Die Kassandra von Neuyork

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Joe Jenkins zog ein Zeitungsblatt. „Ich finde hier einen interessanten Artikel in der Sun. Er ist bebetitelt: ,Die Kassandra von Neuyork.'“

Gelächter antwortete; Richter Higgins sah den Detektiv erstaunt an. „Ich kenne den Artikel,“ sagte er. „Zufällig sah ich vorhin, daß er unter den Geschworenen zirkulierte. Wollen Sie im Emst vor diesem Forum von der Kassandra von Neuyork sprechen?“

„Ja,“ sagte Joe Jenkins freundlich.

Der Richter zog nervös die Uhr und warf einen schnellen Blick auf Lilian Stone. „Also bitte.“

„Ich höre, daß einige von Ihnen,“ sagte Joe Jenkins, „von jener Kassandra wissen. Gleichwohl möchte ich ein paar Worte über sie sagen: für die, die sie nicht kennen. In der Fünfundvierzigsten Straße, Ost, irgendwo im fünften Stock, wohnt eine Frau. Sie teilt ihren Beruf mit vielen Tausenden in dieser Stadt: sie ist Wahrsagerin. Das wäre an sich kein Grund, von ihr zu sprechen. Auch daß die Frauen der Wall-Street-Prominenten ihre täglichen Gäste sind, ist vielleicht nichts Besonderes. Aber diese Dame hat Aussprüche getan, die von einer seltsamen Begabung zeugen: sie beschäftigt sich in täglichen Sitzungen mit dem Fall Pompejus Pym.“

Aus dem Zuhörerraum kam Kichern; der Richter hob unmutig die Hand.

„Der Fall Pompejus Pym,“ fuhr Jenkins fort, „ist, ich brauche es Ihnen nicht zu sagen, das Tagesgespräch von New York. Jeder will erfahren, wie dieser Prozeß ausgehen wird; die Autos der vornehmen Kundinnen parken bis zur Queenboro-Subway-Station.“

„Haben Sie sie befragt?“ erkundigte sich Higgins schmunzelnd.

„Ich habe sie befragt,“ entgegnete Jenkins. „Sie hat mir manchen Humbug erzählt . . .“

„Sehen Sie wohl!“

„Und sie hat mir ferner einige Auskünfte gegeben, die mich ein paar Stunden meiner Nachtruhe gekostet haben. Ich will mich kurz fassen. Die Kassandra — wie sie heißt, weiß ich nicht — versank in Trance und schilderte mir unter Zuckungen und Stöhnen alle Einzelheiten der Unglücksnacht vom 13. auf den 14. Juni 1919.“

„Die hat sie in der Zeitung gelesen,“ sagte ein Geschworener.

„Sie behauptet mit Bestimmtheit, Pompejus Pym sei unschuldig. Frau MacComb sei das Opfer eines tödlichen Unfalls geworden.“

Der Staatsanwalt verschränkte die Arme mit verhaltenem Lachen. „Ich konnte mir’s denken, daß es auf etwas Derartiges hinauslaufen würde. Die Partei des Angeklagten sieht ihre Sache verloren: jetzt versucht man es mit einem Appell an den Aberglauben.“

„Fast fürchte ich, es ist so, Mr. Jenkins,“ nickte Higgins.

„Ich bitte um die Erlaubnis, die Kassandra von New York hierherzubringen. Und ich bitte Sie, ihr jede Frage vorzulegen, die Sie für zweckmäßig halten.“

„Die einzige Frage, die ich für zweckmäßig halten würde,“ antwortete Staatsanwalt O’Cardigan, „wäre die nach der Höhe der Summe, die man ihr für ihre ,Prophezeiungen' gezahlt hat.“

„Ich muß die Sitzung unterbrechen,“ sagte der Richter, indem er nach dem Zeugenstuhl hinüberwies. „Mrs. Lilian Stone ist ohnmächtig geworden.“

*   *   *

Die Luft im Gerichtssaal war dumpf und schwer. Draußen lagen schon die Schatten des frühen Abends; Wassertropfen perlten an den Fensterscheiben, das Licht der Glühlampen bohrte sich flimmernd durch graue Dunstschwaden. Neue Kombinationen gingen flüsternd von Mund zu Mund; Richter Higgins, der eben mit den Geschworenen eintrat, war nervöser als am Vormittag. Er gab dem Gerichtsdiener einen Wink; die Tür ging auf, ein Mann in blauem Anzug, der Typ eines Seemanns, trat mit wiegenden Schritten an den Richtertisch.

„Ich höre, daß Sie sich gemeldet haben, um eine wichtige Aussage zu machen.“

„Ja, Herr Richter. Zufällig liest mir mein Schlafbaas heute morgen was aus der Zeitung vor. Ich höre plötzlich: Clayton . . . Pompejus Pym . . . Halt, sage ich, was heißt das: Clayton . . . was ist das für ein Feuer . . . ich habe nämlich selbst in Clayton gewohnt, müssen Sie wissen, Herr Richter, ich kenne Pompejus Pym, und ich weiß auch von dem Feuer.“

„W as wissen Sie von dem Feuer?“

Der Zeuge wandte sich herum zu dem Neger: „Ja... das ist er,“ sagte er nickend. „Ich entsinne mich ganz genau: er hatte eine Fackel in der Hand. Durch das Fenster des Hausboots sah ich es: mit der Fackel ging er in der Pantry herum und setzte die Holzteile in Brand.“

„Das ist ganz unglaubwürdig,“ rief der Verteidiger erregt. „Da kommt irgendein Fremder daher und behauptet etwas Ungeheuerliches. Ich bestreite seine Angaben !“

„Das Feuer loderte so verdächtig schnell auf, daß ich sofort sah: hier ist vorgearbeitet worden. Mit Petroleum, taxiere ich.“

„Und Sie wissen genau, daß es der Angeklagte war?“

Wieder wandte sich der Zeuge zu dem Neger herum. „So genau wie ich meinen Kopf kenne. Es war Pompejus Pym, der das Schiff in Brand gesteckt hat.“

„Was dieser Zeuge sagt, ist Wahnsinn!“ schrie der Verteidiger.

Der Richter wies gebieterisch auf den Neger.

„Was haben Sie dazu zu sagen?“

Der Neger erhob sich mühsam, die zitternden Hände auf die Barriere gestützt; im Saal wurde es totenstill. Langsam sagte er:

„Dieser Mann sagt die Wahrheit.“

Erregtes Murmeln schwirrte durch den Saal und erstarb plötzlich wieder, als der Richter mit heiserer Stimme fragte:

„Sie bekennen sich also schuldig, Pompejus Pym?“

Zum Erstaunen des Saales antwortete der Neger:

„Nein.“