Die Drei Fragezeichen
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und der Nebelberg

erzählt von André Marx

Kosmos

Umschlagillustration von Silvia Christoph, Berlin

Umschlaggestaltung von eStudio Calamar, Girona, auf der Grundlage

der Gestaltung von Aiga Rasch (9. Juli 1941 – 24. Dezember 2009)

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele
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Aktivitäten findest du unter kosmos.de

© 2013, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Mit freundlicher Genehmigung der Universität Michigan

Based on characters by Robert Arthur.

ISBN 978-3-440-14194-6

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Ruhestörung

Etwas piepte.

Di-di-di-di-di-di-di-dit.

Di-di-di-di-di-di-di-dit.

Di-di-di-di-di-di-di-dit.

Das Geräusch wand sich wie ein Wurm in Bobs Gehörgang, flatterte wie ein lästiges Insekt an der Schwelle zwischen Schlafen und Wachen. Einen Moment lang versuchte Bob sich noch dagegen zu wehren, doch dann war er wach.

Di-di-di-di-di-di-di-dit.

Di-di-di-di-di-di-di-dit.

Ein verfluchter Wecker. Aber nicht sein eigener, sondern der von Peter. Der vermutlich seelenruhig im Schlafsack neben ihm schlief und nichts mitbekam. »Peter!«, knurrte Bob.

Nichts rührte sich.

»Peter! Stell deinen bescheuerten Wecker aus!«

Di-di-di-di-di-di-di-dit.

Bob vergrub seinen Kopf unter dem zusammengerollten Pullover, den er als Kissen benutzt hatte, und hielt sich die Ohren zu. Es nützte nichts.

»Peter!«, rief nun auch Justus, der in der anderen Ecke des Zeltes schlief. Geschlafen hatte. Wütend rüttelte er an Peters Schulter.

Peter fuhr hoch, riss die Augen auf und versicherte: »Ich habe zugehört! Ich bin wach! Wie war die Frage?«

Bob verdrehte die Augen. »Du bist nicht in der Schule, Peter. Sondern in einem Zelt. Es ist drei Uhr nachts. Und dein Wecker klingelt schon seit Stunden. Stell ihn aus. Sofort!«

Langsam begriff Peter die Situation und hörte das Piepen nun auch.

Di-di-di-di-di-di-di-dit.

Das war in der Tat der Reisewecker, den er mitgenommen hatte. Irgendwie hatte er sich wohl versehentlich von allein angestellt.

Di-di-di-di-di-di-di-dit.

Wo war das blöde Ding nur?

»Stell ihn aus!«, wiederholte Bob wütend, drehte sich um und versuchte das Piepen zu ignorieren und wieder einzuschlafen.

»Würde ich ja gern, aber ich weiß nicht, wo –«

»In deinem Rucksack«, schlug Justus genervt vor.

Die Rucksäcke lagen am Fußende des Zeltes. Peter pellte sich aus seinem Schlafsack in dem Bemühen, die anderen so wenig wie möglich zu stören. Was nicht einfach war, denn dieses Zelt war verflucht eng.

»Aua!«, beschwerte sich Bob, als Peters Knie ihm ins Kreuz drückte.

»’tschuldigung.« Peter tastete sich im Dunkeln vorwärts, bekam den Rucksack zu fassen und fummelte an seinen zahlreichen Reißverschlüssen.

Di-di-di-di-di-di-di-dit.

Wo hatte er den Wecker verstaut? Er konnte sich nicht erinnern. Vermutlich war er nach ganz unten gerutscht. Peter leerte den Rucksack kurzerhand Stück für Stück und warf die Kleidungsstücke hinter sich.

»Jetzt reichts’s, Peter!«, rief Justus. »Hör auf, deine stinkenden Socken nach mir zu schmeißen!«

»Mann, das Zelt ist einfach zu klein! Wo soll ich denn sonst damit hin?«

»Jedenfalls nicht in mein Gesicht! Das ist echt eklig!«

Di-di-di-di-di-di-di-dit.

»Ich finde dieses blöde Teil nicht!«

»Dann mach doch einfach mal das Licht an!«

»Ich weiß nicht, wo die Taschenlampe ist.«

Bob stöhnte. Jetzt war er endgültig wach. Keine Chance, noch mal einzuschlafen. Er richtete sich auf, tastete die Ecke des Zeltes ab, in der er lag, und reichte Peter die Lampe.

»Danke.«

Der helle Lichtkegel blendete alle drei im ersten Moment.

»He!«, empörte sich Justus. »Das ist mein Rucksack, den du da gerade ausräumst!«

»Was? Echt? Hab ich in der Dunkelheit gar nicht gesehen.« Peter grinste. »So viel also zu stinkenden Socken, Just.«

Di-di-di-di-di-di-di-dit.

Justus war nicht zu Scherzen aufgelegt. »Stell endlich dieses verfluchte Ding ab!«

»Ich kann es nicht finden!«

»Bist du sicher, dass es diesmal der richtige Rucksack ist?«

»Ja.«

Nun beteiligten sich Justus und Bob an der Suche. Innerhalb von Sekunden war das Innere des Zeltes ein Chaos aus Klamotten, Campingkochern und Wanderstiefeln. Vom Wecker keine Spur.

Di-di-di-di-di-di-di-dit.

»Wieso hast du dieses ätzende Teil überhaupt mitgenommen, Peter? Ein Wecker! Wir haben Ferien, schon vergessen?«

»Man kann nie wissen, wozu man ihn mal braucht«, verteidigte sich Peter lasch.

»Genau. Zum Beispiel, um seine Weggefährten mitten in der Nacht um –«, Bob sah auf die Uhr, »– um drei Uhr zwölf in den Wahnsinn zu treiben. Verflucht, wo ist das Ding?«

Di-di-di-di-di-di-di-dit.

»Pst!«, zischte Justus. »Seid mal still!«

Di-di-di-di-di-di-di-dit.

»Hört ihr das?«

Di-di-di-di-di-di-di-dit.

»Was denn?«

Di-di-di-di-di-di-di-dit.

»Das kommt gar nicht aus dem Rucksack.«

Di-di-di-di-di-di-di-dit.

»Das ist irgendwo anders im Zelt. Leuchte mal hier rüber, Peter!«

Di-di-di-di-di-di-di-dit.

»Hört sich an, als käme es aus meinem Schlafsack«, sagte Peter. »Aber das kann ja kaum sein – da lag ich ja gerade noch drin.« Er klopfte auf das Fußende – und ertastete einen kleinen, harten Gegenstand. »Oh nein.«

Di-di-di-di-di-di-di-dit.

»Peter!«, knurrte Bob. »Ich bring dich um! Der Wecker steckt in deinem Schlafsack?«

»Ich weiß auch nicht, wie er da reingekommen ist«, versicherte Peter und beeilte sich, den Reisewecker aus seinem Versteck zu holen. »Er muss da irgendwie reingerutscht sein.«

»Großartig«, sagte Justus mit einem Blick auf das Chaos, das sie angerichtet hatten.

Di-di-di-di-di-di-di-dit.

Peter schaltete den Wecker aus.

Alle atmeten auf und genossen sekundenlang die Stille.

Dann bebte die Erde.

Bobs Reisetagebuch:

Ich sitze gerade auf einem Stein an einem Waldrand in der Nähe eines plätschernden Baches irgendwo in den Rocky Mountains, kaue auf einem trockenen Stück Brot herum und beobachte immer wieder den Himmel. Es sieht nach Regen aus. Und Regen ist das Letzte, was ich jetzt noch brauche. Wir sind bereits den zweiten Tag unterwegs und in diesen zwei Tagen ist so ziemlich alles schief gelaufen, was schief laufen kann. Aber ich bin bisher noch nicht dazu gekommen, in dieses kleine Buch zu schreiben, daher erzähle ich besser von Anfang an:

Es war Peters Idee gewesen, in diesen Ferien wandern zu gehen. Er wollte in die Berge, in die Einsamkeit, weit weg von allen Menschen, weit weg von allem, was uns wieder in Schwierigkeiten bringen könnte. Ich fand die Idee gut. Ich kann mich gar nicht mehr an Ferien erinnern, in denen wir wirklich Urlaub gemacht haben, anstatt an einem Fall zu arbeiten, der früher oder später gefährlich für uns wurde. Justus war natürlich nicht so begeistert. Erstens kann es ihm gar nicht gefährlich genug sein und zweitens hat Wandern natürlich etwas mit körperlicher Anstrengung zu tun, die unser Erster Detektiv nach wie vor wie die Pest hasst. Doch, Wunder über Wunder, am Ende konnten wir uns tatsächlich durchsetzen. Unter der Bedingung, dass Justus die Reiseroute festlegt. Und da er nun einmal unser Mann fürs Extreme ist, sind wir seit unserem Aufbruch gestern Morgen keiner Menschenseele mehr begegnet. Wir laufen mitten durch die Rocky Mountains, die einsamste Gegend der Welt, wie mir scheint, auch wenn Justus mich immer wieder darauf hinweist, dass die Bevölkerungsdichte in diesem Teil der Erde nur knapp unter dem globalen Durchschnitt liegt. Ich merke davon nichts.

Wir sind mit Peters Wagen, der jetzt zwei Tagesmärsche entfernt auf einem einsamen Parkplatz steht, in die Berge gefahren, um von dort aus zu starten. Die Katastrophe begann bereits beim Aufsetzen der Rucksäcke. Sie wogen ungefähr eine Tonne und wir mussten erst mal die Hälfte rausschmeißen und im Kofferraum lassen, bevor es losgehen konnte. Natürlich waren wir dabei nicht besonders sorgfältig, was uns jedoch erst auffiel, als es zu spät war.

Beispielsweise ist der Dosenöffner zurückgeblieben, die Dosen jedoch nicht, und Peter hat sich gestern Abend bei dem Versuch, uns eine Dose Tomatensuppe auf zu machen, in den Finger geschnitten. Wobei uns auffiel, dass die Pflaster ebenfalls auf der Strecke geblieben sind. Er läuft jetzt mit einem verknoteten Taschentuch am Daumen herum und stöhnt alle fünf Minuten, dass sich die Wunde (es ist höchstens ein kleiner Kratzer!) bestimmt fürchterlich entzünden wird und wir zehn Tage lang keinem Arzt über den Weg laufen werden. Er überlegt schon, welche Berufe er später noch ausüben kann, wenn der rechte Daumen erst mal amputiert ist. Ansonsten ist er aber wie gewohnt der Fitteste von uns dreien und kann die meisten Pausen machen, weil er immer wieder auf uns warten muss.

Zweimal haben wir uns bereits verlaufen. Justus hat zwar eine gute Karte dabei, doch manchmal sind die Wege nicht mehr als kaum sichtbare Trampelpfade durch den Wald, und wenn man einmal nicht aufpasst und vorbeiläuft, riskiert man riesige Umwege.

Justus legt eine seltsame Mischung aus Selbstmitleid und Entschlossenheit an den Tag. Er keucht und schwitzt zwar unter der Last seines Rucksacks (obwohl ich den Verdacht habe, dass er bei der Neuverteilung des Gewichts zu seinen Gunsten geschummelt hat) und würde am liebsten eine Pause nach der anderen machen. Auf der anderen Seite will er sich seine Schwäche aber nicht eingestehen – und uns schon gar nicht. Immerhin hat er die Route festgelegt und ist nun fest entschlossen, den Zeitplan einzuhalten, der vorsieht, dass wir in zehn Tagen einen großen Rundweg schaffen und am Ende wieder am Parkplatz ankommen. Ich muss mir das Lachen immer wieder verkneifen, wenn ich sehe, wie Justus sich in der Falle windet, die er sich selbst gestellt hat.

Und ich? Mir geht es so weit ganz gut, abgesehen davon, dass ich eine gemeine Blase unter dem linken Fuß habe und mir auch sonst alles wehtut. Außerdem habe ich ständig Hunger. Unsere Vorräte gehen langsam zur Neige, aber vor morgen Abend können wir nichts nachkaufen. Die Stimmung ist durchwachsen. Wenn es jetzt auch noch zu regnen anfangen sollte, kann ich für nichts mehr garantieren.

Ach ja, unsere erste Nacht im viel zu kleinen Zelt war eine Katastrophe aus unbequemem Waldboden, Schnarchen im Stereosound, Mundgeruch und Peters Wecker, der um drei Uhr anfing zu piepen und dann nicht aufzutreiben war. Am Ende fand er sich in seinem Schlafsack. Idiotisches Ding! Ein Dosenöffner hätte uns mehr gebracht. Und dann gab es noch ein kleines Erdbeben. Zu Hause in Rocky Beach hätten wir es wahrscheinlich gar nicht gemerkt, aber da wir ja nun mal wach waren …

Justus meint, dass Erdbeben in dieser Gegend ungewöhnlich seien. Aber wahrscheinlich sucht er nur verzweifelt nach mysteriösen Ereignissen, über die er nachdenken kann, damit sein Hirn in diesen Ferien nicht einrostet. Es ist wohl seine größte Sorge, dass die drei Detektive diesmal tatsächlich vollkommen unspektakuläre Ferien verbringen könnten. Aber wenn ich das richtig sehe, muss er sich damit wohl abfinden. Außer der freien Natur gibt es hier einfach nichts. Und ohne Menschen auch keine Verbrechen, da kann er sich auf den unterforderten Kopf stellen. Obwohl Peter ja steif und fest behauptet, er habe im Radio gehört, dass ein seit Wochen flüchtiger, gemeingefährlicher Sträfling namens Radcliffe hier in den Bergen gesehen worden sein soll. Aber das ist schon ein paar Wochen her und der Typ ist garantiert bereits einige Bundesstaaten weiter. Ich glaube, Peter fühlt sich einfach nicht wohl, wenn er nicht vor irgendetwas Angst haben kann.

Demnächst mehr, wir müssen weiter, die anderen drängeln schon.

Verirrt!

»Nun pack endlich dieses blöde Buch weg, Bob, sonst schaffen wir unser Etappenziel heute nicht mehr!«

»Ist ja schon gut!« Bob Andrews schrieb einen letzten Satz, dann verstaute er das Tagebuch in seinem Rucksack. Ächzend schulterte er ihn und zog den Hüftgurt mit einem Ruck stramm. So ließen sich die fünfzehn Kilo auf seinem Rücken ertragen.

»Dann mal los!«, feuerte Peter die Truppe an. »Immer nach Osten, den Regenwolken entgegen, juhu! Und da vorn ist auch schon unser Wanderweg, der fast nur aus riesigen Steinen besteht, auf denen man klasse ausrutschen und sich den Fuß brechen kann! Das hat mir noch gefehlt nach der Sache mit dem Daumen. Hoffentlich gibt es in diesem Ort, den wir morgen erreichen, einen Arzt. Sonst –«

»Muss dein Daumen amputiert werden«, sagten Justus und Bob wie aus einem Munde. »Alles klar, Zweiter.«

Sie machten sich auf den Weg. Der Wanderpfad führte am Rande eines Nadelwaldes entlang. Links lag das undurchdringliche Dunkel des Waldes, in dem die Baumstämme wie die Säulen in einer Kathedrale kerzengerade emporragten und in der dichten Nadelkrone verschwanden. Spinnennetze, die zwischen den Bäumen gespannt waren, glitzerten silbern in der feuchten Luft. Rechts hatten sie einen herrlichen Blick auf wilde Wiesen, deren Blumen zwischen moosbewachsenen Felsen in den buntesten Farben blühten.

Die Landschaft war wunderschön, das musste Justus zugeben. Doch sobald er nach vorn blickte, verging ihm der Genuss. Der Weg führte steil bergauf. Er war steinig und rutschig und Justus trat bei jedem dritten Schritt so ungünstig auf, dass seine Fußgelenke schmerzten. Und wenn der Pfad um eine Kurve führte und Justus einen Blick auf das erhaschen konnte, was vor ihnen lag, so sah er nur eines: Berge, Berge, Berge, so weit das Auge reichte. Welcher Teufel hatte ihn geritten, als er diese Route ausgewählt hatte?

Justus wischte sich die ersten Schweißperlen von der Stirn, steckte die Daumen hinter die Riemen des Rucksackes, um seine Schultern zu entlasten, und richtete seinen Blick auf den steinigen Weg.

Schon nach kurzer Zeit hatte Peter die Führung übernommen, gefolgt von Bob. Justus bildete das Schlusslicht. Daran hatte er sich inzwischen gewöhnt, aber es machte ihm nichts aus. Ihm stand sowieso nicht der Sinn nach Unterhaltung. Er war froh, wenn er für eine Weile seine Ruhe hatte und sich nicht den Vorwürfen seiner Freunde aussetzen musste. Außerdem brauchte er all seine Kraft, um einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Es ging weiter und weiter bergauf. Sie wanderten zwei Stunden lang ohne Pause. Nur hin und wieder nahm Justus einen erfrischenden Schluck aus seiner Wasserflasche, die er morgens an einem kleinen Bach aufgefüllt hatte. Noch immer lag linker Hand der Wald, doch der Baumbestand wurde spärlicher und die Bäume kleiner. Sie schienen bereits auf einer beachtlichen Höhe zu sein. Justus versuchte, sich die Karte in Erinnerung zu rufen – und stutzte. Wieso hatte er eigentlich schon seit zwei Stunden nicht mehr den Weg überprüft? Er blieb stehen.

»He!«, rief er. Bob war zweihundert Meter vor ihm, von Peter keine Spur. »He! Wartet doch mal!«

Bob reagierte, rief nach Peter und schließlich versammelten sie sich an einem kleinen Felsen.

»Was ist denn?«, fragte Peter. »Willst du etwa schon wieder Pause machen?«

»Nein«, log Justus. »Ich will nur wissen, ob wir noch auf dem richtigen Weg sind. Ich hoffe, du hast die Karte im Auge behalten, Peter?«

»Die Karte?«, fragte der Zweite Detektiv. »Die hast du doch die ganze Zeit.«

»Nein, du hast sie.«

»Nö.«

»Sag, dass das nicht dein Ernst ist.«

»Ich hatte noch nie die Karte! Du bist schließlich der Chef.«

Justus fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und nahm den Rucksack ab.

»Was soll das werden? Doch eine Pause?«

»Ich suche die Karte, verdammt noch mal!«, fauchte Justus. »Und ihr solltet das auch tun! Ohne Karte sind wir nämlich aufgeschmissen, falls euch das nicht klar sein sollte.« Er öffnete seinen Rucksack und begann ihn zu durchwühlen. Nach einiger Zeit taten es ihm die anderen gleich.

»Also, ich hatte die Karte noch gar nicht in der Hand«, versicherte Bob, während er seine Ausrüstung unter die Lupe nahm.

»Hier ist sie nicht«, sagte Peter und schloss seinen Rucksack.

»Bist du sicher? Vielleicht steckt sie in deinem Schlafsack. Da findet sich ja so einiges wieder.«

»Quatsch! Wie sollte sie denn da reinkommen?«

»Das habe ich mich bei deinem Wecker auch gefragt.«

»Ich hatte diese Scheißkarte noch keine Sekunde in der Hand!«, rief Peter wütend. »Du hattest sie die ganze Zeit! Wieso gibst du nicht zu, dass du sie verloren hast?«

»Weil ich sie nicht verloren habe! Bei unserer Mittagspause hast du die Karte studiert – und vermutlich eingesteckt.«

»Ich habe sie nicht studiert, ich habe sie als Unterlage benutzt, damit das Brot nicht nass wird. Und eingesteckt habe ich überhaupt nichts.«

»Und wo ist sie dann?«

»Wenn du so trottelig warst, sie nicht mitzunehmen – wahrscheinlich immer noch an unserem Rastplatz.«

»Wenn du eine vierzehn Dollar fünfundneunzig teure Karte als Picknickdecke missbrauchst, bist du ja wohl auch verpflichtet, sie wieder zusammenzufalten und mitzunehmen!«

»Leute!«, rief Bob. »Das bringt doch nichts! Die Karte ist weg. Wer daran schuld ist, ist doch völlig egal. Die Frage ist: Was tun wir jetzt?«

Justus seufzte und ließ sich ins feuchte Gras fallen. Sein Hosenboden wurde sofort nass. Es war ihm egal. Alles war egal. Die Karte lag zwei Marschstunden hinter ihnen. Ein Universum weit entfernt.

»Tja, wir müssen sie wohl holen gehen«, sagte Bob nach einer Weile und versuchte unbeschwert zu klingen.

»Zwei Stunden bergab und dann wieder zwei Stunden bergauf?«, fragte Justus. »Auf gar keinen Fall!«

»Wenn wir die Rucksäcke hier lassen, schaffen wir es schneller. Wir könnten in drei Stunden wieder zurück sein.«

»Und bis dahin sind die Rucksäcke geklaut«, orakelte Peter.

»Von wem denn, Zweiter? Hier ist doch niemand!«

»Von diesem ausgebrochenen Sträfling zum Beispiel.«

Bob verdrehte die Augen. »Einer könnte hier bleiben und sie bewachen.«

»Und wer, bitte schön? Ich bleibe nicht alleine bei den Rucksäcken, wenn hier ein Schwerverbrecher herumläuft!«

»Außerdem haben wir keine drei Stunden, Bob«, fügte Justus hinzu. »Die drei Stunden, die wir heute länger brauchen, fehlen uns morgen, was bedeutet, dass wir dann morgen Abend nicht in Greenvalley ankommen werden. Wir können keine Vorräte kaufen und müssen elendig verhungern.«

»Nun übertreib mal nicht, Just!«

»Ich übertreibe nicht. Wir haben doch jetzt schon kaum noch was zu essen!«

»Ist Greenvalley denn der einzige Ort weit und breit?«, fragte Peter. »Kann ich mir nicht vorstellen. Es muss doch noch andere Dörfer in den Bergen geben!«

»Gibt es auch«, sagte Justus. »Aber wie sollen wir die ohne Karte finden?«

»Also müssen wir doch zurück und die Karte holen, so oder so«, fasste Bob zusammen. Obwohl er der Letzte war, der Lust hatte, den ganzen Weg wieder zurückzulaufen.

Doch der Erste Detektiv schüttelte den Kopf.

»Nicht unbedingt. Es gibt noch eine Möglichkeit.«

»Nämlich welche?«

»Wir versuchen Greenvalley ohne Karte zu finden und kaufen uns dann dort eine neue.«

»Und wie soll das gehen?«

»Ich habe mir die Karte sehr genau angesehen. Vielleicht kriege ich sie im Kopf wieder zusammen. Das wird allerdings nicht ganz einfach werden, denn einen Abzweig haben wir bereits verpasst.«

»Haben wir nicht«, widersprach Peter. »In den letzten zwei Stunden gab es keinen Abzweig. Wenn da einer gewesen wäre, hätte ich ja auf dich gewartet, um dich zu fragen, welchen Weg wir nehmen sollen.«

»Es muss einen gegeben haben«, beharrte Justus. »Denn eines weiß ich sicher: Unsere Route führte uns auf keinen Fall die ganze Zeit bergauf. Es war geplant, diesen Berg zu umrunden anstatt ihn zu erklimmen. Aber jetzt sind wir schon ziemlich weit gekommen, also würde ich vorschlagen, wir gehen einfach weiter, überqueren den Berg und treffen auf der anderen Seite auf unseren eigentlichen Weg. Von da aus weiß ich die Route auf jeden Fall.«

»Klingt ganz easy«, fand Bob. »Ich hoffe nur, das klappt auch.«

»Ich wüsste nicht, was dagegen spricht.«

»Die berühmten letzten Worte«, sagte Peter düster. »Na schön. Wenn du meinst, du kriegst das hin, Justus, dann mal los.«

Der Erste Detektiv stand auf, schulterte seinen Rucksack und blickte den Pfad hinauf. »Wenn wir jetzt noch die Himmelsrichtungen wüssten, wäre das alles überhaupt kein Problem mehr.«

Peter sah sich einen Moment um. Dann zeigte er Richtung Wald und sagte: »Da ist Norden.«

Bob hob überrascht die Augenbrauen. »Die Sonne ist komplett hinter den Wolken verschwunden. Woher willst du wissen, dass dort Norden ist? Hast du einen Kompass in deinem Kopf oder so was?«

Der Zweite Detektiv lächelte überlegen. »Ich bin zwar vielleicht nicht so schlau wie Justus und nicht so belesen wie du, Bob, aber mein Orientierungssinn war schon immer ziemlich brillant, das wirst du zugeben müssen. Außerdem gibt es ein paar ganz einfache Hinweise. Die Felsen hier zum Beispiel. Sie sind mit Moos bewachsen. Vor allem an einer Seite. Logischerweise an der, die am meisten Wasser abkriegt. Und da hier in den Bergen größtenteils Nordwind herrscht, muss die Seite der Felsen, an der am meisten Moos wächst, weil der Wind den Regen dranklatscht, die Nordseite sein.«

»Das hätte ich auch gewusst«, behauptete Justus.

»Das kann schon sein, Just. Aber du hast keinen Blick für diese Dinge.«

»Da hat Peter Recht«, sagte Bob. »Während du den ganzen Tag in der Zentrale vor dem Computer hockst, joggt und radelt Peter durch die Wälder.«

»Wie gut, dass wir einen echten Naturburschen dabeihaben«, meinte Justus.

Peter war sich nicht sicher, ob es Anerkennung oder Spott war, was in seiner Stimme mitschwang. Er entschied sich für Anerkennung und sagte: »Auf geht’s, Kollegen!«