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Eine Publikation

der Arbeitsstelle Holocaustliteratur (Universität Gießen)

und des Zentrums für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte

München

Józef Zelkowicz

In diesen albtraumhaften Tagen

Tagebuchaufzeichnungen
aus dem Getto Lodz/Litzmannstadt,
September 1942

 

Herausgegeben und kommentiert von
Angela Genger, Andrea Löw und Sascha Feuchert

 

Aus dem Jiddischen übersetzt von
Susan Hiep

 

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Die Publikation wurde aus Mitteln der

Ernst Ludwig Chambré-Stiftung zu Lich und der

Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur

großzügig unterstützt

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2015
www.wallstein-verlag.de
Vom Verlag gesetzt aus der Sabon
Umschlag: Susanne Gerhards, Düsseldorf
Umschlagbild: Józef Zelkowicz, Tagebuch, Sig. 302/111, S. 601,
Jüdisches Historisches Institut in Warschau, Polen.
Druck und Verarbeitung: Hubert & Co, Göttingen
ISBN (Print) 978-3-8353-1116-9
ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-2796-2
ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-2797-9

Inhalt

 

ANGELA GENGER
Nur ein Textfragment?
Vorbemerkung zur deutschen Edition von Józef Zelkowicz’
»In yene koshmarne teg« – »In diesen albtraumhaften Tagen«

JÓZEF ZELKOWICZ
In diesen albtraumhaften Tagen

ANDREA LÖW
Das Getto Litzmannstadt (Lodz), Józef Zelkowicz und die
»Allgemeine Gehsperre« im September 1942

SASCHA FEUCHERT
Józef Zelkowicz, das Archiv des »Ältesten der Juden von Litzmannstadt«
und die Bedeutung des Schreibens im Getto

SUSAN HIEP
»In yene koshmarne teg« – Zur Übertragung aus dem Jiddischen

ANGELA GENGER

Nur ein Textfragment?

Vorbemerkung zur deutschen Edition von Józef Zelkowicz’
»In yene koshmarne teg« – »In diesen albtraumhaften Tagen«

1940 errichteten die nationalsozialistischen Besatzer in der polnischen Stadt Łódź ein Großgetto. Verwaltungsmäßig wurde die Industriestadt dem Warthegau zugeschlagen. In dem Getto wurden im Herbst 1941 auch Juden aus dem sog. Altreich: aus Berlin, Emden, Düsseldorf, Köln und aus Luxemburg, Wien und Prag »eingesiedelt«, wie es in der Gettosprache hieß. In den Jahren 2002 bis 2009 arbeitete ein Team der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf an einer Studie zur ersten Großdeportation aus dem Regierungsbezirk Düsseldorf1 in dieses Getto. Ziel der Studie war, das Schicksal der Deportierten im Getto von Łódź so weit wie möglich zu rekonstruieren. Dazu wurden fast 100 Archive und möglichst alle bis 2009 auf Deutsch oder Englisch veröffentlichte Literatur genutzt; darunter auch das von Michal Unger edierte Werk: Józef Zelkowicz, In Those Terrible Days. Writings from the Lodz Ghetto, Jerusalem 2002.

Kaum ein Getto ist inzwischen so gut erforscht wie das Litzmannstadts, wie die Stadt ab April 1940 genannt wurde. Neben wissenschaftlichen Arbeiten wurden große Quellenbestände ediert. Ebenso liegen in verschiedenen Sprachen Tagebücher, Erzählungen und Erinnerungen vor. Eine der publizierten Quellen ist auch der erwähnte Band mit Texten von Józef Zelkowicz. Diese Texte werden in deutschen Publikationen in der Regel aus dem Englischen übersetzt zitiert. Die Sprache des Autors Zelkowicz ist Jiddisch, das dem Deutschen näher ist als jede andere Sprache. Das gab den Anstoß, eine Übersetzung aus dem Jiddischen ins Deutsche in Auftrag zu geben. Susan Hiep legte 2008 für die Düsseldorfer Studie eine Übertragung in erster Fassung vor.

Die nah am jiddischen Klang und Idiom bleibende Übertragung erschloss den Text völlig neu, und es bot sich an, diese Übertragung zu publizieren, um ihn so einer weiteren, auch wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Es geht also nicht um eine neue Studie, sondern um eine uns notwendig erscheinende Ergänzung bisher vorliegender Literatur. Sie handelt von einer sehr kurzen, für die Geschichte des Gettos allerdings zentralen Zeitspanne: den ersten Septembertagen des Jahres 1942.

In den frühen Morgenstunden des 1. September 1942 umstellten jüdische Ordnungsdienstmänner die Straßen rund um die Krankenhäuser des Gettos, und deutsche Ordnungspolizei und Gestapobeamte unter Leitung von Kommissar Günther Fuchs begannen mit der Räumung. Die Kranken wurden aus den Betten gezerrt und auf Lastwagen gestoßen oder geworfen. Diejenigen, die zu fliehen versuchten, wurden ergriffen, manche sofort erschossen, einigen gelang dennoch die Flucht. Am nächsten Tag ging die »Aktion« weiter. 1.253 Kranke wurden an diesen beiden Tagen erfasst und mit LKWs weggebracht. Keiner wusste wohin.

Am 4. September 1942 wurde bekannt, dass alle Kinder, die jünger als 10 Jahre alt, alle Erwachsenen, die älter als 65 Jahre alt waren, und alle »Arbeitsunfähigen« »ausgesiedelt« werden sollten. Was »Aussiedlung« hieß, war zu diesem Zeitpunkt im Getto den meisten klar: Es bedeutete den Tod. Am folgenden Tag, dem 5. September 1942, wurde mit der Bekanntmachung Nr. 391 eine »Allgemeine Gehsperre« über das Getto verhängt, beginnend um 17 Uhr. Zur Dauer hieß es: »bis auf Widerruf«. Alle Fabriken und Arbeitsressorts blieben geschlossen, die Arbeiter und Arbeiterinnen hatten sich in ihre Wohnungen zu begeben. Damit entfielen die zusätzlichen Suppen in den Werkstätten zu den kargen wöchentlichen Rationen. Auch Lebensmittel hatte man nur bis zur »Sperre« einkaufen können. Die Hausverwalter mussten die Hausbücher, die Bewohner ihre Arbeitskarten bereithalten.

Die Bewohner jedes Hauses mussten sich, aufgefordert durch die Abgabe eines Schusses, im Hof oder vor dem Haus aufstellen. Eine Kommission aus Gestapo, Schutzpolizei, jüdischem Ordnungsdienst und anderen »Freiwilligen«, einem Arzt und einer Krankenschwester selektierte allen Berichten zufolge nach Augenschein. Die »Freigesprochenen« wurden auf die eine Seite, die anderen zu den bereitstehenden Lastwagen geschickt. In einigen Straßen durften die Bewohner wieder in ihre Wohnungen zurückkehren. Aber es passierte auch, dass deutsche Polizei und jüdischer Ordnungsdienst zurückkehrten und Wohnung für Wohnung noch einmal inspizierten. Bis dahin Gerettete konnten nun zu den »Auszusiedelnden« geschickt werden. Fluchtversuche oder jede Art von Widerständigkeit endeten in der Regel mit Erschießung. Wie viele Menschen in den Tagen der Sperre erschossen wurden, wie viele mangels ärztlicher Versorgung oder an Hunger starben, ist nicht geklärt. Insgesamt starben in dieser Zeit 572 Männer, Frauen und Kinder, 15.685 wurden für die »Aussiedlung« selektiert.

Es gibt eine Reihe von Beschreibungen dieser Septembertage. Aber keine Quelle ist so ausführlich wie Zelkowicz’ Darstellung der Tage bis zur Sperre und danach. Ihre gleichzeitige literarische Qualität kommt in der hier vorliegenden Fassung voll zum Tragen. Diese Wirkung sollte nicht durch viele Anmerkungen und einordnende Hinweise gestört werden. Deswegen beschränken sich Herausgeber und Übersetzerin auf drei kleinere erläuternde Artikel und einige erklärende Endnoten im Anschluss an Zelkowicz’ Text.

Die historische Einordnung in die Geschichte des Gettos von seiner Entstehung bis zu seiner Auflösung nimmt Andrea Löw vor. Sie bezieht wiederholt verschiedene Texte von Zelkowicz für die Erschließung der Atmosphäre ein, damit schon auf den Kern dieser Publikation eingehend: der überlieferten Literatur eines Mitleidenden.

Zelkowicz war nicht der Einzige, der im und über das Getto schrieb. Er gehörte selbst zu den Mitverfassern der Chronik des Gettos und anderer schriftlicher Überlieferungen. Auf die aus dem »Archiv des Ältesten der Juden« hervorgegangenen Quellen geht Sascha Feuchert ein.

Während der Vorbereitung dieser Publikation tauchte die Frage auf, welche Fassung der Übersetzung eigentlich zugrunde lag. Michal Unger druckte in ihrem Buch eine handschriftliche Seite aus dem »Tagebuch« genannten Manuskript aus dem Jüdischen Historischen Institut in Warschau ab. So wird auch das Typoskript, das der Düsseldorfer Mahn- und Gedenkstätte in Kopie vom YIVO-Institut in New York zur Verfügung gestellt wurde, bezeichnet. Vieles spricht aber dafür, dass es sich um einen bearbeiteten Text handelt, den der Autor noch selbst in eine ihm sinnvoll erscheinende Form gebracht und abgeschrieben hat, dass er diese Arbeit aber nicht beenden konnte. Oder die Fortsetzung ging verloren. Zur Arbeit an der Abgleichung von Manuskript und Typoskript und zur Arbeit an der Übertragung gibt die Übersetzerin Susan Hiep einige Hinweise.

Überliefert von diesem Text »In yene koshmarne teg« sind fünf Kapitel, die chronologisch die Tage vom 1. bis 6. September umfassen und mit detaillierten Zwischenüberschriften versehen wurden. So beginnt Zelkowicz Kapitel 1: »Dienstag, 1. September 1942: Die Krankenhäuser werden geräumt« und gibt die Gerüchteküche des Gettos wieder unter der Überschrift »Was man sich erzählt«.

Bereits unter »Mittwoch, 2. September 1942« stellt der Autor unter der Überschrift »Nicht nur aus den Krankenhäusern …« fest, dass es auch die Kinder trifft, ebenso die im Zentralgefängnis Einsitzenden sowie neu »Eingesiedelte« aus den Provinzen.

Und am »Donnerstag, 3. September 1942« stimmen die Überschriften »Schreckliche Panik«, »Man hat sich geeinigt«, »Man gewöhnt sich an alles« und »Gevalt! Was kommt als Nächstes?!« auf das, was kommt, ein. Unter »Freitag, 4. September 1942« heißt es dann: »Die Deportation der Kinder und Alten – eine Tatsache«. In der Nacht zuvor wurde, so berichtet schon die nächste Überschrift: »Die Akte des Einwohnerverzeichnisses … versiegelt«. Warum? »… damit keine Geburtsdaten gefälscht werden konnten. Das Kind soll nicht älter und der Alte nicht jünger gemacht werden.« Aber es gibt Ausnahmen: »Schutz für die Familien der Feuerwehrleute, Polizei und Arbeits-Ressort-Leitung«. Im Abschnitt »Wir werden Genaueres erfahren« werden die Reden von Dawid Warszawski und Stanisław Jakobson zusammengefasst, und die des Judenältesten Mordechai Rumkowski überschreibt der Autor mit: »Der Präsident weint.« »Was wird mit den Kindern geschehen?« Keiner der Redner hat dazu etwas gesagt. Hoffnung gibt die Tatsache, dass zwanzigtausend Juden aus umliegenden Orten ins Getto kommen sollen – vielleicht werden die »Ausgesiedelten« in deren Heimatorte gebracht?

In Kapitel 2 steht eine Art Miniatur, eine kleine Biografie am Anfang: »Der Fall Rosa Steiner«. Dann beginnt der Samstag, 5. September 1942 mit der dramatischen Feststellung: »Im Getto gibt es nichts mehr zu essen.« Die verzweifelte Suche nach Essbarem wird weiter ausgeführt in dem Abschnitt »Die Kartoffeljagd«.

Noch vor Beginn der »Sperre« heißt es dann: »Es hat begonnen.« Die ersten Altersheime werden »geleert«, in der Rybna laden sie schon Kinder, Kranke und Alte in die Wagen. Das geschieht nicht ohne Gegenwehr. Aber: »Sie greifen zu.« In dem Text von Zelkowicz abgedruckt wird die erwähnte Bekanntmachung Nr. 391 zur »Ausgangssperre«. Dass die Arbeit in dieser Zeit ruht, gibt im Getto Anlass zur Frage: Bedeutet das nicht, dass die Juden nicht gebraucht werden?

Kapitel 4 gibt gleichermaßen Informationen zum »Sonderpass« und »Man wird auch hängen« wie die Schilderung von Einzelschicksalen in vier Häusern.

Kapitel 5 beginnt am Sonntag, 6. September 1942 mit der »schrecklichen, langen Nacht« und dem Vorgehen der deutschen Kommission, begleitet von jüdischen Polizisten, Feuerwehrmännern, einigen aus der »Weißen Garde«, einem Arzt und einer Krankenschwester. Es ist das längste Kapitel, das sowohl Hinweise auf den Aufenthalt der »Freigestellten« gibt als auch erschütternde Einzelgeschichten erzählt von Müttern, die ihre Kinder nicht herausgeben wollen oder die »verrückt werden«, als ihnen ihre Kinder genommen werden. Mitten in der Beschreibung von Rivka K., »einer blonden, warmherzigen Frau«, bricht der überlieferte Text ab. So, wie er geschrieben und aufgebaut wurde, liegt die Vermutung nahe, dass das restliche Manuskript oder Typoskript verloren ging. Was erhalten blieb, ist eine ausführliche und bewegende Schilderung jener »albtraumhaften Tage« im September 1942 im Getto Litzmannstadt, die hier erstmals vollständig aus dem Jiddischen ins Deutsche übertragen publiziert wird.

 

 

 

JÓZEF ZELKOWICZ

In diesen albtraumhaften Tagen

 

Kapitel 1

Dienstag, 1. September 1942

Die Krankenhäuser werden geräumt

Am Morgen des Tages, an dem sich der Kriegsbeginn zum dritten Mal jährte, wurde das Getto wie von einem Blitz aus heiterem Himmel getroffen. Schon in der Früh, um sieben Uhr, fuhren Lastwagen vor die Krankenhäuser auf der Lagiewnicka-, Wesola- und Drewnowskastraße, und man begann damit, die sich dort befindenden Kranken aufzuladen.

Anfangs waren die Menschen nicht sonderlich interessiert. Schon vor längerer Zeit sprach man davon, dass die Krankengebäude evakuiert werden sollten. Das Getto könne sich einen solchen Luxus nicht erlauben, Kranke in Gebäuden auszuhalten, in denen Arbeitsressorts1 verteilt werden könnten. Man sprach sogar davon, dass die Baracken, die auf der Krawietzkastraße aufgestellt werden, eben jene Gebäude ersetzen sollten und die Kranken dorthin umgesiedelt werden müssten. Während die Wagen vorfuhren und man damit begann, die Kranken aufzuladen, sahen die Leute darin jene vorhergesagte Evakuierung und nahmen sich diese Angelegenheit nicht sonderlich zu Herzen.

Wie es so oft der Fall war, versammelten sich trotzdem Schaulustige vor den Krankenhäusern, die einfach nur dem Treiben zusehen wollten, das sich an diesem schönen und klaren Morgen vor ihren Augen abspielte. Als jedoch die Zahl der Schaulustigen zunahm und die jüdische Polizei2 damit begann, sie auseinanderzutreiben, wurden die gaffenden Augen von Sekunde zu Sekunde größer, die Blicke starrender, und wie aus hungrigen Mäulern ergossen sich Fragen:

Warum, in Gottes Namen, benutzt man plötzlich für rein jüdische Zwecke Militärlastwagen?
Warum, in Gottes Namen, wirft man die Kranken wie Stücke unkoscheren Fleischs auf die Lastwagen?
Wohin und in welche Baracken wird man sie bringen? Die Baracken auf der Krawietzkastraße sind doch noch längst nicht fertiggestellt?!

Obwohl niemand auf diese Fragen eine direkte Antwort gab, gefror allen das Blut in den Adern. Die Antwort ergab sich wie von selbst, und sie traf jeden wie einen Schlag auf den Kopf:

Während des Krieges wurden bereits zwei jüdische Krankenhäuser »evakuiert« und geräumt: Einmal die Nervenheilanstalt des Poznanski-Hospitals3 im März 1940, welches damals noch in der Stadt lag, und das zweite Mal am 17. Juli 1941, als die Klinik für Geisteskranke auf der Wesolastraße geräumt wurde.4 Und weil bis zum heutigen Tage niemand der Gettobewohner irgendeine Nachricht von den Evakuierten aus den genannten Hospitälern erhalten hat, ist es nicht verwunderlich, dass jedem das Grauen der Situation unerbittlich bewusst wurde:

»Man führt schon wieder eine Säuberung durch!« – Im Getto ist kein Platz für Kranke und Schmarotzer. Im Getto dürfen nur Menschen leben, die arbeiten können. Diejenigen, die nicht arbeiten können, gehen zum »shmelts«5.

Der Morgen des Tages, an dem sich der Kriegsbeginn zum dritten Mal jährte, war von Tränen erfüllt, die aber nicht mehr vermochten, als den Staub und Schmutz von den Straßen des Gettos zu spülen.

Man weiß nicht, wie und durch wen sich die Nachricht »Sie holen die Kranken aus den Krankenhäusern« so schnell wie ein Lauffeuer im Getto verbreiten konnte, aber es begann ein beängstigender und schrecklicher Teufelstanz. Wer von den Gettobewohnern hat nicht irgendjemanden im Krankenhaus: eine Frau, ein Kind, Vater, Mutter, einen Verwandten oder Gönner?

Man geht nicht über die Straßen – man läuft! Aber wer hat schon Kraft und Zeit zu laufen? Niemand! Man wird getragen. Man weiß nicht warum, aber man fliegt. Die Flügel sind gestutzt, aber man bewegt sich trotzdem fort. Geschwollen sind die Füße, aber sie bewegen sich – unerklärlich kurz wird der Weg. Häuser und Straßen verschwinden. Alles, das gesamte Getto – jung und alt –, kennt jetzt nur noch eine Richtung und –

Es ist nicht die Richtung zur Lebensmittel-Kooperative,6 nicht die zum Metzger, nicht zum Wurstkeller, auch nicht die zum Kartoffelplatz. Heute ist das Getto gefährlich, und man ist krank vor Angst. Das Getto kennt heute nur die eine Richtung: zum Krankenhaus.

Warum rennt man? Man will dabei sein. Man will den nahestehenden Kranken noch ein letztes Mal sehen. Vielleicht wird es ihm danach, vielleicht wird es uns danach leichter sein zu sterben. Vielleicht ist es sogar möglich, jemanden zu retten.

Die Straßen um die Krankenhäuser, ihre Durch- und Zugänge sind gesperrt. Hunderte jüdische Polizisten bewachen sie. Die Henker können in Ruhe ihre Arbeit ausführen. Niemand wird sie stören. Das Klagen aus der Ferne wird wohl kaum an sie heranreichen. Wehgeschrei kann nur menschliche Herzen berühren. Tiere werden sogar durch Gejammer und Geschrei noch gereizter, noch wilder. Die Flügel derjenigen, die jetzt herbeigelaufen kommen, sind nun wahrlich gestutzt. Die Beine – aus Holz. Sie rühren sich nicht mehr von der Stelle. Nur noch die Hände sind beweglich. Sie ringen ihre Hände, und ihre Münder geben merkwürdige und primitive Laute von sich, gar unmenschliche Klänge. Und die Augen, so als hätte sie jemand dazu angestiftet, vergossen endlose Tränen. Es war unbegreiflich, woher diese hungrigen, schwachen und ausgelaugten Menschen die Kraft nahmen, so viele Tränen zu vergießen.

Unter den bettlägerigen Kranken, die sich gar nicht mehr bewegen können, weil sie entweder ein Bein oder einen Arm in Gips haben oder völlig geschwächt sind, und unter jenen, die im Fieber liegen, verbreitet sich schreckliche Panik. Sie werden wahllos, so wie sie dort gehen und stehen – wie Kälber auf dem Weg zum Schlachthof –, auf den Wagen geworfen. Unter jenen Kranken, die sich noch bewegen können, herrscht eine fieberhafte Unruhe. Man versucht sich zu retten. Man springt aus den Stockwerken, man springt über Zäune oder versteckt sich im Keller. Man mischt sich unter das Krankenhauspersonal und versucht sich so zu retten und …

Viele von ihnen, die ihre Nerven und ihre Ruhe bewahren konnten, haben sich auf diese eine oder andere Weise retten können.

Was man sich erzählt

Wie über andere Vorkommnisse im Getto gab es auch über diese Krankenhaus-Evakuierung viele Gerüchte und Versionen.

Eine Version besagt, dass der Präses7 von dieser Verfügung gewusst haben soll, welche über das jüdische Blut besiegelt wurde, und er soll dies sogar zuvor angekündigt haben. In den letzten Tagen soll er während seiner Besuche in den etlichen Arbeitsressorts deutlich gesagt haben: »Schwarze Wolken brauen sich über den jüdischen Köpfen zusammen …«

Eine weitere Version lautet, er solle nicht nur von der Verfügung gewusst haben, sondern solle auch der Initiator gewesen sein. Er müsse dieses Opfer bringen, weil man von ihm die Deportation der Alten und Kinder verlangte. Um Letztere zu retten, müsse er Erstere opfern.

Eine dritte Version besagt, dass die Deportation der Kranken für den Präses ebenfalls eine Überraschung gewesen sei, wie für all die anderen Gettobewohner. Er wurde nicht zu Rate gezogen, seine Vorschläge fanden kein Gehör, und man hatte seine Entscheidungen nicht befolgt. Es gibt Juden, die viel zu lange »ruhend« im Getto herumsaßen und heute, am dritten Jahrestag des Kriegsbeginns, musste man doch etwas unternehmen, man musste doch beweisen, dass der Verstand noch nicht getrübt war und die Hände noch nicht kraftlos geworden.

Es gibt einen alten Spruch: »Wenn man die Schafe schert, zittern die Lämmer.« Dieser begleitete das widerwärtige Geschehen am heutigen Morgen. Ängstliche Rufe verbreiteten sich im Getto. Laut dieser Gerüchte sind die heutigen Geschehnisse nur das Vorspiel zu einer schlimmeren Tragödie, die sich bald schon abspielen wird. Laut dieser Stimmen ist die Deportation der Kranken nur das Vorspiel für die Deportation der Alten und Kinder, die schon sehr bald, schon heute oder morgen, stattfinden wird. Alte Menschen ab fünfundsechzig Jahren und Kinder bis zu zehn Jahren. So, wie man sich heimlich erzählt, soll der Präses bereits eine Konferenz mit der jüdischen Deportationskommission abgehalten haben, welche das besagte Menschenmaterial bereitstellen muss, das laut Befehl rausgeschickt werden soll.

Eine Bestätigung dieser Gerüchte über weitere Deportationen will das ängstliche und unruhige Volk darin erkennen, dass der Arbeitseinsatz8 den Befehl erhalten habe, keine neuen Arbeitskräfte mehr in die Ressorts zu schicken. Deshalb geht das Volk davon aus, dass die Deportationskommission diesen Vorwand nutzen will, um die bisher unbeschäftigten Elemente deportieren zu können.

Obwohl dieses Gerücht den Auftrag des Arbeitseinsatzes zu bekräftigen schien, hat es sich derweil nicht im Geringsten bestätigt. Aber weil sich das Volk in keinster Weise beruhigen ließ, wurde, wie es so oft der Fall war während eines Aufruhrs, ein Gerücht schrecklicher als das andere. Es gibt weitere Versionen: Die Macht9 habe den Befehl herausgegeben, dass ihr in ca. zwei Stunden alle Kranken ausgeliefert werden müssten, die sich, wie auch immer es ihnen gelungen sei, aus den Krankenhäusern geschlichen haben. Sollten sie bis zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht ausgeliefert werden, würden nicht nur sie – sollte man sie finden – erschossen werden, sondern auch die Menschen, bei denen sie sich aufhielten.

Mittwoch, 2. September 1942

Nicht nur aus den Krankenhäusern …

hat man die Kranken herausgeholt und Gott-weiß-wohin geschickt. Auch die Kinder wurden aus den Preventorien10 herausgeholt, alle Gefangenen aus dem Zentralgefängnis11 abgeführt. Weil unter den Gefangenen auch viele zu finden waren, die nur zufällig anwesend waren, wie zum Beispiel all jene, die eine administrative Strafe von 42 Stunden absitzen mussten, weil sie ihre Wohnungen nicht nach Vorschrift verdunkelt hatten und in der Nacht aus ihnen das Licht zu sehen war, oder eingesiedelte Juden, die wegen Überfüllung aus anderen Provinzen kamen und nur vorübergehend im Zentralgefängnis interniert waren, war die Panik, die diese Nachricht hervorrief, unbeschreiblich. Jeder, selbst wenn er über wenig Verstand verfügte, erkannte, dass es eine Verfügung war, die nicht nur Kranke betraf, Arbeitsunfähige und …

Die Herzen schlugen mit großem Schrecken, mit großer Unruhe.

Währenddessen sucht die jüdische Polizei in jüdischen Häusern und sammelt jene auf, die gestern auf wundersame Weise aus den Krankenhäusern entkommen konnten. Dabei spielen sich furchtbare und herzzerreißende Szenen ab. Es wird geweint, man fleht und küsst ihnen die Hände, als könnte dies helfen. Wenn man nur wüsste, dass der Moloch sich mit diesen Opfern zufriedengeben würde, dann würde man sich die Tränen aus den Augen wischen, das Herz erkalten lassen und wie jene Todgeweihten resignieren. Nach fast drei Jahren Gettoleben haben die Bewohner dazugelernt und sich mit dem Tod angefreundet, als wäre er so selbstverständlich und alltäglich wie das Leben. Dieses »Wird es damit enden?« ist aber eine so verbreitete Frage, welche nicht nur den Verstand löchert, sondern auch das Blut in den Adern gefrieren lässt in Anbetracht der Kälte des Verbrechens, wegen deren die Gettobewohner schon bittere Tränen vergossen haben.

»Wird es damit enden?« Die Juden aus der Provinz, die noch nicht lange im Getto sind,12 begegnen dieser naiven Frage mit einem bitteren Lachen, gar mit Häme. O, sie haben schon Übung, sie wissen es und sie bringen es nicht über ihre Lippen. Überall in der gesamten Provinz hat es sich so zugetragen. Erst wurde jeder Einzelne »gestempelt«, später hat man die Kranken aus den Krankenhäusern genommen, und auch sie: Kinder und Alte und danach erst … auch aus dem Rest Asche gemacht. Deportiert, erschossen, ausgemerzt und verstreut über alle sieben Meere. Frauen wurden ihre Männer entrissen, Männer von ihren Frauen getrennt, Kinder von Eltern und Eltern von Kindern. Auf so unterschiedliche Weise ermordet, als wäre ein gemeinsamer Tod zu wenig für das schwache und gepeinigte jüdische Volk. O, sie kennen das ganze Lied sehr genau, die Provinzjuden! Überall ereignete sich unter gleicher Regie diese Tragödie.

Auf diese Frage geben sie keine Antwort. Sie haben Angst und zittern, diese Worte über die Lippen zu bringen. Sie lachen nur bitter. Es ist ein Gelächter von Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben, denn sie, die Provinzjuden, haben bereits alles verloren. Das wenige erbärmliche Leben, welches sie noch auf ihren gemarterten Schultern tragen, ist für sie nur noch ein überflüssiger Ballast, von dem sie gerne befreit würden. Für sie ist es leicht zu lachen, aber für den hiesigen Gettojuden, der bis jetzt mit seiner Familie zusammengelebt hat, mit seinen Vertrauten und Verwandten – ihm ist nicht zum Lachen zumute. Ihm gefriert das Blut in den Adern über das gellende Gelächter der Provinzjuden.

Die Kranken, die sich aus den Krankenhäusern retten konnten und die sich in ihren Häusern oder bei ihren Verwandten versteckt hielten und nun von der Polizei aufgespürt und ins Zentralgefängnis gebracht wurden, wurden bereits am Morgen auf Lastwagen geladen und weggebracht.

Der Präses wusste es nicht

Wie sich herausstellte, wusste der Präses nichts von der Deportationsverfügung über die Kranken. In einem der Krankenhäuser lagen sein Schwiegervater und sein Schwager. Der Schwiegervater konnte sich in letzter Minute noch retten. Der Schwager ist vor Schreck gestorben. Die Bewohner, die durch die Verfügung der Deportation betroffen waren, waren neidisch auf den Präses: Sein Schwager ist gestorben. Ist er doch auf einem Bett unter Menschen gestorben, und man weiß, wo seine Gebeine liegen. Aber, die armen elenden Kranken, die man halb und ganz tot auf die Lastwagen geladen und weggebracht hat, wer wird je erfahren, was mit ihnen geschehen ist?

Donnerstag, 3. September 1942

Schreckliche Panik

Der gestrige Tag brachte kaum Ruhe in die Gemüter der Gettobewohner. Im Gegenteil: Je länger der Tag andauerte, umso mehr wuchs die Sorge.

Die Nacht ging schlaflos vorüber, und der Morgen brachte aufgescheuchte, vor Schreck aufflatternde Schwalben ins Getto. Die Kinder draußen in den Marysin-Kolonien13 lebten verhältnismäßig unter viel besseren Bedingungen als all die anderen Kinder. Aber sie gaben diesen Vorteil auf und gingen zurück ins Getto, um im Schutze ihrer Verwandten zu leben. Es sind nur jene Kinder in den Kolonien geblieben, die nirgendwo anders bleiben konnten – Waisen, die keine Verwandten mehr im Getto hatten.

Man hat sich geeinigt

Die Macht bestand darauf, dass ihr alle entlaufenen Kranken zugestellt werden sollten. Aber da nicht alle gefunden werden konnten und auch, weil man nicht alle herausgeben konnte, da viele von ihnen Beziehungen hatten und sie zu den Protegierten des Gettos gehörten, ist man mit den Behörden übereingekommen, dass ihnen die Kehille14 statt der entlaufenen Kranken zum Austausch zweihundert andere Menschen zustellen sollte.

Nun suchte man diesen Sündenbock nicht mehr nur unter den entlaufenen Kranken, da es unter ihnen, wie bereits gesagt, viele gab, die ihre Beziehungen positiv nutzen konnten und nicht zugestellt werden durften. Nun nimmt man zweihundert Menschen von jenen, die früher einmal wegen einer Krankheit im Krankenhaus waren, jedoch vor langer Zeit entlassen wurden, und die niemanden hatten, der sie beschützte. Selbst jene, die niemals im Krankenhaus gewesen waren, sondern lediglich auf Anraten des Arztes einen Antrag für einen Aufenthalt dort gestellt hatten, wurden mit eingeschlossen.

Und … man gewöhnt sich an alles

Das geschwärzte und finstere Leben hat eine solche Kraft. Solange man atmet, solange die Augen noch nicht übergehen und die Sinne funktionieren, überwindet man all diese Tragödien und das Leid, und man lebt, und man will das erbärmliche Leben weiterführen mit der Hoffnung: »Vielleicht wird es besser werden.« Vielleicht wird man doch noch überleben und weiterhin Mensch bleiben.

Man sagt, im Gebäude des damaligen Krankenhauses wird eine Tischlerei eingerichtet. Man nimmt diese Nachricht fast schon gleichgültig auf. Erst gestern hatte man dort noch einen Bruder oder eine Schwester, die lebendig weggerissen wurden, und heute wirst du dort hart arbeiten müssen, um deinen gepeinigten Körper, solange er es aushalten kann, am Leben zu erhalten. Man sagt, man würde Kartoffeln verteilen, und die Leute sind schon fast wieder ruhiggestellt. Man hört nach wie vor noch ein Seufzen oder ein Stöhnen, man dankt in einem Mal dem Schöpfer für die gute Nachricht über die Kartoffel-Ausgabe.

Eine solche schwerfällige Gleichgültigkeit kann es nur an einem Ort geben, an dem ein solch klägliches Leben geführt wird – zumindest so etwas, das man als eine Art Leben bezeichnen könnte und wo der Tod selbstverständlicher ist als das Leben. Niemand weiß, keiner versteht, mit welcher Kraft man noch lebt, aber jeder hingegen sieht, wie man stirbt. Der Tod im Getto ist so alltäglich, dass er niemanden mehr überrascht. Er schreckt bereits niemanden mehr, und sogar wenn man noch lebt, lebt man ständig mit dem Gedanken, dass man ein nichtiges Leben führt, ein Leben im Moment, dass man letzten Endes nicht heute, aber schon morgen nicht mehr leben wird.

Solange aber der Gettobürger lebt, will er wenigstens noch ein Mal, und wenn es das letzte Mal sein wird, das Gefühl der Sättigung haben. Sich einmal noch satt essen können. Später, später kann kommen was wolle.

Darüber, dass man von einer Kartoffelvergabe spricht, treten alle bisherigen Geschehnisse beiseite, und man erwartet die offizielle Bekanntmachung, die deutlich bestätigt und keine Spekulation zulässt, die schwarz auf weiß besagt: »Man wird ganz sicher und wahrhaftig Kartoffeln austeilen.« Oder haben unbedarfte »Tröster« nur das Gerücht verbreitet, um die Gemüter zu beruhigen, um das Volk zu trösten, dessen engste Verwandte Opferlämmer waren?

Die Bekanntgabe ist da. Sie steht dort schwarz auf gelbem Grund: Man wird Kartoffeln ausgeben. Es ist Fakt: Ab morgen, Freitag, dem 4. September, werden laut Bestimmung weitere 8 Kilogramm Kartoffeln pro Kopf ausgeteilt und …

Das Volk ist sehr zufrieden. Man gibt ihm, wie im letzten Monat, ganze 15 Dekagramm15 Kartoffeln an einem Tag. Man ist sehr zufrieden, nur … nicht beruhigt. Etwas liegt noch in der Luft. Die Atmosphäre ist weiterhin explosiv aufgeladen, und dem unruhigen Volk bleibt nichts anderes übrig, als sich zu wünschen, dass Gott helfen wird und man die Kartoffeln in Ruhe essen kann.

Gevalt16! Was wird noch kommen!?

Es stellte sich heraus, dass das Getto gelernt hat, nicht nur seine Seele, sondern auch seinen Körper auszuschalten. Allerdings hat sich das Blut der Gettobewohner nicht verdünnt. Im Gegenteil, bei vielen Bürgern, die bereits gelernt haben, wie Reptilien zu leben, ist der Verstand noch nicht wie bei den Reptilien abgestumpft. Immer noch schlagen ihre Herzen aus Furcht, und ihr Atem stockt vor der Zukunft. Gevalt! Was wird noch kommen!? Etwas lauert in den Tiefen des Gettos. Der Himmel ist mit schweren, finsteren Wolken bedeckt, die sich wie Blei auf die Herzen legen. Sogar die 8 Kilogramm Kartoffeln haben nicht die Kraft, den Schrecken des morgigen Tages zu verjagen und die Angst vor der nahenden Stunde. Die Kartoffeln? Man redet schon nicht mehr über sie. Man erinnert sich nicht mehr an sie. Man hat davon abgelassen, sie zu kommentieren und sich für sie zu interessieren. Das Interesse, das Hauptgespräch und die Sorge gelten nun den Kindern.

Am Tor der Koscielnagasse Nr. 4, dort, wo sich das Meldebüro17 befindet, wurde die Meldung ausgehängt, dass die Umschichtungskommission18 begonnen hatte, nicht nur wie bisher zehnjährige Kinder, sondern auch Kinder von neun Jahren für den Arbeitseinsatz zu registrieren. Momentan ist das Büro von Vätern, Müttern und Kindern belagert, die Bescheinigungen haben wollen, welche bestätigen, dass ihre Kinder schon in dem glücklichen Alter sind, den »Ruhe-Pass« des Präses, die Arbeitskarte, zu erhalten. Man zittert vor Angst. Man bangt um das Schicksal der Kinder: »Wird man sie noch registrieren können? Wird es nicht zu spät sein?« Man fürchtet, zu spät gekommen zu sein und …

Das, was man befürchtete, ist nun wahr geworden. Mit aller Sicherheit und Ruhe verkündet man die Nachricht: Kinder und Alte wird man aus dem Getto deportieren. Kinder bis zu zehn Jahren und Alte ab fünfundsechzig Jahren. Man hält es schon nicht mehr für ein Gerücht, da gestern wegen dieser Angelegenheit eine Konferenz mit dem Präses auf dem Baluty-Marktplatz19 abgehalten wurde.

Man wird die Kinder und Alten deportieren. Dieser Transport soll um die zwanzigtausend Seelen zählen.

So begann die »Aussiedlung« im Monat September im Jahre 1942.

Freitag, 4. September 1942

Die Deportation der Kinder und Alten – Eine Tatsache

Das Getto ist heute Morgen ängstlich und ungeheuer schreckhaft. Es wurde von der Tatsache überrascht, dass leider das eingetroffen ist, was gestern noch als unwahrscheinlich und unglaubwürdig erschien: Kinder bis zu zehn Jahren werden von ihren Eltern und Geschwistern getrennt und fortgeschickt. Den Alten ab fünfundsechzig Jahren wird ihr letzter Halt genommen, an den sie sich noch mit letzter Kraft geklammert hatten – ihre vier Wände und das harte Bett. Als wären sie für das Getto überflüssiger Ballast, werden sie weggeschickt.

Wenn sie doch nur »weggeschickt« würden, wenn es nur den geringsten Hoffnungsschimmer gäbe, dass diese »Weggeschickten« irgendwo »hingeschickt« werden! Auch wenn sie unter den schlimmsten Bedingungen untergebracht und festgehalten würden, wäre die Tragödie nicht so groß gewesen. Ist doch jeder Jude stets bereit zu wandern. War doch das jüdische Leben schon immer auf die schlimmsten Bedingungen eingestellt. Ist doch jeder Jude schon immer willig gewesen, den Stock in die Hand zu nehmen, auf Befehl Haus und Heimat zu verlassen. Umso mehr hier im Getto, wo kein Vermögen, kein Hab und Gut, keine Annehmlichkeiten ihn an diesen Ort binden! Ist doch von jeher das jüdische Leben nur auf Vertrauen zu seinem alten Gott aufgebaut, der ihn, wie man glaubt, kein einziges Mal verlassen hat, dass »es irgendwie schon gutgehen wird, irgendwie wird man schon das bisschen Leben durchschlagen …«

Deshalb –

Wenn es nur die geringste Sicherheit gäbe, den geringsten Strahl der Hoffnung, dass man sie irgendwo hinschicken wird, wäre das Getto nicht allzu betroffen von diesem neuen und unbegreiflichen Beschluss. Schließlich gab es bis jetzt so viele neue und unbekannte Verfügungen, und man musste mit ihnen vorliebnehmen, und man musste, ob man wollte oder nicht, weiterleben, wollte man irgendwie auch diesen Beschluss schlucken. Es ist allerdings so, dass niemand an der Tatsache zweifelte. Für jeden ist klar, dass diejenigen, die nun aus dem Getto deportiert werden, nicht woanders »hingeschickt« werden – sie werden ins Verderben geschickt, zumindest die Alten. Sie gehen, wie man hier im Getto sagt, »in shmelts arayn«. Wenn es so ist, wie kann man sich so etwas einreden, dass man mit dieser Verfügung Frieden schließen muss? Wie kann man sich einreden, dass man, ob man will oder nicht, weiterleben muss?

Kein Wort, keine Kraft, kein Ausdruck vermag es im Geringsten, die Stimmung wiederzugeben, die Klagen und die Panik, die das Getto seit Tagesanbruch beherrschen.

Wenn jemand sagt, das Getto schwimmt heute in Tränen, wird es keine Metapher sein, es wird nur eine unzureichende Bezeichnung, ein unzulängliches Wort für jene Szenen und Bilder sein, die man hier im Litzmannstadt-Getto sieht und hört; überall dort, wo du nur gehst, einen Blick wirfst, überall dort, wo deine Ohren lauschen.