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Dietrich Schulze-Marmeling

Neuer

Der Welttorhüter

VERLAG DIE WERKSTATT

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ISBN 978-3-7307-0230-7

Prolog

„Er ist nicht nur ein geiler Torwart, er ist der erste Keeper weltweit, bei dem es mir als Stürmer richtig Spaß macht zuzuschauen. Die anderen glänzen durch starke Paraden, aber Manu wird mit drei Ballberührungen Hauptdarsteller, da er beispielsweise per Flugkopfball außerhalb des Strafraums klärt. Er ist wirklich ein phänomenaler Typ.“

Mario Gomez, Stürmer

„Ich glaube, in der 2. Liga würde der als Stürmer sicher ein paar Buden machen.“

Miroslav Klose, Stürmer

„Manuel Neuer ist in allen Belangen fantastisch.“

Diego Armando Maradona

„Wenn du nicht die Mentalität für dieses Spiel hast, geht das nicht. Du musst den Fußballer in dir haben, um so zu spielen.“

Lothar Matuschak, Manuel Neuers Torwarttrainer in der Jugend von Schalke 04

„Jede Mannschaft der Welt möchte Fußball spielen, jede möchte so einen Torwart haben.“

Norbert Elgert, Trainer von Manuel Neuer in der Schalker A-Jugend

„Manuel Neuer ist ein kompletter Torwart.“

Andreas Köpke, Bundestorwarttrainer

„Manuel Neuer hat den Torwart gesellschaftsfähig gemacht.“

Christof Kneer, „Süddeutsche Zeitung“

„Ich sehe mich nicht mehr als reinen Torwart. Ich bin ein mitspielender Torwart.“

Manuel Neuer

Vorwort

Manuel Neuer gehört sicherlich zu den besten Torhütern der Fußballgeschichte. Vielleicht wird man sogar eines Tages rückblickend sagen: „Er war der Größte.“ Doch bereits heute hat Neuer einen Eintrag in die Geschichtsbücher sicher. Nicht nur, weil er 2014 mit der deutschen Nationalelf Weltmeister wurde. Einige Monate später landete er bei der Verleihung des FIFA Ballon d’Or, der höchsten individuellen Auszeichnung, die ein Spieler im Weltfußball erreichen kann, hinter Cristiano Ronaldo und Lionel Messi auf Platz drei. Dass viele der abstimmenden Journalisten, Trainer und Spieler einen Torwart auf die gleiche Ebene stellten wie die beiden Megastars von Real Madrid und dem FC Barcelona, die die Wahl seit Jahren dominierten, hatte etwas mit Neuers Spielweise zu tun. Jogi Löw, Trainer der deutschen Weltmeisterelf: „Ich glaube, dass Manu für einen Wandel im Weltfußball steht. Er ist hinten der Erste, der das Spiel eröffnet und die anderen dirigiert. Das ist die Zukunft des Fußballs. Wir hatten mit ihm bei der WM einen elften Feldspieler. Er hat eine neue Dimension des Spiels geprägt.“

Trotzdem wurde ich in den letzten Monaten immer wieder gefragt: „Warum willst du über Neuer schreiben?“ Aus Gründen, die sich mir nicht so richtig erschließen, galt die Idee als eher langweilig. Und: Würde dieser 29-jährige Torwart überhaupt ausreichend Stoff für ein Buch hergeben?

Am Torwart und der Person Manuel Neuer haben mich folgende

Aspekte besonders interessiert:

image Zuvörderst natürlich seine Spielweise. Eine Spielweise, die in dieser Radikalität und Konsequenz kein „Muss“ für einen Torwart sein kann, mich aber stets begeisterte. Vielleicht auch, weil ich ein Fan des alten Ajax-Fußballs bin, des „voetbal totaal“, gewissermaßen die Wiege eines Torwartspiels, das den „letzten Mann“ näher an die Männer vor ihm führte. Ein Grenzen überschreitendes Torwartspiel, das in den späten 1960ern und frühen 1970ern entwickelt und dann in den 1990ern erstmals von Edwin van der Sar überzeugend demonstriert wurde. Dieses Buch ist also ein parteiisches. In Deutschland war es Jens Lehmann, der als Erster die Torwartrolle offensiver interpretierte. Aber das alles war noch ein Stück entfernt von dem, was Manuel Neuer seit einigen Jahren vorführt. Neuer ist wohl der perfektest mitspielende Keeper in der Fußballgeschichte.

image Die Probleme, die ein Teil der deutschen Fußballöffentlichkeit mit diesem Keeper immer wieder hatte und selbst nach der WM 2014 mit Neuers legendärem Auftritt gegen Algerien noch immer hat. Nicht wenige warten begierig auf seinen nächsten Fehler, um dann den Allgemeinplatz loszuwerden: „Ein Torwart muss in allererster Linie Bälle halten!“ Wer will das bestreiten? Und hält Manuel Neuer etwa keine Bälle? Wie viele Torhüter auf der Welt können Bälle besser halten als Manuel Neuer? Hätte Neuer es als Keeper jemals so weit gebracht, wenn er nicht auch auf der Linie stark wäre? Hätte Bundestrainer Jogi Löw Manuel Neuer für die Weltturniere 2010 und 2014 als Nummer eins gesetzt, wenn er nur Fußballspielen könnte, aber keine Schüsse parieren? Nein, Manuel Neuer ist als Torwart ein Alleskönner.

image Die hohen Wellen, die sein Wechsel vom „Arbeiterverein“ Schalke 04 zum „elitären“ FC Bayern München geschlagen hat. Es waren vermutlich die höchsten Wellen, die der Wechsel eines Spielers innerhalb Deutschlands je losgetreten hat. Manuel Neuer verkörpert wie kein anderer Profi ein Dilemma dieses Berufsstands – weil er wie kaum ein anderer Profi in seiner Jugend und sogar noch in seinen ersten Profijahren auch den Fußballfan gelebt hat. Als er von der Emscher an die Isar wechselte, wurde das Spannungsverhältnis zwischen der Realität des Profifußballs und dem Denken der Fans überdeutlich. Manuel Neuer ist von Beruf Fußballer. Und wie in jedem Beruf wechselt der Angestellte seinen Arbeitgeber, wenn er sich hiervon eine berufliche Verbesserung verspricht. Den Beruf des Fans gibt es nicht. Der Fan ist eine der größten Konstanten des Spiels. Wer einmal sein Herz an Schalke verloren hat, bleibt sein Leben lang ein Schalker. Für die Fans des FC Bayern gilt dies ebenfalls. Daraus erklärt sich, warum für Fans ein Spielertransfer viel gefühlsbeladener sein kann als für den Spieler selbst.

image Der fragile Charakter von Karrieren und der Anteil, den „stille Helden“ daran haben. Neuers Karriere hätte auch anders verlaufen können. Als er 13 war, wollte man ihn bei Schalke 04 aussortieren, weil er zu klein war. Hätte es damals nicht Menschen gegeben, die den Keeper Manuel Neuer nicht als Momentaufnahme einfroren, sondern perspektivisch dachten, hätte es den Welttorhüter Manuel Neuer möglicherweise nie gegeben. Die Guardiolas, Klopps und Co. stehen tagtäglich im Rampenlicht. Aber diejenigen, die Fußballer überhaupt erst zu Fußballern machen, sieht man häufig nicht, sie sind nahezu unbekannt. Das Buch handelt deshalb auch von den unbesungenen und stillen Helden des deutschen Fußballs, den Norbert Elgerts, Lothar Matuschaks und all den anderen, die man auf jeder Ebene des Nachwuchsfußballs findet. Aufrichtige und lebenserfahrene Typen, denen man stundenlang zuhören kann, wenn sie über das Spiel reden. Weil sie nicht nur fachlich kompetent, sondern auch überragende Pädagogen sind. Und bescheiden noch dazu. So wurde mir in fast jedem zweiten Satz mitgeteilt, dass „für alles, was Manuel erreicht hat, er selber verantwortlich ist“ (Lothar Matuschak).

Bei folgenden Personen, die in irgendeiner Weise zu diesem Buch beigetragen haben, möchte ich mich bedanken: Eddy Achterberg, Bernd Beyer, Jörg Butt, Norbert Elgert, Siegbert „Siggi“ Hüneborn, Christoph Osigus, Hartmut Hering, Lothar Matuschak, Christina und Michael Matthoff, Olivier Kruschinski, Jaap Visser, Fans von Schalke 04 und des FC Bayern. Hierzu gehören auch die Bayern-Ultras von der „Schickeria“, deren Probleme mit Manuel Neuer ich nie so richtig verstehen und akzeptieren konnte (ohne dass meine Anerkennung für ihren Kampf gegen Rassismus, Antisemitismus und Homophobie im Fußball darunter gelitten hätte).

Eher halbherzig habe ich auch den direkten Kontakt zu Manuel Neuer gesucht, wenngleich es mir nicht zwingend notwendig erschien, um dieses Buch schreiben zu können. Ich hätte kaum andere Fragen gestellt, als dies die Journalisten der Tagespresse bereits seit Jahren tun. Und die Antworten wären ebenfalls kaum andere gewesen. Und schon gar nicht wollte ich den Eindruck einer Pseudo-Autorisierung erwecken.

Manuel Neuers Management hatte dem Verlag in einem sehr frühen Stadium geschrieben, dass der Zeitpunkt für ein Buch über den Torwart noch nicht gekommen sei – was den Keeper irgendwie ehrt. Aber mir ging es nicht darum, seine Lebensgeschichte zu erzählen. Mir ging es um sein Torwartspiel: woher dieses Spiel stammt, wie Manuel Neuer zu diesem Spiel kommt und es weiter entwickelt hat, wie dieses Spiel seitens der Öffentlichkeit betrachtet wird, welche Erfolge es verbuchen kann.

Dietrich Schulze-Marmeling

August 2015

KAPITEL 1

Ein Hauch von Abenteuer

Nahezu jeder Weltmeister hat auf dem Weg zum Titel mindestens ein Spiel, das arge Zweifel an seiner Siegerqualität weckt. Manchmal droht dann sogar das vorzeitige Scheitern. Dass ein Weltmeister in jeder Begegnung eines WM-Turniers überzeugt und souverän siegt, das gibt es kaum.

Bei der WM 2014 in Brasilien sind es Deutschlands 128 Minuten und 21 Sekunden gegen Algerien, in der alle Träume zu zerplatzen drohen. Wäre da nicht Keeper Manuel Neuer gewesen. Der Torhüter glänzt am 30. Juni 2014 in Porto Alegre nicht durch tollkühne Paraden. Neuer ist in diesem Spiel nicht der Keeper mit den tausend Händen. Er berührt den Ball vor allem mit dem Fuß und spielt neben dem Torwart auch noch einen überragend antizipierenden Libero.

Nie zuvor in der 84-jährigen Geschichte des WM-Turniers hat ein Torwart seine Rolle so unkonventionell und offensiv interpretiert (und sich dabei wiederholt hart am Rande zum Abgrund bewegt) wie Manuel Neuer im Achtelfinale des Turniers in Brasilien.

Eine offene Rechnung

Das Team von Bundestrainer Jogi Löw ist als Gruppensieger in die K.o.-Phase eingezogen. Algerien ist in seiner Gruppe hinter Belgien Zweiter geworden. Ein machbarer Gegner, denken die allermeisten Fans der Deutschen und wohl auch viele der deutschen Spieler.

Im Nachhinein ist man immer schlauer: Von den sechs Gegnern des DFB-Teams auf dem Weg ins Finale sind die Nordafrikaner der unangenehmste. Die Algerier hatten mit den Deutschen noch eine Rechnung offen. Bei der WM 1982 in Spanien hatten sie das DFB-Team im ersten Gruppenspiel sensationell mit 2:1 geschlagen, scheiterten aber am Einzug in die zweite Finalrunde, weil sich die auf dem Fußballfeld eigentlich spinnefeindlichen Nachbarn Deutschland und Österreich gegen den Emporkömmling verbündeten. Beim direkten Aufeinandertreffen in Gijón einigte man sich auf einen knappen 1:0-Sieg für die Deutschen, das beiden Ländern zum Weiterkommen reichte. In Porto Alegre soll nun die „Schande von Gijon“ gerächt werden. Vahid Halilhodzic, der bosnische Coach der „Les Fennecs“ (Die Wüstenfüchse): „Wir haben das nicht vergessen, nicht Gijón, nicht Deutschland. 32 Jahre sind eine lange Zeit, aber jeder in Algerien weiß, was passiert ist.“

Die Deutschen können auch nicht auf den Ramadan hoffen. Erstmals seit der WM 1986 kollidiert die muslimische Fastenzeit mit dem Turnier. Algeriens Trainer und Spieler verweigern eine Antwort darauf, wie sie mit dem Fastengebot umzugehen gedenken. Allerdings hört man aus dem Umfeld, dass Leistungssportlern die Nahrungsaufnahme in Ausnahmefällen tagsüber erlaubt sei. Und das Projekt „Rache für Gijón“ ist nun ganz sicherlich ein Ausnahmefall.

Ein Kader mit Problemen

Bundestrainer Jogi Löw war mit einem Kader nach Brasilien gereist, in dem einige Spieler angeschlagen sind und erst im Laufe des Turniers voll einsatzfähig werden. Der Bundestrainer muss deshalb in den ersten vier Turnierspielen improvisieren. Auch Keeper Manuel Neuer hatte es erwischt – ausgerechnet beim letzten Pflichtspiel der Saison. Im DFB-Pokalfinale gegen Borussia Dortmund hatte sich der Keeper des Double-Siegers Bayern München eine Schulterverletzung zugezogen. Hinter dem Einsatz von Deutschlands Nr. 1 stand einige Wochen ein Fragezeichen. In Brasilien kann Neuer zunächst nur eingeschränkt trainieren. Er steht dann zwar beim Turnierstart im Tor, kann aber erst gegen Algerien, also beim vierten Auftritt des DFB-Teams, „endlich wieder richtig abwerfen“, wie er später erzählt.

Den DFB-Kader plagt ein weiteres Problem. Abgesehen von Kapitän Philipp Lahm gibt es keinen Außenverteidiger von internationaler Klasse. Aber Lahm wird zunächst im defensiven Mittelfeld benötigt. Die hier gesetzten Sami Khedira und Bastian Schweinsteiger sind in der ersten Turnierphase noch nicht wirklich fit, weshalb Löw das Risiko scheut, beide gleichzeitig auflaufen zu lassen.

Gegen Algerien muss Löw auch noch auf Innenverteidiger Mats Hummels verzichten, den eine Grippe flachlegt. Für ihn rückt Boateng von der Außenposition in die Abwehrzentrale neben Mertesacker. Für Boateng verteidigt nun der 22-jährige Shkodran Mustafi auf der rechten Seite, der erst nachträglich in den WM-Kader gerutscht ist, nachdem sich Marco Reus im letzten Testspiel vor der WM schwer verletzt hatte und für die Reise nach Brasilien ausfiel. Mustafis Heimat ist normalerweise die Innenverteidigung oder das defensive zentrale Mittelfeld. Beim Anpfiff des Achtelfinals hat Mustafi erst 107 Länderspielminuten vorzuweisen. Links verteidigt Benedikt Höwedes, auch er ein gelernter Innenverteidiger. So besteht Jogi Löws Viererkette aus vier Innenverteidigern.

In Porto Alegre bietet die deutsche Elf bei ungewohnt kühlem Regen in den ersten 45 Minuten eine konfuse Vorstellung. Die Algerier stehen tief, spielen aber nach deutschen Ballverlusten schnell und forsch nach vorne. Das DFB-Team ist irritiert. Alles, wofür die Deutschen bis dahin gelobt wurden, ist dahin: Die passsicherste Elf des Turniers produziert eine Unmenge von Fehlpässen und damit unnötige Ballverluste. In der Viererkette können die „Pseudo-Außenverteidiger“ Mustafi und Höwedes nicht zum Spielaufbau beitragen. Beide schaffen es nicht, bei Ballbesitz die Räume auf den Außenbahnen zu nutzen. Die Deutschen spielen mit einer „stehenden“ Kette, die aber häufig nicht richtig steht. Die (ungewollte) Folge ist ein „Spielsystem“, in dem der Torwart zum Libero wird.

Am Rand zum Abgrund

Die Algerier nutzen die Langsamkeit Mertesackers und die hohe Positionierung Mustafis: Nach einem deutschen Ballverlust schlagen sie den Ball hinter die unflexible deutsche Kette, wo ihm ihre schnellen Angreifer hinterherjagen. Oder sie zielen den Ball flach zwischen die weit auseinanderstehenden einzelnen Glieder der deutschen Viererkette. In diesen Situationen zeigt sich die deutsche Abwehr fast permanent indisponiert. Normalerweise ziehen Trainer in einer solchen Situation einen der beiden Innenverteidiger tiefer, damit er seinen Kollegen absichert. Bei den Deutschen übernimmt nun diese Aufgabe der Torwart, der überragend antizipiert, sich wie ein Libero hinter die Viererkette schiebt, Stellungsfehler seiner Vorderleute ausbügelt und die in die Tiefe gespielten Bälle der Algerier abläuft. So ganz nebenbei verleiht Neuers Auftritt dem deutschen Spiel auch noch einen Hauch von Abenteuer. Cathrin Gilbert schreibt später in der „Zeit“: „Während Fußball-Deutschland noch diskutiert, welcher Abwehrspieler die größten Schwächen hat, kommt Manuel Neuer von hinten und deckt das Fehlverhalten der deutschen Defensive einfach zu.“

So auch in der 9. Minute. Eine von Mustafi flach in den algerischen Strafraum geschlagene Flanke wird abgefangen. Blitzschnell wird der Ball hinter die weit aufgerückte deutsche Elf gespielt. Dort eilt auf der linken Angriffsseite Islam Slimani dem Ball hinterher, aber plötzlich taucht Neuer auf – weit außerhalb seines Strafraumes –, liefert sich mit dem algerischen Angreifer entlang der Außenbahn (!) ein Laufduell und grätscht den Ball schließlich zur Ecke – „die beste Aktion eines DFB-Defensiven in der ersten halben Stunde“ („Spiegel online“).

In der 28. Minute wird der Keeper ein weiteres Mal fern seines Kastens aktiv. Neuer klärt nach einem zu kurz geratenen Rückpass von Mertesacker geistesgegenwärtig mit einer Grätsche. Eine waghalsige Aktion. Wäre Neuer auch nur eine Zehntelsekunde zu spät gekommen, hätte dies für ihn mit einer Roten Karte geendet. Mit Folgen, die weit über das Turnier hinausgegangen wären. Neuer wäre zum Sündenbock für ein deutsches Ausscheiden avanciert. Das Bild der gescheiterten Aktion hätte sich in die Hirne von Millionen deutscher Fußfallfans und Tausender deutscher Jugendtrainer eingebrannt. Nach der WM hätten viele Jugendtrainer ihre Keeper angewiesen, bitteschön in ihrem Kasten zu verharren – und sie daran erinnert, wie Deutschlands Nr. 1 bei der WM vom Platz geflogen sei und dadurch sein Land um den ersehnten Titel gebracht hätte. Viele Fans im Stadion und vor dem Fernseher halten erschrocken die Luft an, wenn Neuer aus seinem Tor stürmt und weit ins Spielfeld gerückt im Stil eines Abwehrspielers Zweikämpfe führt.

Mehr als einmal bewegt sich Neuer am Rand zum Abgrund. In Porto Alegre liegen zwischen Triumph und Scheitern nur Bruchteile von Sekunden. Aber die Wahrheit ist auch: Hätte er dieses Spiel nicht in dieser Weise gespielt, wäre Deutschland nicht Weltmeister geworden, sondern vorzeitig nach Hause gefahren. Bei allem Respekt vor den beiden anderen deutschen WM-Keepern Ron-Robert Zieler und Roman Weidenfeller: Keiner der beiden hätte an diesem Tag das DFB-Team retten können. Mit einem anders spielenden Torwart hätten die Deutschen das Achtelfinale verloren – ohne dass man dem Keeper anschließend dafür die Schuld gegeben hätte. Zu Neuers Spiel gehört auch, dass sich dessen Vorteile nicht für jeden auf den ersten Blick erschließen. Wären Zieler oder Weidenfeller in den Situationen, in denen Neuer aufs Feld stürmte, in ihrem Strafraum geblieben, hätte sie kaum jemand dafür kritisiert. Die Sündenböcke wären andere gewesen. Neuer selbst kommentiert sein riskantes Spiel nach dem Schlusspfiff mit stoischer Ruhe, als habe ihn sein Auftritt nicht im Geringsten emotional angefasst. „Ich hatte das immer unter Kontrolle. Da habe ich immer aufgepasst.“

„Berufsrisiko“

Als Neuer einige Monate nach der WM von der Zeitung „Die Welt“ noch einmal auf seinen denkwürdigen Auftritt angesprochen wird, reagiert er erneut völlig gelassen, ja fast schon abweisend:

„Die Welt“: „Seit der WM gelten Sie als Prototyp des neuen Libero-Torwarts.“

Neuer: „Dabei habe ich mein Spiel gar nicht verändert in Brasilien. Ich habe schon immer so gespielt. Aber bei einer WM findet alles natürlich auf einer ganz anderen Plattform statt, mit einer ganz anderen Aufmerksamkeit. Deshalb hieß es plötzlich, dass ich das Torwartspiel neu erfunden hätte. Aber dem war nicht so.“

„Die Welt“: „Im Achtelfinale gegen Algerien waren Sie gefühlt öfter außerhalb Ihres Strafraumes als innerhalb. Haben Sie eigentlich mal drüber nachgedacht, wenn einer Ihrer vielen Grätschen ins Leere gegangen wäre.“

Neuer: „Das ist Berufsrisiko, dessen ich mir bewusst bin.“

„Die Welt“: „Aber ein Fehler und vielleicht sogar eine Rote Karte hätte Deutschland aus dem Turnier befördern können.“

Neuer: „Ich gehe das Risiko ja nicht für mich ein, damit mich alle so toll finden, sondern für die Mannschaft. Eines weiß ich: Hätte ich gegen Algerien diese Ausflüge nicht gemacht, wären wir ausgeschieden.“

Diese Ruhe, die manchmal schon stumpf wirkt und die einst von einigen seiner Jugendtrainer zunächst verständlicherweise als Hindernis für eine Profikarriere interpretiert wurde, ist eine der großen Stärken Neuers in einem beschleunigten und für den Torwart komplizierter gewordenen Spiel. Seine Nervenstärke ist – neben einer gehörigen Portion Mut und der Fähigkeit, ein Spiel zu lesen – eine der Voraussetzungen dafür, Fußball auch mal am Rand zum Abgrund zu spielen. Und falls Neuer dann doch mal abrutscht, so lässt er sich hiervon kaum beeindrucken, sondern ist schnell zurück im Spiel, als sei nichts geschehen. The game must go on. Neuer ist kein Keeper, den ein Fehler nachhaltig nervös macht und der sich von ihm das gesamte Spiel versauen lässt.

Weiter dank Neuer

Zurück zum Spiel in Porto Alegre, wo Neuer nicht nur im Stile eines Liberos retten muss, sondern auch immer wieder durch Rückpässe ins Spiel eingebunden wird. Dem deutschen Offensivspiel fehlt es an Kreativität. Gegen die gut organisierte Abwehr der Nordafrikaner kommt man nur zu Weitschüssen. Häufig bleibt nichts anderes übrig, als die Anspielstation Neuer zu suchen, um von dort aus das Spiel neu aufzubauen oder zu verlagern. Erst kurz vor dem Halbzeitpfiff ergibt sich die erste echte Möglichkeit für die Deutschen: Algeriens Keeper M’Bholi kann Toni Kroos‘ Distanzschuss nicht festhalten, pariert aber den Nachschuss von Mario Götze prächtig. Zu diesem Zeitpunkt hätte Algerien schon längst führen können, ja müssen. Einzig Manuel Neuer hält sein Team im Spiel. Er ist Deutschlands Bester, obwohl es für ihn im klassischen Sinne kaum etwas zu halten gibt.

In der Pause reagiert Jogi Löw und schickt für den blassen Mario Götze zum zweiten Durchgang André Schürrle, der das deutsche Angriffsspiel mit mehr Tempo und einer neuen Tiefe bereichert. In der 50. Minute führt Algerien einen Eckstoß aus. Neuer fängt den Ball ab, hat dabei aber etwas Probleme. Trotzdem spielt er umgehend einen langen Ball in den Lauf von Schürrle, der noch knapp vom Ball getrennt wird – mit dem Ergebnis einer Ecke für Deutschland. Zwischen den beiden Eckstößen liegen nur wenige Sekunden.

In der 70. Minute muss Mustafi verletzt vom Platz. Für ihn kommt Khedira, der Lahms Position im defensiven Mittelfeld übernimmt, während der Kapitän auf die rechte Abwehrseite wechselt. Mit Lahms Versetzung werden die deutschen Angriffe flüssiger und temporeicher. Und mit Khedira, der nun erstmals bei diesem Turnier mit Schweinsteiger gemeinsam auf dem Feld steht, kommt mehr Struktur und Stabilität ins deutsche Spiel. Das DFB-Team dominiert nun und erspielt sich einige Chancen. Vor allem aber bekommt man die Konter der Algerier besser in den Griff. Im zweiten Durchgang muss Neuer weniger den Libero und Lückenstopfer spielen. Aber in zwei Situationen muss er auch jetzt noch Kopf und Kragen riskieren. In der 72. Minute kann Neuer nach einem langen Ball aus der algerischen Hälfte außerhalb des Strafraumes im letzten Moment per Kopf vor Slimani klären. Und in der 88. Minute bereinigt er im Stile eines Liberos, als er den Ball vor dem heranstürmenden Feghouli erwischt. Dazwischen liegt die einzige halbwegs ernsthafte Prüfung auf der Linie. In der 75. pariert Neuer problemlos einen Distanzschuss Slimanis. So endet die reguläre Spielzeit torlos.

Kurz nach Beginn der Verlängerung erzielt Schürrle das erlösende 1:0 für die Deutschen, als er eine Hereingabe Müllers mit der Hacke verlängert. Algerien wird nun offensiver, wodurch sich den Deutschen Chancen zum Kontern bieten. Aber die Abwehr bleibt weiterhin fragil, weshalb ein Ausgleich immer im Bereich des Möglichen liegt – auch wenn die Kräfte der Nordafrikaner merklich nachlassen. In der 109. Minute muss Schweinsteiger mit Krämpfen den Platz verlassen, für ihn kommt WM-Debütant Christoph Kramer, der in der 117. Minute eine gute Gelegenheit zum 2:0 vergibt. Kurz darauf rettet Boateng vor dem durchgebrochenen Slimani, als die Abwehr zu weit aufgerückt ist. Und in der 120. Minute macht Özil mit einem Nachschuss nach einer Schürrle-Chance alles klar: 2:0. Erst in der Nachspielzeit der Verlängerung muss Neuer doch noch hinter sich greifen. Nach einer Flanke von Feghouli steht Djabou völlig frei vor dem deutschen Tor und verkürzt auf 1:2. Bald darauf ist Schluss, und das DFB-Team hat das Viertelfinale erreicht. Auf dem Rückflug ins Mannschaftsquartier Campo Bahia weiß DFB-Boss Wolfgang Niersbach, bei wem er sich für das Weiterkommen zu bedanken hat: „Ich denke, wir alle können heute ein dickes Dankeschön an unsere Nummer eins loswerden. Manu, was du heute geleistet hast, ist einfach absolute Weltklasse. Absolute Weltklasse.“

Der Passspieler

Manuel Neuer hat in diesen 128 Minuten und 21 Sekunden exakt 5,517 Kilometer zurückgelegt. Sein Gegenüber M’Bohli, mehr ein Keeper der alten Schule, kommt auf ungefähr zwei Kilometer weniger. M’Bohli bekommt 22 Schüsse auf seinen Kasten gefeuert, Neuer nur sieben. Dafür werden für Neuer 19 Ballkontakte außerhalb (!) des Strafraumes gezählt.

In der gleichen Zeit, in der Neuer 5,517 Kilometer gelaufen ist, hat sein Vordermann Per Mertesacker 10,786 zurückgelegt. Der Torwart ist also mehr als halb so viel gelaufen wie ein Innenverteidiger. Und nur ca. 1.100 Meter weniger als Mustafi auf der gewöhnlich laufintensiven Position des Außenverteidigers in den 70 Minuten und 17 Sekunden seiner Präsenz auf dem Feld (6.607). Allein in der ersten Halbzeit legt Neuer sechs Spurts hin. Das sind genauso viele wie Toni Kroos, die deutsche Nr. 10. Im gesamten Spiel rennt er zehnmal aus seinem Kasten, um Bälle abzulaufen oder anderweitig Fehler auszubügeln. Neuer spielt 42 Pässe, 14 davon auf Boateng, zehn auf Mertesacker. Sein Gegenüber M‘Bohli kommt auf 17. Neuer wird von seinen Vorderleuten 26-mal angespielt, M‘Bohli 16-mal. Neuer passt mit dem rechten Fuß, Neuer passt mit dem linken Fuß, Neuer passt kurz, Neuer passt direkt, Neuer passt lang in die Tiefe, Neuer schlägt lange Bälle. Seine Passgenauigkeit liegt bei 79 %, M’Bohlis bei 40 %. Damit erzielt Neuer einen besseren Wert als Mesut Özil (77 %), Mario Götze (71 %) und Thomas Müller (67 %) sowie 13 der 15 eingesetzten algerischen Spieler. Berücksichtigt man nur Spieler, die – wie Neuer – vom Anpfiff bis zum Abpfiff auf dem Platz stehen, dann ist Neuer besser als Özil, Müller sowie alle Algerier.

Zum „Man of the Match“ kürt die FIFA aber nicht Neuer, sondern M’Bohli. Die Jury lässt sich noch von traditionellen Vorstellungen leiten. M’Bohli hat stark und viel gehalten. Dass Neuer deutlich weniger durch die Luft flog als sein Gegenüber, hat einen einfachen Grund: Er war am Ball, bevor ihn ein Gegner auf seinen Kasten dreschen konnte. Was viele Zuschauer aber nicht sehen, zumindest nicht ausreichend goutieren, weil sie auf spektakuläre Flugparaden geeicht sind.

„Das Spiel des letzten Mannes revolutioniert“

In der Heimat wird die deutsche Mannschaft von den Medien heftig geprügelt. „Schürrle stark, Neuer top – der Rest ist Schande…“, ätzt die „Bild“. Insbesondere die Abwehr bekommt es um die Ohren. Die „Süddeutsche Zeitung“: „Nur einer verteidigte zuverlässig: Torwart Manuel Neuer.“ Das DFB-Team hat gegen Algerien kein gutes Spiel geliefert. Aber einige der riskanten Situationen, die den deutschen Fans während dieser WM den Schweiß auf die Stirn treiben, sind durchaus gewollt – allerdings nur möglich mit diesem Torhüter. Beispielsweise die sehr breite (gegen Algerien deutlich zu breite) Positionierung beim Spielaufbau, die bei Ballverlust dem Gegner große Räume zwischen den Verteidigern – vor allem den Außen- und den Innenverteidigern – anbietet, in die er laufen und passen kann. Aber Neuer ist hier stets aufmerksam und zur Stelle und stößt in diese Lücken hinein.

Der Spielaufbau der Deutschen, ja ihre gesamte Spielphilosophie wird bei dieser WM stark von ihrem Keeper beeinflusst. Während bei anderen Teams der Torwart nur zum Abwehren gegnerischer Schüsse vorgesehen und in die Mannschaftstaktik nur beschränkt integriert ist, spielt Neuer im deutschen Spiel eine umfassendere Rolle. In England behandelt die „Daily Mail“ Neuer in ihrem Bericht zum Algerien-Spiel folgerichtig nicht als Torwart: „Beckenbauer, Matthäus und jetzt Neuer! Der starke Keeper setzt die Reihe starker deutscher Abräumer fort.“ Ähnlich hält es „Zeit online“ im Resümee seines Live-Blogs zum Spiel: „Die wichtigste Nachricht: Deutschland steht im Viertelfinale der WM. Die zweitwichtigste Nachricht des Abends: Deutschland hat wieder einen Libero. Nach all den langen Jahren der Doppel-Sechs, der Vierer-, Fünfer- und Deutschlandkette hat Joachim Löw endlich erkannt: Manuel Neuer ist im Tor verschenkt.“

Die Taktikfreaks von „Spielverlagerung.de“ analysieren: „Durch die schlechte Staffelung (besonders in der ersten Halbzeit, Anm. d. A.) und das Aufrücken der Außenverteidiger hatte das deutsche Team Probleme, ins Gegenpressing zu gelangen. Es tummelten sich viele Spieler vor dem Ball, speziell nach Ballverlusten im Mittelfeld. Algerien hebelte das Gegenpressing über einen einfachen Pass aus, um danach direkt den Ball in die Spitze zu schlagen. Hier hatten sie sich Per Mertesacker als langsamsten Verteidiger des deutschen Teams ausgeschaut. Slimani rückte oft nach links, während Linksaußen Soudani asymmetrisch höher agierte als sein Gegenüber Feghouli. Mit ihrer hohen Geschwindigkeit starteten sie in Laufduelle mit Per Mertesacker, der sie nicht halten konnte. Mustafi konnte aufgrund seiner hohen Positionierung hier meist nicht eingreifen. Dass dieses taktische Mittel der Algerier nicht aufging, lag maßgeblich an Manuel Neuer. Er zeigte eine beeindruckende Partie als mitspielender Torwart und fing sämtliche Bälle hinter der Abwehr ab. Seine Positionsbeschreibung trifft wohl am ehesten der Begriff Libero; ein freier Spieler hinter der Abwehr, der Bälle abläuft und Gegenstöße einleitet.“

„Spielverlagerung.de“ sieht Neuers spektakulären Auftritt aber nicht nur unter dem Aspekt einer schwachen Vorstellung seiner Vorderleute: „Es muss auch gesagt werden, dass sich das deutsche Team der Qualitäten von Neuer bewusst ist. Die hohe und sehr breite Stellung der Verteidiger im Spielaufbau wird erst durch Neuer ermöglicht; er fängt die relativen Geschwindigkeitsdefizite und den riskanten Spielaufbau auf. Das Spiel mit einer Torwartkette ist nicht der letzte Rettungsanker, sondern genau so vom deutschen Team gewollt.“

Der „kicker “ titelt „Die falsche 5“ und kommentiert: „Deutschland diskutierte über die falsche 9, jetzt über die ,FALSCHE 5‘. Im Stile eines Liberos prägte Manuel Neuer die Partie gegen Algerien. (…) Seine 1,93 m sind ein Gardemaß für einen Torhüter. Er ist ein Riese mit seiner Gestalt und seinem Torwartspiel. Aber ist dieser deutsche WM-Auserwählte, zum dritten Mal bei einem großen Turnier, nicht weitaus mehr als ein Torhüter? Zusätzlich ein Ausputzer oder Libero? Eine Nummer 1 plus eine Nummer 5 in Zeiten, da so viel über die falsche 9 diskutiert wird? Keeper Neuer stärkt seine Vorderleute als elfter Feldspieler.“

Cathrin Gilbert („Die Zeit“) sieht gar eine Zeitenwende; für sie hat Neuer im WM-Achtelfinale „das Spiel des letzten Mannes revolutioniert. (…) Manuel Neuer geht auf dem Platz Wege, die Torhüter vor ihm nicht kannten. Wenn es notwendig ist, deckt der Schlussmann allein jenes Drittel der eigenen Hälfte ab, in dem sonst die gesamte deutsche Abwehr steht. Oder er ist derjenige, der das Spiel schnell macht, mit hohen Abstößen oder mächtigen Abwürfen Konter einleitet.“ Oliver Fritsch schreibt Ähnliches auf „Zeit online“: „Dass der moderne Torwart nicht mehr auf der Linie klebt, weiß man selbst im traditionsverliebten Deutschland schon einige Jahre. Dass einer aber fast das gesamte Abwehrdrittel abdeckt, wie Neuer an diesem Tag, ist neu. Man soll ja vorsichtig sein mit Prognosen. Aber Neuer dürfte beim deutschen Sieg gegen Algerien ein epochales Spiel geboten haben, das künftige Generationen beeinflussen wird. Kinder, die das Spiel gesehen haben, wollen ab sofort Tormann werden – und zwar so wie Neuer. (…) Dass Neuer, der Weltbeste seines Fachs, seiner Elf in Brasilien ein Spiel gewinnen würde, war zu erwarten. Doch auf welch beispiellose Art, konnte wohl keiner ahnen. Er tat es fast gar nicht mit den Händen, denn wo er es tat, darf er sie gar nicht benutzen. Neuer gewann als Ausputzer vor dem Strafraum, als Manuel, der Libero. Vielleicht muss man nach diesem Spiel sogar einen neuen Begriff für Tormann ausdenken.“

Dass ein Torwart ein derartig epochales Spiel auf dem Rasen ausgerechnet eines brasilianischen Stadions hinlegt, entbehrt nicht eines gewissen Charmes. Brasilien ist nicht gerade das Land der Torhüter. Lange Zeit galt hier der Mann mit den Handschuhen als Nicht-Fußballer und Spielverderber. Félix Miélli Venerando, Brasiliens Nr. 1 beim WM-Gewinn 1970, behauptete gar, in Brasilien werde Torwart, wer als Feldspieler zu schlecht sei. Wer auch nur ein bisschen Fußball spielen konnte, der mied das Tor. In einer kreativen, spielfreudigen und torhungrigen Spielkultur war der Keeper als reiner Tore-Verhinderer eine Spaßbremse und ein Spielverderber. Im Porto Alegre demonstriert Neuer, dass es auch anders geht. Dass ein Torwart sehr wohl ein Fußballspieler sein kann, der sich am Spiel aktiv beteiligt.

Lob und Skepsis

Manuel Neuer wird nach dem Algerien-Spiel weltweit applaudiert. Aber daheim erscheint es manchmal so, als müsse er sich für seine Spielweise rechtfertigen. Vielleicht ist das Denken der Fußballöffentlichkeit noch zu stark von den Darbietungen eines Oliver Kahn geprägt. Außerdem ist Neuer nicht einfach nur ein mitspielender Torwart. Mit dem Fuß sind mittlerweile viele Keeper ordentlich. Aber kaum jemand interpretiert das Mitspielen so radikal und beherrscht es so gut wie Neuer.

Vor dem Viertelfinale gegen Frankreich sitzt Neuer mit Torwarttrainer Andreas Köpke auf dem Podium der Pressekonferenz. Köpke betrachtet es als seine Aufgabe, ein nervöses Volk und dessen Fachjournalisten zu beruhigen, indem er eine Laudatio auf Neuers Spiel hält: „Er verarbeitet die nicht immer leichten Rückpässe souverän.“ Sein Spiel sei nicht ohne Risiko, aber es zahle sich aus. Der Ertrag sei höher. Neuers Spiel mache ihn nicht nervös. „Ich habe da draußen immer die Ruhe, man wird nicht nervös, weil man immer das Gefühl hat, er weiß, was er tut.“ Neuer sei der beste Libero seit Franz Beckenbauer, was der Gelobte cool mit einem Griff in die deutsche Taktikgeschichte kontert: „Nach Franz Beckenbauer gab es eine Zeit lang keinen Libero, deshalb ist es nicht das beste Kompliment.“

Die Redaktion des „kicker“ diskutiert über Neuer kontrovers: Für Oliver Hartmann hat Neuer gegen Algerien nicht die richtige Balance zwischen Herauslaufen und Verharren gewahrt. „Neuers Auftritt gegen Algerien war diesbezüglich ein Tanz auf der Rasierklinge, und niemand wird bestreiten können, dass er seinen Strafraum in den 90 Minuten auch das ein oder andere Mal zu oft verließ. Wenn Oliver Kahn bei Neuer zu hohe Risikobereitschaft anmahnt, weiß er, wovon er spricht. Bei der WM 2002 wuchs im damaligen Weltklassekeeper mit jedem Galaauftritt das Gefühl der Unbesiegbarkeit – das dann aber mit dem folgenschweren Patzer im Endspiel gegen Brasilien schlagartig in sich zusammenfiel.“ Hartmanns Kollege Karlheinz Wild ist anderer Meinung: „Mit Aktionen, die Neuer immer wieder und immer öfter in seinem Bundesliga-Alltag einflicht, verblüffte er nun im WM-Achtelfinale gegen Algerien die staunende Fußballwelt. (….) Für Neuer bedeutet diese außergewöhnlich offensive Interpretation des Torhüter-spiels eine Selbstverständlichkeit, sie gehört zur Identität des Torwarts Neuer, der sich durchaus des Gefahrenpotenzials dieses Stils bewusst ist: Kommt er zu spät in ein solches Alles-oder-nichts-Duell, sieht er Rot. Dieses Risiko nimmt er in Kauf, weil er mit seinem Stil den Seinen weniger schadet als hilft: als Ausputzer, als Libero, als 11. Feldspieler. Wenn die Nationalelf in Brasilien Großes erreichen will, ist Neuer der Schlüsselspieler: als besonderer Keeper mit Hand und Fuß.“

Karlheinz Wild wird recht behalten. Am 13. Juli 2014 wird Deutschland mit Keeper Manuel Neuer zum vierten Mal Weltmeister.

KAPITEL 2

Monaco? Buer-Mitte!

Manuel Neuer stammt aus Gelsenkirchen. Sein Elternhaus steht in einem ruhigen Abschnitt der Allensteiner Straße, zwischen zwei Kleingartenanlagen und in der Nähe der Gelsenkirchener Fachhochschulen. Manuels Vater Peter Neuer stammt aus Oberschwaben und ist 1958 nach Gelsenkirchen gekommen, als Sohn eines Friseurs, der zuvor in seinem oberschwäbischen Heimatort zwei Läden betrieben hatte. Über verwandtschaftliche Kontakte kam die Familie nach Gelsenkirchen, wo Großvater Neuer ebenfalls einen Friseurladen eröffnete.

1958 ist auch das Jahr, in dem Schalke bis heute letztmalig Meister wurde. Peter Neuer war damals elf und schaute zu, wie die Sieger am Bahnhof in Gelsenkirchen empfangen wurden. Wie sein Vater erlernte Peter Neuer zunächst das Handwerk eines Friseurmeisters. Später wechselte er zur Polizei und diente in dem Einsatzzug, der bei Großereignissen ausrücken muss. Hierzu gehörten viele Jahre auch die Heimspiele von Schalke 04 im Parkstadion.

Zwischen Ruhrgebiet und Münsterland

Mit „Gelsenkirchen“ ist der Heimatort Manuel Neuers nur unzureichend benannt. Genauer muss es heißen: Gelsenkirchen-Buer. Ein Bindestrich und vier zusätzliche Buchstaben, die einen kleinen, aber feinen Unterschied markieren. Als Neuer anlässlich seines Wechsels zum FC Bayern zu seiner vermeintlichen Ultra-Vergangenheit befragt wird, antwortet er: „Bei mir muss man einfach sehen: Ich komme ja nicht aus Gelsenkirchen, sondern aus Gelsenkirchen-Buer. Das ist das Monaco von Gelsenkirchen. Das glauben nur leider viele nicht, die nicht aus Buer stammen.“

Buer das „Monaco Gelsenkirchens“ zu nennen, ist nicht so abwegig, wie es im ersten Moment klingen mag. Zwar halten viele Nicht-Ruhrgebietler das Revier städtebaulich und sozial für eine monolithische Einheit. Wer dort aufgewachsen ist, weiß jedoch, dass sich die Städte, aber auch Stadtteile sehr stark unterscheiden. Gerade Gelsenkirchen gilt als „extrem binnendifferenziert“, wie es der dort lebende Stadt- und Fußballhistoriker Hartmut Hering formuliert.

Während sich im südlichen Ruhrgebiet, entlang der Hellwegzone, die besseren Gegenden eher im Süden der Städte befinden, ist es in Gelsenkirchen wie auch im Rest der Emscherzone umgekehrt. Dort bilden Emscher und Rhein-Herne-Kanal eine soziale und geographische Binnengrenze. Die schon ins Münsterland übergehenden Gebiete nördlich davon gelten als „besser“. Hier liegt auch Buer, das zwar nicht vergleichbar ist mit den gediegenen Gegenden im Süden Essens und Dortmunds und schon gar nicht mit München oder Monaco. Aber Buer ist anders als andere Stadtteile Gelsenkirchens.

Ursprünglich war es ein altes südmünsterländisches Handwerker- und Bauerndorf, das über eine gewisse Tradition der Selbstverwaltung und damit auch über ein tradiertes lokales Selbstbewusstsein verfügte. Buer wäre vermutlich noch heute ein unbedeutendes Dorf, wenn der Bergbau im 19. Jahrhundert nicht auch das Gebiet nördlich der Emscher erfasst hätte. Schon 1858 hatte der irische Unternehmer William Thomas Mulvany die erste Gelsenkirchener Zeche „Hibernia“ (lateinisch für „Irland“) abgeteuft, und innerhalb von 20 Jahren war das gesamte Gebiet südlich der Emscher bergbautechnisch erschlossen. Zu Beginn dieser Industrialisierung war Gelsenkirchen noch ein kleines Dorf, ebenso wie die angrenzende Gemeinde Schalke, wo die Zeche „Consolidation“ entstand, die 50 Jahre später für den FC Schalke 04 eine wichtige Rolle spielen sollte.

Nördlich der Emscher begann der Bergbau später, weil dort das Deckgebirge über der Kohle und damit auch die Abbaukosten höher waren. Als erste nahm 1875 Zeche „Hugo“ in Beckhausen ihren Betrieb auf, und bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden in den bislang kaum besiedelten Bauernschaften rund um Buer weitere Schachtanlagen. Um die Arbeiter unterzubringen, wurden Wohngebiete hochgezogen. Daraus entwickelten sich die Orte Hassel, Resse, Erle, Beckhausen, Schaffrath und Scholven, die sich fortan wie Satelliten um die „Sonne“ Buer, dem heutigen Stadtteil Buer-Mitte, gruppierten. Ab 1911 nannte sich das ganze Gebilde stolz „Buer in Westfalen“.

In Buer-Mitte selbst wurden keine Zechen oder andere Industrieanlagen errichtet, so dass es im Gegensatz zu seinen überwiegend proletarisch geprägten Ortsteilen seinen Charakter als kleinbürgerlich geprägte westfälische Kleinstadt erhalten konnte. In keinem anderen Teil Gelsenkirchens ist der westfälische Pohlbürger mit seiner konservativen Mentalität so stark vertreten. Als der Ort 1928 mit der Stadt Gelsenkirchen und der Gemeinde Horst-Emscher zur neuen kreisfreien Stadt Gelsenkirchen-Buer zusammengelegt wurde, steuerte Buer fast 100.000 Bürger bei, ein Drittel der neuen Einwohnerzahl, dennoch wurde schon zwei Jahre später der Städtename auf „Gelsenkirchen“ reduziert. Im Boom der Nachkriegszeit erreichte Gelsenkirchens Einwohnerzahl 1959 mit 391.745 den historischen Höchststand. Mit dem Niedergang der Montanindustrie begann die Bevölkerung zu schrumpfen, bis heute um mehr als ein Drittel auf ca. 256.000.

Eine bipolare Stadt

Buer-Mitte hatte unter den städtebaulichen Sünden der Industrialisierung wie auch unter den Folgen des wirtschaftlichen Niedergangs weniger zu leiden als das übrige Gelsenkirchen. Bis heute ist der Stadtteil umgeben von kleineren Waldgebieten und sogar von Ackerland. Es gibt Grünzonen und Parkanlagen mit Teichen und Seen, sogar eine Wasserburg aus dem 13. Jahrhundert mit französischem Schlossgarten. Und auch die Hinterlassenschaften der längst geschlossenen Zechen fügen sich mittlerweile in dieses Bild. Die Abraumhalde Rungenberg der Zeche Hugo ist begrünt und ein Naherholungsgebiet. Zu Füßen des Rungenbergs liegt die alte Arbeitersiedlung Schüngelberg, die 1989 denkmalgerecht saniert wurde.

Frank Baranowski, der sozialdemokratische Oberbürgermeister Gelsenkirchens, spricht von einer bipolaren Stadt: „Wir sind heute eine Großstadt, die aus zwei Großstädten mit ihren jeweiligen Stadtteilen entstand und eben über zwei Zentren verfügt. (…) Gerade Buer war und ist dabei in unserer Stadt immer ein Teil gewesen, mit dem sich die Bewohner besonders identifiziert haben. Und Buer hat sich seinen kleinteiligen Kern bewahren können – das macht es attraktiv für viele Besucher. Hinzu kommen die zahlreichen Einzelhandelsgeschäfte und der Markt: Buer ist eine sehr geschätzte Einkaufsstadt.“

Was er nur verklausuliert umschreibt, ist die Tatsache, dass der Gelsenkirchener Süden noch heute proletarischer geprägt und sozial schwächer ist, wogegen im Raum Buer und insbesondere in Buer-Mitte ein Großteil der Besserverdienenden, des Mittelstandes und der Lehrerschaft wohnt. Während Gelsenkirchen südlich des Rhein-Herne-Kanals Bevölkerung verliert, ist Buer und besonders Buer-Mitte noch ein Gebiet, wo Wohnungen und Häuser gesucht werden.

„Buer in Westfalen“ sagen manche Bueraner noch heute gerne. Manche antworten, wenn man sie nach ihrer Herkunft fragt, nicht mit „Gelsenkirchen“ oder wenigstens „Gelsenkirchen-Buer“, sondern nur mit „Buer“. Für Gelsenkirchener Verhältnisse – aber auch nur für diese – gelten die Bueraner deshalb als etwas dünkelhaft. Aber Buer ist wirklich nur das Monaco Gelsenkirchens.

Die Wurfkraft des Vaters

Buers soziale Vielschichtigkeit manifestiert sich auch im Fußball. Der SSV Buer 07/28 ist ein eher bürgerlicher Verein und das Resultat einer 1964 erfolgten Fusion von Ballspielverein Buer 07 – kurz: BVB (!) 07 – und den Sportfreunden Buer 1928. Der BVB 07 war eine Anlaufadresse fußballbegeisterter Bueraner Gymnasiasten, die Sportfreunde gehörten zur katholischen Sportbewegung DJK. Der Stadtteilrivale Spvgg. Westfalia war hingegen ein Zechenverein.

Auch Manuels Vater Peter Neuer spielte Fußball, allerdings in keinem der Buerschen Vereine. Bis 1979 lebte er noch in der südlich am Hauptbahnhof anschließenden Gelsenkirchener Neustadt und spielte dort in der Jugend von Eintracht Gelsenkirchen, deren Heimat das Südparkstadion war. Die Eintracht war einige Jahre hinter Schalke der zweite Verein in der Stadt. In den 1960ern und 1970ern spielte der Klub acht Jahre in der Regionalliga West, der damals zweithöchsten Spielklasse. Letztmalig in der Saison 1973/74, in der man die Qualifikation für die neue 2. Bundesliga verpasste, trotz vorausgegangener Fusion mit der STV Horst-Emscher zum STV Eintracht Gelsenkirchen-Horst. Aus der Eintracht gingen eine Reihe späterer Bundesligaspieler hervor, u. a. Heinz Hornig, der mit dem 1. FC Köln 1964 erster Bundesligameister wurde, Willi Koslowski, genannt „der Schwatte“, der in der Bundesliga für Schalke und Rot-Weiss Essen vor den Ball trat und auch in die Nationalelf berufen wurde, Hans Nowak, der mit dem FC Bayern München 1966 den DFB-Pokal und ein Jahr später den Europapokal der Pokalsieger gewann. Und Jürgen Rynio – ein guter Keeper, der aber das Pech hatte, dass er viermal aus der Bundesliga abstieg: mit dem Karlsruher SC (1968), dem 1. FC Nürnberg (1969), Borussia Dortmund (1972) und dem FC St. Pauli (1978).

In der Eintracht-Jugend kommt Peter Neuer allerdings nie über die 2. Mannschaft der jeweiligen Altersklasse hinaus. Zwischenzeitlich spielt er auch mal in der Jugend bei Schalke. Im Seniorenalter tritt er für Schwarz-Weiß Neustadt vor den Ball. Dort wechselt er nach einiger Zeit jedoch die Sportart: Statt Fußball spielt er nun Handball. Peter Neuer besitzt auch leichtathletische Qualitäten. Als Zehnjähriger wirft er den Schlagball fast 50 Meter weit und landet beim Weitsprung bei etwas über vier Metern – die weiten Abwürfe und die Sprungkraft seines Sohnes Manuel kommen einem da in den Sinn.

Mit zwei Jahren den ersten Ball

Es ist schon früh erkennbar, dass Manuel Neuer im Umgang mit dem Ball Talent besitzt. Mit zwei Jahren bekommt Manuel seinen ersten Fußball geschenkt. Er selber erzählt später dem „FAZ“-Journalisten Michael Horeni von seiner frühen Fußballbegeisterung: „Selbst beim Sonntagsspaziergang mit der Familie habe ich den Ball immer dabeigehabt. Das machst du doch normal nicht, wenn du mit fünf, sechs Jahren schon dreimal die Woche trainierst, auf dem Schulhof in den Pausen spielst und dann noch zum Tennis gehst. Als Kind denkst du aber nicht so. Da macht man, was einem Spaß macht. Ich war besessen davon. Ohne Ball konnte ich nirgendwo hingehen. Auch zum Skifahren habe ich den Ball mitgenommen, selbst im Tiefschnee musste mein Vater mit mir Fußball spielen.“

Auf dem Bolzplatz steht er nicht im Tor, sondern kickt im Feld. Es war ein anderes Fußballspielen als später als Profi. „Ich hatte riesige Freude, das kann man gar nicht mit heute vergleichen. Da war es spielerisch.“