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Ein Jahrhundertfund – »Dieser Roman ist ein Wunder.« Maariv

Zu pikant, um gedruckt zu werden – das war »Eine Wiener Romanze«, bis der Roman 100 Jahre nach seiner Niederschrift auf den Rückseiten eines unverfänglichen Manuskripts entdeckt wurde. Er erzählt die Geschichte des Michael Rost, der im Wien vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs sein Glück sucht. Der junge Müßiggänger verkehrt mit Anarchisten, Aristokraten und leichten Mädchen. Er liebt den Duft der Kastanien und seine Zimmerwirtin. Als er eine Affäre mit ihrer 16-jährigen Tochter beginnt, gerät er an den Rand des Untergangs.

Im Wien der Vorkriegszeit will er sein Glück machen: Michael Rost, 18 Jahre jung, mittellos, jüdisch, ein Müßiggänger und Flaneur. Als er sich bei einer wohlhabenden Familie einmietet, wird er von der Dame des Hauses verführt und beginnt eine Affäre mit ihrer 16-jährigen Tochter – eine Dreiecksbeziehung, die die Familie bedroht und Rost an den Rand des Untergangs bringt. Viele Jahre später lebt er in Paris und erinnert sich an seine Jugend. Noch immer ist er heimatlos. »Eine Wiener Romanze« ist ein erstaunlich junges und modernes Buch, es schildert Jugendwahn, Urbanisierung, Religionslosigkeit, Einsamkeit und freie Liebe und das alles vor dem Hintergrund einer bröckelnden Donaumonarchie.

David Vogel ist ein Schriftsteller vom Rang eines Schnitzler, Werfel oder Joseph Roth. Sein Roman erzählt eine aufregende Lolita- und Dreiecksgeschichte von schönster Traurigkeit und Poesie. Zugleich zeichnet er das schillernde Porträt einer untergegangenen Welt.

»Rund hundert Jahre nach seiner Entstehung, vermutlich im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, und nach rund fünfzigjähriger Lagerung im Literaturarchiv, wurde das Buchstabenmeer eines ganzen Jugendromans entdeckt, eine Art Zeitkapsel aus dem Westeuropa des beginnenden 20. Jahrhunderts und eine biografische Fundgrube über das Leben des jungen Vogel in der Stadt Wien.« Aus dem Nachwort von Lilach Netanel

»Ein faszinierender und bedeutender hebräischer Text.« Haaretz

David Vogel

EINE
WIENER
ROMANZE

ROMAN

Aus dem Hebräischen
von Ruth Achlama

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Inhaltsübersicht

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Buch lesen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Wien – Stadt einer Jugend

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Über die Endfassung des Buchs

Anmerkungen

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Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne ...

Michael Rost warf einen Blick aus dem Fenster auf das nächtliche Flussufer, das von den feinen Schnüren eines Herbstregens überzogen war. Er machte »hm« und verließ das Zimmer. Es ging auf zehn Uhr zu. Ein rotbrauner Himmel lastete auf den Dächern, das Pflaster schimmerte feucht und modrig. Hochgewachsen, leicht vorgebeugt schlenderte er langsam durch die schon weniger belebten Straßen, vorbei an grell erleuchteten Schaufenstern, vorbei an Prostituierten unter Regenschirmen. Kurze Zeit später betrat er das Café. Er nickte ein paar Bekannten zu und setzte sich an einen gerade frei gewordenen kleinen Tisch im ersten Saal, gegenüber dem Eingang. Emmi Wittler, schlank, schwarz gekleidet, das rote Haar kurz geschnitten, streckte ihm ihre schmale, gepflegte Hand entgegen und lächelte freundlich. Dann setzte sie sich ohne Weiteres zu ihm und zündete sich eine Zigarette an.

»Ich war gerade im Kino. Bin mittendrin gegangen. Ein langweiliger Film.«

»Allein?«

»Kommt auch mal vor. Egon hat es neuerdings übrigens auf die hübsche kleine Polin abgesehen. Die kennen Sie doch. Ein wirklich liebenswürdiges Mädchen.«

Mit spitzem Mund trank sie ihren dampfenden Kaffee in kleinen Schlucken. Danach zog sie ein goldenes Puderdöschen aus ihrer schwarzen Handtasche und puderte sich das Gesicht nach. Von der glimmenden Zigarette auf dem Aschenbecher, die am unteren Ende Spuren ihres roten Lippenstifts aufwies, kräuselte ein feiner, bläulicher Rauchfaden auf, der stark und würzig duftete.

»Und wer nimmt unterdessen seine Stelle ein?«, fragte Rost lächelnd.

»Unsittlich! Trotzdem werde ich Ihnen verraten, dass ich derzeit eine kurze Pause einlege, um philosophische Betrachtungen über die großen Lebensfragen anzustellen.« Sie ließ ein neckisches, kleines Lachen vernehmen.

»Haben Sie denn schon das passende Alter erreicht? Damit fängt man normalerweise erst mit fünfzig Jahren oder darüber an. Sie haben also, soviel ich weiß, noch an die fünfundzwanzig Jahre Zeit.«

»Frauen, die nicht hübsch sind, fangen in jedem Alter an …«

»Sie möchten mir ein kleines Kompliment abluchsen? Haben Sie das denn nötig?«

»Das hat jede Frau nötig. Selbst die schönste. Ohne das wird sie hässlicher.«

»Und wer die meisten vergibt – der hat gewonnen?«

»Kann sein …«

»Ja dann … dann denken die diversen Krüppel also nur fälschlich, es sei so schwierig.«

Emmi kam gleich ein Armamputierter mit entsetzlich entstellten Zügen in den Sinn, der sich auf ihr wälzte. Vor Abscheu bildete sich ein Kloß in ihrem Hals. »Hören Sie bitte auf damit. Sie wecken Albträume bei mir.«

Männer und Frauen jeden Alters und aller Nationen und Sprachen drängten sich an den Tischen, die so eng standen, dass kaum noch ein Durchkommen war. Sie tranken, redeten, lachten lauthals, rauchten, verschrieben sich mit Leib und Seele der teils echten, teils künstlichen Vergnügungslust, die diese Stadt beseelte. Rost behielt den Eingang im Blick, musterte die Gesichter der sitzenden oder ein- und ausgehenden Gäste, die den Kellnern den Weg versperrten, so dass diese die Getränketabletts gewandt über ihren Köpfen balancieren mussten. Sein violett angelaufenes Gesicht nahm einen harten, fast brutalen Ausdruck an. Wieder verfiel er in jene bohrende Langeweile, die dem Menschen tief im Herzen sitzt, wie ein Krebsbefall der Seele, vererbt von Generationen, die kein Vergnügen der Welt ausgelassen hatten, wobei Einzelne vor lauter Überdruss aus dem Leben geschieden waren. Er trank einen Schluck von seinem schwarzen Kaffee, der erkaltet war.

»Da kommt Gregor!« Emmi deutete auf einen Mann mit Kippa. Er trug einen verblichenen Sommeranzug, dessen überweite Hose ihm kaum bis an die Knöchel reichte, und steuerte schnurstracks ihren Tisch an.

Emmi stellte ihn vor. Der Mann zog sich einen freien Stuhl von einem dritten Tisch heran und nahm Platz. Sofort wandte er sich an Rost mit der Frage: »Und wo ist Ihr Atelier? Sie sind doch sicher Maler?« Dabei entblößte er ein paar gelbbraune Zahnstummel.

»Ich bin kein Maler.«

»Ach, wie schlau!« Sein Mund verzog sich zu einem lautlosen Lachen.

Während er sich mit der einen Hand die kurze Pfeife in den Mund steckte, nahm er mit der anderen die Kippa vom Kopf und warf sie in seinen Schoß. Unter der glänzenden runden Glatze fielen seine Bartstoppeln noch mehr auf. »Und welchen Philosophen lesen Sie gerade?«

»Auch das trifft es nicht. Sie irren sich gewaltig.«

»Dann sind Sie ja erst recht würdig, mir einen Kaffee auszugeben. Oder richtiger, ein Glas Wein. Sie verstehen was vom Leben, Herr Rost …! Mit Männern Ihres Schlags wechselt Paul Gregor gern ein Wort, hihi. Garçon, Weißwein!«

Emmi lachte.

»Ich bin keineswegs sicher, Ihrer würdig zu sein«, scherzte Rost.

»Aber ja doch, und wie, mein Herr! Seien Sie nur nicht zu bescheiden. Ich habe dadurch meine Haare und meine Zähne verloren und weiß, was ich sage!« Er zog heftig an seiner kalten Pfeife. »Sollten Sie jedoch zufällig Schriftsteller sein, dann dürfen Sie mich durchaus auf Herz und Nieren prüfen und sich meiner nach Herzenslust bedienen. Darin sind Ihnen schon viele gute Leute vorangegangen. Diese bedauernswerten Schriftsteller, Einfallsreichtum ist nur wenigen hervorragenden Geistern gegeben, und interessante Menschen sind ja so selten! Deshalb fallen die Leute wie eine hungrige Meute über mich her. Ich habe viel zu bieten. Genug für alle!«

»Nein, ich bin kein Schriftsteller.«

»Nicht?! Dann sind Sie ja ein ganz exotischer Vogel!«

Er drückte sich das Monokel, das an einem schwarzen Band hing, in die rechte Augenhöhle, um seinen Gesprächspartner näher zu betrachten, wobei seine wässrigen Augen flatterten und sein Mund unablässig grinste. Mit spöttischer Miene hielt Rost seinem prüfenden Blick stand.

»Nein!«, entschied Gregor. »Von Ihrer Sorte findet man hier kein halbes Dutzend, das garantiere ich Ihnen. In diesem Viertel – nein!«

»Und Sie selbst?«

»Ich? Bin Schriftsteller, selbstverständlich! Das sei vorausgestellt! Ich verfasse Bittschriften an die großen Spender! Was wollen Sie – die Deutschen sind Barbaren, unkultiviert! Von Malerei verstehen sie so viel wie ein Affe, mehr nicht! Sie sind derb, unhöflich, töricht, dumm wie Rindviecher! Und wenn Sie das Pech hatten, als deutscher Maler auf die Welt gekommen zu sein – dann bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als ›Schriftsteller‹ zu werden …« Zornig nahm er einen ordentlichen Schluck Wein.

Emmi sagte: »Herr Gregor ist gewiss wieder schlecht aufgelegt, dann lässt er seinen ganzen Zorn auf die armen Deutschen los.«

»Sehr richtig! Und mir ist auch ein großes Unglück passiert!«, fuhr er fort. »Mein Kater, wissen Sie, hat gestern Selbstmord begangen.«

»Selbstmord?«

»Er hat sich aus der dritten Etage gestürzt. War auf der Stelle tot. In der letzten Zeit litt er bereits unter starken Depressionen. Das war augenfällig. Er wollte auch nichts fressen. Vielleicht war er krank.« Er zwinkerte mit seinen kleinen Augen und drückte das Monokel fest. »Zum Mittagessen habe ich immer zweimal Braten bestellt, eine Portion für mich, eine für ihn. Heute habe ich wieder nur eine genommen.«

»Wahrscheinlich ist er versehentlich aus dem Fenster gefallen«, bemerkte Rost.

»Meinen Sie?!«, brauste Gregor auf und fuchtelte mit der Pfeife. »Dann verstehen Sie rein gar nichts, netter Herr! Eine Katze, müssen Sie wissen, kommt nie durch Fall zu Schaden! Sie fällt immer auf die Füße und spaziert davon. Lassen Sie sich das gesagt sein: Mein Kater hat sich umgebracht! Jawohl! Vor lauter Schwermut! Er konnte sich ja nicht erschießen, bloß damit Sie ihm glauben!«

Rost ließ kurz seine dunkelgrünen Augen auf ihm ruhen.

»Und was tun Sie sonst so, Herr Gregor?«, fiel Emmi ein.

»Ich male Bilder, wie immer. Alle auf ein und dieselbe Leinwand. Ein ganzes Jahr auf dieselbe Leinwand, hihi. Hab schon hundert so gemalt.«

»Hundert auf ein und dieselbe Leinwand?«

»Warum denn nicht! Ich übermale eines mit dem anderen. Im letzten Bild sind dann alle enthalten. Wer es kauft, muss für alle hundert bezahlen. Außerdem … schreibe ich ja an einer neuen Philosophie. Text und Illustrationen aus eigener Hand. Das wird das tiefschürfendste und originellste Werk seiner Zeit, das garantiere ich Ihnen.« Er trank seinen Wein aus und bestellte ein zweites Glas. »Dem haben Sie doch nichts entgegenzusetzen, Herr Rost!«, sagte er zum Abschluss. »Und womit beschäftigen Sie sich dann in dieser Metropole?«

»Das ist ein Geheimnis.«

»Soso! Und die Finanzmittel? Die Geheimnispflege will bekanntlich finanziert sein.«

»Sind ausreichend vorhanden.«

»Und wie wäre es da mit einer Anleihe?«

»Wer bei wem?«

»Na, ich bei Ihnen natürlich.«

»Möglich. Wie hoch?«

»Von zwanzig aufwärts. Unbegrenzt.«

»Wir stehen also bei zwanzig«, lachte Rost und reichte ihm zwei gefaltete Geldscheine.

Gregor fasste sie mit Daumen und Zeigefinger und schob sie in die Jackentasche. »Was möchten Sie dann trinken, Herr Rost? Jetzt bin ich ja wieder reich, kann einen ausgeben. Und Sie, Madame? Vielleicht einen Bénédictine?«

Er drängte so sehr, dass sie nachbestellten. »Besuchen Sie mich einmal«, sagte Gregor, während er sich die Pfeife neu stopfte.

»Vielleicht bei Gelegenheit.«

»Aber ich sitze nicht immer zu Hause.«

»Und Sie möchten, dass ich Sie besuche?«

»Eigentlich nicht nötig. Habe es nur aus Höflichkeit gesagt. Manchmal bin ich sogar etwas höflich, wie Sie sehen, hihi. Aber ich werde Sie mal mitschleppen, wenn es sich ergibt. Damit Sie meine Bilder sehen. Sie dürfen nicht vergessen, dass Sie den größten deutschen Maler vor sich haben! Das weiß man in London, aber nicht in Berlin. Was verstehen die Deutschen von Malerei? So ist das, mein Herr!« Dann sprang er auf und eilte einem untersetzten Mann mit Schmerbauch, hochrotem Gesicht und vorquellenden Augen mit Silberblick entgegen, der gerade aus dem Nachbarsaal kam.

»Ein origineller Typ«, sagte Emmi, »kein Dummkopf. Ich höre ihn gern reden und von einem Thema zum anderen springen. Zuweilen sagt er ziemlich seltsame Dinge.«

Rost gab ihr Feuer. »Eigentlich wird es doch Zeit für eine kleine Liebelei zwischen uns beiden, Emmi … Ohne jede Verpflichtung.«

Sie lachte – ob zustimmend oder ablehnend, war schwer zu erraten.

»Kommen Sie morgen zu mir, Emmi. Gegen drei Uhr.«

»Vielleicht komme ich.«

»Ich werde auf Sie warten«, sagte Rost überbetont. Dann winkte er dem Kellner und zahlte.

Rost ging nicht nach Hause, sondern in die Gegenrichtung. Lucie konnte beliebig auf ihn warten! Heute war er ihrer überdrüssig. Der Regen hatte unterdessen aufgehört. Ein scharfer, kalter Wind fegte durch die Straßen. Es roch nach Herbst, nach Prostituierten, nach Bürgerschlaf, nach dem Kohlenqualm einer nahen Eisenbahn. Leuchtreklamen blinkten allenthalben, hellblau, lila, rosa, rot, erloschen und flammten von neuem auf. Kam man an klaffenden Metro-Schlünden vorbei, erfasste einen kurz der widerlich stickige, seit Jahrzehnten konservierte Menschendunst, der ihnen unaufhörlich entstieg. Gelegentlich mischte sich das dumpfe Rattern eines Zuges hinein. Aus den Türen eines Kinos quollen Menschenströme. Hier und da trug eine Frau ein schlummerndes Baby auf dem Arm. Tatsächlich hat der Mensch gelegentlich das dringende Bedürfnis, sich mit Greta Garbo, Adolphe Menjou und anderen den freudlosen, eintönigen Alltag ein wenig zu vertreiben, doch kaum hat man das Kino verlassen, springt einen unbarmherzig, schmählich dieser Tag wieder an, und schon sitzt einem die Müdigkeit in den Knochen, und der Mund wird bitter und trocken.

Ohne Hast durchmaß Rost die Rue du Bac, die sich schmal und grau zur Seine hinabschlängelte. Er hatte sich schon ganz der nächtlichen Stille hingegeben, die nur selten von einem einsamen Omnibus gestört wurde. Der Lärm der Stadt war fast verebbt. Rost verlangte dringend nach einer Tat, deren Anfang und Ende in der Nacht verborgen lägen und die der Mensch später in innerster Seele bewahrt als ewiges Geheimnis, in dem die Keime des künftigen Daseins ruhen wie der Kern in einer Frucht. Nur konnte er selbst nicht definieren, welcher Art diese Tat sein sollte. Die Lichtstreifen der Laternen flossen von beiden Ufern, schwappten sanft im dunklen Wasser, waagrecht, wie Talgflecken.

Ein Mann näherte sich hallenden Schritts, hielt bei Rost, der sich über das Brückengeländer lehnte und hinabschaute.

»Das Wasser ist kalt, mein Freund. Es ist keine Badesaison.«

»Das ist auch keinem eingefallen.«

»Stimmt keineswegs. Als ich vor einer knappen Stunde hier war, hat sich ein junges Mädchen hinabgestürzt. Verstehen Sie, genau da, wo Sie jetzt stehen. Ich bin hingerannt, um sie davon abzuhalten, aber es war zu spät.«

»Und warum wollten Sie sie davon abhalten?«

»Aus reiner Menschlichkeit, mein Freund. Schade um den Menschen. Mir ist klar, dass er es im nächsten Augenblick bereut, sogar noch im Sturz.«

»Und doch sind Sie ihr nicht nachgesprungen. Haben lieber Ihre Haut gerettet.«

»Sehen Sie, das ist wiederum eine Frage des Temperaments. Ich bin von Natur aus kein impulsiver Mensch, ich opfere mich nicht auf. Solange die Gesundheit nicht in Gefahr gerät – gern geschehen. Das ist mein Leitsatz!«

»Sehr bequem jedenfalls.«

Rost löste sich vom Fleck, und der Fremde ging neben ihm her, klein, mager, ohne Mantel, einen Schnauzer im schmalen Gesicht, den Jackenkragen hochgeschlagen, die Hände in den Hosentaschen.

»Eigentlich müssten Sie mir ein Gläschen spendieren. Wegen des Gefallens, den ich Ihnen erwiesen habe.«

»Sie haben mir einen Gefallen erwiesen?«

»Gewiss«, erwiderte der Fremde ernsthaft, »ich habe Sie doch vor dem Ertrinken bewahrt.«

Rost lachte laut auf. »Sie sind nicht bei Trost, mein Herr. Ich wollte mich gar nicht ertränken.«

»Sagen Sie das nicht. Das kann man nie wissen. Da kenne ich mich etwas besser aus. Wenn der Mensch so dasteht und aufs Wasser schaut, überkommt ihn doch plötzlich … so ist das! Mir ist das schon einmal passiert, nur mit großer Mühe gelang es mir, den Ärmsten am Schopf zu packen und ihn rechtzeitig wegzuzerren. Kaum hatte er sich hin und her gedreht, wurde er schon von hinten gepackt! Jedenfalls habe ich einen Cognac verdient.«

»Möglich, dass Sie einen verdient haben. Vielleicht hat jeder einen verdient. Es fragt sich nur, ob ich Lust habe zu zahlen.« Kurz darauf fragte er: »Nebenbei bemerkt, ist das Ihre einzige Chance, an Cognac zu gelangen?«

»Im Moment – ja.« Er steckte sich eine Zigarettenkippe unter den Schnauzer und zündete sie mit einem Feuerzeug an. »Sie werden mir doch darin zustimmen, dass man einen Menschen nicht verpflichten kann, stets selbst für sein Gläschen aufzukommen.«

Sie gingen eine Weile am Ufer entlang und bogen dann in die Straße zum Museum, in das Gewirr verwinkelter, alter Gassen um die Markthallen. Hier herrschte schon viel Verkehr. Lastwagen mit Lebensmitteln aller Art ratterten schwerfällig zu den Lagerräumen des Markts. Allseits war man damit beschäftigt, die Tagesverpflegung für fünf Millionen Menschen sicherzustellen.

»Und morgen Abend«, erklärte der Fremde, »wird nichts mehr da sein von den Tausenden Tonnen Magenfutter.«

»Sie bekommen Ihren Cognac.«

»Hab ich mir gedacht.«

»So?!«

»Die Knauserigkeit ist schon aus der Mode gekommen.«

»Beschäftigen Sie sich allein mit der Rettung von Menschenleben?«

»Sie machen Witze. Das ist nur meine Gelegenheitsbeschäftigung.«

»Und Ihre feste Tätigkeit?«

»Die feste … ich … meine Schwester …«

»Ah, Ihre Schwester!«

»Das heißt … ich war Schauspieler. Das ist nicht gelogen.«

»Ausgerechnet Schauspieler!«

»Schauspieler an einer kleinen Vorstadtbühne.«

»Und jetzt –«

»Habe ich angefangen zu stottern …«

»Aber ich höre Sie gar nicht stottern, kein bisschen.«

»So nicht. Nur auf der Bühne komme ich ins Stottern. Ich war der Rächer, wissen Sie, musste den Dolch ziehen und den Verräter erstechen mit den Worten: ›Stirb, du treuloser Schurke!‹, was ungeheures Pathos erfordert. Und da schoss mir im letzten Augenblick der Gedanke durch den Kopf: Wenn du jetzt stottern würdest, wäre das urkomisch. Und schon geriet ich ins Stottern. Kam partout von dem D und dem Sch nicht weg. Und fortan fing ich, kaum dass ich die Bühne betreten hatte, zu stottern an. Die Worte schienen mir an den Lippen festzukleben.«

»Und Ihre Schwester …«

»Sie ist eine Waise.«

Rost gab ihm eine Zigarette.

»Ich habe Ihr das Schneidern beigebracht. Sie arbeitet in einem Bekleidungsgeschäft.«

»Hm …«

»Der Direktor … er gefällt mir, der Direktor dort … Und Sie sind Ausländer. Deutscher, wenn ich mich nicht irre.«

»Sagen wir mal Österreicher.«

»Ein und dasselbe, was mich betrifft. Ich bin Kosmopolit, wissen Sie, das ist weniger anstrengend, nicht wahr? Gehen wir hier rein«, er deutete auf eine kleine Kneipe, »hier bin ich bekannt.«

In der langen, schmalen Gaststube, in der ein paar laute, etwas zweifelhaft aussehende Gäste saßen, bestellte Rost zwei Cognac. Sein Begleiter leerte sein Glas in einem Zug und wischte sich danach mit dem Handrücken über den Schnauzer. Rost betrachtete die goldene Flüssigkeit in dem bauchigen Glas, dessen Stiel so lang und schlank wie ein Strohhalm war, und in seinem gewundenen Gedankengang kam ihm Emmi in den Sinn. Ja, sie würde kommen! Sicher!

»Noch einen?«

»Wenn’s Ihnen nichts ausmacht! Wissen Sie, ich war in deutscher Gefangenschaft. Habe in einer Gastwirtschaft in einem kleinen Dorf gearbeitet. Die Wirtin dort hieß Martha. Eine sehr kräftige Frau. So groß wie Sie und Arme wie zwei Eisenstangen. Sie schrieb lange Briefe an ihren Mann im Gefecht und schlief mit mir. Was verlangen Sie – es waren Kriegszeiten! Ihre Tochter war neunzehn, und mit ihr habe ich auch geschlafen. Letzten Endes wurde es der Mutter zugetragen, und sie versetzte mir zwei Ohrfeigen und schickte mich zurück ins Lager. Das Kind, habe ich später gehört, hat die Mutter zur Welt gebracht, nicht die Tochter.«

Rost zahlte.

»Was, Sie wollen schon gehen? Schön. Ich will Sie nicht aufhalten. Aber falls Sie mich mal brauchen sollten, können Sie mich hier immer finden, hier bin ich bestens bekannt, Sie brauchen bloß nach dem Schauspieler zu fragen. Ich mische bei allerlei Dingen mit, müssen Sie verstehen …«, er setzte eine listige Miene auf und machte eine vieldeutige Handbewegung, »und ein Mann wie Sie …«

»Ein Mann wie ich?«

»Und ein Mann wie Sie braucht manchmal einen Mann wie mich …«

»Meinen Sie!«

»Ich kenne mich ein wenig mit Menschen aus.«

»Nein. Ein Mann wie ich braucht keinen wie Sie.«

»Das können Sie nie wissen. Jedenfalls finden Sie mich hier.«

Ziellos schlenderte er durch menschenleere, verwinkelte Gassen, die ein Geheimnis zu bergen schienen und ihn unwillkürlich in Spannung versetzten. Hin und wieder flitzte eine große Maus über das schmierige Pflaster und schlüpfte durch den Rost eines Gullys. Ein gedämpftes, gewissermaßen stoffloses Säuseln wehte mal hier, mal dort in der Ferne, ebbte ab und verstummte wieder, hinterließ eine lastende Stille, die mit den blinden Häuserzeilen zu steinerner Starre verschmolz. Eine vage Erinnerung an eine ähnliche Nacht, unter Massen von Jahren und Ereignissen begraben, kam Rost in den Sinn, und schon schwebte ihm auch etwas Helles, Grenzenloses vor Augen, das wohl etwas mit jener lange zurückliegenden Nacht zu tun hatte, vielleicht sogar ihr Wesenskern war. Aber Rost stocherte nicht gern in der Vergangenheit. Jedes Ereignis in seinem Leben, das einmal in der Vergangenheit versunken war, wurde für ihn irreal, wie nie gewesen. Das Stück Gegenwart hingegen, diese runde und feuchte Herbstnacht, langweilte ihn schlicht und einfach, anders als bei all den Lebenshungrigen, die auf jede Minute begierig sind und an allem Interesse finden. Ja, man musste auf die Boulevards hinausgehen und mit dem Taxi nach Hause fahren.

An einer Straßenecke erschien eben jetzt die kerzengerade Gestalt einer bisher im Schatten verborgenen Frau, die ihn geradewegs ansteuerte. Er blieb mitten auf dem Pflaster stehen, bis sie bei ihm angekommen war. Das fahlgelbe Licht einer nahen Straßenlaterne fiel auf ein junges Gesicht, dessen seltsame, tief verschattete Augen ihn etwas zaghaft anblickten. Ein eigentümlicher Charme lag auf ihren Zügen. Es dauerte einen Moment, bis sie sagte: »Bitte verbringen Sie den Rest der Nacht mit mir. Ich kann heute nicht allein sein.« Und kurz darauf fügte sie hinzu: »Sie brauchen nichts zu bezahlen. Nicht mal das Hotel.«

Rost war erst unschlüssig, folgte dann aber dem Drang, sie zu begleiten. Stumm gingen sie etwa zehn Minuten von Straße zu Straße, bis sie vor einem mittelgroßen Hotel stehenblieb. Hotel Grenoble mit allem Komfort verhieß das Schild. Rost wurde in ein Zimmer in der dritten Etage hinaufgeführt, in dem ihn ein Hauch leicht süßlichen Damenparfüms empfing. Es war ein kleiner Raum, der schmerzliche Einsamkeit ausstrahlte, an den Wänden Blumentapeten mit roten Blüten auf blauem Grund, ein breites Messingbett nahm fast ein Drittel der Grundfläche ein. Als sie Mantel und Hut abgelegt und mit denen des Gastes an den Haken an der Tür gehängt hatte, bot sie ihm einen Stuhl am Tisch an und holte eine Flasche Wein und Gläser aus dem Schrank.

»Dein Gesicht ist nicht unsympathisch«, sagte sie, als sie sich ihm gegenübergesetzt und die Beine übereinandergeschlagen hatte, »gut dass der Zufall mir gerade dich zugeführt hat.« Sie schenkte ein und nahm einen kleinen Schluck. Sie hatte ihr dickes, kastanienbraunes Haar, das hier und da golden schimmerte, so um den Kopf geschlungen, dass sie ein wenig wie ein Pilz aussah.

Nicht hässlich!, entschied Rost im Stillen.

»Heute feiere ich ja, weißt du!«, sagte sie feixend. »Meinen Geburtstag feiere ich heute! Meine Eltern, hihi, meine Eltern haben diesen Tag zum Feiertag gemacht … Hast du auch Eltern? Aber gewiss keine solchen wie ich! Solche gibt’s nicht noch einmal!«

»Hm …«, machte Rost. Er gab ihr eine Zigarette und Feuer. »Deine Eltern?«

»Aha, das willst du wohl wissen, was?! Das interessiert dich sehr?! Du meinst wohl, ich würde meine Lebensgeschichte bereitwillig jedem dahergelaufenen Mann erzählen?! Nun mal langsam, mein Lieber!« Ihre dunklen Augen funkelten ihn auf einmal hasserfüllt an. »Nichts! Kein einziges Wort wirst du aus mir rauskriegen, hörst du?!« Mit einer ärgerlichen Kopfbewegung versuchte sie die Haarsträhnen zurückzuwerfen, die ihr ins Gesicht gefallen waren. Rost nahm ihre Hand und sagte eindringlich: »Hör mal, Kleine, ich bin nicht zu Wortgefechten hergekommen, verstanden?«

»Und wozu dann? Möchtest du mit mir schlafen? Gleich auf der Stelle? Du siehst mir nicht aus wie einer, der noch keine Frau gehabt hat! Das hab ich im Blick, Freundchen! Und wenn die Leidenschaft dich gepackt hat – bitte schön!« Sie leerte ihr Glas.

Nach kurzer Pause, mit veränderter Stimme, in der ein schmerzlicher Unterton mitschwang, fuhr sie fort: »Der Mensch wünscht sich eine Illusion, weißt du … und sei es nur ein einziges Mal … Wie soll es wohl ohne das gehen? Der Liebhaber schleicht sich tief in der Nacht ins Zimmer seiner Geliebten, hahaha! Komm, stoß mit mir an! Auf das Leben deiner Geliebten …« Sie stand auf und tat einen Schritt in die Zimmermitte, machte kehrt und stellte sich neben ihn, nahm dann aber doch wieder Platz. Den Kopf in die Hand gestützt, blieb sie eine Weile reglos sitzen.

»Etwas komisch, das Ganze«, sinnierte Rost, indem er sie anschaute und rauchte, »wie lange treibst du schon dieses Gewerbe?«

Sie hob verwundert die Augen, als sei sie überrascht über seine Anwesenheit. Dann fauchte sie: »Vier, fünf Jahre – zu Ihren Diensten, Euer Hochwohlgeboren! Möchten Sie noch was wissen? Im Viertel nennt man mich ›die brünette Jeanette‹, und ›mein Mann‹ ist vor einiger Zeit zur Zwangsarbeit verurteilt worden. Ist dein Mütchen schon gekühlt? Alles wie üblich, nicht wahr!«

Rost erhob sich. »Du willst mich wohl zu einer Schlägerei anstacheln, was? Oder vielleicht zu einer kleinen Vergewaltigung, ha? Was verkaufst du denn so?«

Darauf sprang sie, knallrot geworden, vom Stuhl hoch. Fieberhaft zog sie ihr orangefarbenes Kleid aus, den rosa Seidenunterrock, den Strumpfbandgürtel, warf alles nacheinander aufs Bett. Nur Strümpfe und Schuhe behielt sie an. Ihr Körper war schön, die Figur perfekt. Im Nähertreten deutete sie auf ihre einzelnen Körperteile, kochend vor Wut: »Hier, mein Herr, das verkaufe ich! Und das! Ist das etwa schlechte Ware? Ist das Ausschuss?«

Rost brach unversehens in schallendes Gelächter aus. »Die Vorderseite ist nicht schlecht! Wirklich!« Er setzte sich wieder und zog die nackte Frau auf seinen Schoß. »Na, du hübsche Kleine! Ich bin bereit, Geburtstag mit dir zu feiern!«

Sie blieb ein Weilchen sitzen, ihre Schultern erzitterten hin und wieder. Schließlich stand sie auf und schlüpfte in einen weiten Morgenrock, den sie aus dem Schrank geholt hatte. In ihren Augen funkelten Tränen. Nachdem sie ihren Platz am Tisch wieder eingenommen hatte, schenkte sie sich Wein ein und trank. »Halte mich nicht für eine Verrückte oder für eine zänkische Frau. Ich weiß sehr wohl, dass du jeden Moment aufstehen und weggehen kannst, und dann … Vor diesem Moment habe ich große Angst. Das gebe ich offen zu. Diese Flasche, der Tisch, das Bett – alles erschreckt mich, alllles … Wenn du weggehst, bin ich wieder allein. Kennst du das Gefühl eines einsamen, von aller Welt verlassenen Menschen, der es plötzlich mit der Angst zu tun bekommt? Dem Anschein nach geht alles seinen alten Gang, aber eines schönen Tages kriegst du einen Spritzer Angst ab. Und dieser Spritzer bleibt in deinem Innern sitzen, breitet sich dort immer mehr aus, bis die Angst schließlich dein ganzes Wesen erfasst wie eine Art Blutvergiftung. Dann hast du keine Zuflucht mehr. Aber warum halse ich dir all das auf ! Ich verkaufe meinen Körper. Bedien dich bitte! Damit deine Mühe nicht umsonst gewesen ist!«

Die Augen auf den Schoß gesenkt, verharrte sie stumm, und ihre weiße Haut blitzte zwischen den spielenden Rockschößen hervor. Ihre Brust hob und senkte sich, und ihr Atem ging hastig, hörbar. Eine schwangere Nacht nahm das Zimmer und die beiden einander fremden Menschen unter Belagerung. Mäuse flitzten zu Tausenden durch diese Nacht, völlig im Geheimen, ohne dass man ihre Stimme hörte, und auch ein rätselhafter Mord wurde in ihr begangen. Fernab, oder sogar ganz in der Nähe, zerriss ein Schuss das Dunkel, gefolgt von einem verzweifelten Aufschrei. Außerdem brodelte ja noch die Liebe, die diese Nacht wie alle anderen Nächte von einem Weltenende zum anderen erfüllte. Doch die Frau hier auf dem Stuhl, mit ihrem entblößten, käuflichen Körper, war unendlich verlassen und voller Ängste und Verzweiflung – warum konnte er dann nicht aufstehen und ihr langsam mit der Hand übers Haar streichen, wenigstens ein einziges Mal? Nein, er tat es nicht. Saß nur da und rauchte. Was denn auch?! Tröstete er etwa Frauen, deren Schiff gestrandet war?! Ausgerechnet er, Michael Rost?! Dafür fehlte ihm die Begabung, aber völlig! Und wenn sie dieses Nervenspiel nicht bald beendete, stand seine Entscheidung fest … Andererseits war interessant, wo all das enden würde.

Schließlich hob die Frau den Kopf und sah ihn an. Sie öffnete ein wenig die Lippen, sagte aber nichts. Dann plötzlich stand sie auf, als gäbe sie sich selbst einen Ruck, ging zu ihm hin und schmiegte sich scheinbar völlig versöhnt an ihn, streichelte ihm den Kopf, drückte die Brust an seine Wange. Sie fiel sogar vor ihm auf die Knie, und als sie den Kopf in seinen Schoß legte, flüsterte sie unhörbare Worte.

Seine Aufgabe kam ihm letzten Endes etwas lächerlich vor. Er schwang die Frau vom Boden hoch und trug sie zum Bett.

Sie sprang ab und setzte sich. »Meinst du, ich brauche dein Mitleid! Ich spucke darauf, hörst du, ich spucke auf dieses Mitleid. Tfu!«

Er setzte sich ans Fußende. »Warum diese Aufregung? Ich bemitleide dich keineswegs. Du hast dich in mir geirrt. Ich würde dir im Gegenteil raten, deinem Leben ein Ende zu setzen.«

Sie starrte ihn entsetzt an. »Wo hast du das her?«

Rost lachte tonlos. Er sah ihre runden, weißen Schenkel neben sich, über die eben jetzt ein leichter Schauder lief, und spürte plötzlich einen Krampf in den Händen. Die Frau schreckte auf wie aus einem schlechten Traum und hüpfte ihm auf die Knie. Sogleich schlang sie ihm die Arme um den Hals und flüsterte, während ihr Atemhauch sein Gesicht erglühen ließ: »Mein Geliebter, danke, dass du diese Nacht zu mir gekommen bist! Dass du dich nicht geweigert hast zu kommen … Wie soll ich dir das vergelten …« Und einen Augenblick später: »Sag, möchtest du, dass ich meinem Leben ein Ende setze? Ja?«

Rost lachte leise und gab keine Antwort.

»Wenn ich nur das Kind sehen könnte«, redete sie mit sich selbst, »jetzt ist er sieben Jahre alt … Und sein Aussehen – ich weiß nicht, wie er aussieht … Nie werde ich sein Aussehen kennen, niemals!« Sie verstummte. Den einen Arm hatte sie immer noch um Rosts Hals geschlungen, und ihre Finger klappten selbsttätig sein Ohrläppchen um. Auf dem Korridor hörte man jetzt dumpfe Schritte, vom Teppich verschluckt. Danach ging eine Tür auf und wieder zu.

»Weißt du«, begann die Frau von Neuem, »vorhin habe ich dich angelogen. Ich bin erst ein paar Monate im Gewerbe. An die drei Monate. Und auch alles Übrige ist nicht wahr. Ich bin erst vor kurzer Zeit aus dem Süden zurückgekommen. Mein lahmender Holländer wurde mir widerwärtig, und ich habe ihn verlassen. Aber wir wollen uns doch amüsieren, nicht wahr! Du hast den Wein noch gar nicht probiert! Bitte schön!« Sie streckte den Arm zum Tisch aus und führte ihm sein volles Glas an die Lippen.

Rost tat ihr den Gefallen und trank einen Schluck. Dann nahm er ihr das Glas ab und stellte es wieder zurück. »Du bist ein nettes Mädchen«, sagte er und fuhr ihr mit gespreizten Fingern durchs Haar.

»Nicht wahr? Hihi … Aber … weißt du … Nein! Jetzt will ich fröhlich sein! Mich austoben!« Sie wandte ihm das Gesicht zu und biss ihm die Lippen blutig.

»Werd nicht übermütig, Kleine! Ich bin ein bisschen groß zum Verspeisen.«

Sie sprang von seinem Schoß und kippte ein ganzes Glas hinunter. Dann holte sie eine zweite Flasche aus dem Schrank und zog geschickt den Korken. »Sagen wir also, du heißt George, und ich liebe dich schon einen ganzen Monat, nicht wahr!«

»Sagen wir mal!«, lachte Rost.

»Sag mir nur, dass du anders gehandelt hättest. Ich werde dir glauben … Nein, sag lieber nichts.«

Sie stand weiter reglos am Tisch, den Korkenzieher mit dem Korken in der Rechten, und ihre nackte weiße Haut kam, umrahmt vom schwarzen Morgenrock mit den großen, flammend gelben Blumen, in voller Länge zur Geltung.

»Schau mich nicht so an! Deine Augen … Denk nicht, ich würde mich vor deinen Augen fürchten … Ich fürchte mich keineswegs vor ihnen, hörst du!« Sie legte den Korkenzieher auf den Tisch und setzte sich zu ihm aufs Bett.

»Dein Eau de Toilette hat einen erlesenen Duft.«

Sie schien es nicht zu hören. Ein Weilchen später sagte sie, mehr zu sich selbst als zu ihm: »Sie sind plötzlich zusammen aufgetaucht. Der Sohn und seine Mutter, eine englische Matrone, so lang und vertrocknet wie ein Besenstiel, zischend und abgehackt hat sie gesprochen, als hätte sie eine Pfeife im Mund. Ich weiß nicht, wie sie meine Unterkunft erfahren hatten. Sie erklärten, sie wollten für uns sorgen. Ein alleinstehendes Mädchen mit einem kleinen Baby und ohne Geld, völlig mittellos … Ich war noch sehr geschwächt nach der Schwangerschaft mit Hunger, Schwerstarbeit, Abenteuern und Leiden, und nach der lebensbedrohlichen Geburt. Das Baby war erst sechs Wochen alt. Und ich glaubte ihnen. Ich war auch noch sehr jung. Was kann man schon verlangen – eine Siebzehnjährige, die vor knapp einem Jahr noch die Schulbank im Gymnasium gedrückt hatte! Sie gaben mir Geld, um drunten ein paar Dinge einzukaufen. Sie würden hier warten, um auf das Baby aufzupassen. Schließlich hätten sie eine Verbindung zu diesem Kind, und auch zu mir natürlich. Und als ich eine halbe Stunde später zurückkam, fand ich niemanden mehr vor. Nur einen leeren Kinderwagen und einen Brief auf dem Tisch.«

»Und da war nichts mehr zu machen?«

»Da war nichts mehr zu machen. Wo willst du suchen, wenn du nichts über sie weißt! Nicht mal den Namen! In dem Brief stand, sie würden das Kind nach England mitnehmen. Es war von ihm, und ich kannte seinen Namen nicht, wusste gar nicht, was mir in jener Nacht geschah. Ich war völlig berauscht gewesen. Als ich am nächsten Morgen, nach dem Maskenball am Gymnasium, aufwachte, fand ich mich in einem fremden Hotelzimmer wieder, mit jenem Engländer, den ich vorher noch nie gesehen hatte. Er fuhr mich im Auto nach Hause, und die Affäre war vorbei.«

»Und du hast ihn nicht wiedergesehen.«

»Ich habe ihn ein- oder zweimal zufällig getroffen, ein paar Monate später, nachdem meine Eltern mich aus dem Haus gejagt hatten. Er wollte mir Geld geben, aber ich habe ihm ins Gesicht gespuckt.«

Sie raffte ihre Rockschöße zusammen und wickelte sich fest ein, als wäre ihr kalt. Ihre Augen starrten geradeaus, wie durch eine Mauer, in verborgene Weiten. Oder vielleicht blickten sie auch nur ins Innere, in die Seele.

Rost legte ihr die Hand auf den Leib. Durch den Satinstoff spürte er die Wärme ihres glatten, weichen Körpers, den unter der jähen Berührung ein leichter Schauder überlief. Sie wandte ihm das Gesicht zu. Es war wunderschön in diesem Moment, mit edlen, sprechenden Zügen. Dann schmiegte sie sich enger an ihn. Schutzsuchend legte sie den Kopf auf seinen Schoß und verharrte still, reglos. Rost umschloss eine ihrer kleinen Brüste mit der Hand.

»Und später?«

»Später?«

Sie schreckte hoch und saß nun aufrecht. Ein neuer Wutschwall brandete in ihr auf, beschleunigte ihren Atem. Sie bebte am ganzen Leib vor Zorn. Nur mit Mühe gelang es ihr, ihre Handtasche zu öffnen, die am Kopfende des Bettes lag, und ihr Taschentuch herauszuholen. Sie putzte sich geräuschvoll die Nase. »Später? Ich hatte fälschlich geglaubt, den Eltern würde irgendwann weich ums Herz werden. Ich habe sie nicht gebeten, mich wieder aufzunehmen, wirklich nicht, nur dass sie mir helfen sollten, das Baby zu suchen, mehr nicht. An wen hätte ich mich denn sonst wenden sollen?! Ich habe meinen Stolz heruntergeschluckt und ihnen geschrieben. Eine Woche später habe ich einen zweiten Brief geschickt, verstehst du, zweimal habe ich geschrieben.«

»Und es kam keine Antwort.«

»Als hätte ich die Briefe in die Seine geworfen. Nach sechs Wochen habe ich mich vor die Haustür gestellt, um meinen Vater bei der Rückkehr vom Büro abzupassen. Er tat so, als kenne er mich nicht. Wollte an mir vorbeigehen, als wäre ich ein Ding, ein lebloser Gegenstand. Als ich ihm den Weg versperrte, stieß er mich so heftig beiseite, dass ich auf den Bürgersteig fiel. Da habe ich einen Tobsuchtsanfall bekommen. Alles, was sich in mir aufgestaut hatte, hat sich mit einem Schlag Luft gemacht. Ich habe ihn angesprungen, geohrfeigt, gebissen, gekratzt, ihm die Brille zerbrochen, ihn zusammengeschlagen. Hätte ich eine Pistole gehabt, hätte ich ihn erschossen. Nur mit Mühe gelang es der Concierge und ihrem Sohn, mich von ihm loszureißen. Die Concierge holte mich herein, umsorgte mich, bemühte sich mit allen Mitteln, mich zu beruhigen, und ich saß nur da und heulte. Lange habe ich geweint. Dann bin ich weggegangen. Bin stundenlang ziellos durch die Straßen gewandert. Es war schon Abend, und ich streunte weiter umher, ein Wunder, dass ich mir damals nicht das Leben genommen habe. Wahrscheinlich nur, weil es mir vor lauter Dummheit nicht in den Sinn gekommen ist. Schließlich machte sich ein Mann an mich ran, ging neben mir her und redete was. Ich wies ihn nicht ab. Ließ ihn machen. Er führte mich in ein Restaurant. Ich aß mechanisch und betrank mich. Blieb bei ihm. Zwei Wochen später habe ich ihn verlassen. Warum ich ihn verlassen habe? Das weiß ich selber nicht. Er war ein netter Mensch, umgab mich mit Liebe. Vielleicht gerade deshalb. Ich konnte diese große Güte nicht mehr annehmen. Bei mir war alles schon hart und versteinert. Er war sehr traurig, als ich ging.«

Rost trank einen Schluck aus seinem Glas und zündete sich eine Zigarette an. Die Frau erbat auch eine. Seine Uhr zeigte zehn vor drei. Er war also erst eine Stunde hier, aber es kam ihm vor, als wären mindestens drei vergangen. Er stand auf und trat ans Fenster. Die Gasse war menschenleer. Die elektrischen Straßenlaternen ergossen ihr Licht umsonst. Es schien wieder zu nieseln. In seiner Heimatstadt waren die Straßen nur spärlich durch vereinzelte Laternen beleuchtet gewesen, und es hatte dort ein schwacher, leicht süßlicher Fliederduft in der Luft geschwebt, der bei jedem sanften Windhauch auflebte und sich mit dem gänzlich unverdorbenen, befreiten Lachen junger Menschen verquickte. Doch aus den umliegenden Straßen, wo die Häuser mit den roten Fenstern standen, war hin und wieder ein anderes Lachen herübergeweht, parfümiert und heiser und frivol, ein Lachen, das seine Straße in ihrem ruhigen, friedlichen Dunkel ebenfalls aufgesogen hatte. Aber er, Rost, war jetzt nicht dort. War schon vor Langem dort weggegangen.

Er drehte sich wieder der Zimmermitte zu. Die Frau rauchte schweigend. Rost betrachtete sie einen Moment. Plötzlich sah er die ganze Szene vor Augen: Ein penibler Beamter, den er sich seltsamerweise mit Bart und Schnauzer vorstellte, von seinen Mitmenschen geachtet und Herr in seinem Haus, kommt eines Nachmittags nichtsahnend aus dem Büro, und da überfällt ihn vor seiner Haustür die ungeratene Tochter, die aus seinem Haus und seiner Erinnerung vertrieben war, versetzt ihm Ohrfeigen, zertrümmert seine Brille, reißt ihm die Krawatte vom Hals und veranstaltet einen öffentlichen Skandal vor den Nachbarn und vor der Concierge.

Rost lachte laut auf. Die Frau sah ihn verständnislos an. »Hm, ja«, stieß er hervor, »nicht schlecht.« Er schenkte die Gläser neu ein und reichte ihr ihres. »Trinken wir auf deine Courage!«

»Meine Courage? Ja, prima! Auf meine Courage … Haha, ich … Du meinst, ich hätte nicht genug Courage … Komm her zu mir, du bist doch ein Mann.«

»Das will ich meinen.«

»Gefalle ich dir?«

»Das kann man sagen, ja.«

»Und warum küsst du mich nicht? He, wie eine Feuersbrunst! Küss mich zu Tode.«

1

Vor zwanzig Jahren erschien Michael Rost in einer der Hauptstädte Europas, deren Kaiser schon ein greiser Mann war, ein wenig deppert, mit üppigem Backenbart beiderseits des rasierten Kinns. Die Stadt war alt, den Nebeln des Mittelalters entrissen mit ihren Türmen und gotischen Kirchen, sie lag an einem breiten Strom. Und Michael Rost war achtzehn Jahre alt, ein großgewachsener blonder Jüngling ohne einen Bekannten und Geld. Er befand sich auf halbem Weg zu einem der Länder des Nahen Ostens, einem seit Jahrtausenden öden und verlassenen Landstrich, den eine Handvoll beseelter Menschen, die sich der fernen Vergangenheit verbunden fühlten, mit harter Arbeit und kraft ihrer flammenden Begeisterung wiederzuerwecken suchten. In seiner Geburtsstadt hatte er seinen Vater, der Lehrer war, seine Mutter und ein paar Schwestern zurückgelassen. Er fand die Stadt, in die er durch Zufall geraten war, nicht schlechter als andere, und eigentlich gab es keinen Grund, die Reise fortzusetzen. Hier konnte er sich ebenso gut niederlassen wie an jedem anderen Ort. Von den fünf Kronen, die ihm nach den Abenteuern der weiten Fahrt noch geblieben waren, zahlte er die Miete für eine Woche Unterkunft in der Wohnung von Frau Schatzmann, Wanzen und Flöhe inbegriffen, und aß ein paar fade Mahlzeiten in einer Volksküche. Dann sagte Frau Schatzmann, indem sie den Daumen an Zeige- und Mittelfinger rieb: »Moneten, junger Bursche, Moneten – bei mir wird im Voraus bezahlt. Solche komischen Vögel!« Rost wusste nicht genau, welcher Sorte Vögel sie ihn zurechnete. Statt einer Antwort blies er ihr einen Mundvoll Zigarettenrauch ins Gesicht und nahm sein Bündel.

Die Stadt bereitete sich schon auf den Frühling vor. Die letzten Eisschollen trieben auf dem Fluss vorüber. Doch in der Speisegaststätte Achdut des Herrn Stock – ein Gemisch aus Beisel, Restaurant, Herberge und Kaffeehaus, »streng koscher« – konnte man ein Glas Tee für vier Heller trinken und sich, inmitten von Tabaksqualm der billigen Sorte, penetranten Küchendünsten, Geschrei und Diskussionen den ganzen Tag gratis wärmen. Hier saß Michael Rost an einem großen Tisch, seine Nachbarn tranken dampfenden Tee und aßen Rosinenkuchen. Ein ausgemergelter, spitzbärtiger Jude trank aus und rückte den Kneifer auf der Nase zurecht.

»Wohin?«, sprach er Rost an. »Nach Amerika?«

»Vielleicht …«

»Die Agentur hat also auch Sie betrogen – das Feuer soll sie holen! Von der Grenze aus geradewegs bis nach Rotterdam, so war es versprochen – und jetzt hält sie einen hier auf, damit man seine letzten Groschen verbraucht! Renn mal einer jeden Tag dem Agenten hinterher! Und Sie, junger Bursche, nach Boston oder Philadelphia? Wen haben Sie denn dort?«

»Ich hab dort niemand.«

»So, mutterseelenallein?«

»Mutterseelenallein.«

»Und wann läuft Ihr Schiff aus?«

»Ist schon ausgelaufen.«

»Schon ausgelaufen? Wollen Sie den großen Teich zu Fuß überqueren?!«

»Ich gehe nicht über den großen Teich.«

»Sie fahren also nicht nach Amerika? Nun reden Sie doch! Warum schweigen Sie denn! Sieh dir diesen Flegel an! Du sprichst ihn als Menschen an, und er antwortet dir wie eine Bestie. Und was denn? Wollen Sie mir sagen, dass Sie hierbleiben?«

»Sie haben’s erraten«, lachte Rost, »ich bleibe hier.«

»So, er bleibt hier! Da können Sie Ihre Zähne gleich verkaufen – die werden Sie hier nicht mehr brauchen! Diese Stadt ist ein hartes Pflaster! Das ist nicht Amerika, wo jeder nach Belieben reich werden kann. Sie werden sehen und noch an meine Worte denken, ich weiß, was ich sage. Haben Sie den Namen Jankel Marder schon mal gehört? Nie gehört? Das hier ist der Mann!« – Er tippte sich an die Brust – »Berühmt von Mohilow bis Odessa, in allen Regionen der Ukraine! Wenn Jankel Marder etwas sagt, können Sie’s blindlings unterschreiben!«

Jankel Marder hatte sich immer noch nicht beruhigt. »Und was wollen Sie, Ihren Worten zufolge, hier anfangen, beispielsweise?«

»Ich werde eine Frau heiraten, zum Beispiel …«

»Eine Frau wollen Sie heiraten? Was sagst du dazu, Schewtel?«, wandte er sich an einen langen Lulatsch im schwarzen Russenkittel, dessen Adamsapfel auf und ab lief, während er emsig damit beschäftigt war, sich mit einem Taschenmesser die Nägel zu stutzen. »Eine Frau will er heiraten! Wer wird Ihnen denn eine Frau geben, Sie Grünschnabel?!«

»Man wird.«

»Lassen Sie den Unsinn! Schade um einen Burschen wie Sie, Sie werden hier versacken! Ich rate Ihnen, nach Amerika zu fahren. Sie werden es nicht bereuen! Dort werden Sie ein gutes Leben haben, werden leben wie ein Fürst, wie ein König! Wissen Sie, was Amerika ist?! Fragen Sie mich, und ich sag es Ihnen! Die Dollars rollen dort auf den Straßen. Sie brauchen nur die Hand auszustrecken und sie aufzulesen! Die dummen Yankees werfen das Geld zum Fenster raus, und Sie gehen hin und heben es auf, so ist das in Amerika!«

»Wo haben Sie das denn her? Waren Sie schon mal dort?«

»Was tut das zur Sache? Wer weiß denn nicht, wie es in Amerika zugeht?! Ein Wickelkind weiß es! Hier, schauen Sie!« Er zog ein Bild aus der Jackentasche und wedelte Rost damit vor den Augen herum. »Sehen Sie? Mein Bruder! Mein eigen Fleisch und Blut, reich wie ein Krösus!« Das Bild zeigte einen jungen Mann mit Melone auf dem Kopf und Zigarette im Mund. »Erst vor drei Jahren ist er dort eingewandert, und jetzt – Millionär! Wenn er will, kann er Ihnen den Zarenpalast kaufen!«

»Was quatschen Sie ihm denn da von Amerika vor, Mister?«, mischte sich ein Bursche mit drei Goldzähnen vom Nebentisch ein. Er hatte eine Knollnase, vorquellende Fischaugen, einen Dreitagebart und eine sehr raue Stimme. »Ich bin dort gewesen, in Ihrem Amerika – soll die Erde es verschlingen! Amerika, hahaha! Nach Amerika geht er! Der Mensch sollte sich lieber tief in der Erde begraben lassen, als in dieses verfluchte Land zu gehen! Hören Sie auf meinen Rat, Mister. Gehen Sie zu der Agentur, dass man Ihnen das Geld für die Schiffspassage erstattet, und kehren Sie dorthin zurück, wo Sie hergekommen sind, ohne nach rechts oder links zu blicken! Fliehen Sie, sage ich Ihnen, fliehen Sie, so weit Ihre Füße Sie tragen, und gehen Sie nicht in dieses Land!«

»Und mein Bruder?!«, brauste Jankel Marder auf. »Mein Bruder, der Millionär?! Hier ist das Bild! Schauen Sie!«

»Ihr Bruder? – Firlefanz!«, erwiderte sein Gesprächspartner mit wegwerfender Geste, ohne einen Blick auf das Foto zu werfen. »Ihr Bruder, der Millionär! Ein Bettler ist er, ein Hausierer, ein elender Pedlar! Verdient fünfzig Cent am Tag – allerhöchstens! Yes, Mister! Fünfzig Cent pro Tag, keinen halben Cent mehr als das, und schuftet wie ein Gaul – das ist Ihr Bruder! Was Amerika angeht, fragt bitte mich!«

»Sie haben in Amerika wohl kein Glück gehabt, wenn Sie das Land so schlechtmachen, Bruder.«

»Ich soll in Amerika kein Glück gehabt haben?! Wissen Sie denn überhaupt, mit wem Sie reden, Mister? Sie haben den berühmten Sänger Arnold Kroin vor sich! Hören Sie den Namen Arnold Kroin! Berühmt in aller Welt. Ein Heldentenor! Der erste Sänger in allen Theatern Amerikas! Arien aus Carmen, aus La Traviata und aus Tosca! Ich soll in Amerika keinen Erfolg gehabt haben?!«

Der Hüne im schwarzen Russenkittel hatte sich die Fingernägel fertig gestutzt, klappte das Taschenmesser zusammen und sagte lachend: »Heldentenor, erster Sänger – mit dieser Stimme?«

»Was verstehen Sie denn von Singstimmen? Da hätten wir ja einen ganz neuen Experten!«

»Sie sind doch heiser wie ein Gockel. Arien, Carmen, Tosca! Solche Narren sind schon ausgestorben, Mister! Wenn Sie erster Sänger in Amerika waren, dann stimme ich Ihnen zu, dass es ein verdammtes Land ist!«

»Sieh mal einer an, dieser lange Schlaks! Wo kommen Sie überhaupt her? Haben Sie jemals einen echten Sänger gehört? Sie sind ja kaum den Windeln entwachsen! Wissen Sie, was ein Heldentenor ist?! Do, re, mi, fa, sol – warten Sie ein paar Tage, bis meine Erkältung abgeklungen ist, dann werden Sie Arnold Kroin zu hören bekommen!«

»Interessiert mich nicht!«

»Das sag ich ja, Sie verstehen von Gesang so viel wie ein Frosch von Philosophie!«

»Ihren Heldentenor sollten Sie lieber dem Kuriositätenkabinett spenden, so ein komisches Geschöpf haben sie dort noch nicht.«

»Was soll man mit einem Hering wie Ihnen schon reden? Man müsste Sie zum Dörren aufhängen!«