Über Christopher Isherwood

Foto: Jack Mitchell / Getty Images

Christopher Isherwood wurde 1904 in Cheshire als Sohn eines englischen Offiziers geboren. Nach erfolglosen Studien der Geschichte und Medizin in Cambridge und London ging er 1929 nach Berlin. Von Oktober 1933 bis Februar 1934 arbeitete er in London an dem Film Little Friend, erst als Drehbuchautor, dann als Dialogberater des Regisseurs Berthold Viertel. 1939 emigrierte er in die USA, wo er 1986 im kalifornischen Santa Monica starb. Mit Werken wie Leb wohl, Berlin, A Single Man und Praterveilchen zählt Isherwood zu den bedeutendsten Schriftstellern seiner Generation.

Für René Blanc-Roos

»Mr. Isherwood?«

»Am Apparat.«

»Mr. Christopher Isherwood?«

»Ja, das bin ich.«

»Wir versuchen Sie schon seit gestern Nachmittag zu erreichen.« Die Stimme am anderen Ende klang vorwurfsvoll.

»Ich war unterwegs.«

»Sie waren unterwegs?« (Nicht sehr überzeugt.)

»Ja.«

»Ah … verstehe …« (Pause, um zu überlegen. Dann plötzlich misstrauisch.) »Das ist aber merkwürdig … Bei Ihnen war ständig belegt. Die ganze Zeit.«

»Wer sind Sie?«, fragte ich, nunmehr etwas gereizt.

»Imperial Bulldog.«

»Wie bitte?«

»Imperial Bulldog Pictures. Ich melde mich im Auftrag von Mr. Chatsworth … Übrigens, waren Sie 1930 nicht mal in Blackpool?«

»Das muss ein Irrtum sein …« Ich wollte schon auflegen. »Ich bin noch nie in Blackpool gewesen.«

»Großartig!« Es folgte ein geschäftsmäßig forsches Lachen. »Dann haben Sie wohl auch nie eine Aufführung von Praterveilchen gesehen?«

»Nein. Aber was hat das mit …?«

»Es wurde nach drei Vorstellungen abgesetzt. Aber Mr. Chatsworth liebt die Musik, und er glaubt, wir können einen Großteil der Texte verwenden … Ihr Agent sagt, Sie kennen sich bestens in Wien aus.«

»Wien? Ich war erst einmal dort. Für eine Woche.«

»Nur eine Woche?« Die Stimme wurde etwas mürrisch. »Aber das ist doch nicht Ihr Ernst? Uns wurde gesagt, Sie hätten dort gelebt

»Wahrscheinlich hat er Berlin gemeint.«

»Oh, Berlin? Aber das ist ja fast dasselbe, nicht wahr? Mr. Chatsworth wünscht sich jemanden mit kontinentalem Anstrich. Ich hörte, Sie sprechen deutsch? Das kommt uns gelegen. Als Regisseur holen wir nämlich Friedrich Bergmann aus Wien.«

»Aha.«

»Friedrich Bergmann, Sie wissen schon.«

»Nie von ihm gehört.«

»Merkwürdig. Er hat auch oft in Berlin gearbeitet. Waren Sie da nicht beim Film?«

»Ich war noch nie irgendwo beim Film.«

»Wirklich nicht?« Einen kurzen Moment lang war die Stimme hörbar bestürzt. Dann wurde sie zuversichtlich. »Ach, na ja … Mr. Chatsworth ist das wahrscheinlich egal. Er engagiert oft Autoren, die keinerlei Erfahrung haben. An Ihrer Stelle würde ich mir deswegen keine Sorgen machen …«

»Hören Sie«, fiel ich ihm ins Wort, »wie kommen Sie eigentlich darauf, dass ich auch nur im Geringsten an der Sache interessiert bin?«

»Ach … Nun ja, wissen Sie, Mr. Isherwood, ich fürchte, das liegt nicht in meiner Zuständigkeit …« Die Stimme redete jetzt sehr schnell und wurde schwächer. »Mr. Katz wird die Angelegenheit zweifellos mit Ihrem Agenten besprechen. Wir werden uns bestimmt einigen. Wiederhören …«

»Aber, warten Sie doch …«

Er hatte aufgelegt. Leicht verärgert schüttelte ich ein paarmal sinnlos den Hörer. Dann nahm ich das Telefonbuch, suchte die Nummer von Imperial Bulldog heraus, wählte den ersten Buchstaben und hielt inne. Ich ging zur Esszimmertür. Meine Mutter und Richard, mein jüngerer Bruder, saßen noch beim Frühstück. Ich blieb in der Tür stehen und zündete mir, ohne die beiden anzusehen und sehr lässig, eine Zigarette an.

»War das Stephen?«, fragte meine Mutter. Sie spürte meistens, wenn ich ein Stichwort brauchte.

»Nein.« Ich schaute mürrisch auf die Kaminuhr und stieß eine dicke Rauchwolke aus. »Nur irgendwelche Filmleute.«

»Filmleute!« Richard stellte klirrend seine Tasse ab. »Oh, Christopher! Wie aufregend!«

Meine Stirnfalten wurden noch tiefer.

Nach einer angemessenen Pause fragte meine Mutter äußerst feinfühlig: »Sollst du etwas für sie schreiben?«

»Anscheinend«, sagte ich gedehnt, so gelangweilt, dass ich kaum sprechen mochte.

»Aber Christopher, das klingt doch aufregend! Wovon handelt der Film? Oder darfst du das nicht erzählen?«

»Ich habe nicht gefragt.«

»Ah, verstehe … Und wann fängst du an?«

»Gar nicht. Ich habe abgelehnt.«

»Du hast abgelehnt? Wie schade!«

»Na ja, so gut wie abgelehnt …«

»Warum? Haben sie dir nicht genug Geld geboten?«

»Über Geld haben wir nicht geredet«, erklärte ich Richard mit leichtem Tadel in der Stimme.

»Nein, natürlich nicht. Das erledigt schließlich dein Agent. Er wird schon wissen, wie man das Letzte aus ihnen herausholt. Wie viel wirst du verlangen?«

»Ich hab’s doch schon gesagt. Ich habe abgelehnt.«

Eine weitere Pause folgte. Dann sagte meine Mutter in ihrem unverbindlichsten Plauderton: »Aber heutzutage werden die Filme ja auch immer dümmlicher. Kein Wunder, dass sie keine guten Autoren mehr finden, die für sie arbeiten, ganz gleich, wie viel sie zahlen.«

Ich antwortete nicht, aber meine Miene wurde etwas freundlicher.

»Wahrscheinlich rufen sie dich in ein paar Minuten wieder an«, sagte Richard hoffnungsvoll.

»Warum, um Himmels willen, sollten sie das tun?«

»Na, offenbar wollen sie dich unbedingt haben, sonst hätten sie nicht so früh angerufen. Außerdem finden sich Filmleute doch nie mit einem ›nein‹ ab.«

»Wahrscheinlich versuchen sie es schon beim Nächsten auf der Liste.« Ich gähnte nicht besonders überzeugend. »Sei’s drum. Ich sollte wohl lieber los und mich mit Kapitel elf herumschlagen.«

»Deine Gelassenheit ist wirklich bewundernswert«, sagte Richard mit jenem absoluten Mangel an Sarkasmus, der seine Bemerkungen oft wie Sophokles-Sätze klingen ließ. »Ich an deiner Stelle wäre mit Sicherheit so aufgeregt, dass ich den ganzen Tag keine Zeile schreiben könnte.«

Ich murmelte: »Dann bis später«, gähnte wieder, streckte mich, wollte zur Tür und blieb, von meiner Lustlosigkeit gehemmt, am Büffet stehen. Ich fing an, mit dem Schlüssel der Besteckschublade zu spielen und schloss zu, auf, zu. Dann putzte ich mir die Nase.

»Willst du nicht vorher noch einen Tee mit uns trinken?«, fragte meine Mutter, die meinen Auftritt mit einem leichten Lächeln beobachtet hatte.

»Oh ja, komm, Christopher! Er ist noch brühend heiß.«

Ohne zu antworten, setzte ich mich auf meinen Stuhl am Tisch. Die Morgenzeitung lag noch da, wo ich sie vor einer halben Stunde hatte fallen lassen, zerknittert und schlaff, ausgeblutetes Papier. Deutschlands Rückzug aus dem Völkerbund war noch immer das bestimmende Thema. Ein Experte sagte für irgendwann im nächsten Jahr einen Präventivkrieg gegen Hitler voraus, wenn die Maginotlinie unüberwindbar wäre. Goebbels erklärte dem deutschen Volk, dass es bei der Wahl am elften November nur ein Ja gäbe. Der Gouverneur Ruby Laffon aus Kentucky hatte Mae West zum Colonel ernannt.

»Der Zahnarzt von Cousine Edith«, sagte meine Mutter und reichte mir die Teetasse, »ist sich ziemlich sicher, dass Hitler bald in Österreich einmarschiert.«

»Ach wirklich?« Ich trank einen großen Schluck Tee und lehnte mich zurück, mit einem Mal bestens gelaunt. »Nun, einem Zahnarzt stehen zweifellos Informationsquellen zur Verfügung, die unsereinem verschlossen sind. Mir in meiner Unwissenheit leuchtet allerdings beim besten Willen nicht ein, wie …«

Ich war nicht mehr aufzuhalten. Meine Mutter schenkte Richard und sich frischen Tee nach. Lächelnd reichten sie einander Milch und Zucker und lehnten sich bequem auf ihren Stühlen zurück, wie Leute in einem Restaurant, wenn das Orchester ein Lied anstimmt, das alle auswendig kennen.

Nach zehn Minuten hatte ich sämtliche Argumente aufgezählt und entkräftet, die der Zahnarzt hätte anführen können, und noch einige mehr. Ich benutzte viele meiner Lieblingswörter: Gauleiter, Solidarität, Demarche, Dialektik, Gleichschaltung, Infiltration, Anschluss, Realismus, Tranche, Kader. Und nach einer Pause, in der ich mir noch eine Zigarette anzündete und Luft holte, skizzierte ich ziemlich ausführlich die Geschichte des Nationalsozialismus seit dem Münchner Putsch.

Das Telefon klingelte.

»Immer das Gleiche!«, sagte Richard höflich. »Jedes Mal, wenn du etwas Interessantes erzählst, stört das blöde Ding. Geh einfach nicht ran. Die geben bestimmt bald auf …«

Ich war aufgesprungen und hatte dabei fast den Stuhl umgestoßen, stand bereits im Flur und hob ab.

»Hallo«, keuchte ich.

Keine Antwort. Aber der Hörer am anderen Ende der Leitung war abgenommen worden – ich hörte ferne Stimmen, die allem Anschein nach heftig stritten, und Radiomusik im Hintergrund.

»Hallo?«, wiederholte ich.

Die Stimmen entfernten sich noch ein Stück.

»Hallo!«, brüllte ich.

Vielleicht hörten sie mich ja doch, denn der laute Streit und die Musik verstummten plötzlich, als hätte jemand eine Hand über die Sprechmuschel gelegt.

»Zum Teufel mit euch allen«, sagte ich.

Das Mundstück wurde kurz freigegeben, denn ich hörte, wie eine knurrige Männerstimme mit breitem ausländischem Akzent sagte: »So etwas Hirnverbranntes.«

»Hallo!«, brüllte ich. »Hallo! Hallo! Hallo! Hallo! Hallo!«

»Warten Sie«, sagte die ausländische Stimme sehr schroff, wie zu einem nörgelnden Kind.

»Ich werde verdammt noch mal nicht warten!«, schrie ich zurück. Es klang so albern, dass ich lachen musste.

Die Hand entfernte sich wieder von der Sprechmuschel, es folgte ein Schwall aus Worten und Musik, als hätte sich beides in der Pause aufgestaut und bräche sich jetzt lautstark Bahn.

»Hallo«, sagte die ausländische Stimme schnell und ungeduldig. »Hallo, hallo!«

»Hallo?«

»Hallo? Hier ist Dr. Bergmann.«

»Guten Morgen, Dr. Bergmann.«

»Ja? Guten Morgen. Hallo? Hallo, ich möchte bitte sofort mit Mr. Isherwood sprechen.«

»Am Apparat.«

»Mr. Kriestoffer Ischerwutt …« Dr. Bergmann sagte das sehr sorgfältig und betont. Wahrscheinlich las er den Namen aus einem Notizbuch ab.

»Ich bin da.«

»Ja, ja …« Bergmann war offenbar am Ende seiner Geduld. »Ich möchte Mr. Isherwood persönlich sprechen. Bitte holen Sie ihn.«

»Ich bin Christopher Isherwood«, sagte ich auf Deutsch. »Ich spreche schon die ganze Zeit mit Ihnen.«

»Ah – Sie sind Mr. Isherwood! Wunderbar! Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Und Sie sprechen meine Sprache? Bravo! Endlich ein vernünftiger Mensch! Sie können sich nicht vorstellen, wie froh ich bin, Ihre Stimme zu hören! Sagen Sie, mein lieber Freund, können Sie sofort zu mir kommen?«

Ich wurde umgehend vorsichtig. »Sie meinen heute?«

»Ich meine jetzt, so schnell wie möglich, auf der Stelle.«

»Heute Vormittag habe ich schrecklich viel zu tun …«, setzte ich zögernd an. Aber Dr. Bergmann schnitt mir mit einem Seufzer, der mehr einem lauten, langen Ächzen glich, das Wort ab.

»Das ist zu dumm. Schrecklich. Ich geb’s auf.«

»Heute Nachmittag könnte ich es vielleicht schaffen …«

Bergmann ging überhaupt nicht darauf ein. »Hoffnungslos«, murmelte er leise. »Mutterseelenallein in dieser verdammten idiotischen Stadt. Niemand versteht auch nur ein Wort. Schrecklich. Nichts zu machen.«

»Könnten nicht Sie hierherkommen?«, schlug ich vor.

»Nein, nein. Nichts zu machen. Ist egal. Alles zu schwierig. Schrecklich.«

Es entstand eine Pause höchster Spannung. Ich biss mir auf die Lippe. Ich dachte an Kapitel elf. Ich merkte, wie ich schwach wurde. Ach, zum Teufel mit dem Mann!

Schließlich fragte ich widerstrebend: »Wo sind Sie denn?«

Ich hörte, wie er sich an jemanden wandte und streitlustig knurrte: »Wo bin ich?« Die Antwort bekam ich nicht mit. Dann Bergmanns Knurren: »Verstehe kein Wort. Sagen Sie’s ihm.«

Eine neue Stimme, in wohlvertrautem Cockney:

»Hallo, Sir. Hier ist das Cowan’s Hotel in Bishopsgate. Wir sind gleich gegenüber der U-Bahn-Station. Nicht zu verfehlen.«

»Danke«, sagte ich. »Ich bin gleich da. Wiederh…«

Ich hörte Bergmanns hastiges: »Moment! Warten Sie!« Nach einem kurzen heftigen Gerangel – so jedenfalls hörte es sich an – bekam er den Hörer zu fassen und stieß ein tiefes Schnauben aus. »Sagen Sie, mein Freund, wann werden Sie hier sein?«

»So ungefähr in einer Stunde.«

»Eine Stunde? Das ist sehr lang. Wie kommen Sie her?«

»Mit der U-Bahn.«

»Wäre es nicht besser, Sie nehmen ein Taxi?«

»Nein«, antwortete ich bestimmt, während ich in Gedanken die Fahrtkosten von Kensington zur Liverpool Street ausrechnete: »Das würde nichts bringen.«

»Warum nicht?«

»Es würde genauso lange dauern wie mit der U-Bahn. Der ganze Verkehr.«

»Ah, der Verkehr. Schrecklich.« Ein unendlich tiefes Schnauben, wie von einem sterbenden Wal, der gerade für immer auf den Meeresgrund sinkt.

»Keine Sorge«, sagte ich gut gelaunt. Ich mochte ihn jetzt beinahe, nachdem ich mich in der Sache mit dem Taxi durchgesetzt hatte. »Ich bin schon bald bei Ihnen.«

Bergmann brummte leise. Offenbar glaubte er mir nicht.

»Adieu, mein Freund.«

»Auf Wiedersehen«, antwortete ich auf Deutsch. »… Nein, das wäre falsch, oder? Ich habe Sie ja noch nie gesehen.«

Aber er hatte schon aufgelegt.

»Waren das wieder die Filmleute?«, fragte Richard, als ich einen Blick ins Esszimmer warf.

»Nein. Das heißt doch, in gewisser Weise. Erzähle ich euch alles später. Ich muss mich beeilen. Ach, und Mummy, es könnte sein, dass ich zum Mittagessen etwas später komme.«

 

Cowan’s Hotel lag natürlich nicht gleich gegenüber der U-Bahn-Station. Es stimmt ja nie, wenn jemand das sagt. Nachdem man mich zweimal in die falsche Richtung geschickt hatte und ich fast von einem Bus überfahren worden wäre, kam ich schlecht gelaunt an. Außerdem war ich außer Atem. Obwohl ich mir vorgenommen hatte, die Sache mit Bergmann ruhig anzugehen, war ich die ganze Strecke von der U-Bahn gerannt.

Es war ein kleines Hotel. Der Portier stand an der Tür, als ich keuchend ankam. Er hatte nach mir Ausschau gehalten.

»Sie sind Mr. Usherwood, nicht wahr? Der Doktor wird sich freuen, Sie zu sehen. Er hatte ziemlich viel Ärger. Ist einen Tag früher als erwartet angekommen. Ein Missverständnis. Niemand hat ihn vom Schiff abgeholt. Probleme mit dem Pass. Probleme mit dem Zoll. Ein Koffer hat gefehlt. Die übliche Verwechslung. So was kommt halt manchmal vor.«

»Wo ist er jetzt? Oben?«

»Nein, Sir. Ist kurz los, um Zigaretten zu holen. Unsere haben ihm anscheinend nicht geschmeckt. Wenn man die vom Kontinent gewohnt ist, mag man wahrscheinlich keine anderen mehr. Die sind milder.«

»Na schön. Ich warte.«

»Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, gehen Sie ihm lieber hinterher. Sie wissen ja, wie Ausländer sind, die sich in der Stadt nicht auskennen. Die verlaufen sich mitten auf dem Trafalgar Square. Nicht, dass es uns an ihrer Stelle nicht genauso ergehen würde. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Er ist schon über zwanzig Minuten weg.«

»Welche Richtung?«

»Links um die Ecke, das dritte Haus. Da erwischen Sie ihn bestimmt.«

»Wie sieht er aus?«

Meine Frage schien den Portier zu amüsieren. »Sie werden ihn sofort erkennen, wenn Sie ihn sehen, Sir. Er ist unverwechselbar.«

Die junge Verkäuferin in dem kleinen Tabakladen war genauso mitteilsam. Ich musste Dr. Bergmann gar nicht beschreiben. Sein Besuch hatte großen Eindruck hinterlassen.

»Der ist wirklich ein Unikum«, kicherte sie. »Er wollte wissen, worüber ich hier den ganzen Tag so nachdenke. Mir bleibt nicht viel Zeit zum Nachdenken, hab ich ihm gesagt … Dann haben wir uns über Träume unterhalten.«

Bergmann hatte ihr von einem Arzt erzählt, irgendwo im Ausland, der behauptete, dass Träume nicht das bedeuten, was man glaubt. Er schien das für eine große wissenschaftliche Erkenntnis zu halten, was die Verkäuferin lustig fand und ihr ein leichtes Gefühl der Überlegenheit gab, weil sie das ja schon immer gewusst hatte. Zu Hause hatte sie ein Buch, das früher ihrer Tante gehörte. Es hieß Das Traumlexikon der Königin von Saba und war geschrieben worden, lange bevor der ausländische Doktor geboren war.

»Das ist wirklich interessant. Angenommen, Sie träumen von Würstchen – das bedeutet Streit. Außer Sie essen sie. Dann bedeutet es Liebe oder Gesundheit, genau wie Niesen und Pilze. Vor ein paar Tagen habe ich geträumt, dass ich meine Strümpfe ausziehe, und am nächsten Morgen schickt mir mein Bruder doch tatsächlich eine Postanweisung über fünf Shilling und sechs Pence. Natürlich gehen sie nicht immer so in Erfüllung. Jedenfalls nicht sofort …«

An dieser Stelle gelang es mir, sie zu unterbrechen und zu fragen, ob sie wisse, wohin Bergmann gegangen sei.

Er habe irgendeine Zeitschrift gewollt, erwiderte sie. Darum habe sie ihn zu Mitchell’s geschickt, ganz unten am Ende der Straße. Ich könne es nicht verfehlen.

»Und vielleicht nehmen Sie ihm seine Zigaretten mit«, fügte sie hinzu. »Er hat sie auf dem Ladentisch liegen lassen.«

Auch bei Mitchell’s erinnerte man sich an den ausländischen Herrn, allerdings weniger gern als im Tabakladen. Offenbar hatte es einen heftigen Streit gegeben. Bergmann hatte die Neue Weltbühne verlangt und ziemlich ungehalten reagiert, als der Verkäufer mit gutem Recht annahm, es handle sich um eine Theaterzeitschrift, und ihm stattdessen Die Bühne oder Die Ära angeboten hatte. Ich konnte mir sein verknurrtes: »Hoffnungslos. Nichts zu machen«, geradezu vorstellen. Schließlich hatte er sich zu der Erklärung herabgelassen, dass Die neue Weltbühne eine deutsche Zeitschrift sei, in der es um Politik ging. Der Verkäufer hatte ihm empfohlen, es am Zeitungsstand im Bahnhof zu versuchen.

An diesem Punkt verlor ich die Nerven. Die ganze Sache artete langsam in eine Menschenjagd aus, bei der ich wie ein Bluthund von einer Spur zur nächsten rannte. Erst als ich keuchend den Zeitungsstand erreichte, wurde mir klar, wie dumm ich gewesen war. Die Verkäufer waren viel zu beschäftigt, als dass ihnen ein Mann mit ausländischem Akzent hätte auffallen können; in der letzten halben Stunde waren mit Sicherheit ohnehin mehrere da gewesen. Ich sah mich verstört um, redete zwei merkwürdig aussehende Fremde an, die mich argwöhnisch musterten und eilte zurück ins Hotel.

Wieder erwartete mich der Portier.

»So ein Pech, Sir.« Sein Verhalten glich dem eines Zuschauers, der den Verlierer in einem Hindernisrennen bedauert.

»Was soll das heißen? Ist er noch nicht zurück?«

»Er war da und ist gleich wieder los. Keine Minute, nachdem sie weg waren. ›Wo ist er?‹, fragte er genau wie Sie. Dann klingelte das Telefon. Es war ein Herr aus dem Studio. Wir hatten den ganzen Vormittag versucht, ihn zu erreichen. Er wollte, dass der Doktor so schnell wie möglich hinfährt. Ich sagte, Sie kämen zurück, aber er wollte nicht warten. So ist er halt, Sir – die Ungeduld in Person. Also habe ich ihn in ein Taxi gesetzt.«

»Hat er keine Nachricht hinterlassen?«

»Doch, Sir. Sie sollen ihn zum Mittagessen im Café Royal treffen. Punkt eins.«

»Also, jetzt reicht’s mir.«

Ich ging in die Eingangshalle, setzte mich in einen Sessel und wischte mir die Stirn ab. Das war zu viel. Was bildeten die sich eigentlich ein? Das sollte mir eine Lehre sein. Eines stand fest: Von mir würden sie nichts mehr hören. Selbst dann nicht, wenn sie zu mir kommen und sich den ganzen Tag vor meine Haustür setzen würden.

 

Sie saßen im Grill Room.