

Toufec – Der Meister Pazuzus gerät in Gefahr.

Shanda Sarmotte – Die Mutantin hilft, wo sie kann.

Fionn Kemeny – Der Wissenschaftler verbündet sich mit YLA.

»Angh Pegola ist gestorben, um die Pläne der Onryonen zu vereiteln und uns Zeit zu verschaffen. Er hat das höchste Opfer gebracht: sein Leben. Wir werden ihn ehren, indem wir unsere gesamte Kraft und Energie darauf lenken, dieses Geschenk zu nutzen.«

Pri Sipiera, Anführerin des Lunaren Widerstands

 

 

Prolog

Pazuzu: Gedankenfunken

 

Du träumst nicht, hast keine Visionen, nicht einmal einen freien Gedanken. Dir fehlt etwas trotz Aures' Perfektion. Das spürst du, wie du winzige Umgebungsunterschiede anmisst, wie du Tausende Operationen durchführst, in Sekundenbruchteilen Programme umschreibst, auf Ebenen zugreifst, die anderen verborgen sind.

Du erfindest dich mit jedem Auftrag neu, arbeitest im atomaren Bereich und formst dich um. Viele halten deine Existenz für ein Wunder. Aber da ist dieser Mangel, dieses Neutron, auf das du keinen Zugriff hast. Das dir fehlt.

Eine Frage hat dir den Mangel offenbart, die dich festhält und umschließt, wie der Mond in den Fängen der Technokruste die Erde umkreist.

Was wäre ... wenn?

Wenn du mehr werden würdest als die Summe deiner Nanogenten?

Etwas, das es vielleicht nie zuvor gegeben hat?

1.

Eröffnung: Der erste Zug

10. August 1514 NGZ

 

Pri Sipiera sah rot. Blut sickerte zwischen ihren Fingern hindurch, lief über den Handrücken, benetzte Augenbrauen und Wimpern. Ihre Stirn pochte. Sie lag auf dem Boden, etwas bohrte sich ihr unangenehm in den Rücken.

Weit über ihr schimmerte es grün. Ein Dach aus Farbe wölbte sich über der Panzertroplonkuppel von Luna City, unwirklich und vertraut zugleich, seit Kindheitstagen: das Technogeflecht.

Es war ruhig im Mondgefängnis. Obwohl der Stadtteil zum größten Teil leer stand, ängstigte Pri die Stille. Irgendwo sollte zumindest ein Gleiter fliegen oder ein Fahrzeug durch die Straßen rollen.

Was war geschehen?

Pri versuchte sich zu erinnern. Ein Name kam ihr ins Gedächtnis: Angh Pegola.

Seine Entschlossenheit stand wie ein Mahnmal vor ihr. Im Widerstand galt er als Held, während das Vertrauen in Pri mit jedem Tag, der nach Anghs Tod ungenutzt verstrich, ein wenig schwand.

Angh hatte im Mare Nubium eine Reihe von Bomben gelegt, das Synapsenpriorat geschädigt und den Onryonen damit einen empfindlichen Schlag versetzt. Dank seines Opfers hatte der Widerstand Zeit gewonnen, die Pri nutzen wollte.

Bloß wie?

Darüber hatte Pri nachgedacht, als es passiert war.

Aber was war es?

Sie hatte in einem leer stehenden Restaurant gesessen, eine dampfende Tasse Shabri-Tee vor sich, Loolon ihr gegenüber, und dann ...

... dann hatte sie YLA gesehen.

YLA, die nur dann außerhalb der geheimen sublunaren Ebene von NATHANS Privatgemächern auftauchte, wenn Gefahr drohte.

Das positronische Phantom war zersplittert und verschwunden, ehe Pri eine Frage hatte stellen können. Pris Verwirrung wandelte sich in Angst.

Hatten die Besatzer sie ausfindig gemacht? War jemand in ihr Versteck eingedrungen und hatte auf sie geschossen?

Nein.

Vorsichtig betastete Pri die Verletzung, die Finger klebrig vom Blut. Ihre Wunde war ein schmaler Riss, der von einem Sturz stammen konnte.

Pri wollte sich aufsetzen, doch der Schwindel zwang sie zurück in eine liegende Position. Sie sah schräg hinauf und entdeckte eine weiß lackierte Parkbank, die in der Luft schwebte, als wartete sie auf fliegende Flanierer. Schwerelos trieb die Bank vor den Wohntürmen dahin. Ein Antigravaggregat suchte Pri vergeblich.

Der Anblick war surreal wie das Holobild eines Künstlers.

Irgendwo heulten Sirenen auf.

Pri presste die Handfläche gegen die zerrissene Haut auf der Stirn und schloss die Augen. Was geschah in ihrer Stadt?

 

 

Kurz zuvor

 

Die zwölf Lichttürme simulierten einen sonnigen Nachmittag. Die größten Wohntürme der Millionenstadt Luna City vermittelten Bewohnern wie Pflanzen den Eindruck, sich auf einem Planeten mit ungebundener Eigenrotation zu befinden.

Ein warmer Schein glitzerte auf der Oberfläche des Lake Huckleberry.

Toufec saß mit gekreuzten Beinen auf der Decke, die Shanda Sarmotte für sie auf dem Strandabschnitt ausgebreitet hatte. Er berührte die Verschmelzung von Öllämpchen und orientalischer Flasche, die einen Teil Pazuzus bildete. Der Nanogentenschwarm war inaktiv. Ein Einsatz hätte den Securistent auf sie aufmerksam gemacht – das Sicherheitssystem, das überall in Luna City die Einwohner überwachte.

»Mondgefängnis.« Toufec kratzte sich am Kinn, hielt dann jedoch inne, um die gelbe Partikelpaste nicht abzukratzen, die seinen Bart blond färbte. »So fühlt es sich auch ohne Gitterstäbe und sichtbare Überwachungsoptiken an.«

Shanda blickte zur Panzertroplonkuppel hinauf, über der ein grüner Schein lag: die Technokruste, die den ganzen Mond umschloss und von der sie inzwischen wussten, wozu sie diente. Sie sollte helfen, Luna wie mit einem Transmitter zu bewegen. In gewisser Weise stellte das Geflecht den Transmitter dar.

Transpositornetz, so hatte es Fionn Kemeny genannt, der den Begriff seinerseits von einem Tolocesten übernommen hatte. Einem skurrilen Wesen, dessen Schädel wie ein leuchtender Lampion an einem Steckenhals baumelte und das sie im Mare Nubium in den Subetagen bei ihrem letzten Einsatz getroffen hatten. Toufec nannte es in Gedanken Hängekopf. Und das Transpositornetz war wahlweise der grüne Parasit oder das grüne Elend.

»Wegen des Technogeflechts?«, fragte Shanda.

»Auch. Ich mag das Gefühl nicht, in einem Krater zu sitzen, umstellt von Häusern, die hoch wie Berge sind.«

Der Copernicus-Krater stieg terrassenförmig an, bis hin zu den Aufwerfungen, die an den Seitenwänden in einem Ringgebirge aufragten. Obwohl der Krater über neunzig Kilometer breit war, vermittelten die fernen, gut fünftausend Meter höheren Felsspitzen zusammen mit den Gebäuden den Eindruck, in eine Falle geraten zu sein. Selbst wenn es teils architektonische Kunstwerke waren wie das Clark-G.-Flipper-Building, in dem der Lunare Resident saß.

Toufec sah auf den See vor sich und fühlte Erleichterung. Lake Huckleberry war flach und weit wie die Wüste Nefud. Freizeitanlagen und wild wachsende Heidelbeerfelder wechselten einander am Ufer ab. An zwei Stellen loderten Lagerfeuer auf, die vor der Skyline seltsam fehl am Platz wirkten.

Luna war so anders als Toufecs erste Heimat oder die zweite in der Zwerggalaxis Ecloos.

»Woran denkst du?«

Grinsend streichelte Toufec Pazuzu. »Wenn ich ihn nicht hätte, könntest du es ohne Antwort herausfinden.«

Es gefiel ihm, dass der »Dschinn«, der aus winzigen Elementen bestand, ihn vor Shandas telepathischen Fähigkeiten beschützte. Es gab Gedanken, die er lieber für sich behielt.

Wie viele Mikroeinheiten des Nanogentenschwarms sich in den vergangenen Jahren in Toufecs Hirn abgelagert hatten, um solche und andere Aufträge zu bewerkstelligen, das mochte Ruda wissen. Toufec überließ dieses Thema lieber der Göttin für Krieg und Ernte, als sich darüber den Kopf zu zerbrechen.

Pazuzu war für ihn nach wie vor ein Göttergeschenk. Ein atomarer Dschinn. Maschine, Wunscherfüller und Wegbegleiter in einem.

Shanda lächelte. »Sagst du es mir oder nicht?«

»An Ecloos. An Sanhaba.«

»Die Welt, auf der Aures liegt?«

»Ja.«

Aures. Die unbeschreibliche Stadt, in die Delorian Rhodan Toufec gebracht hatte, tauchte oft in Toufecs Erinnerung auf. Der rote, riesige Mond, die beeindruckenden Gebäude, die aus dem Boden wuchsen wie Früchte, und das honigfarbene Wasser, das keines war.

Dieses Wunderwerk an beseelter Technologie hatte eine erhabene Ausstrahlung, gegen die eine Stadt wie Luna City trotz ihrer zwölf Lichttürme verblasste. Nur eines hatte es dort zu wenig gegeben: Menschen.

Toufec betrachtete seine Umgebung. Am Strand und auf dem Wasser wimmelte es von freizeithungrigen Lunarern. Er schaute zu einer Mutter mit Kind, keine fünf Meter entfernt, die auf einer Liege saßen. Die Frau hatte dunkles Haar und dunkle Augen, ganz wie in der Wüste. Doch ihre Haut war hell wie Porzellan, und das Kind hatte eine flachsblonde Mähne, so ungezähmt wie Toufecs Bart.

Während die Kleine ein rundes Gesicht mit vollen Wangen hatte, wirkte die Mutter schlank und zerbrechlich wie ein Kristallkelch.

Das Mädchen trug ein geblümtes Kleid. Es spielte mit einer Puppe, die es vor sich gesetzt hatte und die ihm bis zur Brust reichte. Ein Gucky aus Stoff mit runden Tellerohren in silberfarbenem Raumanzug. Das Spielzeug sah ausgebleicht aus, wie etwas, das man aus irgendeinem Keller gezogen und vor dem Vergessen bewahrt hatte.

Shanda zog ein Körbchen mit Blaubeeren zu sich. »Was vermisst du aus deinem alten Leben am meisten?«

Toufec dachte an Asin, seinen Bruder. »Die Frauen.«

»Was?« Shanda lachte. Es war ein schönes Lachen. »Frauen gibt's selbst in Luna City mehr, als zu deiner Zeit in einer beliebigen Stadt gelebt haben!«

»Das schon. Aber ... sie sind anders. Und ich bin anders. Du bist ein gutes Beispiel.«

»Inwiefern?«

»Früher war ich groß. Heute bist du größer als ich. Generationen deiner Vorfahren haben sich satt gegessen und sind mir über den Kopf gewachsen.«

»Findest du das nicht oberflächlich?«

»Nein. Ich war der Größte in unserer Bande, der Anführer. Körperlich überlegen. Damals war das wichtig.«

»Es gibt genug Frauen, die kleiner sind als du.«

Klang es enttäuscht? Toufec war unsicher. Was Shanda wollte, blieb ihm nach wie vor ein Rätsel. Sicher, sie war an ihm interessiert, immerhin sah er gut aus, Bart und Körpergröße hin oder her. Aber was genau erhoffte sie sich?

»Sie sind unweiblich. Allein die Art, wie sie gehen. Immer nach vorn, zielstrebig drauflos wie Kameltreiber. Keine von ihnen bewegt sich mehr in die Breite, zeigt ihre Sinnlichkeit. Mit der sechsten Dimension haben sie kein Problem, aber die dritte kam ihnen abhanden.«

»Interessante Hypothese.« Shanda griff nach einer Beere und steckte sie sich in den Mund.

Toufec seufzte. »Siehst du? Genau das meine ich. Deine Art zu essen ist eine Beleidigung der Blütenknospen deiner Lippen. Sie sind voll wie das Versprechen eines Kusses, Symbol der Lust am Leben, und was tust du damit?«

»Auf- und zumachen. Zusammen mit dem Unterkiefer.«

»Du fühlst sie nicht. Wie deinen Körper. In Tiamat haben wir getanzt. Und die Frauen haben getanzt. Nicht in diesen engen, phantasielosen Gewändern, sondern in Schleiern. Und wenn ich Glück hatte – und ich hatte oft Glück –, hat eine sich nur für mich im Sternenlicht bewegt, mit nichts als einem Schleier, dünn wie Morgendunst.«

Shanda sprang auf. »Zeig es mir.«

»Was?«

»Das Tanzen. Wie ihr die dritte Dimension erobert habt.«

»Gern.« Er stand auf, trat hinter sie und legte seine Hände auf ihre Hüften. »Stell dir eine Musik vor. Das Tönen von Ud-Lauten, das Klatschen von Händen oder den Klang einer Rababa. Und dann beweg dich zu ihrem Takt!«

»Ich kann mir keine Musik vorstellen, wenn ich nicht einmal die Instrumente kenne.«

»Dann denk an ...« Er verstummte und ließ Shanda los. Schlagartig überkam ihn Schwindel. Der Boden vibrierte.

»Was ist das?« Shanda drehte sich um und klammerte sich an ihn.

»Ein leichtes Beben. Ist schon vorbei. Aber halt dich ruhig weiter fest. Du riechst wie ...«

»Mama!«, rief eine helle Stimme. »Mama, schau!«

Toufec blickte über das Seeufer und starrte auf das blonde Kind, das den Arm ausstreckte und auf die Puppe zeigte.

Der Stoff-Gucky schwebte in der Luft, stieg immer höher, bis er vier Meter über dem Sand anhielt.

Die Mutter schrie. Etwas geschah mit dem Spielzeug. Eine unsichtbare Kraft zerrte es in die Länge, wand es wie ein Tau, bis die Puppe mit einem hässlichen Ratschen explosionsartig zerriss.

»Bei Marduk!« Toufec umklammerte Shandas Schultern. Er hatte das Gefühl, dass die Göttin Ruda in diesem Fall nicht ausreichte.

Noch während die braunschwarzen Fetzen des Stoff-Guckys in einer Wolke zum Boden flatterten, schwebte das Kind in die Höhe.

2.

Hineinziehungsopfer

 

Pris Stirn pochte im Takt der aufheulenden Sirenen. Sie öffnete die Augen, blinzelte und konzentrierte sich. Glassitblitzende Gebäudefassaden ragten ganz in der Nähe auf.

Sie befand sich in einem der älteren Viertel Luna Citys, in dem seit den Mondbeben Wohntürme leer standen. Endlich erinnerte sie sich an alle Einzelheiten vor ihrem Sturz. Eines der halb verfallenen Hochhäuser hatte Pri als Versteck gedient.

Obwohl Pri in Maske unterwegs war, hielt sie Zurückhaltung für lebensnotwendig. Seit dem Angriff auf das Synapsenpriorat vor gut einer Woche war Pri die meistgesuchte Frau Lunas.

Ein Klatschen auf dem Gehweg schreckte sie aus ihrer Benommenheit. Schritte von bestiefelten Füßen näherten sich rasch, das Geräusch jagte ihren Puls in die Höhe.

Onryonen?

Dann war es aus. Man würde sie überprüfen, festnehmen und so sicher wegschließen, dass sie für den Rest ihres Lebens nicht einmal mehr das Licht eines Anuupi sehen würde.

Sie musste weg.

Pri setzte sich, und die Welt verschwamm. Zitternd presste sie die Hände gegen den Boden, um nicht zurückzusinken. Sie fühlte sich wie nach einem Gleiterunfall. Er war zu spät für eine Flucht. Was auch immer kommen würde, es würde geschehen.

Die Schritte verhallten. »Pri?«

Raphal Shilo beugte sich über sie und hob sie auf, wie man eine Stoffpuppe hochhebt. Sein breites Gesicht mit den leicht abstehenden Ohren war beruhigend vertraut. Es schwebte in einem verzerrten Feld aus ineinandergleitenden Farben, das der Chamäleoneffekt des SERUNS bewirkte.

Als Raphal die Wunde sah, fluchte der Leibwächter. »Verdammt, Pri, das sieht übel aus. Was machst du überhaupt draußen? Wenn Loolon mich nicht informiert hätte, würden dich die Onryonen einsammeln.«

Er legte einen Schutzschirm um sie und trug sie zu seinem Fahrzeug.

»Ich ... wollte allein sein. Da war dieses Schwindelgefühl. YLA zeigte sich. Ich bin hinausgegangen und habe nachgesehen – und dann ... Schreie.«

Pri hörte das Knirschen unter den Stiefelsohlen. Raphal ging über zerbrochenes Glassit. Einem Gebäude neben ihnen fehlte ein Stück, groß wie eine Wohneinheit. Ein Uleb schien darin gewütet zu haben. An den Bruchstücken, zwischen denen sich Raphal den Weg suchte, erkannte Pri, dass die Schäden frisch waren.

Das Ächzen und Knacken der oberen Stockwerke klang beunruhigend.

Raphal umrundete eine zersplitterte Couch. »Und die Wunde?«

»Ich ... ich schwebte plötzlich. Dann bin ich gestürzt. Was ist los, Raphal?«

»Jedenfalls genug, dass wir unbehelligt fliehen können. Der Securistent ist überlastet. Überall auf Luna kommt es zu Gravophänomenen. Es ist die Hölle.«

»Gravophänomene?« Nach und nach setzte sich für Pri ein beunruhigendes Bild zusammen, so deutlich wie YLA aus ihren Spiegelscherben. Sie ahnte, was das zu bedeuten hatte. »Toufec und Shanda sind noch da draußen!«

»Wir holen sie, falls Toufec es nicht schafft. Immerhin hat er Pazuzu.«

»Gut. Wir müssen zu YLA.«

 

*

 

Fassungslos sah Toufec das Mädchen in der Luft schweben. Von einem Moment auf den anderen brach um sie Chaos aus.

Auf der gesamten Strandlänge verloren Menschen den Boden unter den Füßen, ruderten wild mit den Armen und drehten sich teils wie in einer Schleuder um die eigene Achse. Handtücher, Liegen und Kleidungsstücke trieben in die Höhe.

Hilferufe und entsetzte Schreie klangen auf. Keine fünf Meter entfernt zermalmte die Hand eines unsichtbaren Riesen einen Baum. Äste und Holzsplitter flogen durch die Luft, stürzten jedoch nicht zu Boden, sondern breiteten sich wie im Leerraum aus.

Im Lake Huckleberry schäumte das Wasser. Mehrere Kubikmeter stiegen hoch, bäumten sich auf und rotierten fontänengleich in der Luft. An anderer Stelle sanken die Fluten, wodurch Wasser sprudelnd nachströmte. Ein Paar in einem Elektroboot floh mit Höchstgeschwindigkeit vor den verrückt gewordenen Wassermassen.

Toufec rannte auf das Mädchen zu, sodass der Sand unter seinen Füßen aufspritzte. Seine Hand krampfte sich um den Stoff über Pazuzus Flaschenanteil. Ein Wort genügte, und der Nanogentenschwarm würde ihm zu Hilfe eilen. Pazuzu war in der Lage, eine Scheibe auszubilden, auf der Toufec wie auf einem schwebendem Teppich zu dem Mädchen fliegen konnte.

Aber dann wäre es mit seiner Tarnung vorbei. Shanda und er würden fliehen müssen.

In der Ferne hörte Toufec die charakteristischen Klänge von onryonischen Gleitersirenen, die rasch näher kamen. Die Besatzer Lunas rückten an. Sollte er die Mischung aus Öllämpchen und Flasche vor ihren Augen aktivieren?

»Mama!«

»Sari!«, schrie die Mutter. Sie stellte sich auf die Liege, doch Sari trieb höher und änderte die Richtung. Sie driftete ab.

Sari heulte. Es klang dünn, verzweifelt, halb erstickt.

Im Sprint erreichte Toufec die Stelle, über der das Mädchen wild mit den Armen ruderte. Aufgewirbelte Stofffetzen trieben ihm ins Gesicht. Eine Woge aus Sand und Staub wehte schräg über ihn und brachte ihn zum Husten.

Toufec hielt an, legte den Kopf in den Nacken. Das Kind stieg immer höher – wie ein verirrter Vogel.

»Pa...« Mitten im Wort hielt Toufec inne.

Zu spät. Sari kippte schreiend ab wie von einer unsichtbaren Schaukel. Sie flog durch die Luft, wurde immer schneller. Ihre Haare wehten im Fallwind, das Kleid bauschte sich.

Toufec sprang ihr entgegen, ermittelte instinktiv den Punkt, an dem Sari auf dem Boden aufschlagen würde, und breitete die Arme aus.

Sari fiel hinein. Ihr Schrei endete abrupt.

Toufecs Knie gaben nach, doch es gelang ihm, den Halt zu bewahren. Er hatte das Gefühl, kein Kind, sondern einen prallvollen Sack mit Räuberbeute zu fangen. Die zwanzig Kilogramm, die Sari wiegen mochten, fühlten sich an wie fünfzig. Ihm schmerzten Muskeln, die er seit Jahren nicht gespürt hatte.

»Sari!« Die schwarzhaarige Mutter stolperte auf ihn zu, die Arme ausgestreckt. Tränen liefen über ihre Wangen. Sie hielt schwer atmend vor Toufec und tastete Saris Gesicht ab. »Sari, geht es dir gut? Tut dir was weh?«

Sari weinte und drückte sich enger an Toufec.

Toufec sah sich um. Menschen, Äste und Kleidungsstücke trieben in der Luft. Fünfzehn Meter weiter stürzte ein hagerer Mann mit gelber Hose brüllend in den Sand. Er blieb reglos liegen.

Von der Skyline her näherten sich onryonische Gleiter mit laut heulenden Sirenen. Die ersten setzten zur Landung an.

Der Geruch von Feuer breitete sich aus. Während auf dem See Wassersäulen in den Himmel spritzten, brachen durch die davongetragene Glut der Lagerfeuer immer mehr Brände aus.

Ein Stück entfernt entwurzelte eine Reihe von Heidelbeersträuchern. Samt der Erde, die sie gehalten hatte, zuckten die Büsche in die Luft. Sie näherten sich langsam, aber stetig. Das Feld, das sie trug, bewegte sich auf Toufec zu.

»Komm!« Toufec rannte los, Sari im Arm. Blätter wirbelten an ihm vorbei, rings um ihn donnerte der Lärm zusammenstürzender Gebäude. Kurz blickte er zurück; die Mutter folgte ihm, zuerst unsicher, dann schneller. Er machte eine auffordernde Bewegung mit dem Kopf, übersprang eine Liege und lief weiter.

Sie hetzten an einem Gebäude mit einer Schlagballhalle vorbei, aus der eine Gruppe Menschen in Sportbekleidung floh. Auf der anderen Seite wirbelten Glut und Asche von einem Lagerfeuer durch die Luft und entzündeten einen Heidelbeerstrauch.

»Zu mir!« Ein kleiner, breitschultriger Onryone in schreiend bunter Kleidung winkte Toufec. Neben ihm schwebte ein Medoroboter. Der Onryone stand vor einem Gleiter. Er gehörte zu einer von fünf Einheiten, die in strategisch günstigen Abständen auf dem Strandabschnitt am Ufer gelandet waren. Offensichtlich, um die Gefährdeten zu evakuieren.

Sari drückte sich ganz fest an Toufec. Er spürte, wie ihr Herz raste und sie die kleinen Finger wie Krallen in ihn schlug.

»Kannst du zu deiner Mama laufen, Sari?«, fragte er.