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Impressum und Copyright

Erste Auflage

Verbrecher Verlag Berlin 2013

www.verbrecherverlag.de


© Verbrecher Verlag 2013

Lektorat: Kristina Wengorz

Satz und Ebook-Umsetzung: Christian Walter


ISBN Print: 978-3-943167-43-6

eISBN Epub: 9783943167627

eISBN Mobipocket: 9783943167634


Der Verlag dankt Doris Mall.

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In meiner Radiosendung unlängst eine neue Tectonic 12-inch EP aus Bristol aufgelegt, auf der Dubstep plötzlich leicht wird (womit ich nichts gegen die zuweilen tief religiöse bis cyberfuturistische und darin nicht selten an tolle Brooklyner Illbient-Definitionen der 1990er erinnernde Schwere von Dub­step-Bässen gesagt haben will), uplifting wird, gleichsam abhebt, und die Bass Drum sich in einen Flow begibt, wie wir ihn aus aktueller minimaler House Music kennen. (Wenngleich ich House Music momentan tendenziell dort am aufregendsten finde, wo sie in Sachen Sound eher maximale Forderungen stellt. Manchmal geht dabei allerdings, dummerweise, der Bass verloren. Dann verkehrt sich der Fortschritt ins Gegenteil, und Rock erhebt abermals sein hässliches Haupt.)

Überlegt, wie das wäre, wenn ich diese Tectonic-Platte in einem Club spielen würde, wie sich die richtige Crowd auf den Tanzboden zu bewegen würde. Bei Dubstep, angesichts gefüllter Tanzflächen, immer wieder auch an das schwierige Vermächtnis der (logisch oft auch sehr gelungenen) Drum ’n’ Bass Music erinnert gefühlt: Männer, kaum Frauen, die sich, unrund und zackig, zu den gewittrig knatternden Kaskaden dieser Musik verrenken. Jungs-Ding, Physikstudenten-Ding (um es mal etwas grob zu fassen). Ein Problem, dem House (als das wohl immer noch geschlechterpolitisch fortschrittlichste Genre der Popmusik) nie begegnete. Definitives Plus dieser die sonischen wie sozialen Errungenschaften von Disco beerbenden Musik.

Dazu fällt mir ein Schulfest ein, das ich, etwa 15-jährig, besuchte. Ich stand mit einem Freund namens Bernd Kühl zusammen, der mein vorderster Stichwortgeber in Sachen Ästhetik und Musik war, mir wenige Jahre später auch, fast zeitgleich mit ihrem Erscheinen, die erste Disco-Platte (von Barry White), ich weiß noch ganz genau: in einem Bus auf der Heimfahrt von einer Klassenreise nach England, in die Hand drückte und sagte: Das heißt jetzt Disco. (Nachdem er mich ein Jahr vorher in die künstlichen Paradiese von Roxy Music eingeführt hatte.)

Wir standen am Rand der Tanzfläche, die Tanzenden beobachtend. Plötzlich sagte er: Sieh mal, der da hinten, der tanzt Töne. Absolut verboten: Töne zu tanzen. Das sah ich sofort ein. Klar, dass es beim Tanzen um Rhythmus geht. Aber auch sofort von einer Art innerer Panik befallen: Hatte ich vielleicht auch, nur wenige Minuten zuvor, Töne getanzt? Gar musikalische Spannungsbögen in Körperbewegungen umgesetzt? (Horror.)

Unvergessener Schlüsselmoment, unumkehrbarer Lernprozess.

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Eben noch behauptet, momentan maximale Sounds tendenziell zu bevorzugen. Was damit losging, dass meine DJ-Kiste unter meinen Händen verschwulte und eher jazzige Juwelen aus dem gediegenen, auch meinerseits, nerdig abgegrasten, Umfeld des Detroiter 3 Chairs Labels von sehr saftig voguenden, sexuell andersdenkenden 12-Zoll-Manifestationen aus den 1990ern verdrängt wurden, allen voran jenen des Junior Vasquez für sein damaliges Tribal Label, die dir heute für paar Cents hinterhergeschmissen werden (ich sage nur: Get your hands off my man, beziehungsweise erinnere gern an die Zeile: If Madonna calls, I’m not here), aber auch ganz Supertollem auf anderen damaligen NYC Labels wie Emotive Records (heutzutage ebenfalls leicht in Ramschkisten zu finden).

Was die aktuell (und mir durchaus sympathisch) grassierende Gegenposition von Minimal betrifft, kann es aber spätestens im Club sehr problematisch werden, diese draufgängerisch knarzenden Platten (mit denen ich zu Hause die Wände erschüttern konnte) zur positiven Entfaltung zu bringen: Seien es hollertronisch bollernde Baltimore Club Tracks, die Hip House wieder heraufbeschwören, oder nahezu bassfreie Schlager aus dem Hause Ed Banger, auch das Disco mit Rock (ohne dabei rockistisch zu werden) engführende LCD Soundsystem bewährte sich nicht wirklich vor der anspruchsvollen Tanzfläche. Als ich neulich in einem trendy Moskauer Club den ganzen Kram im MP3-Format vor den Latz geknallt bekam, klang das irgendwie sogar adäquat.

Dann aber geschah ein seltsamer Austausch: Während Minimal House sehr stark zu einem leidenschaftslosen Ding weißer Jungs verkam (die damit das Erbe des klassischen Wimp antraten), nahmen sich afrikanisch-amerikanische Produzenten, denen wir (allen voran Robert Hood, und doch sehr schnell und sehr begnadet gefolgt von Wolfgang Voigt) gegen Mitte der 1990er-Jahre die zunächst irre vitale Minimal Nation in erster Linie verdankten, des Genres auf eine Weise an, in der die Kategorien deep und minimal fantastisch zusammengehen: Omar-S mit seiner Plattenfirma FXHE, Jus-Ed mit Undergound Quality, Patrice Scott mit Sistrum Recordings, aber oft auch der beseelte Mr. V auf abgehangeneren Plattformen wie Vega oder Defected, oder, noch älter, der heute inspirierter denn je arbeitende Timmy Regisford, an der Seite von Quentin Harris, mit seinen charismatischen Releases auf den Labels Restricted Access respektive Unrestricted Access (im althergebrachten Umfeld des Club Shelter).

THOMAS MEINECKE

ANALOG


Mit Zeichnungen von Michaela Melián










Vorbemerkung

In wirklich jungen Jahren (im Kreis der Underground-Zeitschrift Mode & Verzweiflung, mit Freunden 1978 in München gegründet) habe ich Disco und Punk für gut befunden, gar nicht als Gegensatzpaar, sondern als hochwillkommen im kulturellen Stellungskrieg gegen die faulen Versprechungen einer überkommenen maskulinistischen Authentizität (wie sie in erster Linie Rockmusik für sich beanspruchte). Auch House war dann zehn Jahre später schräg, betont künstlich, auf sympathische Weise maschinell, Plastik. Ich erlebte Acid 1987 (als ich ein halbes Jahr lang in dieser Stadt lebte) im Berliner Metropol, wo der Tanzboden unter den Füßen der Menge und im Schrillen der Trillerpfeifen wie ein Trampolin auf und ab schwang. Ich glaubte, mir keine weiterführenden Gedanken hierzu machen zu müssen, was aber ein Versehen war: Ich hätte schon mal meine geschlechterpolitischen Überlegungen zu Disco vertiefen können.

Ich stand in meinem 40. Lebensjahr, als Minimal Techno aufkam, vornehmlich in Detroit, Berlin, Köln, und mich stark begeisterte und meine Gehörgänge öffnete für völlig neuartig modulierte Wahrnehmungsweisen des Sonischen. Klar, dass ich mir jetzt die ganzen tollen afrikanisch-amerikanischen Platten der zurückliegenden zehn Jahre nachkaufen musste: Chicago House und Detroit Techno waren genauso intelligente Statements of Dislocation gewesen wie Ragtime, Bebop, P-Funk, Sun Ra’s Arkestra oder Cyber R&B.

Was meine Arbeit beim Radio betraf, hatten diejenigen, die Techno auf Anhieb begriffen hatten, ihren Heimweg bereits wieder angetreten, in Richtung rockistisch infiltrierter Gefilde wie Big Beat (sie waren ja sowieso von den Sisters of Mercy her gekommen). Also konnte ich mit 40 Jahren als ­Radio-DJ zum Chronisten neuester Entwicklungen in der elektronischen Musikszene werden. Seite an Seite mit David Moufang alias Move D (ursprünglich eine Pop-up-Figur aus meinem Roman Tomboy, 1998) durfte ich aber auch renommierte urbane Dancefloors beschallen, erlernte (unter den wachsamen Augen des Publikums, denn ich habe zu Hause nur einen clubtauglichen Plattenspieler) das gleichzeitige Laufenlassen zweier Schallplatten (bis heute arbeite ich strictly Vinyl), wurde in den Katalog einer famosen DJ-Booking-Agentur genommen (Romy Pope, geborene Zips, hatte an der Uni über meine feministischen Romane gearbeitet) und durfte für diese gleich als ersten Gig in der legendären Panoramabar des Berghain (zur besten Zeit der Nacht) spielen.

2007 fragte mich Heiko Hoffmann, ob ich eine Kolumne im Groove Magazin schreiben wolle. Ich sagte sofort begeistert zu, und bis Anfang 2013 konnte man dort alle zwei Monate (im Erscheinungsrhythmus der Zeitschrift) die hier in Chronologie versammelten Texte lesen, stets links neben der Kolumne des als disco-diskursivem Buchautor bekannt gewordenen Ewan Pearson (beide Kolumnen nebeneinander sahen, von der grafischen Gestaltung her, ein bisschen wie ein Doppelbett aus). Zum 18. Geburtstag der Zeitschrift durfte ich im Watergate neben Mike Huckaby, Ada, Efdemin und Chloé auftreten.