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Franziska Franke
Sherlock Holmes und
das Ungeheuer von Ulmen

Von der Autorin bisher bei KBV erschienen:

Sherlock Holmes und die Büste der Primavera

Sherlock Holmes und der Club des Höllenfeuers

Sherlock Holmes und die Katakomben von Paris

Sherlock Holmes und der Fluch des grünen Diamanten

Sherlock Holmes und das Ungeheuer von Ulmen

Franziska Franke, in Leipzig geboren, hat nach ihrer Schulzeit, die sie in Essen, Schwetzingen und Wiesbaden verbrachte, an den Universitäten von Mainz und Frankfurt Kunstgeschichte, Klassische Archäologie und Kunstpädago gik studiert. Sie wohnt heute mit ihrem Mann in Mainz, wo sie freiberuflich in der Erwachsenenbildung tätig ist. Mit ihrem Krimi-Debüt »Sherlock Holmes und die Büste der Primavera« erweckte sie den größten Detektiv der Weltliteratur zu neuem Leben und begeisterte Krimifans und Holmesianer.

Franziska Franke

Sherlock Holmes

und das Ungeheuer
von Ulmen

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Originalausgabe
© 2013 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim
www.kbv-verlag.de
E-Mail: info@kbv-verlag.de
Telefon: 0 65 93 - 998 96-0
Fax: 0 65 93 - 998 96-20
Umschlaggestaltung: Ralf Kramp
unter Verwendung von:
Burg und Maar von Ulmen · Fritz von Wille
Redaktion: Volker Maria Neumann, Köln
Druck: Aalexx Buchproduktion GmbH, Großburgwedel
Printed in Germany
Print-ISBN 978-3-942446-90-7
E-Book-ISBN 978-3-95441-146-7

Vorwort des Herausgebers

Wieder habe ich das große Vergnügen, die Übersetzung eines der auf Englisch verfassten Manuskripte zu präsentieren, die überraschenderweise in einer alten Truhe auf dem Dachboden der Florentiner Casa Tristram-Boldoni aufgetaucht sind. Ihr Verfasser David Tristram, der Großvater des Vorbesitzers dieses Hauses war ein englischer Buchhändler, der den größten Teil seines Lebens in Florenz verbracht hat. 1891 hatte er zufällig die Bekanntschaft von Sherlock Holmes gemacht, der nach dem Kampf mit Professor Moriarty und dessen vorgetäuschtem Tod in Italien untergetaucht war. In den folgenden Jahren assistierte David Tristram Holmes immer wieder bei der Lösung von Kriminalfällen. Auch verhalf er ihm zu einem norwegischen Pass, der auf den Namen Sven Sigerson ausgestellt war, dessen sich der Londoner Detektiv während seines gesamten weiteren Exils bediente.

Nach der Lektüre des von mir im Vorjahr herausgegebenen Bandes Sherlock Holmes und der Fluch des grünen Diamanten ging ich davon aus, dass Holmes nach seinem belgischen Abenteuer in seine Heimat zurückgekehrt sei. Schließlich hatte er wenige Wochen später Colonel Sebastian Moran in London das Handwerk gelegt.

Bang fragte ich mich, was wohl der Manuskriptband mit der folgenden Nummer enthalten mochte. Etwa David Tristrams Korrespondenz mit seiner italienischen Gattin, die er während seiner Ermittlungsarbeit im Ausland oft wochenlang alleine ließ? Vielleicht auch die Geschäftsberichte der Steinmetzwerkstatt seines Schwagers, für deren internationale Korrespondenz der ehemalige Buchhändler zuständig war? Oder wenigstens die Schilderung von Kriminalfällen, die Mister Tristram nach Holmes’ Rückkehr in seine Heimat allein gelöst hatte? Seitdem ich im letzten Jahr bei einer zufälligen Stichprobe auf das Tagebuch Violetta Tristrams gestoßen war, war ich auf alles gefasst.

Trotz dieser Möglichkeiten ließ ich mich von meiner Frau überreden, das Manuskript an unsere bewährte Übersetzerin Signorina Casagrande zu schicken, die gerade ein Praktikum in Oxford absolvierte und daher leider wenig Zeit hatte. Es bedurfte einiger Motivationsarbeit, um sie davon zu überzeugen, dass nur sie David Tristrams unleserliche Handschrift entziffern konnte. Aber auch diese Hürde wurde genommen.

Ich war davon ausgegangen, David Tristram habe seinen berühmten Kollegen nach England begleitet. Umso größer war mein Erstaunen, als sich herausstellte, dass Sherlock Holmes von Belgien aus einen Abstecher nach Deutschland gemacht hatte. Zudem zeigte sich, dass der berühmte Londoner Ermittler überraschenderweise auch schon vor seiner Begegnung mit dem Hund von Baskerville wegen eines bedrohlichen Ungeheuers um Beistand gebeten worden war.

Florenz, den 7. 3. 2013,
Giorgio Battista Scalzi, Anwalt und Notar

1. Ankunft in Ulmen

Der Wind wehte kühl von der Schelde her und trieb dunkle Regenwolken in die Stadt, weshalb ich meinen Spaziergang an der menschenleeren Uferpromenade vorzeitig abbrach und ins Hotel zurückkehrte. Hier in Antwerpen hatte ich Sherlock Holmes kürzlich bei der Auflösung eines Kriminalfalls assistiert und ging davon aus, dass er in den nächsten Tagen nach England zurückkehren würde – aber es kam ganz anders.

»Haben Sie Zeit, mit mir eine kurze Reise in die Eifel zu unternehmen?«, fragte er unvermittelt, als ich mich in der Hotelbar auf einen Abschieds-Drink zu ihm gesellt hatte. »Falls nicht, wäre ich Ihnen äußerst verbunden, wenn Sie mich dennoch begleiten würden.«

»Mit dem größten Vergnügen«, antwortete ich ohne zu zögern hocherfreut. Ich hatte zwar bereits meinen Koffer gepackt, aber zum Glück noch keine Fahrkarte nach Florenz zurück gelöst. »Wo ist diese Eivel, in Irland?«

»In Deutschland, nahe der belgischen Grenze. Sie schreibt sich wie der Konstrukteur des Eiffelturms, aber nur mit einem F«, belehrte mich Holmes und zog einen an den Ecken leicht angestoßenen Briefumschlag von bester Qualität aus der Tasche. »Doktor Peeters hat mir den recht absonderlichen Brief eines gewissen Herbert Bechers gesandt, den er von seinem Studium an der Universität kennt und der inzwischen als Lehrer in Ulmen lebt. Am besten ich lese Ihnen ein paar Zeilen aus dem Schreiben vor: »Nach einer Legende, die der Humanist Sebastian Münster im Jahre 1542 erwähnt, lebt im Ulmener Maar ein riesiger Fisch. Wann immer er erscheint, stirbt eine wichtige Persönlichkeit. Bis zu den jüngsten Ereignissen hielt ich diese Geschichte für ein Ammenmärchen. Das hat sich aber in der Zwischenzeit gründlich geändert. Alles fing damit an, dass im April zwei Kinder behaupteten, einen riesigen Fisch im Maar gesehen zu haben, was aber niemand ernst genommen hat. In den darauf folgenden Wochen wurde das Ungeheuer jedoch von mehreren anderen Personen gesichtet, auch von der Gattin meines Freundes, des Apothekers Bertram Steinmetz. Unweigerlich musste ich an die Saurierskelette im Berliner Museum für Naturkunde denken, und vor meinem inneren Auge baut sich eine Bestie auf, die an Größe und furchteinflößender Wirkung alle Drachendarstellungen der mittelalterlichen Künstler übertrifft. Vielleicht haben es – entgegen der herrschenden Lehrmeinung – doch einige dieser vorsintflutlichen Kreaturen geschafft, sich an die Kälte anzupassen ...«

Holmes hob den Blick von dem Schreiben. »Diese Spekulationen sind natürlich vollkommener Unfug. Die Winter in Deutschland sind viel zu kalt für Reptilien. Wenn es sich doch wenigstens um ein abgeschiedenes Hochplateau in Südamerika handeln würde! Aber eine Echse in einem Eifelmaar? Das ist wirklich absurd!«

»Was ist eigentlich ein Maar?«, wollte ich wissen.

»Ein erloschener, abgesunkener Vulkan, dessen Krater manchmal mit Wasser gefüllt ist.«

Vor mir stieg das Bild des Vesuvs auf, in dessen Höllenschlund1 kochendes Wasser brodelte. In welch teuflischen Landstrich wollte Holmes mich entführen?

»Vielleicht erwärmt die vulkanische Aktivität das Wasser so stark, dass Reptilien darin leben können?«, gab ich zu denken, aber Holmes schüttelte nur belustigt den Kopf.

»Meines Wissens liegt die Wassertemperatur eines Maars nicht wesentlich über der eines normalen Sees«, klärte er mich auf. »Zweifelsohne wurde der ganze Spuk inszeniert. Es stellt sich nur die Frage: Wem könnte dieser Betrug nützen?«

»Der Lokalpresse, die ihre Auflage steigern möchte«, schlug ich vor.

Wenigstens widersprach Holmes mir diesmal nicht. Seine Augen senkten sich wieder auf den Brief, und er deutete auf die letzte Zeile des Schreibens. »Herbert Becher äußert den Wunsch, den vortrefflichen Detektiv zu konsultieren, der Doktor Peeters unlängst behilflich war«, referierte er ohne die geringste Verlegenheit. »Nach reichlicher Überlegung habe ich mich entschlossen, seiner Bitte nachzukommen.«

»Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst? Sie wollen tatsächlich ein Seeungeheuer aufspüren?«, entfuhr es mir bestürzt. Holmes musste sich zu Tode langweilen, wenn er dergleichen auch nur erwog.

»Ich lehne keinen Kriminalfall ab, nur weil er auf den ersten Blick alltäglich erscheint. Einige meiner interessantesten Fälle haben mit ganz einfachen Dingen begonnen. Außerdem entbehrt die Geschichte nicht einiger interessanter Aspekte, wie zum Beispiel die Erwähnung des Ungeheuers in der alten Legende. Daher habe ich Herbert Becher unser Eintreffen für den morgigen Tag telegrafisch angekündigt.«

Mühsam verkniff ich mir die Bemerkung, dass Holmes mich wenigstens anstandshalber hätte fragen können, bevor er in meinem Namen Zusagen machte. Stattdessen suchte ich gottergeben die nächste Buchhandlung auf und verlangte den Deutschland-Führer von Murray. Diesen hatte man dort aber nicht vorrätig, und so empfahl mir der Buchhändler mit den glühendsten Farben der Beredsamkeit die englische Ausgabe eines Reiseführers des deutschen Baedeker-Verlags.

Als wir Antwerpen am nächsten Morgen verließen, kündete ein milchiger Morgenhimmel einen trüben Frühlingstag an, aber wenigstens regnete es nicht. Nachdem wir in Brüssel, Trier und Andernach umgestiegen waren, fuhren wir jetzt durch eine melancholische Heidelandschaft. Der Himmel wurde immer grauer und die Luft zunehmend dunstig, weshalb ich gelangweilt in meinem Reiseführer herumblätterte. Aber ich konnte kaum Informationen über die Eifel finden. Nur das Tal der Ahr wurde erwähnt, die ein Nebenfluss des Rheins war. Daher vertrieb ich mir die restliche Fahrzeit mit der Lektüre einer belgischen Zeitung, die ich unterwegs erworben hatte.

Am frühen Nachmittag hielt unser Zug endlich in Mayen, der letzten Station der Eifelquerbahn2, wo es nur zwei, obendrein unüberdachte Bahnsteige gab, auf denen wir uns vergeblich nach unserem Klienten umschauten. Auch vor dem putzigen Bahnhofsgebäude – einem Fachwerkbau mit Schieferdach – erwartete uns niemand.

»Herbert Becher hätte uns zumindest in Mayen abholen können, nachdem die Waggons zweier Eisenbahngesellschaften unsere Knochen durcheinander geschüttelt haben«, schimpfte ich leise vor mich hin.

Holmes ließ seinen Blick über den Bahnhofsvorplatz schweifen, wohl auf der Suche nach unserem Klienten. Aber an diesem trüben Nachmittag waren in Mayen nur Hausfrauen mit Einkaufskörben unterwegs. Die wenigen anderen Fahrgäste, die bis zur Endhaltestelle gefahren waren, hatten sich längst entfernt, einige zu Fuß, andere waren von Fuhrwerken abgeholt worden.

»Wir werden unsere Weiterfahrt nach Ulmen wohl selbst organisieren müssen«, verkündete Holmes und schritt zu einem Einspänner, der neben dem Bahnhof bereitstand.

Leider sprach der dazugehörige Kutscher kein Wort Englisch, aber indem er das Wort Ulmen in Druckbuchstaben auf ein Blatt seines Notizblockes schrieb, gelang es Holmes, mit dem Mann handelseinig zu werden.

Nachdem wir eine Strecke von fast zwanzig Meilen über eine kurvenreiche Landstraße geholpert waren, hielt unser Fuhrwerk endlich vor einem weiß verputzten, zweigeschossigen Gebäude mit Steindurchschüssen an den Kanten, das ein Schild als Bahnhof Ulmen auswies.

»Da es hier eine Station gibt, könnte man gefälligst auch Züge nach Ulmen fahren lassen«, schimpfte ich vor mich hin, während Holmes den Kutscher entlohnte. »Außerdem frage ich mich, warum dieser arbeitsscheue Bursche uns nicht bis zum Haus unseres Klienten fährt.«

»Ich habe ihn darum gebeten, weil ich möglichst wenig Aufsehen erregen möchte«, entgegnete Holmes und marschierte mit seinem Koffer in der Hand los.

»So etwas wie eine Unterwelt gibt es hier bestimmt nicht. Kein Wunder, dass man private Ermittler höchstens zur Verfolgung von Seeungeheuern anheuert«, konstatierte ich beim Anblick der ländlichen, weiß getünchten Häuser mit ihren schwarzen Schieferdächern, die wir passierten. Offenbar war Ulmen viel kleiner als Mayen.

»Für das Dorf selbst mag das zutreffen, aber die einsamen Gehöfte im Hinterland sind eine andere Sache. Hinter den gepflegten Zäunen und frisch lackierten Türen schlummern zuweilen grauenvolle Geheimnisse.«

Mit der Zeit rückten die Häuser enger zusammen und wurden auch kleiner, waren jedoch noch immer adrett. In einem Hof pickten Hühner emsig nach Körnern, und irgendwo in der Nähe musste sich ein Misthaufen befinden, denn der Wind trug einen fauligen Geruch zu uns herüber.

Wir fanden Herbert Bechers Domizil, ohne uns zu verlaufen, was keine große Leistung war, denn der Ort war – um es höflich auszudrücken – überschaubar. Das schmale, zweigeschossige Steinhaus mit malerischen Dachgauben unterschied sich allenfalls durch seine geringen Abmessungen von seinen Nachbarn. Unser Klingeln provozierte einen kleinen Kläffer im Inneren des Hauses und eine hohe, sich fast überschlagende Stimme schimpfte ihn aus. Es folgte ein Augenblick der Stille, dann erneutes Bellen, scheltende Worte und der Knall einer ins Schloss geworfenen Zimmertür. Holmes betätigte nochmals den Klingelzug und lockte endlich die schlurfenden Schritte einer schweren Person herbei. Drinnen vernahm ich ein Klappern, dann ein leises Rasseln, und endlich wurde die Haustür aufgestoßen. Wir schauten in das runde Gesicht einer Hausangestellten, die uns ihrerseits mit misstrauischen Blicken taxierte. Sie war groß, korpulent, hatte breite Hüften und strähniges, dunkelblondes Haar, das störrisch unter ihrer gestärkten Haube hervorquoll. Die von feinen Falten durchzogene Haut ihres bekümmerten Gesichts war von der Arbeit im Freien gebräunt.

»Wir möchten mit Herrn Becher sprechen. Vermutlich erwartet er uns bereits«, sagte Holmes langsam und gedehnt. Dann überreichte er der Hausangestellten seine Visitenkarte.

Die dicke Frau sah uns aus angstgeweiteten, blaugrauen Augen an, brach plötzlich in Tränen aus und stammelte einige Sätze auf Deutsch. Ich meinte die Worte »tot«, »Drache« und »Fisch« herauszuhören, und eine eisige Kälte stieg in mir hoch: Offenbar war der Hausherr unter rätselhaften Umständen verstorben! Holmes schien zum selben Schluss gelangt zu sein, denn sein ohnehin schon ernster Gesichtsausdruck verdüsterte sich noch mehr.

»Wir brauchen dringend einen Dolmetscher!«, gab ich zu bedenken, hin- und hergerissen zwischen der Bestürzung über den Tod unseres Klienten, der Befürchtung umsonst in die Eifel gereist zu sein und der Hoffnung, vielleicht doch einen »richtigen« Fall zu haben.

Holmes erkundigte sich vorsichtig, ob die kräftige Frau englisch oder französisch sprach, erhielt aber keine Antwort. Die Hausangestellte stand wortlos und mit gesenktem Kopf vor uns, sodass ihr ausgeprägtes Doppelkinn hervortrat. Mit dem Zipfel ihrer gestärkten Schürze wischte sie sich über die feuchten Augen.

»Das hat doch alles keinen Sinn«, murmelte ich vor mich hin.

Holmes verabschiedete sich mit einem höflichen Kopfnicken, und die Tür wurde sofort wieder zugeschlagen.

»Wir sollten den Apotheker ausfindig machen, dessen Gattin angeblich das Ungeheuer gesehen hat. Als Akademiker beherrscht er hoffentlich eine Fremdsprache. Außerdem war er mit unserem Klienten befreundet«, sagte Holmes schlecht gelaunt. »Aber wir sind gut beraten, uns vorher eine Unterkunft suchen.«

Mit etwas Glück fanden wir in dem einzigen, Gott sei Dank reinlichen Gasthof des Ortes zwei akzeptable Zimmer mit schrägen Wänden und weiß lackierten Sprossenfenstern. Auf fließendes Wasser würden wir in den nächsten Tagen verzichten müssen, aber ich hatte beim Anblick der Butzenscheiben in der Gaststube auch nichts anderes erwartet. Nachdem man unser Gepäck auf die Gästezimmer transportiert hatte, erkundigte sich Holmes bei den Wirtsleuten nach Bertram Steinmetz und wir erfuhren, dass er der Inhaber der Einhorn-Apotheke im Ortskern war.

»Sie müssen immer auf die Kirche zugehen, die auf der höchsten Erhebung des Ortes steht«, instruierte uns der Wirt, der zum Glück etwas englisch sprach. Er war ein untersetzter Mann unbestimmbaren Alters mit breiter Nase, schweren Tränensäcken und herunterhängenden Mundwinkeln, die er, als er uns bemerkte, zu einem gekünstelten Lächeln hochzog. Seine argwöhnischen Augen wanderten zwischen Holmes und mir hin und her. »Aber Sie wissen, dass wir nur Frühstück servieren.«

Wahrscheinlich sahen wir nach der anstrengenden Reise halb verhungert aus.

»Das macht überhaupt nichts«, beteuerte Holmes, und der Wirt empfahl uns ungebeten ein Wirtshaus am Marktplatz, das sicherlich einem Verwandten gehörte.

1 Der Vesuv brach im 19. Jahrhundert achtmal aus, die schwerste Eruption fand 1872 statt.

2 Erst 1895 – also im folgenden Jahr – wurde der Streckenabschnitt Mayen-Daun eingeweiht.

2. Der Apotheker

Als wir eine Viertelstunde später aufbrachen, hatte sich die dunstige Luft zu einem leichten Nebelschleier verdichtet. Nur verschwommen waren die Konturen einer zweischiffigen gotischen Kirche auszumachen, auf deren Turmhelm Störche nisteten. Dort angelangt tappten wir vergeblich durch mehrere schummerige Sträßchen, bevor wir am Ende einer Sackgasse ein stattliches Haus mit verschieferter Fassade erblickten, in die ein Schaufenster eingefügt war. Ein hölzernes Firmenschild, von dem die Farbe an den Ecken abzublättern begann, hing an einer eisernen Stange, die vom Wind hin und her bewegt wurde. Auf die Holztafel war ein tänzelndes Einhorn gemalt. Wir hatten also unser Ziel gefunden.

Die wuchtige Eichentür beschwerte sich mit einem leisen Ächzen über die späten Besucher. Drinnen roch es nach Spiritus, Talg und Kräutern. Von der Decke hing ein Krokodil herab, das noch im präparierten Zustand bedrohlich seine Zähne bleckte. Im bleichen Licht, das schräg durch das Schaufenster einfiel, erinnerten mich die bis zur Decke reichenden Regale voller weißer Keramikgefäße an das Magazin eines Giftmischers. Hinter den Glasfüllungen der Türen eines Schrankes zeichneten sich die verschwommenen Umrisse von Glasgefäßen ab. Bestimmt enthielten sie in Alkohol eingelegte Frösche oder dergleichen.

Der uns zuvorkommend anlächelnde Apotheker Bertram Steinmetz war ein großer, kräftig gebauter Mann in den Vierzigern. Unter einem mit Seide gefassten, schwarzen Rock trug er eine ebenfalls schwarze Weste mit goldener Uhrenkette. Graue Beinkleider und schwarze Lackschuhe rundeten die seriöse Aufmachung ab. Aber ein dunkler Vollbart und durchdringende Augen verliehen ihm einen verwegenen Ausdruck.

»Mein Name ist Mister Sven Sigerson und das ist mein Kollege Mister David Tristram«, stellte Holmes uns auf Englisch vor, was der Apotheker aber leider nicht verstand. Es stellte sich jedoch schnell heraus, dass er überraschend gut französisch sprach.

»Mister Sigerson? Irgendwo ist mir dieser Name doch neulich untergekommen«, sinnierte er, nachdem er sich vorgestellt hatte. Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht und er musterte uns mit einem scharfen Blick, der etwas länger auf Holmes als auf mir verweilte. »Sind Sie nicht der norwegische Detektiv, den Herbert wegen des Seeungeheuers konsultieren wollte?«

»Sehr wohl, der bin ich!«, bestätigte Holmes.

»Ich fürchte, hier gibt es nichts mehr für Sie zu tun. Herbert Becher ist tot.« Der Apotheker fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn, wie um einen unangenehmen Gedanken wegzuwischen. Dabei bemerkte ich, dass die Haut seiner Hände durch helle Flecken verunstaltet war, die vom leichtsinnigen Hantieren mit Säuren und Laugen herrühren mussten. »Eine furchtbare Geschichte! Wer hätte gedacht, dass das Ungeheuer einen Menschen angreifen könnte!«

Holmes verdrehte die Augen, schloss die Lider und schüttelte dann den Kopf. »Wie kommen Sie auf die Idee, das Ungeheuer habe ihn getötet?«, fragte er enerviert und hob eine Augenbraue.

Der Apotheker verschränkte die Arme vor der Brust, und man sah, dass er überlegte, ob es Sinn machte, sich in ein Gespräch mit den Fremden einzulassen. Schließlich gab er sich einen Ruck. »Herbert war noch am Leben, als ihn ein pensionierter Beamter am Seeufer fand. Bevor er starb, murmelte Herbert etwas von ›großen Tieren‹ «, berichtete er und fügte hinzu, dass sich die Tragödie am Samstagabend gegen sieben Uhr zugetragen habe. »Vermutlich hat der Herbert in der Natur Anschauungsmaterial für seinen Unterricht gesammelt. Schließlich war er Lehrer. Als der eilig herbeigerufene Arzt eintraf, war der Verletzte bereits seinen schweren Wunden erlegen.«

»War der Rentner ganz allein?«

»Nein, sein Hund hat ihn begleitet.«

Wollte der Apotheker uns auf den Arm nehmen? Seine wohl gewohnheitsmäßig bierernste Miene sprach dagegen.

»Könnte nicht ein wildes Tier Herbert Becher angefallen haben? Schließlich hat er das Wort ›Ungeheuer‹ nicht in den Mund genommen«, fragte Holmes mit reglosem Gesicht, während er etwas in seinen Taschenkalender notierte.

»In dieser Gegend gibt es keine Bären, und der letzte Wolf wurde in der Eifel vor sechs Jahren zur Strecke gebracht«, entgegnete Bertram Steinmetz griesgrämig.

»War es nun ein drachenartiges Wesen oder ein großer Fisch wie in der alten Legende?«, fragte ich belustigt.

»Ich glaube, es war ein Ichthyosaurus, ein Fischsaurier, den man im Mittelalter für einen Fisch gehalten hat.« Tonlos und eigenartig leer klang die Stimme des Apothekers.

»Warum nicht gleich der Leviathan, der manchmal als Krokodil, ein andermal als Drache und dann wieder als Fisch beschrieben wird?«, konterte ich, denn ich fragte mich, ob der Mann uns zum Besten hielt. Doch unser Gesprächspartner würdigte mich keines Blickes mehr, verkniff sich jeden Kommentar und wandte sich mit wachsamen Augen an Holmes.

»Was sagt eigentlich die Polizei zu dieser ungeheuerlichen Geschichte?«, erkundigte sich dieser sachlich.

»Unser lieber Gendarmeriewachtmeister kann sich keinen rechten Reim auf die Geschichte machen.« Der Apotheker schnaubte verächtlich, während ich noch über das Wortungetüm von Titel staunte, den der örtliche Polizist führte. »Dieser prosaische Mensch meint, wenn es denn kein Mord sein sollte, so sei es eben ein Unfall gewesen. Zugegebenermaßen war es am Tag, an dem Herbert starb, recht neblig, fast so wie heute. Aber was haben dann seine letzten Worte zu bedeuten? Zum Glück glaubt der Gendarm mittlerweile nicht mehr, dass mein Freund Opfer eines Verbrechens ist. Sonst hätte er uns alle längst verhaftet.«

»Ich nehme an, die Amtsstube des Gendarmen befindet sich am Marktplatz?« Der Apotheker nickte automatisch, aber sein bärtiges Gesicht verriet sein Unbehagen über Holmes’ Vorhaben, mit dem Ordnungshüter zu reden. »Wäre es möglich, dass ich kurz mit Ihrer Gattin spreche? Ich würde gern aus ihrem eigenen Mund hören, was genau sie damals am See gesehen hat«, fügte Holmes ernst hinzu und beäugte das Krokodil an der Decke.

Der Apotheker zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Ich bedaure, sie besucht gerade mit den Kindern ihre Familie in Trier.«

Holmes warf unserem Gesprächspartner einen vernichtenden Blick zu. »Mich interessiert natürlich, ob Ihre Gattin den Fischsaurier am helllichten Tag und bei guten Sichtverhältnissen gesehen hat?«, fragte er dann sichtlich verärgert nach.

»Ja, es war zwölf Uhr mittags und die Sonne schien«, entgegnete der Apotheker mit herausfordernd blitzenden Augen.

»Und das trifft auch für die anderen Sichtungen zu, von denen Herbert Becher in seinem Brief an mich berichtet hat?«

Bertram Steinmetz kratzte sich am Ohr. »Leider hat sich der Saurier sonst immer bei Nebel oder in der Dämmerung gezeigt.«

»Ob er nachtaktiv ist?«, bemerkte ich belustigt. »Zwar wäre das für ein Reptil ungewöhnlich, aber auch nicht erstaunlicher als seine Anpassung an die Kälte.«

Holmes bedachte mich mit einem tadelnden Seitenblick, notierte etwas auf seinem Notizblock und sah dann den Apotheker scharf an. »Ich habe noch eine letzte Frage: Mit wem – außer mit Ihnen selbst – hat Herbert Becher vertraulich verkehrt?«

Bertram Steinmetz zog die Stirn in Falten, seine herabgezogenen Mundwinkel bezeugten seine Missbilligung über die recht persönliche Frage. Er verschränkte die Arme vor der Brust und überdachte einen Moment lang, ob er antworten sollte. Dann seufzte er resigniert. »Mit Heinrich Decker, seinem Schwager natürlich. Er ist Handelsvertreter für Düngemittel und zurzeit beruflich unterwegs.« Der Apotheker kostete die Wirkung seiner Worte aus. Aber Holmes tat ihm nicht den Gefallen, sein Missvergnügen über diese Information zu zeigen. »Außerdem verbrachte Herbert notgedrungen viel Zeit mit seinem neuen Kollegen Fritz Matuschke, obwohl er ihn nicht ausstehen konnte.«

»Kennen Sie zufällig seine Adresse?«

»Fritz Matuschke wohnt zur Miete bei Witwe Henkel, deren Haus sich neben dem Schulgebäude befindet.

»Wenn ich schon meinen Klienten nicht mehr lebend angetroffen habe, möchte ich doch wenigstens den Tatort ...«

»Leider habe ich zu viel zu tun, um mich darum zu kümmern«, unterbrach der Apotheker brüsk, schien aber gleich seine heftigen Worte zu bereuen, denn er machte eine beschwichtigende Geste. »Mein Lehrling wird Sie zum Ufer begleiten.«

»Kennt er die genaue Stelle, an der der Tote aufgefunden wurde?«, erkundigte sich Holmes.

»Jeder kennt die Stelle. Schließlich ist dort das Ungeheuer mehrmals gesichtet worden.«

»Es erscheint immer am selben Ort?«, fragte Holmes amüsiert.

Unser Gesprächspartner bejahte mit ernster Miene und strich sich dann mit der Hand über den Bart.

»Vielleicht ist es ein Weibchen, das in der Nähe Eier gelegt hat. Es soll Reptilien geben, die Brutpflege betreiben«, schlug ich scherzhaft vor und vermied jeden Blickkontakt mit Holmes, sonst hätte ich unweigerlich laut losgelacht, so absurd war die ganze Geschichte.

»Malen Sie den Teufel nicht an die Wand!«, verkündete unser Gesprächspartner reichlich theatralisch.

Holmes schaute mit gerunzelter Stirn durch das Schaufenster. Der Nebel war noch dichter geworden, falls das überhaupt möglich war. Es schien, als würde er förmlich aus dem Straßenpflaster kriechen. Die Schwaden verhüllten bereits die Sicht auf die andere Seite der engen Gasse.

»Wir sollten aufbrechen, solange man noch etwas sieht!«, erklärte Holmes und verlagerte ungeduldig sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen.

»Ich habe noch nie ein derart nebliges Frühjahr erlebt!«, bestätigte Bertram Steinmetz, woraus man folgern konnte, dass er offensichtlich noch nie einen Lenz in London verbracht hatte.

Bevor jemand etwas erwidern konnte, betrat eine alte Dame die Apotheke und beschäftigte deren Inhaber mit einer ganzen Liste von Wünschen.

»Mich wundert, dass in der Eifel nicht mehr Morde begangen werden! Bei diesem Nebel kann man seelenruhig jemanden auf der Straße niederstechen oder in ein Haus einbrechen, und weder Passanten noch Nachbarn würden das Geringste davon mitbekommen«, brummte Holmes grimmig vor sich hin, während der Apotheker in aller Seelenruhe getrocknete Beeren mit dem Mörser zerkleinerte.

»Das scheußliche Wetter erinnert mich an unsere englische Heimat«, bemerkte ich schaudernd.

Als die alte Dame endlich mit Medikamenten gegen alle möglichen Wehwehchen versorgt war, huschte der Apotheker durch eine Eichentür mit fein gedrechselten Simsen, und einen Moment lang befürchtete ich, er könnte sich aus dem Staub gemacht haben. Ich beugte mich über die Theke, um durch den schmalen Türspalt zu lugen. Mit zusammengekniffenen Augen erkannte ich im angrenzenden Raum einen Labortisch, der beladen war mit Reagenzgläsern, Retorten und Gefäßen, die teils Chemikalien, teils silbrige Flüssigkeiten enthielten. Davor lagen ein unförmiges Holzobjekt und ein Goldklumpen. Holmes hätte an diesen Apparaturen seine helle Freude gehabt, nur dass seine provisorischen Labors viel unordentlicher waren! Bevor ich eine diesbezügliche Bemerkung machen konnte, kehrte der Apotheker mit einem ängstlich dreinblickenden, dicklichen Jungen zurück, den er uns als seinen Lehrling Thomas vorstellte.

Bertram Steinmetz packte den widerstrebenden, etwas plumpen Jungen an den Schultern und schob ihn durch die Tür in den feuchten Nebel. Ich folgte ihm, stellte aber fest, dass Holmes im Verkaufsraum der Apotheke stehen geblieben war. Den abschließenden Wortwechsel mit dem Apotheker vernahm ich nur gedämpft.

»Nur für den Fall, dass wir zufällig diesem pensionierten Beamten begegnen sollten, könnten Sie mir bitte seinen Namen nennen?«, erkundigte sich Holmes.

»Das war nur der alte Peter Vogelsang. Der ist bei jedem Wetter mit seinem Dackel unterwegs. Gut möglich, dass Sie ihm am Seeufer über den Weg laufen.«

Endlich trat auch Holmes ins Freie, und Bertram Steinmetz knallte sogleich die Ladentür zu und verriegelte sie von innen.

3. Der Unglücksort

Am Himmel mischte sich der Nebel mit den Rauchfahnen der Schornsteine. Irgendwo im Ort war ein Fuhrwerk unterwegs. Das Rumpeln der Räder und das Klappern der Pferdehufe klang seltsam gedämpft. Die feuchte Luft kroch mir den Rücken hinunter und ließ mich zittern. Bevor ich losging, schlug ich den Mantelkragen hoch und vergrub meine Hände in den Taschen.

Wie Halbblinde tappten wir dem Lehrling hinterher, bogen um eine Ecke und gelangten zu einem gepflasterten, steil bergab führenden Weg. Bald erreichten wir das Ufer des Sees. Es roch modrig, und man hörte das Gurgeln von Wasser auf moosbewachsenen Steinen. Weiße Schwaden erhoben sich über dem Gewässer und verliehen der Szenerie einen gespenstischen Anstrich. Doch auch am helllichten Tage musste dies ein unheimlicher Ort sein.

Wir gingen wenige Yards am Ufer entlang und hatten schon die letzten Häuser hinter uns gelassen. Am Ortsausgang, wo Schafe das Ufer nach ein paar Grasbüscheln durchstöberten, ragten düstere, kahle Büsche geduckt in den Nebel, und ich fühlte mich, als wären wir ganz allein in dieser lautlosen Welt. Der untersetzte Junge ging auf die Tiere zu, blieb dann abrupt stehen und dreht sich zu uns um. Seine Augen waren weit aufgerissen, und seine drallen Glieder schlotterten vor Angst. Hastig stieß er einige Worte hervor und deutete auf das Maar. Dann rannte er den Weg zurück, als ob ihn die Furien aus der Unterwelt verfolgten.

Eine düstere Stille lag über der Landschaft, die nur vom leisen Plätschern des Wassers untermalt wurde. Obwohl es den ganzen Tag nicht geregnet hatte, war am Uferbereich alles feucht. Feine Wasserpartikel tropften vom Buschwerk und den Blättern der wenigen Bäume, und auch unsere Schuhe begannen sich mit Wasser vollzusaugen.

Ich hörte ein quatschendes Geräusch und drehte mich um. Mit einem Seufzer der Erleichterung stellte ich fest, dass es nur ein großer Frosch war, der aus dem Maar gesprungen kam. Nun saß er auf einem bemoosten Stein und blickte mich aus seinen riesigen Glubschaugen unschuldig an.

»Passen Sie auf, dass Sie auf dem glitschigen Boden nicht ausrutschen«, warnte Holmes, der hinter mir stand.

In Momenten wie diesen verfluchte ich seine Ungeduld. Jeder vernünftige Mensch hätte mit der Ortsbegehung auf besseres Wetter oder zumindest helles Tageslicht gewartet. So offen das Gelände auch war, konnte man nämlich keine Einzelheiten erkennen, da der Nebel lastend über dem Boden hing. Angestrengt schaute ich auf das von wabernden Schwaden verhüllte Maar hinaus, dessen anderes Ufer nicht einmal zu erahnen war.

Auf einmal rührte sich ein Schemen im Dunst. Ich kniff die Augen zusammen, um herauszufinden, ob ich wirklich sah, was ich zu sehen glaubte. Vielleicht war es nur eine Täuschung? Aber der Schemen war immer noch da. Mit klopfendem Herzen blickte ich geradeaus, wo ein riesiger Fisch mit schimmernden Schuppen über die Wasseroberfläche glitt. Er sperrte sein breites Maul auf der Suche nach Beute auf, bevor er wieder in die Tiefe zurücktauchte.

»Holmes! Schauen Sie! Das Seeungeheuer«, stammelte ich, aufgeregt mit dem ausgestreckten Arm auf das Maar zeigend.

»Das bilden Sie sich nur ein! Bei diesem Nebel kann man einen Holunderbusch nicht von einem Gespenst unterscheiden«, versuchte Holmes meine überbordende Phantasie zu zügeln. »Was soll ich von den Bewohnern dieses abgeschiedenen Ortes erwarten, wenn selbst mein Assistent zu derartigen Irrationalitäten neigt?«

Holmes’ Worte, obwohl in einem sachlichen Tonfall ausgesprochen, waren wie ein Schlag ins Gesicht. Bedrückt fasste ich den Vorsatz, mich in Zukunft lieber zurückzuhalten, bevor ich etwas Unbedachtes sagte.

»Können Sie bei diesem Wetter überhaupt Spuren finden?«, fragte ich nach einer Weile, denn ich konnte mittlerweile kaum noch meine Schuhe im weißen Dunst ausmachen.

»Das Wetter ist mein geringstes Problem. Leider sind die Schaulustigen in der Zwischenzeit überall herumgetrampelt. Bestimmt konnte schon der Gendarm, als er den Tatort inspiziert hatte, nichts mehr erkennen«, beschwerte sich Holmes, bevor er sich an die Arbeit machte. Jeden Inch des steinigen Areals betrachtete er durch die Lupe und murmelte dabei ab und zu unverständliche Worte vor sich hin.

Nach einigen Minuten richtete er sich mit einer ruckartigen Bewegung auf. »Ich habe alles herausgefunden, was sich unter diesen beklagenswerten Umständen hier noch feststellen lässt«, erklärte er geheimnisvoll wie immer.

»Was genau haben Sie gesehen?«, hakte ich trotzdem unverdrossen nach.

»Vom Regen fast völlig verwaschene Schleifspuren am Ufer. Die Tatsache, dass ich sonst nichts fand, ist höchst aufschlussreich.« Holmes weidete sich einen Augenblick lang an meinem Erstaunen, bevor er seine Worte erläuterte. »Hier fand weder ein Kampf mit einem Fischsaurier statt, noch hat das Untier den Abdruck seiner kräftigen Flossen hinterlassen. Auch Blutspuren konnte ich nirgends finden«, bemerkte Holmes, und wir machten uns auf den Rückweg in das Ortszentrum.

Jeder einzelne Schritt war mühsam, denn der Schlamm hatte meine Schuhe schwer gemacht, und ich musste Acht geben, um nicht auf dem matschigen Boden auszurutschen. Immer vorsichtiger wurden meine Bewegungen und immer zögerlicher mein Tempo.

»Ich werde nachher eine Depesche an Doktor Peeters schicken, um ihn über den Tod seines ehemaligen Kommilitonen in Kenntnis zu setzen«, verkündete Holmes, der sich meiner Geschwindigkeit angepasst hatte. »Aber vorher würde ich mich gern mit dem örtlichen Gendarmen unterhalten.«

»Das ist eine ausgezeichnete Idee«, antwortete ich, obwohl ich bezweifelte, dass wir um halb sechs in der Amtsstube noch jemanden antreffen würden. »Sonst macht er uns Schwierigkeiten, weil er sich übergangen fühlt. In einer kleinen Gemeinde wie Ulmen kann man keine Verbrechen aufklären, ohne dass es der gesamte Ort mitbekommt.«

Aber würde Holmes überhaupt weiterermitteln? Ich konnte nur hoffen, dass es mit seinem Gerechtigkeitssinn unvereinbar war, den gewaltsamen Tod seines Klienten auf sich beruhen zu lassen. Abgelenkt durch diese Überlegungen, stolperte ich über eine Wurzel, fing mich aber im letzten Moment und schimpfte innerlich über meine Unachtsamkeit. »Vielleicht bleiben wenigstens bei diesem Wetter die Mordbuben in ihren Schlupfwinkeln«, sagte ich zu meiner eigenen Beruhigung.

»Ich wage, eher das Gegenteil zu behaupten. Sie können unter dem Deckmantel des Nebels ihre Verbrechen ohne große Mühe vertuschen«, widersprach Holmes. »Was mich aber noch immer beschäftigt, ist die Frage, warum Herbert Becher trotz der schlechten Sichtverhältnisse an das Seeufer gekommen ist. Ich verstehe, warum man bei Sonnenschein am Maar spazieren geht, aber was hatte er hier bei Nebel verloren? Wenn wir uns in einer großen Stadt befänden, wäre die beste Erklärung, dass er sich verlaufen hatte. Aber nicht in einem winzigen Ort wie Ulmen.«

»Andere Länder, andere Sitten. Nach ihren Landschaftsgemälden zu schließen, haben die Deutschen eine Vorliebe für wabernden Nebel«, wandte ich ein. »Daher hat das Wetter den pensionierten Beamten nicht davon abgehalten, seinen Hund auszuführen.«

»Hundebesitzer sind eine ganz besondere Spezies. Auch werden mit den Jahren Hund und Halter einander immer ähnlicher, und Dackel sind bekanntlich eine sehr eigenwillige Rasse.«

Wir erreichten den gepflasterten Weg, der zur Apotheke führte, und ich war gerade im Begriff, um die Ecke zu biegen, als ich Schritte hörte. Ich erschrak, denn ich hatte nicht erwartet, in der Stille des dunstigen Seeufers einem Spaziergänger zu begegnen. Hoffentlich war es nicht Herbert Bechers Mörder, den es an den Ort seines Verbrechens zurückzog! Zur Besänftigung meiner Nerven sagte ich mir, dass der Nebel der Wahrnehmung manchmal einen Streich spielt. Vorsichtshalber blieb ich stehen, um zu horchen.

Ehe ich mich versah, tauchte aus dem Nichts eine Gestalt auf, die beinahe in mich hineingelaufen wäre. Es war ein knochiger, hochgewachsener Geselle von mindestens siebzig Jahren, der selbst Holmes um eine Handspanne überragte. In seiner Jugend war er sicher beweglich und drahtig gewesen, aber inzwischen war sein Rücken steif. Er zog sein rechtes Bein nach und stützte sich beim Gehen auf einen knorrigen Spazierstock. Der Fremde trug einen korrekten Anzug und hatte um seinen Hals einen handgestrickten Schal geschlungen. Als der alte Mann mich bemerkte, zuckte er zusammen, und seine Augen weiteten sich.

»Guten Abend!«, sprach Holmes ihn an und lüftete zum Gruß seinen Hut.

»Willi!«, rief der Fremde angsterfüllt in Richtung Maar und ein rostbrauner, langhaariger Dackel schälte sich aus dem Nebelschleier heraus. Aber statt uns zu verbellen, schnupperte er neugierig an unseren Schuhen. Erstaunt stellte ich fest, dass er mit seinem Maul den Hausschlüssel seines Besitzers hielt.

»Sie sind sicherlich der Pensionär Peter Vogelsang?«, fragte Holmes hocherfreut. Offenbar hatte er vergessen, dass hier kaum jemand Englisch verstand.

Unser Gegenüber fixierte ihn mit weit aufgerissenen, grauen Augen durch eine riesige Hornbrille mit dicken Gläsern, bevor sein Blick zu mir wanderte. Sein angestrengter Gesichtsausdruck verriet jedoch, dass er im Nebel unsere Gesichtszüge nicht ausmachen konnte. Dann nickte er verdattert und entgegnete etwas auf Deutsch, was aber keiner von uns beiden verstand. Der Dackel hatte sich hinter seinem Besitzer versteckt und lugte neben dessen linker Wade hervor.

»Sprechen Sie englisch?«, erkundigte sich Holmes jedes einzelne Wort langsam und deutlich betonend, aber der pensionierte Beamte verneinte mit einem Kopfschütteln.

Auch Französisch oder Italienisch verstand er offensichtlich nicht. Ohne Holmes’ diesbezügliche Nachfragen zu beantworten, schnalzte er mit der Zunge, was der Dackel als Zeichen zum Aufbruch verstand: Freudig kläffend rannte er in Richtung Ufer davon. Sein Besitzer verabschiedete sich mit einem leichten Kopfnicken, starrte aber plötzlich mit schreckgeweiteten Augen an uns vorbei, und sein Gesicht wurde aschfahl.

Wir fuhren herum, sahen aber nur die undurchdringliche Nebelwand über dem Wasser schweben. Als ich mich wieder dem Ortskern zuwandte, hastete der einsame Spaziergänger bereits mit staksenden Schritten und kerzengeradem Rücken davon, gefolgt von Willi, dem Dackel.

»Nicht, dass das Seeungeheuer das arme Tier als Zwischenmahlzeit verschlingt«, bemerkte ich amüsiert.

»Der alte Mann ist so blind wie eine Fledermaus. Er hätte den Fischsaurier noch nicht einmal bemerkt, selbst wenn dieser Männchen gemacht hätte. Wahrscheinlich ist er im wahrs ten Sinne des Wortes über den Schwerverletzten gestolpert«, bemerkt Holmes mit gerunzelter Stirn und schaute dem Pensionär nach, dessen Konturen sich schon fast im Dunst aufgelöst hatten.

»Aber schwerhörig scheint er nicht zu sein! Also müssen wir ernst nehmen, dass er etwas von ›großen Tieren‹ verstanden hat«, murmelte ich vor mich hin, bevor wir unseren Weg fortsetzten.

Während wir uns vorsichtig durch nebelverhüllte Gassen zum Marktplatz vorarbeiteten, kreuzten einige Bauern unseren Weg. Mürrisch erwiderten sie unseren Gruß, blieben dann stehen und gafften uns argwöhnisch nach.

4. Der Besuch beim Gendarmen

Ohne fremde Hilfe gelangten wir zur Amtsstube des Ordnungshüters. Sie befand sich in einem schmalen, aber adretten Haus am Hauptplatz des Ortes, wo die Einwohner alles kaufen konnten, was sie für ihren täglichen Bedarf benötigten. Holmes drückte die Klinke der wuchtigen Haustür herunter, und ich staunte, als sie trotz der fortgeschrittenen Stunde nachgab. Aber ich rief mir ins Gedächtnis, dass wir nicht in Italien, sondern in Deutschland waren.

Wir durchquerten einen schmalen Flur, in dem es nach Bohnerwachs roch, und der zu einer beige gestrichenen Tür führte. Holmes klopfte mit den Fingerknöcheln an die Zimmertür und riss sie zugleich auf, ohne auf eine Antwort zu warten. Dahinter befand sich ein düsterer, mittelgroßer Raum mit Allerweltsmöbeln und einem billigen, dunkelgrauen Linoleum-Fußboden. Die weiß gekalkten Wände waren kahl bis auf zwei Bilder: Das Porträtfoto Kaiser Wilhelms II. starrte uns aus einem schmalen, schwarzen Rahmen von der Stirnseite der Amtsstube an, und die rechten Wand zierte eine detaillierte Landkarte der Eifel.

Hinter einem altmodischen Schreibtisch aus stumpfem Eichenholz saß ein bulliger Mann mittleren Alters und betrachtete aufmerksam einen vor ihm liegenden Steckbrief. Mit seinem eckigen Schädel auf breiten, gebeugten Schultern und den argwöhnischen Augen sah der Gendarm eher aus wie der Leibwächter eines Gangsterbosses. Sein Kopf war von einem schwarz lackierten Helm aus Leder bedeckt, der von einer Metallspitze bekrönt wurde. Die wenig kleidsame Kopfbedeckung erinnerte mich an einen martialischen Tropenhelm. Später erfuhr ich, dass sie »Pickelhaube« genannt wurde. Obwohl ihr Träger nichts für sein wenig einnehmendes Äußeres konnte, verspürte ich eine sofortige Abneigung gegen ihn.

»Guten Tag! Sprechen Sie zufällig englisch?«, fragte Holmes auf Deutsch und nahm seinen Hut ab. Zumindest vermutete ich, dass er das sagte. Seine Deutschkenntnisse waren zwar rudimentär, aber das war immer noch mehr, als ich von mir behaupten konnte. Meine italienische Frau hatte mich ihre Muttersprache gelehrt, und später hatte ich mir mühsam die komplizierte französische Sprache angeeignet. Eine weitere Fremdsprache war ich nicht willens zu erlernen.

Der schwerfällige Mann verzog unwillig das Gesicht.

»Ein wenig«, brummte er dann zu meiner Überraschung.

»Das erleichtert die Sache doch ungemein! Mein Name ist Sven Sigerson, und das ist David Tristram«, stellte Holmes uns vor, wobei er ganz langsam sprach. »Herbert Becher hat uns damit beauftragt, die Wahrheit über das angebliche Ungeheuer im Maar herauszufinden. Aber bei unserer Ankunft mussten wir zu unserer Bestürzung feststellen, dass unser Klient vor Kurzem unter mysteriösen Umständen verstorben ist.«

»Meine Herren, nehmen Sie doch Platz«, sagte der massige Gendarm mit schwerem Akzent, ohne sich seinerseits vorzustellen. »Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie Polizisten aus England sind? Es verirren sich nur selten Ausländer nach Ulmen – und schon gar keine Kollegen.«

»Ich bin beratender Ermittler und stamme aus Norwegen. Mein Kollege Mister David Tristram hingegen ist Engländer«, stellte Holmes richtig, nachdem wir auf zwei klapprigen Stühlen mit geflochtener Sitzfläche Platz genommen hatten.

»Sie sehen auch nicht aus wie Polizisten.«

»Das will ich auch hoffen.«

Holmes klang eher belustigt als indigniert, aber die Unterlippe des Gendarmen schob sich trotzdem vor, und seine Augenbrauen zogen sich zusammen.

»Sie sind extra aus Norwegen angereist?«, wollte er dann wissen.

»Nein, wir hielten uns aus beruflichen Gründen in Antwerpen auf, als ein früherer Klient mich an Herbert Becher weiterempfohlen hat«, erklärte Holmes. »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie uns mitteilen könnten, wie unser Klient gestorben ist.«

Der Gendarm musterte uns mit kleinen, blassblauen Augen, die durch schwere Lider halb verdeckt waren. »Es war ein fürchterlicher Unfall. Davon bin ich jedenfalls überzeugt, auch wenn die Meisten sich einbilden, das Seeungeheuer habe Herbert Becher umgebracht«, bestätigte er endlich.

Mein durch den Raum schweifender Blick wich den grimmigen Augen des schnurrbärtigen Kaisers aus und blieb an dem Aktenschrank haften, der vollständig mit Karteikästen, Dokumentenmappen und Ordnern ausgefüllt war.

»Sie glauben also nicht an ein Urzeitwesen im Maar?«, fragte Holmes hocherfreut und schlug die Beine übereinander. Gedankenverloren fuhr seine rechte Hand in die Tasche seines Gehrocks, während seine Augen über den Schreibtisch wanderten, wohl auf der Suche nach einem Aschenbecher. Als er keinen fand, verdüsterte sich seine Miene, und er ließ den Tabaksbeutel in die Jackentasche zurückgleiten.

»Ich ziehe einer komplizierten Erklärung immer eine einfache vor.«

Die Ihnen keine Arbeit macht, ergänzte ich im Geist.

»Und seine letzten Worte? Man sagte mir, er habe, bevor er starb, noch etwas von ›großen Tieren‹ gesagt?«, erkundigte sich Holmes mit gut gespielter Beiläufigkeit.

»Er hat bestimmt deliriert«, war die knappe Antwort, dann wandte unser Gesprächspartner seine Aufmerksamkeit wieder dem Steckbrief zu, dessen Bild einen beklagenswert mageren, flüchtigen Verbrecher zeigte.