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Ursula Fricker

Außer

sich

Roman

Rotpunktverlag

© 2012 Rotpunktverlag, Zürich

Umschlagbild: No Entry, White Sands Missile Base, New Mexico, USA – Nadav Kander / Gallery Stock

978-3-85869-485-0 E-Book
978-3-85869-486-7 Mobi

Schläfst du, Sebastian?

Stell dir vor. Stell dir vor, du würdest deine Augen aufschlagen und ehe du ganz zu dir kommst, nicht wissen, wo du bist. Dein Blick glitte die weißen, licht gesprenkelten Wände hinauf zur Decke unseres Schlafzimmers. Tastete über die Ornamente der Stuckrosette. Wie von ferne hörtest du meine Stimme deinen Namen sagen. Keinen Moment würdest du daran zweifeln, dass du gemeint bist. Du löstest deinen Blick vom Labyrinth der Stuckatur und richtetest ihn auf mein Gesicht. Du würdest mich nicht nur sehen, sondern auch erkennen. Beruhigt könntest du die Augen noch einmal schließen. Aber nicht wieder einschlafen! – meine Lippen nah an deinem Ohr. Mein Geruch weckte in dir Bilder von gemeinsam Erlebtem, ein Geflecht aus Verlangen und Vertrauen. Du strecktest dich, legtest deine Arme um meinen Hals. Komm, komm zurück ins Warme. Nur für ein paar Minuten noch. Verweilen in diesem halben Zustand zwischen verblassenden Träumen und den Dingen des Lebens. Ich aber löste mich aus deiner Umarmung und ginge in die Küche, um Frühstück zu machen. Nebenbei hörte ich, wie du aufstehst und durchs Wohnzimmer ins Bad gehst. Unter die Dusche, dich danach rasierst. Anziehst die Kleider, die seit langer Zeit über der Stuhllehne hängen und darauf warten, dass sie endlich wieder passen. Dann setztest du dich zu mir an den Tisch und nähmst dir den ersten Kaffee, die Zeitung. Wir würden, wie immer am Morgen, nicht viel reden. Du kämest nicht auf die Idee, dich zu fragen, ob du hier zu Hause bist. Du würdest dich nicht an all das erinnern, was geschehen ist.

1

Bastian, bist du schon wach?

Er drehte sich auf die andere Seite.

Es war kurz nach sieben. Wir wollten übers Wochenende nach Mecklenburg fahren, Jana, Bernd und die Kinder besuchen. Eigentlich hatte ich gar keine Lust.

Ich setzte Kaffee auf und ging hinaus auf den Balkon. Man sah kaum weiter als in die Kronen der Kastanien vor unserem Haus, früh verwelktes Laub, nur der rote Klinker der Gethsemanekirche, vom Morgenlicht beschienen, leuchtete da und dort durchs Blattwerk. Überall saßen diese ekelhaften Miniermotten, winzige, gestreifte, fast durchsichtige Falterchen. Ich wischte das Ungeziefer von Tisch und Stühlen. Die Rose auf dem Sims ließ schon den Kopf hängen, ich wechselte das Wasser.

Ein warmer Wind ging.

Ich deckte den Tisch draußen.

Bastian?

Er brummelte etwas und zog sich das Laken über den Kopf. Ich beugte mich zu ihm, meine Lippen tasteten durch den Stoff nach seinem Ohr, hallo, flüsterte ich, ist da jemand? Am vorigen Tag hatte er einen Termin in Teltow gehabt, Einfamilienhaus für jemanden, dem es nicht auf den Cent ankam. Kam es jemandem nicht auf den Cent an, konnte Sebastian arbeiten, wie er es liebte. Leider war das eher selten. Bis tief in die Nacht hatte er gestern am Schreibtisch gesessen, Räume entworfen, Formen skizziert.

Da packte er mich, ich verlor das Gleichgewicht und ließ mich auf ihn fallen. Er kitzelte mich, ich kitzelte ihn, wir balgten hin und her und quiekten, und dann schwang er sich auf meinen Bauch. Ich bekam kaum noch Luft, musste lachen, konnte fast nicht mehr aufhören zu lachen. Runter, Bastian, ich krieg keine Luft, du tust mir weh! Er richtete sich kerzengerade auf und machte ein fieses Gesicht. Bedächtig setzte er mir die Mündung zweier ausgestreckter Finger auf die Brust, Zeit oder Leben! Eine Strähne seines blonden Haars hing ihm über die Augen, unter dem stoppeligen Kinn warf die Haut Falten. Im Ernst, Kat, sagte er, lass uns irgendeine Ausrede finden, krank, Auto kaputt, keine Ahnung. Wir können ja nächstes Wochenende fahren oder übernächstes. Ich griff seine beiden Finger, Bastian, das geht nicht, das weißt du doch, wir haben diesen Besuch jetzt schon zweimal verschoben.

Rufus war aufgewacht, sprang aufs Bett und maunzte. Siehst du, er will auch, dass wir aufstehen.

Rufus strich mir um die Beine, während ich sein Futter richtete. Er war sechzehn oder siebzehn, so genau wusste das keiner, er war uns irgendwann zugelaufen, und schon damals war er nicht mehr jung gewesen – hatte jedenfalls der Tierarzt gesagt.

Sebastian ging ins Bad und kurz darauf hörte ich das Wasser in der Wanne rauschen. Ich setzte mich an den Tisch und nahm die Zeitung. Es war schon ziemlich warm. Zehn Jahre Oderflut auf der ersten Seite. Ein dreispaltiges Foto von tapferen Männern und Frauen, im Hintergrund Sandsäcke. Wir waren damals nicht tapfer gewesen, wir fuhren hin zum Gaffen. Fuhren zum Unteren Odertal, parkten beim Stolper Turm, weil man von dort die beste Aussicht hatte. Unter uns lagen die Polderflächen geflutet, ein kleines Meer bis zu den Hängen jenseits der polnischen Grenze. Das Wasser stand hart an der Deichkrone. An mehreren Stellen sickerte es schon auf die Dorfseite. Man wusste nicht, ob der Deich halten würde.

Es regnete und regnete.

Ich blätterte weiter.

Sebastian trank morgens nur Kaffee mit wenig Milch und viel Zucker. Drei Tassen oder vier. Gibst du mir das Feuilleton, bat er und setzte sich. Später würden wir tauschen. Willst du nicht was essen? Katja!, sagte er, ohne aufzuschauen.

Wir hatten uns während des Studiums kennengelernt. Egal welches Wetter draußen war, trug Sebastian zu der Zeit immer seinen speckigen Ledermantel mit räudigen Pelzen um Kragen und Ärmel. Obwohl er mir schon in der ersten Woche aufgefallen war, gingen wir erst im zweiten Semester zusammen ins Kino. Wir setzten uns in die hinterste Reihe. Das Kino war ziemlich voll. Erst berührten sich nur unsere Oberarme. Ich spürte, wie Sebastian mich von der Seite ansah. Als er wieder auf die Leinwand blickte, sah ich ihn an. Der Widerschein des Filmlichts auf seinem Gesicht. Wie aus Versehen plötzlich Auge in Auge. Wir blieben hängen. Nach einer Ewigkeit hob ich die Hand. Die Hand machte, was sie wollte, sie glitt zu seinem Gesicht, und ehe sie es berühren konnte, kam es ihr schon entgegen. Die Fingerspitzen waren meine Lippen. Näher und näher. Haut und Haar und Wärme. Der Film war längst noch nicht zu Ende, da verließen wir das Kino, die halbe Nacht streiften wir durch eine jetzt fremde, aufregende Stadt. Wir wurden und wurden nicht müde. Wir sahen an jeder Ecke neue Wunder, einer durch die Augen des anderen. Erst im Morgengrauen setzten wir uns auf eine Bank, unsere Gesichter aneinandergelehnt schliefen wir ein.

Rufus hatte sich auf dem dritten Stuhl eingerollt und schnurrte. Weil er so mager geworden war und seit einiger Zeit blutig pinkelte, war ich mit ihm beim Tierarzt gewesen. Rufus hatte einen Nierentumor, zwar noch keine Metastasen, aber das sei nur eine Frage der Zeit. Es wäre vernünftig, sagte der Tierarzt, ihn gleich einzuschläfern. Ich konnte nicht, ich brachte es einfach nicht übers Herz. Sebastian fand, es sei egoistisch, den Kater unnötig leiden zu lassen, nur weil man zu feige ist, eine Entscheidung zu treffen. Es würde ja nur schlimmer werden. Aber als wolle mir Rufus für den Aufschub danken, ging es ihm seit einer Woche viel besser.

Wir brauchen etwa drei Stunden, sagte ich, je nach Verkehr, und sah auf die Uhr. Sebastian hatte gerade einen Schluck Kaffee genommen und grunzte nur. Ich hatte vor Sebastian noch nie lange mit einem Mann zusammengelebt. Er verschluckte sich, hustete. Keinen Stress, keuchte er. Bitte! Ich will keinen Stress heut früh. Ich klopfte ihm auf den Rücken.

Wann waren wir eigentlich zuletzt planlos fort gewesen? Losfahren. Nirgends lange bleiben. Nicht wissen, was morgen sein wird.

In unserem ersten Sommer trampten wir nach Südfrankreich. Frühmorgens standen wir bei Dreilinden an der Autobahn. Es nieselte. Sebastian trug den Rucksack. Was mich am meisten an ihm beeindruckte, war seine Nase. Die Nasenflügel, dünnwandige, weite, je nach Windrichtung und Wetterlage sich blähende oder erregt vibrierende Segel. Und natürlich die Augen. Diese wasserblauen Augen. Augen, in denen alle Flüsse der Welt zusammenzufließen schienen. Wechselnde Stimmungen, ständig in Bewegung. Schnellen, Gischt, weites Delta, bevor der Strom ins Meer fließt. Ein klares, kantiges Gesicht. Und er sah immer ein bisschen zu jung aus.

Ich sollte die Autos anhalten, weil eine Frau beim Trampen normalerweise mehr Glück habe, Sebastian stand trocken unter dem Vordach einer Speditionsfirma. Das ist ungerecht, protestierte ich, er schnitt nur Grimassen. Ich musste lachen. Mit ausgebreiteten Armen balancierte ich auf der Seitenmarkierung der Auffahrt hin und her. Mir war nach Hüpfen zumute, nach Tanzen.

Es war gar nicht schwierig, wir warteten kaum eine halbe Stunde, da hielt eine Frau an. Bis Frankfurt. Das war doch schon ganz gut für den Anfang. Thomas, ein Kommilitone, hatte in Südfrankreich einen alten Kutter gekauft. Er wollte den ganzen Sommer dort verbringen und hatte uns und andere eingeladen, ihm ein paar Tage beim Renovieren zu helfen. Danach wollten wir weiter, nach Spanien oder hinauf in die Bretagne.

Hinter Erfurt wurde das Wetter besser, streckenweise schien sogar die Sonne. Sie fahre pro Woche Tausende Kilometer, sagte die Frau. Bis nach Österreich und in die Schweiz. Vertreterin für Kaffeemaschinen. Sebastian saß vorne. Ich war müde, hatte keine Lust zu reden. Von weit her hörte ich murmelnde dunkle Stimmen, einzelne Wörter, Schwerin, Wasserschloss, oder war es Schlossgarten, das leise satte Brummen des Motors.

Als ich die Augen aufschlug, sah ich rechts und links Planen von Lastwagen. Wir sind da, sagte Sebastian. Wo sind wir? In Südfrankreich? Wetterau West, sagte die Frau, es tue ihr leid, sie müsse in die Innenstadt. Hier hätten wir die besten Chancen weiterzukommen. Wir stiegen aus. Danke fürs Mitnehmen, sagte ich und gab ihr die Hand. Sebastian umarmte sie. Das fand ich übertrieben. Wir würden sie nie wiedersehen. Hatten die beiden, während ich schlief, Gemeinsamkeiten entdeckt?

Wir betraten das Restaurant. Was ist, fragte Sebastian. Nichts, sagte ich. Eifersüchtig? Hör mal. Er stieß mich an. Ich senkte den Kopf. Ein bisschen. Brauchst du nicht, sagte er, echt nicht!

Ich sah durch die Fensterfront nach draußen. Parkplätze. Kommen und Gehen. Stummes Palaver, störrische Kinder, gereizte Eltern. Hunde pinkelten auf die zertretenen gelben Rasenflächen. Vor dem Band der rasenden Fahrzeuge. Zerbrechliche Verhältnisse in bunten Geschossen. Hast du Hunger, fragte Sebastian. Nein, noch nicht.

Der nächste, der uns mitnahm, war eine Katastrophe. Eine Art Hippie mit seiner Rostlaube, ein stinkender, wankender, pink gestrichener VW-Käfer. Lässig sprach uns der Typ auf dem Parkplatz an. Er sehe doch gleich, dass wir auf der Suche seien, haha, wer sei das nicht? Wo er denn hinfahre? In den Süden, blöde Frage! Wieder ein kindisches Kichern. Natürlich hätten wir gar nicht einsteigen sollen. Kaum waren wir losgefahren, fing er an zu kiffen und zu saufen. Sebastian bat ihn, damit aufzuhören. Der Hippie grölte was von Spießer und uncool, so was von uncool. Er sei nach Indien und Afghanistan getrampt, nach Pakistan und sonst wohin, damals. Ich fackelte nicht lange. Mir wurde schlecht. Wenn es nötig war, konnte ich sogar auf Kommando kotzen. Ich würgte. Obwohl er den Trick natürlich durchschaute, fand der Hippie das gar nicht lustig. Beim nächsten Rastplatz hielt er an und warf uns raus. Es ging schon gegen Abend. Wir setzten uns an einen der Tische und ich packte unsere Sandwichs aus. Es war warm. In der Ferne wetterleuchtete es. Im Südwesten. Dort wo wir hinwollten.

Zwei Tage später kamen wir an. Der Kutter hieß Avenir und lag gemütlich dümpelnd an der Kanalmauer. Dort, wo der Canal du Midi in den Étang de Thau mündet, Les Onglous, letzte Landestelle. Ein bauchiges, kleines Schiff mit zwei kurzen Masten, gedacht für notdürftige Segelmanöver. Thomas war allein. Drei andere hätten kommen sollen, nur waren sie bisher nicht gekommen. Die Luft flirrte über dem kargen Sandland. Gelbtrockene Grasbüschel, dürres Buschwerk, keine Bäume, kein Schatten. Aber es war eine schöne, trockene Hitze. Man setzte sich ihr ohne Bedenken aus. Möglichst wenig Kleider am Leib. Der Wind, der vom Meer herkam. Man glaubte zu spüren, wie die Haut sich bräunte.

Umfasst von einem bizarr verrosteten Geländer, säumte ein langer Pier die Mündung des Kanals, an seiner Spitze stand ein Leuchtturm. Lass uns erst baden gehen, sagte Sebastian. Thomas hatte keine Lust. Passt auf, sagte er, es gibt Feuerquallen. Zum Ende des Sommers wollte Thomas mit dem Kutter auf Wasserstraßen bis hinauf nach Berlin tuckern und in Zukunft auf dem Schiff leben. Sein Zimmer werde er aufgeben, sagte er. Er habe schon einen Liegeplatz am Langen See in Grünau.

Sebastian nahm Anlauf und sprang. Dabei juchzte er und zappelte mit den Beinen. Ich stieg die Steintreppe runter und ließ mich vorsichtig ins Wasser gleiten. Wir schwammen weit hinaus. Keine Feuerquallen. Es war ja nur eine Lagune, nicht das richtige Meer, aber mit den Augen wenige Zentimeter über der Wasserfläche, sah man nirgends ein Ufer. Es roch nach Salz, nach Diesel und ein bisschen nach Fisch. Jäh kam die Angst. Angst vor der Tiefe unter mir. Hundert Meter, zweihundert? Etwas Kaltes glitschte entlang meiner Beine. Ich bildete mir Schlingarme ein. Ich schrie um mein Leben. Sebastian witzelte erst. Ich schluckte Wasser. Ich hustete, japste, rang nach Luft. Er nahm mich huckepack und schwamm zum Pier zurück. Erst als ich wie ein Häufchen Elend in einer großen Pfütze auf dem warmen Beton lag, konnte ich versuchen, ihm zu erklären, was eigentlich passiert war: Gar nichts. Ich hatte manchmal solche Panikattacken. Zum Beispiel in offenem Wasser, egal, ob tief oder nicht. Den nackten Bauch schutzlos den Glibbertieren und Raubfischzähnen ausgeliefert. Keiner wisse, und Sebastian solle bitte jetzt nicht das Gegenteil behaupten, was für Kreaturen eigentlich im Meer auf Beute lauerten. Ein Krake, stammelte ich, an meinen Beinen, ich habe die Saugnäpfe gespürt, ehrlich! Sebastian sah mich etwas ratlos an. Zugegeben, es ist schwer zu erklären. Ich hätte nicht so weit rausschwimmen sollen, sagte ich deshalb einfach. Sebastian nahm mich in den Arm. Ich war froh.

Die Dünung klatschte an die grob behauenen Steine der Mauer. Ein verworren rhythmisches Geräusch, das einen zwangsläufig müde macht. Wir schliefen ein in der Sonne. Salz trocknet auf der Haut, bildet Krusten, millimeterdick. Gut gepanzert gegen die rohe Fauna der Tiefsee. Ein Schwarm Quallen, von der Strömung getrieben, in allen Farben des Lichts schimmerndes Gallert. Nesselhaar. Gischt fegt über Deck. Die Wellen reiten!, schreit Thomas gegen den Wind. Mit beiden Beinen fest auf den Planken des Seelenverkäufers, fahre ich allein aufs offene Meer hinaus. Westwärts. Ankämpfen gegen Mitternachtswinde. Knattern der Segel, ohrenbetäubend. Über den Sandweg knatterte ein Moped.

Sebastian drehte sich zu mir. Ich fühlte seine warme Hand über meinen nackten Rücken streichen, liegen bleiben. Wir sollten hier nicht in der prallen Sonne schlafen, murmelte er, gehen wir rüber in den Schatten des Leuchtturms, und schlief gleich wieder ein. Disteln. Mannshoch. Schöne violettfarbene Blüten. Südland. Thomas hatte so von Les Onglous geschwärmt. Er hatte uns mitgenommen auf seine Reise schon im tiefen Winter in Berlin. Die eisigen Böen am Alex waren für uns Passatwinde gewesen.

Hey ihr! Aufwachen!

Der Leuchtturm hatte seine Lampen angezündet. Thomas stand auf dem Pier. Wo sind wir? Kommt, Abendessen. Zirpen von Grillen über allem. Kommt schon! Wir standen auf und waren ganz blöde im Kopf von der Sonne. Folgten Thomas zum Schiff. Flache Steinhäuser linker Hand. Kleine Segelschiffe, eins hinter dem anderen, tanzten auf und ab. Ganz am Ende lag die Avenir. Thomas hatte auf Deck ein Picknick vorbereitet. Kerzen flackerten. Millionen von winzigen, weißen Mücken drängten zum Licht. Zum ersten Mal in meinem Leben aß ich Muscheln. Ich fand sie ekelhaft. Thomas sagte, er habe am Nachmittag mit Berlin telefoniert. Es käme niemand mehr. Die Grillen zirpten. Schaffst du das denn, ohne die anderen? Thomas zuckte mit den Schultern. Schaun wir mal, sagte er, ihr seid ja da. Die Mücken wurden mit zunehmender Dunkelheit weniger. Sebastian ging früh schlafen, er habe solche Kopfschmerzen.

Ich fragte mich, ob der Avenir in Berliner Gewässern etwas fehlen würde. Kann man, im Süden groß geworden, auch im Norden glücklich sein? Schiffe, dachte ich, sind ja nicht wirklich Schiffe, unbelebte Gefährte. Schiffe sind gut für Wunder, Schiffe haben eine Seele, sagt man, warum sonst tragen sie Namen wie Victory oder Flying Cloud, Hope oder Avenir. Man lebt oder stirbt auf ihnen. Etwas Halbes gibt es da nicht. Man vertraut sich ihnen an. Planken unter den Füßen und nur das. Planken. In der Hoffnung, der Rumpf halte den Brechern stand.

Wir lagen auf Deck in unseren Schlafsäcken, hörten der Nacht zu, der leise hämmernden Discomusik, die von Cap d’Agde herüberwehte. Lichtfinger zerschnitten den Himmel. Der Mond stand fast voll. Mit bloßem Auge zu erkennen die kalkweißen Krater und Ebenen, die Meere ohne Wasser. Thomas saß lange noch vorne im Bug, uns den Rücken zugewandt. Augen zu. Schläfst du schon? Sanftes Schaukeln des Kutters, rhythmisches Quietschen der Fender, an denen der Schiffskörper sich rieb. Du?

Wir blieben die ganze Zeit in Les Onglous. Wir arbeiteten drei Wochen lang von morgens bis abends. Wir kauerten auf schmalen, von Seilen gehaltenen Brettern an der Bordwand und kalfaterten die Nähte zwischen den Planken neu. Thomas zeigte uns, wie tief der Werg eingeschlagen werden musste. Wir vergossen das Ganze mit Pech, und als Letztes kam die Farbe. Die Wasserlinie strichen wir rot, den Rest weiß. Ich durfte den Namen malen: Avenir.

Noch Kaffee? Sebastian nickte. Er rückte mit seinem Stuhl ein Stück nach links, dem Schatten nach. Im Sommer fiel ihm alles schwerer, und sobald im Herbst die Temperaturen sanken und Stürme übers Land fegten, volle Kraft voraus. Als würde er eine Art Sommerschlaf halten, den Stoffwechsel auf das Allernötigste reduziert.

Mit Jana hatte ich knapp zwei Jahre zusammengewohnt. Sie war Puppenspielerin, sie konnte aus jedem beliebigen Fetzen Stoff ein scheinbar belebtes Wesen zaubern. Einmal, noch während ihres Studiums, besuchten wir eine Vorstellung, Szenen aus Der Stellvertreter, es war Janas Zwischenprüfung gewesen. Sebastian wollte nach der Hälfte gehen, er halte das nicht aus, warum, hatte er nicht gesagt. Bastian, das kannst du nicht machen, reiß dich zusammen! Ich überredete ihn zum Bleiben. Anschließend war er den ganzen Abend lang sauer gewesen. Später, als sie schon eine kleine Familie waren, kauften Jana und Bernd oben im Norden spottbillig einen Bauernhof und renovierten das alte Gemäuer in jahrelanger Arbeit selbst. Die Kinder in der freien Natur aufwachsen lassen, das hatte Jana immer gewollt. Zugegeben, es war schön dort, es war ein mecklenburgisches Bullerbü.

Vor ein paar Wochen hatte mich Sebastian gefragt, ob ich mir nicht doch vorstellen könne, Kinder zu haben. Nachdem wir seit Jahren nicht mehr über Kinder gesprochen hatten. Ich glaubte, das Thema sei erledigt, ich dachte, wir seien uns einig. Auf einem Abendspaziergang durch den Park sagte er so wie nebenbei, er könne sich gut vorstellen, mit mir ein Kind zu haben. Was? Wie? Ich blieb stehen. Damit hatte ich nun gar nicht gerechnet. Warum er jetzt plötzlich damit wieder anfange? Er zuckte die Schultern. Außerdem bin ich zu alt, sagte ich, oder wärs dir egal, ein behindertes Kind zu bekommen? Ja, sagte er. Er nahm meine Hand und streichelte sie. Was ja, fragte ich. Nein, sagte er, ich meine, man muss ja nicht gleich mit so was rechnen. Ich weiß nicht, sagte er, aber ich möchte gerne mit dir eine Familie haben. Irgendwie bin ich auch neugierig, wie ein Kind von dir und mir aussähe. Und wenn wir uns mal verlassen, schob er nach, sind wir nicht ganz allein. Jeder nicht. Was soll das jetzt? Warum sollten wir uns verlassen? Warum sagst du das? Er schwieg. Seltsam, ich hatte in all den Jahren nie ernsthaft an eine Trennung gedacht und hatte wie selbstverständlich angenommen, dieser Gedanke sei Sebastian so fremd wie mir. Und überhaupt, was war das für eine Idee? Ich schwitzte. Der Weg vor uns krümmte sich zu Buckeln und Schanzen. Sebastian nahm mich in den Arm. Schhh, machte er, um mich zu beruhigen, so war das doch nicht gemeint. Ich suchte seine Augen. Seine Augen waren blau, wie immer. Andere Frauen hätten sich gefreut. Ich hatte nie Kinder gewollt. Sebastian wusste das. Ich wehrte mich mit Händen und Füßen. Ich glaubte, er wolle mir etwas unterjubeln. Lächerlich. Wollte ich nicht, würde ich kaum ein Kind bekommen. Niemals hätte ich Torschlusspanik zugegeben, selbst wenn ich sie gehabt hätte, nicht. Ich konnte in unserem Leben keinen Platz für Kinder finden. Stunden auf Spielplätzen zu verbringen, auf denen Dutzende anderer Mütter oder Väter die frühe Sozialkompetenz ihres Nachwuchses beobachten, kam mir nicht reizvoll, sondern ziemlich öde vor.

Ich schüttelte den Kopf. Mehr über mich selbst. Seine Frage war ja nun wirklich kein Grund, sich so aufzuregen. Er küsste mich auf die Stirn. Zögernd gingen wir weiter.

In der Zwischenzeit hatten wir nicht mehr darüber gesprochen.

Gibst du mir die Politik? Ich schob ihm meinen Teil der Zeitung über den Tisch. Als könne er Gedanken lesen, sah er in diesem Moment auf und sagte, wenn du nicht willst, lassen wirs. Ich meine das mit den Kindern. Er sah müde aus. Lass uns noch mal in Ruhe darüber reden, sagte ich, nicht jetzt.

Wir hatten schon gestern gepackt, viel brauchten wir ja nicht. Ich stellte Rufus Futter für zwei Tage hin, die Nachbarin würde nach ihm sehen. Aber schön aufs Klo gehen, sagte ich zu ihm und drohte mit dem Finger. Er sah mich aus seinen Kateraugen an, mit vom Alter schon etwas trübe gewordenen Pupillen, dennoch wach, zutraulich. Nein, so blickt kein Tier, das Schmerzen hat. Ich strich ihm über den Kopf, kraulte ihn hinter dem Ohr. Sebastian machte das Bett, ich den Abwasch. Gerade als ich die Tür ins Schloss ziehen wollte, klingelte das Telefon. Sebastian war schon unten. Ich wartete noch, bis der Anrufbeantworter ansprang. Sebastians Stimme: Hinterlassen Sie bitte eine Nachricht, wir rufen zurück, Piep. Es war meine Mutter. Ich wollte nur hören, wie es euch so geht. Ruf mal zurück. Sie hatte sich seit Wochen nicht gemeldet. Wir uns auch nicht. Ich zog die Tür zu.

Auf der Wippe des Spielplatzes vor unserem Haus saßen zwei Teenager und wippten wild auf und ab. Das Mädchen kreischte jedes Mal, wenn die Bewegung oben und unten jäh gestoppt wurde, der Junge blieb stumm. Die beiden, noch halbe Kinder, verloren sich keine Sekunde aus den Augen. Eine Weile stand ich einfach da und sah ihnen zu.

Sebastian wartete auf dem Beifahrersitz. Ich dachte, du fährst? Nein, fahr du. Ich setzte mich ans Steuer.

Am Tag zuvor hatte ich zwischen zwei Terminen eine Lücke gehabt. Ich schlenderte über den Mariannenplatz. Beide Hände in den Taschen meiner Jacke vergraben, trieb ich dahin wie jemand, der Zeit hat. Im Hinterkopf die nächste Projektleitung, Umbau Industriebau 19. Jahrhundert. Filzfabrikation. Fassade Backstein, gelb-rot gemustert. Mächtige Fenster horizontal. Charakter eines Ortes der Arbeit. Neu: ein Ort des gepflegten Wohnens an bevorzugter Lage am Ufer des Flusses. Wie viel Bewahrung, wie viel Neuinterpretation? Wie fügt es sich ins Ganze ein? Stadtraum. Schräg vor mir ging ein junger Mann. Er war ordentlich, fast elegant gekleidet. In der linken Hand trug er mehrere Plastiktüten. Vor einem orangefarbenen Mülleimer blieb er stehen. Sah sich kurz um. Schob den rechten Arm bis über den Ellenbogen in die Öffnung, tastete, fand, zog eine Petflasche heraus, verstaute sie in einer der Tüten. Ich kam mir vor wie ein Voyeur. Er zählte die Flaschen und ging weiter. Bevor er in den nächsten Mülleimer griff, blickte er wieder kurz um sich. Wie viel Geld verdiente man auf diese Weise pro Tag? Sagen wir dreißig Flaschen à 15 Cent, macht 4,50 Euro. Macht 135 Euro pro Monat. Immerhin. Dazu Hartz IV. So eine Tätigkeit können sie dir ja nicht nachweisen. Möglicherweise besser, als von morgens bis abends eine schäbige, schlecht bezahlte Arbeit zu tun. An der frischen Luft, keine starren Arbeitszeiten. Zeit wie Heu. Genau.

Als ich näher kam, um ihn zu überholen, sah ich die Armut an Kragen und Ellbogen. Am linken Ärmel fehlte ein Knopf, ein zweiter hing nur noch an einem Faden. Sein einziges, sein letztes Jackett. Überall leuchteten plötzlich orangefarbene Kleckse. Man glaubt ja gar nicht, wie viele Mülleimer es in so einem Kiez gibt.

Ich stieg die Treppe zum Engelbecken hinunter. In den Bäumen saßen Stare. Schwärme von Staren. Die Luft war erfüllt von ihrem Schwatzen, oder wie soll man dieses Geräusch nennen, ein elektrisches Flirren, ohne jedes sichtbare Zeichen jäh unterbrochen, bevor es wieder anschwoll. Lauter als zuvor. Im Rosengarten waren junge Rosen zwischen die alten gepflanzt worden. Laut plappernd kam mir eine Kindergartengruppe entgegen. Sie hielten sich immer zu zweien an den Händen. Durcheinandergeschrei, eines greller als das andere, jedes will gehört werden, keines wird verstanden. Unversehens senkten sie die Lautstärke, als sie sich näherten. Warfen mir Blicke zu, etwas schüchtern, etwas verschämt. Ich sah an mir herunter. Wie von selbst teilte sich die Gruppe um mich, schloss sich hinter mir wieder zusammen. Ich versuchte, eine der weiß blühenden Rosen zu brechen, musste ihren starken Stiel mit dem Bart des Hausschlüssels durchsäbeln.

Die Stare stürzten aus den Bäumen. Hunderte, Tausende Vögel, die, als bildeten sie gemeinsam einen einzigen Organismus, ein fantastisches Ballett am Himmel zeigten. Impulse zur Richtungsänderung schienen jeden einzelnen Vogel gleichzeitig zu erreichen. Sich ununterbrochen transformierend floss der Körper durch die Luft.

Ich war gern allein. Aber ich mochte es, dabei zu denken, Sebastian denke an mich in diesem Moment oder im nächsten. Ich stellte ihn mir vor, am Schreibtisch sitzend, im Gespräch mit einem Kunden, auf einer Baustelle. Mein Sebastian. Wenn er an einen anderen Menschen denkt, denkt er zuerst an mich, glaubte ich. Nach Hause kommen, ohne dass jemand wartet oder noch kommt – wie wäre das? Ich sah in die Richtung, in die die Kinder verschwunden waren. Ich bildete mir ein, ihre Stimmen noch zu hören. Die Rose roch nach nichts. Zu Hause stellte ich sie in einer Vase auf den Balkon.

Die Ampel vor der Pankower Auffahrt zeigte Grün. Leicht ansteigend, linker Hand die Riegel der Plattenbauten, beschreibt die Autobahn dreispurig eine weite Kurve nach rechts. Ich beschleunigte. Mit einem Kind würde ich die Welt anders sehen. Blumen. Die Wolken am Himmel. Ich würde langsamer gehen, weil Kinder ständig auf dem Boden etwas finden, das sie aufheben müssen, oder sie vergessen die Welt über Mohnblumen mit kurz vor dem Platzen stehenden Knospen. Knospe um Knospe klauben sie mit den kleinen Fingern auseinander und finden darin ein Mysterium, blutrote, eng gefaltete Blütenblätter. Oder sie haben Angst vor Gewittern. Sie dürften zu uns ins Bett schlüpfen. Wir würden ihnen mit unseren warmen Körpern die Angst nehmen und mit leiser Stimme erklären, dass der liebe Gott im Himmel mit Kegeln spiele.

Auch mit knapp vierzig konnte man noch gesunde Kinder bekommen. Sebastian hatte recht, man musste nicht von vorneherein mit etwas Schlimmem rechnen. Ich hielt das Steuer mit dem Knie und streckte mich. Ohne den Blick von der Straße zu nehmen, griff ich hinüber zu Sebastian. Ich spürte seinen Oberschenkel, suchte seine Hand. Ich weiß nicht, ob ich mir das einbildete, aber seine Hand war irgendwie weicher als sonst. Ich sah ihn an. Sein Kopf lehnte an der Nackenstütze, er hatte die Augen geschlossen. Ist etwas, fragte ich. Verspannte Schultern, Kopfschmerzen, ein bisschen übel sei ihm, sonst nichts. Ich massier dich, wenn wir da sind, ja? Er drückte meine Hand.

Keine Frage, wir würden Rufus einschläfern lassen müssen. Obwohl es letzte Woche etwas besser geworden war mit dem Pinkeln. Ich zögerte es hinaus, ich konnte mich einfach nicht dazu entschließen, dieses Katerleben mutwillig zu beenden. Dass er Schmerzen hatte, glaubte ich nicht. Hätte er Schmerzen, würde ich ihn sofort einschläfern lassen. Zum Operieren, sagte der Tierarzt, sei der Kater jedenfalls zu alt, er würde die Narkose nicht überleben. Sollte es ihm plötzlich schlechter gehen, müssten wir handeln. Der Verkehr lief flüssig, wir kamen gut voran.

Finowfurt. Ob Thomas mit seiner Avenir wohl auch durch den Finowkanal geschippert war? Soviel ich wusste, war selbst dieser schmale Kanal mit den großen Gewässern der Welt verbunden. Wir hatten vergessen, Thomas zu fragen, wie er eigentlich von Südfrankreich nach Berlin gekommen war. Auf dem Rhein bis in die Nordsee, die Elbe runter, Oder-Havel-Kanal, Mittellandkanal. Oder über die Donau? Auch ist es ja wohl leichter, mit dem Fluss zu fahren, statt gegen ihn. Sebastian? Ja? Hast du dir je überlegt, wie man mit einem Schiff von Südfrankreich nach Berlin kommt? Thomas, weißt du.

Keine Ahnung.

Hm.

Und die Schleusen nicht vergessen.

Knapp zwei Monate war Thomas unterwegs gewesen. Er hatte die Avenir jedenfalls heil nach Berlin gebracht, oder sie ihn. Wie mans nimmt. Sie lag im Oktober, pünktlich zum Semesterbeginn, in Grünau. Der Liegeplatz gehörte zu einem kleinen Ruderverein am Langen See. Wie eine alte Bekannte begrüßten wir das Schiff, als wir Thomas an einem Herbsttag besuchten. Der weiße Rumpf hatte Algen angesetzt, war da und dort zerschrammt. Das tat ihrer gemütlichen Schönheit jedoch keinen Abbruch, im Gegenteil. Die Avenir war ja keine hochnäsige, windschnittige Jacht, sondern ein ordinäres Fischerboot mit starker, breiter Brust. Wir setzten uns an Deck. Tags zuvor hatte Thomas Kleider und Bücher aus seinem möblierten Zimmer geholt und wohnte jetzt ganz auf dem Schiff. Um uns war nicht der Süden, sondern bewaldetes Seeufer, brackiges Wasser, keine Grillen, keine ekelhaften Mücken, kein offener Himmel, nirgends ein Leuchtturm. Dafür Fluglärm vom nahe gelegenen Flughafen Schönefeld. Autobahnlärm.

Thomas hatte extra Muscheln besorgt, die, wie ich fand, noch widerwärtiger schmeckten als in Südfrankreich. Der Fluglärm wurde weniger in der Nacht und nahm gegen Morgen wieder zu. Es wurde feucht vom Tau und wir kuschelten uns in Wolldecken. Im Wintersemester stand ein Wettbewerb an und wir sprachen darüber. Je betrunkener wir wurden, desto größere Worte nahmen wir in den Mund. Inspirationen, Innovationen, Visionen. Wir fühlten uns als Gestalter menschlicher Verhältnisse, angetreten, die Welt zu verbessern. Wir wollten uns keine Zukunft als Angestellte in großen Büros ausmalen, als Teilchen eines Betriebs, der allzu leicht auch ohne unsere Ideen auskäme. Ich fragte Thomas, warum er eigentlich keine Freundin habe. Er sagte, er könne sich eine feste Beziehung einfach nicht vorstellen. Affären ja, aber so wie wir? So viele Kompromisse. Wir blickten uns an und dachten, dass wir gar nicht viele Kompromisse machten. Das denkt jeder, sagte Thomas. Wir lachten. Du willst gehen und sie will bleiben, was macht man da, wer gibt nach? Wenn es uns hier nicht mehr gefällt, fahren wir woanders hin. Ich und meine Avenir. Das ist ja das Schöne an einem Boot, man lichtet den Anker und tschüss.

Ihr müsst eben beide das Gleiche wollen, warf ich ein. Oder du gibst nach und bleibst hier, sagte Sebastian. Tja, sagte Thomas und runzelte die Stirn. Sebastian wurde immer schweigsamer. Ab und zu stellte er noch eine Frage, aber es schien mir, die Antwort interessiere ihn eigentlich gar nicht. Das ärgerte mich. So kannte ich ihn nicht. Als wir mit der S-Bahn nach Hause fuhren, wurde es schon hell. Gehen wir zu dir? Ich wohnte damals mit Jana zusammen, er hatte eine eigene Wohnung, und so gingen wir zu ihm.

Im Frühling des nächsten Jahres löste Thomas die Leinen und tuckerte davon. Grußlos. Eine Woche lang war er nicht zur Uni gekommen. Sebastian und ich machten uns Sorgen, dachten, er liege vielleicht krank in seiner Koje. Wir fuhren nach Grünau. Die Stelle, an der die Avenir gelegen hatte, war leer, nichts dort erinnerte an Thomas, nicht einmal Abfall, keine Zigarettenkippen, nichts. Vermutlich hatte er endlich von seiner latenten Freiheit Gebrauch gemacht. Nicht nur denken, man könnte gehen, es auch tun. Ich war sauer. Thomas war dank seines Vaters finanziell unabhängig. Neid? Gedankenlos konnte er sich jede Freiheit leisten oder das, was er unter Freiheit verstand. Freunde verlassen. Sich als Desperado aufführen. Wenigstens hätte er sich verabschieden können. Monate später bekam ich eine Postkarte aus Nordafrika. Nicht böse sein, bat er. Es ginge ihnen (ihm und dem Schiff?) gut, ich solle Sebastian und die anderen grüßen.

Welche anderen?

Wozu?

Was meinst du, wo Thomas jetzt ist? Sebastian antwortete nicht, er döste. Samstag. Der Verkehr war dichter geworden. Wie konnte man nur auf die bescheuerte Idee kommen, für ein Wochenende an die Ostsee oder nach Mecklenburg zu fahren? Wozu für ein Wochenende Hunderte Kilometer fahren? Wir hätten doch zu Hause bleiben sollen! Ich war genervt. Diese verfluchte Schwüle. Zum Glück schlief Sebastian. Sonst hätte ich ihn womöglich wegen einer Lappalie angefaucht. Ich blinkte, zog hinüber auf die linke Spur, beschleunigte auf knapp zweihundert. Scheuchte vor mir alles runter, was langsamer fuhr. Half ganz gut. Von Joachimsthal bis Pfingstberg gibt es fast dreißig Kilometer lang keine einzige Ausfahrt. Durch die Schorfheide. Wald rechts, Wald links, Wildzäune. Kurz vor Pfingstberg war die Wut verflogen.

Eine Frau würde wohl oft Angst um Thomas haben. Ich stellte mir vor, wie er das Festland bei schlechtem Wetter verlassen hatte. Vor sich das sperrangelweit offene Meer. Hatte ihn keiner gewarnt? Er hätte sowieso jede Warnung in den Wind geschlagen. Ich glaube, Thomas setzte sein Leben bewusst aufs Spiel. Ohne Risiko kein Gewinn. Was war der Gewinn? Landfall an schier unerreichbar fernen Küsten? Sich von den Gewalten der Natur nicht einschüchtern, sondern herausfordern lassen? Ablegen. Geh nicht, warte! Niemand sagte das zu ihm. Am Limit. Sich nur lebendig fühlen auf Messers Schneide. Das habe ich nie verstanden. Wir hatten Thomas damals Capitano genannt. Es klang ein bisschen nach Kuba, nach Revolution. Capitano. Es klang nach den naiven Träumen wohlbehüteter Kinder, die nicht wussten, was Freiheit sonst noch bedeuten kann.

Auf Monate hinaus war unser, Sebastian und mein Leben verplant. Anders ging es nicht. Wir lebten von Termin zu Termin. Wir arbeiteten weit über jeden Feierabend hinaus. Leere Zeit kam selten vor, Spontaneität, Leben im Jetzt. Wir hatten unsere Rituale, Zeitung lesen frühmorgens. Bevor wir beide aus dem Haus gingen in die Büros, auf Baustellen, zu Kunden. Seit zwei Monaten war dieses Wochenende in Mecklenburg fest verabredet. Unsere Freunde hatten ihrerseits viele Freunde und einen Plan für sämtliche Sommerwochenenden. Alle besetzt. Großes Problem, wenn man (wie wir das zweimal getan hatten) einen Besuch verschieben musste. War es vielleicht gar nicht das Risiko, das Thomas suchte, sondern das Erstaunliche, das Überraschende, das nicht ohne Risiko zu haben ist? Nicht wissen, was morgen sein wird. Nicht jeder kann das ein Leben lang.

Prenzlau. Ich fuhr jetzt im Windschatten eines Lastwagens. Ewig so weiterfahren, im Windschatten der Schwichow-Söhne-Spedition, Stettin. Wie hatte Sebastian wissen können, dass ich mich umstimmen ließe? Sein Kinderwunsch hatte Tag für Tag an mir geknabbert, hatte sich klammheimlich in einen eigenen Wunsch verwandelt. Ich würde ihm am Abend sagen, dass ich mir jetzt doch auch ein Kind vorstellen konnte.

Plötzlich bremste der vor mir hart. Im letzten Moment konnte ich noch reagieren. Sebastian schreckte aus dem Schlaf. Er richtete sich etwas auf, rieb sich die Augen. Was ist? Weiß nicht, Stau wahrscheinlich. Auch ich war müde. Und jetzt noch das hier. Als es nach einer Viertelstunde noch immer nicht weiterging, rief ich bei unseren Freunden an und sagte, es würde später werden. Stau, Wochenendverkehr. Zugleich sah ich im Rückspiegel blaue Lichter und hörte die Sirene. Oder doch ein Unfall, kann dauern. Ihr Armen, bei der Hitze, sagte Jana im schattigen Garten ihres Landhauses, im Hintergrund Gebell und Geschrei. Bis bald, sagte ich. Die Ambulanz fuhr vorbei. Die Leute begannen auszusteigen und Richtung Unfall zu schlendern. Ich hatte Gänsehaut. Unweigerlich ist man froh, verschont geblieben zu sein. Lebendig, unverletzt. Freut sich ein bisschen. Keine Schadenfreude, Erleichterung vielmehr. Um sich das Warten zu verkürzen, stellt man sich die Frage, wie das Schicksal eigentlich die Opfer auswählt. Nach welchem Schlüssel. Gerecht, ungerecht. Warum überlebt man einen Flugzeugabsturz oder ein Fährunglück. Warum verpasst einer aus irgendwelchen Gründen das Schiff, das untergehen wird. Zu spät am Hafen, obwohl er sonst immer überall zu früh hinkommt. Und ein anderer, der nicht selten Züge, Flugzeuge und Fähren verpasst, ist ausnahmsweise mal pünktlich am Check-in.

Hat der eine im Leben nur Pech und der andere nicht. Als säße Gott im Himmel mit einer riesigen Fliegenklatsche. Habe sich ein Menschlein ausgesucht unter Milliarden. Ein Schlag. Das Menschlein aber, nicht richtig getroffen, nur Krebs, krabbelt weiter. Gott schleicht ihm nach mit erhobener Klatsche. Patsch. Noch immer lebt der Mensch. Gott ärgert sich. Patsch, patsch, patsch. Hier ein Infektiönchen, dort eine Metastase, bis der Mensch endlich tot ist. Kann jedem passieren, passiert aber nicht jedem. Dem einen alles und dem anderen fast nichts. Wer soll das verstehen? In tiefem Flug näherte sich ein Hubschrauber. Offenes Land jenseits der Leitplanken. Das Getreide war bereits geerntet, ein Teil der Felder schon wieder umgebrochen. Dazwischen weite Stilllegungsflächen, bestanden von schütterem, verdorrtem Grün. Steppengras. Steinbrocken. Kein Schatten, nirgends. Ich lehnte mich zurück, machte es mir so bequem wie möglich. Warten. Sebastians Haar über der Stirn war feucht vom Schweiß, an der Schläfe hatten sich Rinnsale gebildet. Ich nahm ein Taschentuch aus der Ablage unter dem Armaturenbrett, gab es ihm. Er schnäuzte sich und tupfte sich den Schweiß ab. Sofort war wieder neuer da.

Schon stieg der Hubschrauber in die Höhe, drehte ab und flog nach Süden davon. Sie flogen nach Berlin zurück. In Brandenburgs Krankenhäusern war Überleben ja noch immer Glücksache. Neulich war ich in der Zeitung auf eine Statistik gestoßen. Wonach in den sogenannten neuen Bundesländern glatte fünfzig Prozent mehr Menschen an Herzerkrankungen starben als im Rest der Republik. Es ging gegen Mittag. Die Sonne war jetzt bedeckt von schlierigem Gewölk. Wie lange würde das hier noch dauern? Manche hatten den Motor angelassen, damit die Klimaanlage funktionierte. Wir hatten keine. Ich stieg aus.

Bastian, bleibst du hier? Falls es plötzlich weitergeht.

Er nickte.