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2., aktualisierte Nachauflage, 2012

© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

www.mitteldeutscherverlag.de

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

1. digitale Auflag: Zeilenwert GmbH 2013

ISBN 9783954621576

Robert von Lucius

DREI BALTISCHE WEGE

Litauen, Lettland, Estland –
zerrieben und auferstanden

mitteldeutscher verlag

Ebenfalls erhältlich:

Robert von Lucius

NICHT VON HIER UND NICHT VON DORT

Umbruch und Brüche in Südafrika

Mit Fotografien von Jürgen Schadeberg

2., aktualisierte Auflage • 240 Seiten • gebunden • ISBN 978-3-89812-644-1

Kern, Schnittstelle, Brücke

Die drei baltischen Länder Estland, Lettland und Litauen sind historisch und kulturell ein uralter Teil Kerneuropas und waren doch lange abgeschnürt. Wie kaum ein anderes Gebiet Mitteleuropas liegt das Baltikum an der Schnittstelle zwischen West und Ost, diente als Brücke für Handel und Kultur, wurde aber auch zwischen den Großmächten zerrieben. Dennoch bewahrte es ­seine innere Eigenständigkeit, der die äußere Unabhängigkeit in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts spät und kurz folgte. Nach fünf Jahrzehnten der Besetzung – kurz durch das Deutsche Reich, länger durch die Sowjetunion – sind Lettland, Litauen und Estland seit 1991 wieder frei und unabhängig.

Wer heute erstmals nach Tallinn (Reval), Riga oder Vilnius (Wilna) kommt, wird es kaum glauben können: Vor zwei Jahrzehnten standen dort russische Panzer – Estland, Lettland und ­Litauen waren Sowjetrepubliken. Heute steht ein Designer-Laden mit den bekannten westlichen Modemarken neben dem anderen. Im Jahr 2011 war Tallinn Kulturhauptstadt Europas, zwei Jahre zuvor führte Vilnius diesen Titel. Die drei Länder erzielten in den ersten fünf Jahren nach ihrem Beitritt zur Europäischen Union und zur Nato 2004 mit jeweils zwischen neun und zehn Prozent das ­höchste Wirtschaftswachstum innerhalb der EU und beklagten sich über bürokratische Regelungen aus Brüssel, die den freien Markt behindern. Ihre einfachen Steuerregeln fanden Anhänger und Neider in Westeuropa. Alle drei Länder begannen als Agrarstaaten. Sie wurden rasch Dienstleistungsgesellschaften – Estland für die Informationstechnologie, Lettland und Litauen für ­Energie und Transport. In kaum einem anderen Land der EU spielen Computer, Internet und Mobilfunk eine solch herausragende Rolle wie in Estland. Als erstes Land der Welt konnten die Bürger dort vom heimischen Computer aus über das Internet wählen statt in der Wahlkabine. Dann kam die Krise, ebenso wie zuvor der Aufschwung, stärker als anderswo. Die Esten waren die Ersten in der Region, die sie überwanden – beschleunigt durch den Anstoß, den die Euro-Einführung zum Jahresbeginn 2011 ihnen gab.

Wirtschaftlich haben sich die drei Nachbarn der Marktwirtschaft zugewandt, auch wenn es Rückschläge gibt und viele Veränderungen nur schleppend vorankommen. Dies gilt für die Privatisierung, die ausufernde Korruption oder den Versuch, eine überalterte und träge Bürokratie und Justiz auszuwechseln mit neuem Denken, neuen Regeln und neuen Menschen. Überall sind junge Gesichter zu sehen, Menschen, die erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion studierten. Minister, Abteilungsleiter, Generaldirektoren, Marinebefehlshaber: Viele sind um die dreißig Jahre alt, kaum jemand ist über 40. Sie sehen sich als „Generation der Gewinner“. Anpassungsfähigkeit, rasches Handeln und hartes Arbeiten sind gefragt. So ist es kein Wunder, dass Estland zum Modell wurde (und gerne damit kokettiert), das in der Welt des Webs ideenreicher und weiter ist als die meisten „alten“ Länder der EU. Für die Boutiquen haben vorerst nur Besucher aus Russland Zeit. Diese aber geben dann so viel Geld aus, dass sich auch diese, meist leeren Luxusläden lohnen. Zumindest zum Feiern kommen junge Litauer, Letten und Esten selbst während der Woche. Restaurants und Diskos sind auch noch am frühen Morgen voll mit übermütigen „Jungen“.

Dieser Umbruch, den wohl nur wenige Gesellschaften so nachhaltig, gründlich und behände bewältigten, hat seinen Preis – wirtschaftlich, sozial und politisch. Viele fühlen sich ausgegrenzt. Sie wurden in den neuen Staaten des aufgeblähten Wirtschaftswunders leicht vergessen, auch von der neuen Elite, weil sie nicht ständig zu sehen sind. Alte Menschen, Landbewohner, die russischsprachigen Minderheiten werden vor allem in Estland und Lettland politisch und wirtschaftlich benachteiligt. Viele kommen nicht zurecht mit dem Wandel, der mit den Stichworten Marktwirtschaft, Nato und EU sowie Jugendkult nur äußerlich umschrieben wird. Alkoholismus und Rauschgiftsucht stiegen rapide – Litauen meldete die höchste Selbstmordrate Europas, Estland die höchste Aidsrate der EU. Dazu kamen Auswüchse wie Kinderprostitution oder der Beginn mafiaähnlicher Strukturen, die sich auf benachbarte Regionen wie Nordeuropa auswirkten.

Der verstorbene estnische Präsident Lennart Meri, „die große Gestalt des Baltikums“, warnte, dass man sich nach dem Erreichen der großen politischen Ziele jenen zuwenden müsse, die sich vom wirtschaftlichen und politischen Wandel überrollt fühlten – in einer Gesellschaft, in der nicht alle in ihrem Denken und ihren Werten den kurzen Weg von einer Diktatur zu einem freien Staat mitgingen. Es gibt weitere Probleme. Dazu zählt die fehlende parteipolitische Stabilität. Während die drei Staatspräsidenten mehr oder minder anerkannt sind, wechseln die Regierungen häufig. In Lettland und im letzten Jahrzehnt in Litauen siegte bei fast jeder Wahl eine Partei, die erst kurz vorher gegründet worden war. Neunzehn Regierungen in Lettland in den neunzehn Jahren zwischen 1993 und 2012: Selbst das elektronische Lexikon Wikipedia kommt da bisweilen nicht nach und nannte in einem Beitrag gleich drei unterschiedliche Namen als aktuellen Regierungschef. Meist blieb die politische Grundrichtung gleich, bürgerlich-rechts mit liberalen und sozialdemokratischen Sprengseln und bisweilen garniert mit national-rechtskonservativen Tönen. Es gab in Litauen und Estland Ausnahmen bei Präsidenten oder Ministerpräsidenten mit Wurzeln in der Vergangenheit, altersmäßig wie auch ideologisch. Sie spielten eine wichtige Rolle bei der Loslösung von Moskau und der Erneuerung und galten als Garanten, dass ihre Politik sozialverträglicher ist als bisweilen die der „Jungen“. Bei jenen führte die politische Dynamik dazu, dass Regierende mit geringer Erfahrung an die Macht kamen, denen Sachkunde oder Sensibilität fehlten. Das galt und gilt vor allem für Lettland – nicht nur geografisch der mittlere und mittelgroße der drei baltischen Staaten, sondern auch in Kultur, Sprache und Religion Bindeglied zwischen Estland und Litauen und damit „des Baltikums“. Zudem ist Riga, einst eine der großen Städte der Ostsee-Geschichte, die einzige echte Metropole der Region.

Auch wenn es im Politischen immer wieder kriselt: Wirtschaftlich boomten zunächst die drei Nachbarn, die nach Landfläche zusammen halb so groß sind wie Deutschland, mit zusammen 6,9 Millionen Menschen aber noch nicht einmal ein Zehntel von dessen Bevölkerung besitzen. Begünstigt wurde der Aufschwung durch ein hohes Ausbildungsniveau, eine solide Infrastruktur, stabile Währungen, einen hohen Anteil der Privatindustrie, niedrige Kosten. Die nordischen Staaten übernahmen die Rolle des Marktführers bei Investitionen und teils beim Handel: Dänemark in Litauen (Lietuava), Finnland in Estland (Eesti), Schweden in Lettland (Latvija). Bis zum Einbruch des Außenhandels 2009 war für Lettland Deutschland Handelspartner Nummer eins, es wurde mittlerweile aber überholt von Litauen und Russland. Dazu kam eine hohe Arbeitslosigkeit, die immer mehr Jugendliche und Tatkräftige in das Ausland trieb, und eine hohe Verschuldung von Privatpersonen. Die globale Finanzkrise traf die baltischen Länder stärker als andere – der Abschwung wurde ebenso rasant in Zahlen wie in seinen Auswirkungen wie zuvor das Wachstum.

In allem Auf und Ab pflegen und ehren die Balten ihr historisches Erbe und die Bindungen zu Deutschland. Nicht ohne Grund gilt Riga als Jugendstil-Hauptstadt Europas. In Tallinn, die Innenstadt ist wie Vilnius und Riga ein Weltkulturerbe, stößt der Besucher auf mehr hansische spitzgiebelige Backsteinarchitektur als in fast jeder norddeutschen Stadt außer vielleicht in Lübeck. Als erstes Land Mitteleuropas rief Estland Deutschbalten auf, in ihre alte Heimat zurückzukehren, sie seien hochwillkommen. Der frühere litauische Präsident Valdas Adamkus verhinderte 2008 den Vorschlag von Abgeordneten, von Deutschland eine Entschädigung für Kriegszerstörungen zu verlangen – gegenüber Russland aber bleibt ­diese Forderung, weil Moskau sich nicht zu seiner ­Vergangenheit bekenne. Nicht wenige der Deutschbalten, die im Mittelalter nach Livland oder Kurland einwanderten, kamen aus der norddeutschen Tiefebene. Mal gehörte der nördliche Teil des Baltikums zum schwedischen Königreich, dann wurde es ein halbautonomer Teil des russischen Zarenreichs. Über viele Jahrhunderte wechselnder Herrschaft hinweg aber war die weitaus engste Bindung die zu Norddeutschland. Die Umgangssprache der Kaufleute, Handwerker, Juristen war deutsch. Seit 1693 galt in Reval das lübische Stadtrecht – erst 1877 wurde es durch die russische Gemeindeordnung abgelöst.

Besonders in Deutschland spricht man gerne verallgemeinernd vom Baltikum. Deren drei Länder unterscheiden sich aber in Sprache, Konfession und Selbstverständnis grundlegend voneinander. Zur baltischen Sprachgruppe zählen Lettisch und Litauisch. Litauisch ist die ursprünglichste überlebende indogermanische Sprache. Estnisch dagegen ist eine finno-ugrische Sprache und dem Finnischen nahe. Estland und Lettland sind, soweit Religion die sowjetischen Jahrzehnte überlebte, evangelisch-lutherisch und ihre starken russischen Minderheiten russisch-orthodox, die Mehrheit aber Atheisten. Litauer dagegen sind fast durchgehend katholisch. Tallinn und Riga sind architektonisch von den Hansejahren und der Backsteingotik geprägt, Vilnius ist barock und auch kulturell aus Polen beeinflusst. Estland fühlt sich Finnland und dem Norden zugewandt; bisweilen debattieren Esten darüber, ob sie baltisch oder nordisch sind, wem ihre erste Loyalität gelte. Litauen dagegen interessiert sich bisweilen mehr für Polen und seine südlichen Nachbarn als für Lettland und Estland. So ist Vilnius neben Polen Basis und Nährgrund für die friedliche Opposition in Weißrussland und den Kaukasus-Staaten. Allen drei eigen ist trotz Jahrhunderten der Fremdherrschaft ein ungewöhnliches und über Generationen hinweg bewahrtes und weiter getragenes Gefühl der Selbständigkeit, der Selbstbehauptung. Wer auch immer versuchte, es zu zerreiben und zu zerstören – alle drei sind wiederauferstanden. Trotz aller gemeinsamen Wurzeln, der politisch motivierten regionalen Zusammenarbeit und des der Region vorgegebenen Außenbildes kann man leicht provozierend, aber nicht falsch sagen: „Das Baltikum“ gibt es gar nicht.

In ihrer geostrategischen Rolle aber sind sich die drei baltischen Staaten nahe. Das ist ein Grund, weshalb Moskau, Washington, Stockholm und Berlin so viel Aufmerksamkeit drei Ländern mit zusammen noch nicht einmal sieben Millionen Bewohnern zuwenden. Russland ist sicherheitspolitisch besorgt, die Nato so nahe an seiner Grenze zu wissen, nur wenige Dutzend Kilometer entfernt von seiner zweitgrößten Stadt Sankt Petersburg. Dazu kommt eine emotionale Belastung: Dies sind die ersten ehemaligen Sowjetrepubliken, die Teil der Nato wurden. Noch unlängst war Jurmala bei Riga für die sowjetische Elite als Sommerfrische ein bevorzugter Badeort, jetzt kommen wieder Russen der Oberschicht – gar nicht weit entfernt stehen aber Kampfflugzeuge der Nato.

Balten empfinden die Nato, stärker noch als die EU, als Schutzschild, das verhindert, dass ihnen das Gleiche geschieht wie 1939. Damals einigten sich Moskau und Berlin im August in einem geheimen Zusatzprotokoll zum Ribbentrop-Molotow-Pakt (bekannt als Hitler-Stalin-Pakt) über eine Interessenaufteilung des Baltikums, Polens und Finnlands und gaben damit deren Unabhängigkeit preis. Hitler ließ sich das Memelland und den Westen Polens zusichern, Stalin Ostpolen, Finnland und die baltischen Länder. Das ist weiterhin ein nationales Trauma. In den Jahren des Widerstands und Exils wie auch in den Neunzigern stellte sich Washington kraftvoller hinter das baltische Unabhängigkeitsstreben und den Nato-Beitritt als zögerliche Regierungen in London, Berlin und Paris, die auf Moskau Rücksicht nehmen zu müssen glaubten. Daher fühlen sich die baltischen Länder sicherheitspolitisch bisweilen Washington näher verbunden als ihren westeuropäischen Verbündeten – ähnlich wie andere Staaten Mitteleuropas wie Ungarn, Polen und die Tschechische Republik.

Welche Bedeutung die baltischen Länder für den Westen und auch für die Vereinigten Staaten haben, erläuterte der damalige Präsident George Bush im Mai 2005 zum sechzigsten Jahrestag des Kriegsendes in Riga: Er sehe Lettland, Litauen und Estland als „unglaublich wichtige Symbole“ dafür, was Freiheit in Europa bedeute und in der Welt. Sie hätten einen der dramatischsten Umbrüche der neueren Geschichte erlebt – und mitgestaltet – und seien in gut einem Jahrzehnt von gefangenen zu freien Nationen geworden. Dabei gab er sich selbstkritisch im Blick auf die damalige Politik Washingtons und Londons: Im Abkommen mit Stalin in Jalta habe das Streben nach Stabilität die Freiheit verdrängt. Wenn große Mächte verhandelten, litten oft kleine Länder. Die „Gefangennahme“ von Millionen Menschen in Mittel- und Osteuropa bleibe einer der großen Fehler der Geschichte. Symbolträchtig war der Ort dieser Rede von Bush: im Saal der Gilde, der an die wechselvolle Verbindung Rigas mit der Hanse und mit Deutschland erinnerte. An der Wand waren Bilder von Lübeck und Bremen sowie in gotischer Schrift deutsche Weisheiten wie der Spruch „Wer seines Feindes gutes thut / Der zeigt von größter Edelmuth“.

Nicht diese alte Weisheit prägt die Haltung der baltischen Länder zu Moskau, sondern die Erfahrung der vier Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg. Erst kamen die Russen (davor siedelten unter Druck die meisten Deutschbalten nach Westen um); dann 1941 die Deutschen – Jahre, in denen die meisten Juden in Litauen und Lettland vernichtet wurden, dabei gab es Mithilfe der örtlichen Bevölkerung; und 1944 wieder die Russen. Da flohen jeweils um die 70 000, 80 000 Menschen aus Lettland, Estland, Litauen nach Westen. Andere gingen als Partisanen in die Wälder. In den Vierzigern und Fünfzigern wurde ein Großteil der lettischen und estnischen Elite nach Sibirien verschleppt und ermordet. Ihre Aufgaben übernahmen im Rahmen einer erzwungenen Russifizierung russische Soldaten und Beamte, die großteils nach 1991 blieben. Das freie Wort wurde ausgelöscht, Sprachen und Kultur wurden verdrängt. So erfuhren sie das Kriegsende, den 8. und 9. Mai, nicht nur als Tag der Befreiung, sondern auch als Tag einer neuen, diesmal noch längeren Diktatur. Der nicht nur historische Streit darum, ob dies nun Jahre der Besetzung waren – wie die Balten und die Westeuropäer empfinden, die Russen aber bestreiten –, verhindert einen gelassenen Umgang mit ihrem großen östlichen Nachbarn. Daraus wiederum erwuchs Streit auf vielen Ebenen – etwa um die Grenzen Estlands und Lettlands zu Russland, zeitweise die letzten Außengrenzen der EU, die nicht völkerrechtlich festgelegt waren. Moskau behauptet immer wieder, dass einem Teil der in Lettland und Estland lebenden Russen – sie stellen jeweils etwa ein Drittel der Bevölkerung – der Pass, das Wahlrecht, eine muttersprachliche Schulausbildung verwehrt werde. Riga und Tallinn halten dem entgegen, dass sie der Minderheit, die ihnen aufgezwungen wurde, weit entgegenkamen. Die baltische Position wird gestützt durch die EU, den Europarat und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Sie bestätigten, dass Lettland und Estland nicht nur alle völkerrechtlichen Verpflichtungen einhalten, sondern darüber hinausgehen.

Da Moskau nicht nur den Beitritt zur EU und Nato nicht verhindern konnte, sondern auch bei Versuchen innen- und kulturpolitischer miesmachender Einflussnahme scheiterte, wich es auf eine andere Vorgehensweise aus, die zugleich Westeuropa trifft: die Energie. Hier geht es um Warnungen der Gazprom, Teile der Gaslieferungen in die Ukraine, nach Weißrussland oder auch nach Westeuropa abzuschnüren, sowie um die Erdgaspipeline durch die Ostsee, die russisches Erdgas nach Deutschland bringen wird. Die baltischen Staaten fühlten sich bei den Vertragsverhandlungen und der Verlegung der Pipeline ausgegrenzt und hintergangen, auch von Deutschland. Erstere zielten vergeblich darauf, dass aus Gründen der Umwelt, der Kosten, der Sicherheitspolitik, die Leitung über ihr Gebiet geführt werde statt unter Wasser; oder zumindest, dass eine Stichleitung in die baltischen Länder auch sie mit Erdgas hätte versorgen können. Das ist nun Geschichte.

Neben dieser Erdgas-Pipeline-Strategie gibt es weitere Einflussversuche Moskaus, die sich auf die Lage in Riga und Vilnius ungut auswirken. Zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen der baltischen Länder zählt seit jeher die Energie. In Litauen stand nicht nur das größte Kernkraftwerk Europas, das wegen Sicherheitsbedenken unter EU-Druck abgeschaltet wurde, sondern auch die größte Erdölraffinerie der Region. Sie hing ab von Öl und Erdgas aus Russland. Die Häfen in Lettland, Estland und Litauen spielten für den russischen Erdgas- und Erdölexport in den Westen eine zentrale Rolle und brachten Deviseneinkünfte. Der einzigen Raffinerie aber schnürte Russland die Versorgung ab. Die Häfen wurden geschwächt, indem Russland die Verladung seines Erdgases auf russische Häfen am Ende der Ostsee verlagerte, obwohl das kostenträchtiger und umweltpolitisch weit gefährlicher ist angesichts der Vereisung der Ostsee in langen Wintern und des kreuzenden Fährverkehrs zwischen Tallinn und Helsinki. Das lettische Ventspils, früher Windau, und das litauische Klaipeda, früher Memel, wurden abgeschnürt.

Moskau beließ es nicht bei dieser erpresserischen Erdgas- und Hafendiplomatie. Es nutzte und nutzt auch seinen Einfluss über seine Energielobby in Litauen und Lettland, ihr gefällige Politiker und Parteien zu beeinflussen und möglicherweise zu „kaufen“. So geraten Lettland und Litauen in den Geruch der Bestechlichkeit, was ihr Ansehen als verlässliche Partner schmälert. Es gibt kaum einen gewichtigen Fall von Korruption, in den nicht Gelder und Interessen aus dem östlichen Nachbarland einbezogen sind. Zum anderen wird die innenpolitische Lage in den baltischen Ländern durch diese Unterwanderungsversuche unstabiler. Bisher änderte das wenig an der Ausrichtung: Alle drei Länder sind Musterbeispiele der Marktwirtschaft und der Westorientierung und haben überwiegend bürgerlich-liberal-konservative Koalitionsregierungen. Das aber kann sich ändern. Litauen war zeitweise von populistischen Parteien geprägt; Lettland erlebt unziemlichen Einfluss sogenannter Oligarchen auf mehrere Parteien und damit auf die Regierung; Estland hat seit vielen Jahren eine beständigere Politik mit stabilen Regierungen. Die Jahre, in denen die baltischen Staaten Vorbild für viele waren und sich ungebrochen auf Europa stützten, liefen aus, vor allem dank des russischen Einflusses. Dieser kann über Lettland oder Litauen auch nach Brüssel Eingang finden.

Zwei Jahrzehnte lang sind Lettland und Estland nun freie Nationen und Litauen schon etwas länger. Unmittelbar nach dem später gescheiterten Putschversuch gegen den sowjetischen Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow hatten Estland und Lettland ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion erklärt. Die Erklärung des estnischen Parlaments kam am Abend des 20. August 1991, die Lettlands am 21. August. Unter den Ersten, die die Unabhängigkeit diplomatisch anerkannten, war – nach Island – Deutschland, das wenige Tage später Botschafter in die drei baltischen Staaten sandte. Nachdem der russische Präsident Boris Jelzin Estland und Lettland am 24. August als unabhängige Staaten anerkannt hatte, folgte die Sowjetunion Anfang September.

Litauen war Vorreiter als das erste Land, das seine Unabhängigkeit wiederherstellte. Im Jonglieren zwischen Anpassung und ­Widerstand ging die wohlhabendste der früheren Sowjetrepu­bliken in den Jahren der Unterdrückung einen ehrenhaften Weg. In seiner Führung agierten auch vor 1990 eher als anderswo im sowjetischen Einflussbereich national eingestellte Politiker und weniger Anpasser und Karrieristen. Daher war die Loslösung von Moskau nach 1990 anfangs blutiger, dann aber klarer als in den anderen baltischen Staaten. So hat Russland zu Litauen nun ein spannungsfreieres Verhältnis als zu Lettland und Estland, zumal dort der Anteil Russischsprachiger in der Bevölkerung weit niedriger ist als in Lettland und Estland. Das Grundmisstrauen in den baltischen Staaten gegenüber Moskau aber blieb in Vilnius ebenso wie in Riga und Tallinn.

In den folgenden Beiträgen werden diese historischen, geostrategischen, kulturellen Momente angesprochen, die die baltischen Länder prägen. Teils sind das (aktualisierte oder ergänzte) Analysen oder Reportagen, die im letzten Jahrzehnt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen – der Autor war von 2001 an von Stockholm aus als Auslandskorrespondent häufig dort, auch nach seinem Wechsel nach Hannover. Dazu kommen zahlreiche verbindende und ergänzende Beiträge. Soweit es an einigen Stellen kurze Doppelungen gibt, soll das der Lesbarkeit und dem inneren Zusammen­hang dienen. Drei Bildteile des Berliner Fotografen Dirk Bleyer sollen die Anschaulichkeit stärken; die eingestreuten Fotos im Text stammen dagegen vom Autor.

Dabei geht es weniger um Tagespolitik oder wirtschaftliche Analysen denn um die Wandlungen von Kultur und Gesellschaft, um Selbstverständnis und Aufbruchstimmung. Bewusst wurde die Darstellungsweise eines Mosaiks beibehalten: Schilderungen einer Fahrt durch das alte Kurland und dessen Spuren aus der Sowjetzeit oder über Schriftsteller und Musiker, die in den Jahren der Besetzung Widerstand leisteten, geben Einblicke in eine Gesellschaft, die uns nahe ist und doch besonders. Wer diese bereist (oder sich „erliest“), wird sich, wie der Autor, dem Faszinosum wohl nur schwer entziehen können.

Litauen

Großfürsten und Breitband

Deutschbalten von Schrot und Korn sagen schon mal, Litauen sei ja eigentlich nicht ein baltisches Land. Wer in Vilnius Regale der Buchhandlungen durchstöbert oder Namen von Verlagen oder Firmen anschaut, hat aber das Gefühl, der Oberbegriff Baltisch werde in Litauen weit häufiger benutzt als in Lettland oder Estland. Richtig ist zumindest, dass Litauen, in dem ebenso viele Menschen leben wie in Lettland und Estland zusammen, sich von den beiden Nachbarn im Norden nach Geschichte, Konfession, Denkweise abhebt und in der politischen Ausrichtung: Estland nach Norden, Litauen nach Süden. Lettland, das sprachlich Litauen näher ist als Estland, liegt irgendwo dazwischen. Am weitesten voneinander entfernt nicht nur geografisch sind Estland und Litauen: Estland lebt mit seinem Jugendkult und der Ausrichtung auf neue Technologien von der Zukunft, Litauen zehrt mehr als es ihm gut tut von seiner glorreichen Vergangenheit, als in Vilnius im vierzehnten Jahrhundert mit den Großfürsten zeitweise die Herrscher des größten Staates Europas residierten. Die Unterscheidung gilt aber nur teils, sichtbar an den neuen Technologien. Kein anderer Staat Europas ist in der Dichte seiner Breitbandanbindung auf dem Lande weiter, nicht Estland und erst recht nicht Deutschland.

Litauen konnte die Wirtschaftskrise besser überstehen als Lettland und Estland. Es hatte als Einziger schon aus der Sowjetzeit eine breite industrielle Basis – der Anteil in der Industrie Beschäftigter lag bei dessen EU-Beitritt in Litauen höher als in Deutschland. Dennoch ist im Land mit den meisten Regentagen im Jahr in ­Europa das Gefühl der Schwermut und der Traurigkeit ausgeprägter als anderswo. Nirgends anders in der Welt ist die Selbstmordrate so hoch. Die durchschnittliche Lebenserwartung – bei Männern 61, bei Frauen 68 Jahre – ist niedriger als anderswo in Europa, und sie sinkt noch. Ein Psychiater berichtet, die Trunksucht sei stark, und sie breite sich vor allem in der Jugend aus. Dabei unterscheidet sich die Jugend in manchem von den Älteren. Sie richtet sich stärker auf westliches und eigenständiges Denken und an dessen Werten aus; ist toleranter gegenüber jenen, die anders denken oder leben; und wendet sich innerlich ab von der katholischen Kirche. Weinrestaurants ergänzen Bierkneipen, und traditionell rücksichtslose Autofahrer achten nun auf Fußgänger – sanfte Anpassungen sind überall spürbar. In der älteren Generation nahm die Unduldsamkeit, die Hetze gegen Minderheiten nach dem EU-Beitritt dagegen eher zu. Sichtbar nach außen werden aufstachelnde laute Redner, so einige populistische Abgeordnete. Andere melden sich wenig zu Wort, eher aus Resignation denn aus Feigheit3

Das geht einher mit einer Missachtung von Parteien, Politikern, dem Parlament, den Gerichten – eine Ausnahme ist nur die weit geachtete Präsidentin. Zum anderen kam, nach Jahren kreditfinanzierten Ausgabenrausches, ein Rückzug ins Private, in eine Datschen-Mentalität. Nur wenige beteiligen sich am öffentlichen Gespräch, die große Linie geht verloren. Stattdessen zieht man sich zurück ins Sommerhäuschen in den Kreis der Familie und Freunde. Die Zeit des Aufbruchs ist vorbei, als Jazz oder alternative Rockgruppen wie „Antis“ in den Jahren um die Wende 1990 herum Tausende anzogen und zum Symbol der Eigenständigkeit wurden. Basketball übernahm die Rolle des Einigenden. Wer während einer Basketballübertragung selbst auf Provinzliga in eine Kneipe kommt, wird vergeblich nach einem Gesicht suchen, das nicht den Fernsehschirm anstarrt. Eine vielleicht heilsame Erkenntnis aus der Krise ist jene, dass man als Litauer nicht (mehr) im Zentrum steht, wie so manche – beruhend auf vergangener Größe – zu glauben schienen.

Neben dem Rückzug in das Eigene und Enge gibt es eine zweite Tendenz, die Litauen seit mehr als einem Jahrhundert zu schaffen macht, die nun aber einen neuen und gefährlichen Schwung erlebt: die Auswanderung. Der Statistische Dienst der EU weist darauf hin, dass die Bevölkerung in keinem anderen Land der Union prozentual rascher sinke. Schon Ende des neunzehnten Jahrhunderts war Litauen ein Auswandererland, meist gehen die Besten. Unter den großen Namen in Hollywood reichte das von Walter Matthau bis Charles Bronson, unter den Musikern vom Komponisten Aaron Copland über die Sänger Al Jolson, dem „ersten Superstar“, und Barbra Streisand bis zum Violinisten Jasha Heifetz. In klassischen Einwandererländern wie Südafrika tauchen immer wieder Nachkommen litauischer Einwanderer auf. Früher waren es häufig die Litvaks, jüdische Litauer, die bis 1940 eine starke Rolle spielten in Vilnius als „Jerusalem des Nordens“ und dem Zentrum jiddischer Geisteskultur. Heute sind es vor allem Akademiker – ein Fünftel der Bevölkerung soll seit 1990 ausgewandert sein, gesichert sind diese Zahlen nicht. Ärzte und Pflegepersonal werden umworben in Westeuropa. Die Zahl derjenigen, die Deutsch oder Englisch so lernen, dass es für eine Arbeit in Westeuropa reicht, steigt weiter. Neben dem niedrigen Lohnniveau – das Durchschnittseinkommen liegt unter dem Lettlands, die Kaufkraft indes ist höher – vertreibt sie das Gefühl, in Politik und Gesellschaft ändere sich allzu wenig, alles sei träge und schleppend. Entsprechend blutet ein relativ armes Land wie Litauen doppelt – es bezahlt die Universitätsausbildung (der Anteil akademisch Ausgebildeter in der Gesamtbevölkerung ist der zweithöchste in der EU), kann aber nicht mehr eine angemessene Gesundheitsversorgung bieten im staatlichen Sektor, in Polikliniken, obwohl da jüngst vieles in der Ausstattung verbessert und modernisiert wurde.

In der Wirtschaft beherrscht und verdrängt ein Thema alles andere, die Energie. Das gilt auch in politischen Gesprächen mit der Bundesregierung, die derzeit die „kleinen“ EU-Länder und vor allem die baltischen ernster nimmt und einbezieht als frühere deutsche Regierungen von Kohl bis Schröder. Bis zur von der EU aus Sicherheitsgründen geforderten Abschaltung der beiden Reaktoren des Kernkraftwerkes Ignalina lag der Anteil von Atomenergie am Gesamtverbrauch höher als in allen anderen EU-Ländern. Nun aber ist Litauen abhängig von Gasimporten aus Russland, und das behagt nicht. Gesprochen wird über den Bau eines neuen Kernkraftwerkes am gleichen Standort, über eine bessere Vernetzung der Strombrücke nach Westeuropa, über eine Gasverflüssigungsanlage an der Küste in Klaipeda, um andere Gaslieferanten einzubinden. Wichtig ist eine sichere und nicht überteuerte Energieversorgung nicht nur, um von Pressionen unabhängig zu werden, sondern auch für die einzelnen Haushalte. Da Wärmedämmung vernachlässigt wurde, liegt der Energieverbrauch von Litauern pro Person zwei bis dreimal so hoch wie im EU-Durchschnitt. Das gilt vor allem bei unrenovierten Plattenbauten und alten Häusern auf dem Lande. Bewohner berichten, für Heizung und Strom monatlich 500 bis 600 Euro zahlen zu müssen bei Monatseinkommen von vielleicht 800 Euro. So gibt es nur drei Möglichkeiten des wirtschaftlichen Überlebens – Schwarzmarkt, Nebenjobs und finanzielle Hilfen ausgewanderter Verwandter.

Nicht immer so besinnlich – Domplatz in Vilnius

Immer wieder sagt die Regierung zu, ihre Wirtschafts- und Energiepolitik zu ändern. Es geschieht aber wenig. Geschäftsleute beklagen „heiße Luft“. In einer Umfrage der Deutsch-Baltischen Handelskammer unter Unternehmen hält nur ein Fünftel das Regierungshandeln für zielführend und ausreichend; ein klarer und berechenbarer wirtschaftspolitischer Kurs fehle, die öffentliche Verwaltung sei ineffizient, Kriminalität und Korruption würden nur mangelhaft bekämpft.

Selten hat eine Regierung – 12 Kabinette gab es in 22 Jahren – lange genug Zeit, Grundlegendes zu ändern, Strukturreformen wie die Überschuldung der Sozialversicherung oder den Arbeitsmarkt anzugehen und umzusetzen. Anders als im bürgerlich-liberal geprägten Estland wechseln sich „linke“ und „rechte“, sozialdemokratische oder konservativ geführte Regierungen regelmäßig ab. In dem instabilen Parteiensystem gilt nur jeder Vierte als ein seiner Partei loyaler Stammwähler – in „alten Demokratien“ des Westens sind es drei Viertel. Dazwischen gab und gibt es häufiger als in den anderen beiden baltischen Ländern Populisten in der politischen Führung. Bei der Parlamentswahl Ende 2008 erhielt eine Partei von Unterhaltungskünstlern, Fernsehstars und anderen politisch Unerfahrenen auf Anhieb die meisten Stimmen und Abgeordnete in der Seimas, dem Parlament. Auch bei den beiden Parlamentswahlen davor erreichten Parteien eine hohe Stimmenzahl, die jeweils erst wenige Monate zuvor gegründet worden waren. Einmal brachte es ein Populist sogar zum Präsidenten – Rolandas Paksas wurde dann in einem Misstrauensvotum vom Parlament abgewählt, ein Novum in der Verfassungsgeschichte der EU-Länder. Verzweifelter Spaß in der Politik zu eigentlich ernster Zeit hat Tradition in Litauen. In den nachnapoleonischen Jahren, die Vilnius den nationalen, auch sprachlichen Aufbruch brachten, polnische Romantik und liberales Gedankengut (und das bislang letzte gemeinsame Vorgehen der drei verbundenen Völker der Litauer, Polen und Weißrussen), wurde die interessanteste Zeitung herausgegeben von der „Vereinigung der Tunichtgute“: Sie wollten „mit Lachen die verdorbenen Sitten bessern“.

Nicht nur der Populismus dient Daheimgebliebenen als Ventil für eine Flucht aus der Realität. Die vergangene Größe und das kulturelle Gedächtnis sind vielen Trost und Ansporn. Die Debatten um den Wiederaufbau des Palastes des Großfürsten erinnern an das Großfürstentum Litauen vom 13. bis zum 18. Jahrhundert und an das Goldene Zeitalter bis 1430. Das gilt auch für zahllose Veranstaltungen zur Schlacht von Tannenberg, als Litauer und Polen vor genau 600 Jahren den Deutschen Orden zurückschlugen und so die staatliche Unabhängigkeit sicherten. Gleich drei Nationaltage hat Litauen – je einen für das Mittelalter, für die Litauische Republik der Zwischenkriegsjahre 1918 bis 1940, und für die Zeit nach 1991. Litauen kann sich historisch auf eine starke Identität stützen. Es will nach den von Moskau geprägten Jahren des Sozialistischen Internationalismus und der Unterdrückung eigener Kultur und Sprache diese pflegen.

Außenpolitisch ist Litauen eigenständiger und selbstbewusster als andere „kleine Länder“. Das zeigt sich im Bestreben innerhalb und außerhalb der EU, freiheitssuchende Länder weiter südlich bis hin nach Armenien und Georgien zu stützen, vor allem den großen Nachbarn Weißrussland. Angeregt wird das geostrategische Denken nicht zuletzt durch das benachbarte Kaliningrad (Königsberg). Russland kann seine Exklave mit Wirtschaftsgütern, Energie und Militär beliefern über litauisches Gebiet – Absprachen beider Länder werden ohne Drohgebärden eingehalten. Ihre Vereinbarung fiel leichter, weil Litauens Beziehungen zu Russland dank einer geringeren russischen Minderheit und einem entspannteren Umgang mit Russen und Weißrussen auf seinem Gebiet besser waren und sind als jene der baltischen Nachbarn zum Kreml. Dabei fiel der Verlust der früheren Provinz Litauen dem Sowjetreich weit schwerer als jener Estlands und Lettlands: Mit Litauen schwand der kürzeste Zugang zum eisfreien Meer.

Ein stabilisierendes Element waren fast immer die Präsidenten – der Sozialdemokrat Algirdas Brazauskas, der konservative Valdas Adamkus und nun die frühere EU-Kommissarin Dalia Grybauskaitė. Gegen sie sprach bei der Wahl eigentlich alles, was sonst in der litauischen Politik gilt – sie ist eine Frau, unverheiratet, nicht kirchennah, eigenwillig und willensstark. Dennoch gilt sie als einigendes Band – vor allem, weil sie „aufräumt“. Sie drängt Minister oder Beamte, die sie als korrupt oder unfähig empfindet, durch öffentliche Kritik aus dem Amt. Alleine in ihrem ersten Amtsjahr verloren 16 Behördenleiter nach ihrem „Hinweis“ ihr Amt. Litauer lieben die eiserne Frau mit dem schwarzen Gürtel im Karate auch dafür. So überraschte nicht, dass der amerikanische Senator und frühere Präsidentschaftskandidat John McCain nach einem Treffen mit ihr in Vilnius sagte, sie habe das Format, sich um das Amt des amerikanischen Präsidenten zu bewerben. Gesetze, die unter Aufgeklärteren im Land und innerhalb der EU als zweifelhaft oder diskriminierend empfunden werden, unterzeichnet sie nicht. Ihre Worte sind klar – Vergangenheit sei Vergangenheit; oder: Jetzt gehe es ums Überleben. Dabei geht Grybauskaitė beim Bemühen, mit postsowjetischen Strukturen und Denken aufzuräumen, an die Grenze des ansonsten Präsidenten zustehenden Spielraums oder auch darüber hinaus.

Vilnius – wie eine mehrmals überschriebene Handschrift