Cover

Reginald Hill

Die rätselhaften Worte

Roman

Aus dem Englischen von Sonja Schuhmacher und Thomas Wollermann

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Reginald Hill

Reginald Hill, geboren 1936, lebt seit vielen Jahren in der englischen Grafschaft Yorkshire, wo die allermeisten seiner Romane auch spielen. Er hat sich den Ruf erworben, »einer der herausragenden lebenden Krimiautoren« zu sein (Sunday Telegraph) und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter der Diamond Dagger der britischen Crime Writers’ Association, den er für sein Lebenswerk erhielt.

Über dieses Buch

Am Anfang war das Wort … Und das Wort war Mord. Ein Mann ertrinkt. Ein anderer stirbt bei einem Motorradundfall. Zwei Unfälle, wie es scheint. Doch in zwei Geschichten, die als Beiträge zu einem Kurzgeschichtenwettbewerb der "Mid-Yorkshire Gazette" eingehen, übernimmt jemand die Verantwortung für den Tod der beiden Männer.

Und es sind schon eigenartige Texte, mit denen sich der anonyme Schreiber beteiligt. Nicht nur der bildungsträchtige, ironische Stil mit geistreichen Anspielungen auf literarische Meisterwerke fällt auf. Irritierend ist vor allem, dass der Autor sich zu Wort meldet, wenn gerade ein Mord passiert ist. Akribisch beschreibt er Details der Opfer und Schauplätze, die eigentlich nur dem Täter bekannt sein können. Der Verdacht liegt nahe, dass der Mörder die Öffentlichkeit mit makabren Spielchen provozieren möchte.

Nach dem dritten Mord dämmert es der Polizei, dass es sich um einen manischen Serienkiller handeln muss, der offenbar auf Shakespeare-Zitate, literarische Sentenzen und Wortspiele fixiert ist. Und die Mordserie geht weiter: ein Schriftsteller, ein Englisch-Dozent, ein Stadtrat und eine TV–Moderatorin sind die nächsten Opfer – stets mit wortgewaltiger Begleitmusik. Kein Wunder also, dass das Kommissarduo Andy Dalziel und Peter Pascoe erst einmal im Dunkeln tappt …

Impressum

eBook-Ausgabe 2012

Knaur eBook

© 2001 Reginald Hill

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2005 Knaur Taschenbuch

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: Zefa

ISBN 978-3-426-41475-0

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Fußnoten

1

In der deutschen Übersetzung: Du bist wie eine Blume,/So hold und schön und rein;/Ich schau dich an, und Wehmut/Schleicht mir ins Herz hinein.

2

In der deutschen Übersetzung: Mir ist, als ob ich die Hände/Aufs Haupt dir legen sollt,/Betend, daß Gott dich erhalte/So rein und schön und hold.

3

In der englischen Originalausgabe: A path In View, I ne Ver stray to Left or rIght/A weDDIng was, or so It seems, but wasn’t whIte./A Date I ha Ve, the fIrst In fun, though not by nIght.

4

In der deutschen Übersetzung: Der Scheidende/Erstorben ist in meiner Brust,/Jedwede weltlich eitle Lust,/Schier ist mir auch erstorben drin/Der Haß des Schlechten, sogar der Sinn/Für eig’ne wie für fremde Not –/Und in mir lebt nur noch der Tod!

5

In der deutschen Übersetzung: Du sagst mir heimlich ein leises Wort/Und gibst mir den Strauß von Zypressen./Ich wache auf, und der Strauß ist fort,/Und’s Wort hab’ ich vergessen.

paronomania (pəronəʊ'məınıə) (Kunstwort abgeleitet aus der Verschmelzung von PARONOMASIA [lat. aus griech. pasonomasia] Wortspiel MANIA [siehe Zitat 1823])

1. Eine zwanghafte Beschäftigung mit Wortspielen.

1760 George, Lord LYTTELTON Dialogues of the Dead: XXXV BACON: Ist der Kerl, der dort liegt, nicht Shakespeare, der Schreiberling? Warum sieht er so blaß aus? GALEN: Fürwahr, Sir, er ist’s. Ein sehr schöner Fall von Paronomania. Seit er hier ist, hat er ein Kryptogramm in seinen Stücken entschlüsselt, welches beweist, daß Ihr sie verfaßt habt. Und seitdem hat er kein Wort gesprochen. 1823 Lord BYRON Don Juan Canto xviii So paronomastisch sind seine Miszellen, Hoods Ärzte fürchten, er stirbt noch an Paronomania. 1927 HAL DILLINGER Through the Mind-Maze. A Casebook So ausgeprägt war Mr. X’s Paronomania, daß er wegen einer Botschaft, die er durch einen kryptischen Hinweis im Kreuzworträtsel der Washington Post erhalten zu haben glaubte, den Versuch unternahm, seine Frau zu töten.

2. Eigenname eines Brettspiels für zwei Personen, bei dem mittels mit Buchstaben bedruckten Plättchen Wörter gebildet werden. Punkte sammelt man teilweise durch Zusammenzählen der den einzelnen Buchstaben zugeordneten Werte, aber auch infolge bestimmter Beziehungen von Klang und Bedeutung unter den Wörtern. Unter Anwendung bestimmter variabler Regeln dürfen alle in lateinischer Schrift darstellbaren Sprachen zur Anwendung kommen.

1976 Skulker Magazine, Vol. 1, Nr. iv Auch wenn die Fans von Paronomania die jährliche Meisterschaft mit gewohnter Begeisterung, Kampfeslust und Geschicklichkeit bestritten haben, ist es unwahrscheinlich, daß es je zum Nationalsport herabsinken wird.

Oxford English Dictionary (2. Auflage)

Du sagst mir heimlich ein leises Wort

Und gibst mir den Strauß von Zypressen.

Ich wache auf, und der Strauß ist fort,

Und ’s Wort hab’ ich vergessen.

 

Heinrich Heine (1797–1856)

 

Ich fürchte irgendein irres Geheimnis

Schlummert in deinen Worten (und mit jedem Gedanken

taucht ein Schädel auf) wie ein Skelett

In einem zugewachs’nen Loch unter Steinen und Wurzeln,

Verhuschten Reptilien, und mit zungenlosem Mund

Erzählt es von Mord …

 

Thomas Lovell Beddoes (1803–1849)

Eins

Der Erste Dialog

Hallo. Wie geht’s?

Mir? Gut, glaube ich.

Stimmt. Manchmal kriegt man es kaum mit, aber letztlich scheint sich doch etwas zu bewegen. Komische Sache, das Leben, nicht wahr?

Ja, der Tod übrigens auch. Aber das Leben …

Es ist noch nicht lange her, da stand ich da, hatte kein Ziel und kein Zuhause, hatte sozusagen den Anschluß verpaßt, die Vergangenheit sickerte durch die Gegenwart in die Zukunft, farblos, ereignislos, spannungslos, nichts, was die Sinne belebt hätte …

Dann, plötzlich eines Tages, sah ich ihn!

Er erstreckte sich vor mir, war schon immer da gewesen, der lange, verschlungene Weg, der mich durch mein Großes Abenteuer führen sollte, der Anfang so nah, daß ich glaubte, die Hand ausstrecken und ihn berühren zu können, das Ende so fern, daß mir schwindelte bei dem Gedanken, was dazwischen lag.

Aber es ist ein großer Schritt vom Schwindel zur Wirklichkeit, und zunächst blieb er ein geistiges Abenteuer – der lange, verschlungene Weg, meine ich –, er blieb etwas, womit ich mir die langen stillen Stunden vertrieb. Aber unentwegt hörte ich meine Seele sagen: »Im Geiste zu reisen, ist gut und schön, aber braun wirst du dabei nicht!«

Und meine Füße wurden immer unruhiger.

Allmählich begannen sich die Fragen in meinem Hirn zu drehen wie die Figuren eines Bildschirmschoners.

Könnte ich vielleicht …?

Wagte ich …?

Das ist das Problem mit Wegen.

Sobald man einen gefunden hat, muß man ihm folgen, ganz gleich, wo er hinführt, aber manchmal ist der Anfang – wie soll ich sagen? – so unklar.

Ich brauchte ein Zeichen. Nicht unbedingt etwas Dramatisches. Ein leichter Anstoß hätte genügt.

Oder ein geflüstertes Wort.

Dann, eines Tages, erhielt ich es.

Zuerst das geflüsterte Wort. Dein Flüstern? Ich hoffte es.

Ich hörte es, deutete es, wollte es glauben. Aber es war noch so vage …

 

Ja, ich war stets ein ängstliches Kind.

Ich brauchte etwas Klareres.

Und endlich kam es. Mehr ein Tritt in den Hintern als ein behutsamer Klaps. Ein Schrei eher als ein Flüstern. Man könnte sagen, es sprang mich an.

Ich konnte dich beinahe lachen hören.

In jener Nacht schlief ich kaum vor lauter Nachdenken. Aber je mehr ich überlegte, um so unklarer wurde es. Gegen drei Uhr morgens redete ich mir ein, es sei nur ein Zufall gewesen und mein Großes Abenteuer müsse leere Phantasterei bleiben, ein Videofilm, der hinter den aufmerksamen Augen und dem einfühlsamen Lächeln ablief, während ich meinen täglichen Geschäften nachging.

Aber etwa eine Stunde später, als die rosigen Finger der Morgenröte die schwarze Haut der Nacht zu massieren begannen und ein kleiner Vogel draußen vor meinem Fenster sein Lied anstimmte, begann ich die Dinge anders zu sehen.

Vielleicht war es ja einfach das Gefühl, des Weges nicht würdig zu sein, das mich zögern ließ. Jedenfalls habe nicht ich die Wahl getroffen, oder? Auf ein Zeichen, wenn es denn ein echtes Zeichen war, mußte eine Gelegenheit folgen, der ich mich nicht verweigern konnte. Wobei natürlich auch sie nicht rein zufällig, wenn auch naturgemäß vage erscheinen würde. Ja, eben daran würde ich sie erkennen. Zumindest für den Anfang würde ich ein passiver Akteur in diesem Abenteuer sein, aber sobald es einmal begonnen hatte, würde ich zweifelsfrei erkennen, daß es mir auf den Leib geschrieben war.

Alles, was ich tun mußte, war, mich bereithalten.

Ich stand auf, wusch und kleidete mich mit ungewohnter Sorgfalt, wie ein Ritter, der sich für eine Aventiure rüstet, oder eine Priesterin, die sich auf das heiligste Mysterium vorbereitet. Mag auch das Gesicht hinter Visier oder Schleier verborgen sein, der Kundige wird wissen, wie das Wappen oder das Gewand zu deuten ist

Als ich bereit war, ging ich zum Auto hinaus. Es war noch früher Morgen. Der Vogelchor jubilierte, und den östlichen Himmel überzog ein rosafarbener Perlmuttschimmer, wie die Wange eines Mädchens in einem Disney-Film.

Es war noch viel zu früh, um in die Stadt zu fahren, und einem Impuls folgend, strebte ich aufs Land hinaus. An einem solchen Tag, so ahnte ich, muß man jedem Impuls folgen.

Eine halbe Stunde später fragte ich mich, ob ich nicht ganz einfach eine Narrheit begangen hatte. Schon seit einiger Zeit hatte ich Probleme mit dem Wagen, der Motor stotterte und zog am Berg schlecht. Jedesmal schwor ich mir, ihn in die Werkstatt zu bringen. Dann schien wieder alles in Ordnung, und ich vergaß die Sache. Diesmal aber, als er auf einer sanft abfallenden Straße zu husten begann, wußte ich, daß es wirklich ernst war. Und tatsächlich blieb er auf der nächsten Steigung, eigentlich nur dem unbedeutenden Buckel einer kleinen Brücke, keuchend stehen.

Ich stieg aus und stieß die Tür mit einem Fußtritt zu. Es hatte keinen Sinn, unter die Motorhaube zu sehen. Motoren, wenn auch lateinischer Abkunft, sind mir böhmische Dörfer. Ich setzte mich auf die niedrige Brüstung der Brücke und versuchte, mich zu entsinnen, wie weit es zum nächsten Haus oder Telefon war. Ich konnte mich aber nur an einen Wegweiser erinnern, der verkündete, es seien noch fünf Meilen bis zu der Ortschaft Little Bruton. Es erschien mir besonders ungerecht, daß ein Wagen, der einen Großteil seiner Zeit in der Stadt verbracht hatte, in dem wohl am dünnsten besiedelten Landstrich im Umkreis von zehn Meilen seine Dienste verweigerte.

Murphys Gesetz – so nennt man das doch? Daran jedenfalls dachte ich, bis sich zum Zwitschern der Vögel und dem Plätschern des Wassers ein neues Geräusch gesellte und ich auf der schmalen Landstraße einen leuchtendgelben Wagen der Automobile Association nahen sah.

Jetzt fragte ich mich allmählich, ob anstelle von Murphy nicht doch Gott die Hand im Spiel hatte.

Ich winkte ihm, anzuhalten. Er war unterwegs, um in Little Bruton Starthilfe zu leisten, wo ein armer Lohnsklave, gerade erwacht, noch viele Meilen vor sich hatte, bevor er sich wieder zur Ruhe legen konnte. Und da mußte er feststellen, daß sein Motor noch geringere Neigung zum Aufbruch in den Tag verspürte als er selbst.

»Motoren schlafen eben auch gerne aus«, meinte mein Retter vergnügt.

Er war überhaupt ein fröhlicher Geselle, der gerne Scherze machte, ein wunderbares Aushängeschild für die AA. Auf seine Frage, ob ich Mitglied sei, erklärte ich ihm, meine Mitgliedschaft sei erloschen. Er aber grinste nur und meinte: »Macht nichts. Ich bin auch kein Katholik mehr, doch ich kann ja jederzeit in den Schoß der Kirche zurückkehren, wenn es hart auf hart kommt, stimmt’s? Dasselbe gilt für Sie. Vielleicht treten Sie ja wieder bei, was?«

»Oh ja«, erwiderte ich inbrünstig. »Wenn Sie diesen Wagen wieder in Gang bringen, trete ich vielleicht auch noch in die Kirche ein!«

Und das meinte ich ernst. Nicht unbedingt, was die Kirche betraf, aber sicherlich die AA.

Doch schon da, ja, eigentlich seit dem Moment, als ich seinen Wagen erblickt hatte, fragte ich mich, ob sich hier nicht die Chance bot, mehr als nur meinen Motor in Gang zu bringen.

Aber wie sollte ich Gewißheit erlangen? Ich spürte, wie meine Unruhe wuchs, bis ich sie mit dem tröstlichen Gedanken dämpfte, daß mir zwar alles nebulös erscheinen mochte, daß aber der Autor meines Großen Abenteuers diese erste Seite keinesfalls durch Unklarheiten trüben werde.

Der Mann von der AA erwies sich als sehr mitteilsam. Wir machten uns miteinander bekannt. Als ich seinen Namen hörte, wiederholte ich ihn bedächtig, und er lachte und mahnte mich, keine Witze zu reißen, er kenne sie alle schon. Er erzählte mir alles über sich – seine Tropenfische – den Vortrag, den er beim Lokalfunk über sie gehalten hatte – seine Tätigkeit fürs Kinderhilfswerk – seinen Plan, durch eine gesponserte Teilnahme am Londoner Marathon Geld dafür zu sammeln – den wunderbaren Urlaub, den er vor kurzem in Griechenland verlebt hatte – seine Vorliebe für warme Abende und mediterrane Küche – sein Entzücken, als er nach seiner Rückkehr feststellte, daß ganz in seiner Nähe ein griechisches Restaurant eröffnet hatte.

»Manchmal glaubt man, daß da oben jemand ist, der sich speziell um einen kümmert, stimmt’s?« scherzte er. »Oder in meinem Fall vielleicht auch da unten!«

Ich lachte und erklärte, ich wisse genau, was er meine.

Und so war es tatsächlich, in beiderlei Hinsicht, im normalen Sinn einer müßigen Unterhaltung, und in einem tieferen, echten Sinn, wo sich der weitere Lebensweg entschied. Ich hatte das deutliche Gefühl, auf zwei Ebenen zu existieren. Einerseits auf der Oberfläche, auf der ich stand und die Morgensonne genoß, während ich beobachtete, wie seine öligen Finger die fachkundigen Handgriffe vornahmen, die, wie ich hoffte, mich wieder mobil machen würden. Und andererseits auf jener Ebene, auf der ich in Kontakt mit der Kraft hinter dem Licht war, der Kraft, die alle Furcht wegbrennt – einer Ebene, auf der die Zeit nicht mehr existierte, auf der alles, was geschieht, schon immer geschehen ist und immer geschehen wird, auf der ich wie ein Autor innehalten, nachdenken, korrigieren, verfeinern kann, bis meine Worte genau das sagen, was sie sagen sollen, und keine Spur meiner flüchtigen Gegenwart zeigen …

 

Für einen Augenblick unterbricht der AA-Mann seinen Redefluß, um bei laufendem Motor eine letzte Einstellung vorzunehmen. Er horcht mit der angespannten Aufmerksamkeit eines Klavierstimmers, lächelt, stellt den Motor ab und verkündet: »Ich würde sagen, damit kommen Sie nach Monte Carlo und zurück, wenn Sie wollen.« Ich erwidere: »Prima. Herzlichen Dank.« Er setzt sich auf die Brüstung und verstaut das Werkzeug in der Werkzeugkiste. Als er fertig ist, blickt er zur Sonne empor, seufzt in größter Zufriedenheit und sagt: »Kennen Sie das auch, wenn man das Gefühl hat, das ist es, so sollte es immer bleiben? Es muß nichts Großartiges sein, kein besonderer Anlaß oder so. Einfach ein Morgen wie heute, und man hat das Gefühl, hier könntest du für immer bleiben.«

»Ja«, versichere ich ihm. »Ich weiß genau, was Sie meinen.«

»Wäre doch nett, oder?« meint er wehmütig. »Aber das Leben hält uns auf Trab, da gibt es kein Erbarmen, fürchte ich.«

Und er schließt seinen Kasten und will aufstehen.

Und jetzt endlich kommt, über jeden Zweifel erhaben, das Zeichen.

Drunten bei den Weiden, die sich am anderen Ende der Brücke über das Flüßchen neigen, bellt etwas, ein Fuchs vermute ich, gefolgt von einem Kreischen, das ein heiseres Lachen hätte sein können, dann schießt aus dem Grün ein Fasan hervor, verzweifelt mit den Flügeln schlagend, um seinen schweren Körper über die Brücke und in die Lüfte zu erheben. Er nimmt gerade noch die gegenüberliegende Brüstung und kommt direkt auf uns zu. Ich mache einen Schritt zur Seite. Der AA-Mann weicht nach hinten aus. Seine Waden prallen gegen die niedrige Brüstung. Der Vogel fliegt zwischen uns hindurch, ich spüre seinen wütenden Flügelschlag wie einen Pfingststurm. Und der AA-Mann fuchtelt mit den Armen, als wolle auch er abheben. Aber er hat bereits unrettbar das Gleichgewicht verloren. Ich strecke der wankenden Gestalt meine Hand entgegen – um zu helfen oder zu stoßen, wer weiß? –, und meine Fingerspitzen streifen die seinen, wie die von Gott und Adam in der Sixtinischen Kapelle oder die von Gott und Luzifer auf den Zinnen des Himmels.

Dann ist er weg.

Ich blicke über die Brüstung. Er hat sich im Sturz überschlagen und ist mit dem Gesicht nach unten in dem flachen Flüßchen gelandet Es ist nur ein paar Zentimeter tief, aber er regt sich nicht.

Ich klettere die steile Böschung hinunter. Es ist klar, was geschehen ist. Er ist mit dem Kopf im Flußbett auf einen Stein aufgeschlagen und wirkt benommen. Ich beobachte, wie er sich bewegt und versucht, den Kopf aus dem Wasser zu heben.

Ein Teil von mir will ihm helfen, aber dieser Teil hat keinerlei Kontrolle über meine Hände und Füße. Ich habe keine Wahl, als stehenzubleiben und zu beobachten. Die Freiheit der Wahl ist ein Geschöpf der Zeit, und die Zeit ist fort, ist anderswo.

Dreimal hebt sich sein Kopf ein wenig, dreimal sinkt er zurück.

Ein viertes Mal gibt es nicht.

Eine Weile steigen noch Blasen auf. Vielleicht nutzt er diese letzten Sekunden des Ausatmens, um wieder in den Schoß der katholischen Kirche zurückzukehren. Gewiß wird seine Lage niemals aussichtsloser sein. Andererseits erfüllt sich endlich sein Wunsch, einer dieser vollkommenen Augenblicke möge ewig währen, und wo immer er schließlich die letzte Ruhe findet, hat er zweifellos ein glückliches Grab.

Zunächst steigen die Blasen noch rasch auf, dann langsamer und langsamer, wie das letzte Rinnsal aus einer Ciderpresse, bis schließlich jene träge Luftblase zur Oberfläche schwebt, die, wenn man den Priestern glauben darf, die Seele enthält.

 

Lauf, mein Marathonbote, lauf.

 

Die Blase platzt.

Und auch die Zeit platzt wieder in mein Bewußtsein herein, mit all ihrem hinderlichen Gepäck, als da sind Geist und Materie, Vorschrift und Gesetz.

Ich kraxelte die Böschung wieder hinauf und stieg in mein Auto. Als ich wegfuhr, sang der Motor ein so fröhliches Lied, daß ich die geschickten Hände segnete, die ihn so fein gestimmt hatten. Und ich zollte auch Dank für dieses neue, oder besser gesagt, erneuerte Leben, das mir zuteil geworden war.

Meine Reise hatte begonnen. Ohne Zweifel würde mein Weg nicht frei von Hindernissen sein. Aber jetzt war dieser Weg klar markiert. Auch eine Reise von tausend Meilen beginnt mit einem ersten Schritt.

Und diesen Schritt hatte ich einfach getan, indem ich still dastand und dir vertraute, mein Führer.

 

Wir sprechen uns bald wieder.

Zwei

Gütiger Gott«, sagte Dick Dee.

»Was?«

»Hast du das gelesen?«

Rye Pomona seufzte etwas lauter als nötig und bemerkte sarkastisch: »Da wir beschlossen haben, sie gerecht zu teilen und dies mein Stapel ist und das deiner, und da das Blatt in deiner Hand von deinem Stapel stammt und ich mich angestrengt darauf konzentriere, meinen abzuarbeiten, ist die Wahrscheinlichkeit nicht besonders hoch, daß ich es gelesen habe, oder?«

Eine der guten Seiten von Dick Dee war, daß er Frechheiten nicht übelnahm, auch nicht von seiner jüngsten Mitarbeiterin. Genaugenommen hatte er sogar ziemlich viele gute Seiten. Er kannte seine Aufgaben als Leiter des Lesesaals der Mid-Yorkshire Bibliothek aus dem Effeff und war gleichermaßen willig und befähigt, sein Wissen weiterzugeben. Er erledigte seinen Anteil an der Arbeit, und auch, wenn Rye manchmal beobachtete, daß er lexikologische Recherchen für sein, wie er es nannte, minisculum opusculum anstellte, so tat er dies stets während seiner offiziellen Pausen, die er niemals ausdehnte, auch nicht, wenn es sehr ruhig zuging. Gleichzeitig nahm er es gelassen hin, wenn sie ihre Mittagspause ein wenig überzog. Auch enthielt er sich jeden Kommentars über ihre Kleidung und wandte weder prüde die Augen von ihren schlanken braunen Beinen unter dem knappen Minikleid ab, noch glotzte er sie geil an. Er hatte sie zu sich nach Hause eingeladen und nicht den geringsten Annäherungsversuch unternommen (sie war sich nicht sicher, wie sie das finden sollte!). Und obwohl er bei der ersten Begegnung ihr auffälligstes Merkmal, eine silbergraue Strähne, die aus den üppigen braunen Locken hervorleuchtete, sehr wohl bemerkt hatte, zeigte er so taktvolles Desinteresse daran, daß sie das Thema schließlich abhakte, indem sie es selbst anschnitt.

Auch nutzte er seine leitende Stellung keineswegs, um ihr die mühsamsten Arbeiten aufzubürden, sondern übernahm seinen Anteil, was ihn zum leuchtenden Vorbild erhoben hätte, wäre er im Angesicht der gegenwärtigen Mühsal in der Lage gewesen, mehr als ein paar Seiten am Stück zu lesen, ohne ihr seine Gedanken mitteilen zu wollen. Aber da er nur über ihre bissige Bemerkung grinste, fühlte sie sich gleich schuldig und nahm ihm ohne weiteren Protest die Papierbögen aus der Hand.

Wenigstens war der Text getippt. Viele waren handschriftlich eingereicht worden, und sie hatte bald die Lehrern längst bekannte Entdeckung gemacht, daß auch die sauberste Handschrift so unleserlich wie die Blätter des Delphischen Orakels sein kann. Wobei noch zusätzlich abschrekkend wirkte, daß man, wenn sich einem schließlich der Sinn erschlossen hatte, keineswegs einen brauchbaren göttlichen Fingerzeig für die Zukunft in der Hand hatte, sondern einen abscheulichen, unverdaulichen Klumpen Prosa.

Der Short-Story-Wettbewerb von Mid-Yorkshire war von der Chefredakteurin der Mid-Yorkshire Gazette und dem Leiter der Bibliotheken von Mid-Yorkshire gegen Ende eines feuchtfröhlichen Arbeitsessens ersonnen worden. Im Lichte des nächsten Morgens hätte die Idee eigentlich wie andere Nachtgespenster verkümmern und verenden müssen. Aber unglücklicherweise glaubten sowohl Mary Agnew von der Gazette als auch Percy Follows, der Bibliotheksdirektor, der andere habe es auf sich genommen, den Löwenanteil der Arbeit und der Kosten zu tragen. Als sie ihren beiderseitigen Irrtum erkannten, kursierten bereits Vorankündigungen des Wettbewerbs in der Öffentlichkeit. Agnew, die es wie die meisten alten Hasen der Provinzpresse vorzüglich verstand, das Beste aus unangenehmen Aufgaben zu machen, ergriff nun die Initiative. Sie überredete ihren Verleger, einen kleinen Geldpreis für die beste Geschichte auszusetzen, die überdies in der Zeitung veröffentlicht werden sollte. Und sie sicherte sich die Dienste eines bekannten Preisrichters in Gestalt des Honourable Geoffrey Pyke-Strengler, der sich für die Öffentlichkeit vor allem dadurch empfahl, daß er bereits als Autor hervorgetreten war (mit den Erinnerungen an eine sportliche Karriere, die hauptsächlich im Abschlachten von Fischen, Vögeln und Füchsen bestand). Hinzu kam noch, daß er chronisch pleite war und gelegentlich für die Gazette als Korrespondent aus den ländlichen Gebieten berichtete, sich also in einer Position der Abhängigkeit befand.

Follows schätzte sich bereits glücklich, so glimpflich davongekommen zu sein, als Agnew erklärte, natürlich könne man vom Honourable (dessen Lektüre sich auf Sportzeitschriften beschränkte) nicht erwarten, daß er alle eingereichten Texte selbst durchackerte. Und ihr Team von Spitzenreportern sei viel zu sehr damit beschäftigt, seine eigene unsterbliche Prosa zu verfassen, um die anderer Leute zu lesen. Daher rechne sie damit, daß die Bibliotheksmitarbeiter mit ihrer ausgewiesenen Sachkenntnis auf dem Feld der erzählenden Literatur die Texte sichten und eine kurze Liste zusammenstellen würden.

Percy Follows wußte sofort, daß er den Schwarzen Peter erwischt hatte, und hielt nach jemandem Ausschau, an den er ihn weiterreichen konnte. Alles sprach für Dick Dee, der trotz eines mit Auszeichnung abgeschlossenen Studiums der englischen Sprache und Literatur offenbar nie gelernt hatte, nein zu sagen.

Der beste Einwand, der ihm einfiel, war: »Nun, wir haben ziemlich viel zu tun … Mit wie vielen Einsendungen rechnen Sie denn?«

»So ein Wettbewerb findet keine große Resonanz«, erklärte Follows zuversichtlich. »Ich wäre überrascht, wenn wir in den zweistelligen Bereich kommen. Ein paar Dutzend ist schon das Höchste der Gefühle. Die können Sie in der Pause beim Tee durchsehen.«

»Da müssen wir aber eine Menge Tee trinken«, grummelte Rye, als der erste Sack voller Manuskripte von der Gazette angeliefert wurde. Aber Dick Dee hatte angesichts des Papierbergs nur gelächelt und gesagt: »Die Stunde der verhinderten Dichter. Sortieren wir sie mal durch.«

Die erste Durchsicht hatte noch Spaß gemacht.

Die Idee, alles Nichtgetippte abzulehnen, erschien verlokkend, aber sie erkannten bald, daß diese Maßnahme zu drakonisch war. Als aber weitere Säcke eintrafen, wurde klar, daß sie ein paar Ausschlußkriterien festlegen mußten.

»Nichts in grüner Tinte«, erklärte Dee.

»Nichts auf kleinerem Format als DIN A5«, meinte Rye.

»Nichts Handschriftliches, bei dem die Buchstaben nicht verbunden sind.«

»Nichts ohne sinnvolle Interpunktion.«

»Nichts, was den Gebrauch einer Lupe erfordert.«

»Nichts, an dem organisches Material klebt«, sagte Rye und hielt ein Blatt in die Höhe, das aussah, als hätte es unlängst ein Katzenschälchen ausgekleidet.

Dann kam ihr der Gedanke, daß der unansehnliche Fleck vielleicht von einem Baby herrührte, dessen ans Haus gefesselte Mutter zur Fütterungszeit verzweifelt versuchte, kreativ zu sein. Ein Rest von Schuldgefühl veranlaßte sie, vehement zu protestieren, als Dick fortfuhr: »Nichts mit detaillierten Sexualschilderungen oder Kraftausdrücken.«

Er hörte sich ihre liberalen Argumente mit großer Geduld an und nahm ihre implizite Anschuldigung, er sei bestenfalls verklemmt und schlimmstenfalls Faschist, ohne Groll hin.

Als sie fertig war, entgegnete er freundlich: »Rye, ich stimme dir zu, daß ein guter Fick weder lasterhaft noch ekelerregend, ja, nicht einmal geschmacklos ist. Da aber zweifelsfrei feststeht, daß eine Geschichte, die eine Beschreibung des Akts oder eine Ableitung des ihn beschreibenden Wortes enthält, keinesfalls in der Gazette veröffentlicht wird, erscheint mir das Kriterium doch sinnvoll. Wenn du natürlich jede Geschichte Wort für Wort durchlesen willst …«

Nachdem ein weiterer Sack von der Gazette eintraf, war der Fall erledigt.

Eine Woche später, als immer noch Beiträge eintrudelten und noch neun Tage bis zum Einsendeschluß blieben, zeigte sie sich wesentlich rigoroser als Dee und beförderte Manuskripte nach dem ersten Absatz, nach dem ersten Satz und in manchen Fällen bereits nach dem Lesen der Überschrift in den Papierkorb, während er fast alle seine Texte durchlas und einen wesentlich höheren Kommt-in-Frage-Stapel auftürmte als sie.

Jetzt blickte sie in das Manuskript, mit dem er sie gestört hatte, und sagte: »Erster Dialog? Heißt das, es kommt noch mehr?«

»Dichterische Freiheit, nehme ich an. Du solltest es jedenfalls lesen. Deine Meinung würde mich interessieren.«

Eine Stimme unterbrach sie.

»Hast du den neuen Maupassant schon gefunden, Dick?«

Eine hagere Gestalt baute sich hinter Rye auf und nahm ihr das Licht.

Sie brauchte nicht aufzuschauen, um zu wissen, daß es Charley Penn war, ein regelmäßiger Besucher des Lesesaals und in Mid-Yorkshire noch am ehesten das, was man eine literarische Berühmtheit nennen könnte. Er hatte eine mäßig erfolgreiche Romanreihe verfaßt, die er als »historisch-romantische Abenteuergeschichten« bezeichnete, während die Kritiker von Schmachtfetzen sprachen. Sie spielten vor dem Hintergrund des revolutionären Europas vor 1848, und ihr Held wies gewisse Ähnlichkeiten mit dem Dichter Heinrich Heine auf. Sie lieferten den Stoff für eine beliebte Fernsehserie, in der das Schmachtelement sicherlich mehr zählte als Romantik oder gar Historie. Seine regelmäßigen Besuche in der Bibliothek hatten jedoch nichts mit dem Streben nach Wahrhaftigkeit in seinen Romanen zu tun. In angeheitertem Zustand soll er einmal über seine Leser bemerkt haben: »Man kennt doch die Idioten. Die haben doch von nichts eine Ahnung.« Er hingegen hatte sich umfassende Kenntnisse über die fragliche Zeit angeeignet – und zwar während seiner Arbeit an seinem »eigentlichen« Werk, für das er nun schon viele Jahre recherchierte, nämlich einer kritischen Ausgabe von Heines Gedichten nebst metrischer Übertragung. Rye hatte überrascht vernommen, daß er zusammen mit Dick Dee auf der Schule gewesen war. Die zehn Jahre, die Dees ausgeglichenes Temperament von seinen Vierzig plus abgezogen hatte, waren anscheinend Penn aufgeladen worden, dessen hohle Wangen, tiefliegende Augen und ungepflegter Bart ihm das Aussehen eines alten Wikingers gaben, der schon allzu oft ausgezogen war, um zu plündern und zu schänden.

»Wohl nicht«, antwortete Dee. »Aber ich würde trotzdem gern hören, was ein Fachmann dazu sagt, Charley.«

Penn ging um den Tisch herum, so daß er auf Rye herabblickte, und fletschte seine unregelmäßigen Zähne – Rye vermutete, daß er beabsichtigte zu lächeln, doch dieser Versuch geriet immer unwillkürlich zu einem »Flätscheln«, wie sie es nannte. »Nur wenn du einen unvorhergesehenen Haushaltsüberschuß zugeteilt bekommen hast.«

Wenn seine Meinung als Fachmann gefragt war, oder eigentlich bei jeder Tätigkeit, die mit seinem Beruf zusammenhing, bestand Penn mit einer Hartnäckigkeit darauf, Zeit sei Geld, daß mancher Anwalt daneben freigebig erschien.

»Und was kann ich für dich tun?« fragte Dee.

»Diese Artikel, die du für mich aufgespürt hast, sind die schon da?«

Penn brachte seinen Grundsatz, ein Arbeiter müsse anständig entlohnt werden, ohne weiteres mit der Nutzung von Dees Diensten als unbezahltem Assistenten für seine Recherchen in Einklang.

»Ich schau’ mal nach, ob heute was in der Post ist«, sagte Dee.

Er stand auf und ging in das Büro hinter dem Schreibtisch.

Penn blieb zurück, die Augen auf Rye geheftet.

Sie erwiderte seinen Blick ungerührt und sagte nur: »Ja?«

Schon öfter hatte sie den alten Wikinger dabei ertappt, daß er sie ansah, als verspüre er wieder den Ruf der See, wenn er sich auch bisher mit dem Plündern und Schänden zurückgehalten hatte. Ja, er schien sogar eher dem Knaben aus diesem Stück (wie hieß es doch gleich wieder?) nachzueifern, der im Ardenner Wald umherwandert und Gedichte an Bäume heftet. Denn von Zeit zu Zeit fielen ihr Bruchstücke von Penns Heine-Übersetzung in die Hände. Sie öffnete zum Beispiel eine Akte oder griff nach einem Buch, und da fanden sich ein paar Zeilen über einen traurigen Liebenden, der auf sich selbst hinunterstarrt, wie er zum Fenster seiner Geliebten hinaufstarrt, oder über einen Fichtenbaum einsam im Norden, den die Sehnsucht nach dem heiteren Wedeln einer unerreichbaren Palme fern im Morgenland anficht. Ihr Vorhandensein wurde, wenn denn eine Erklärung nötig war, durch ein Versehen erklärt, begleitet von einem wissenden Flätscheln, das ihr auch jetzt zuteil wurde, als Penn ihr noch »Viel Spaß« wünschte und mit Dee verschwand.

Jetzt widmete sich Rye mit ungeteilter Aufmerksamkeit dem »Ersten Dialog«, überflog ihn erst rasch und las ihn dann noch einmal langsam durch.

Als sie fertig war, saß Dee ihr wieder gegenüber, und Penn hatte seinen gewohnten Platz an einem der Lesetische in einer Nische eingenommen, von wo aus er gern mit bellender Stimme junge Studenten maßregelte, die den Begriff Silentium anders interpretierten als er.

»Was meinst du?« fragte Dee.

»Ich fragte mich nur, warum zum Teufel ich das lese«, entgegnete Rye. »Gut, der Autor versucht, es ganz schlau anzustellen, und benutzt eine einzelne Episode als Aufhänger für ein ganzes Epos, das noch folgen soll, aber eigentlich funktioniert es nicht, oder? Ich meine, worum geht es überhaupt? Eine Art Metapher für das Leben, oder was? Und was soll diese komische Illustration bedeuten? Ich hoffe, du willst mir nicht weismachen, das sei das Beste, was dir bisher untergekommen ist. Wenn ja, möchte ich das andere Zeug aus deinem Kommt-in-Frage-Stapel lieber gar nicht erst sehen.«

Er schüttelte lächelnd den Kopf. Von einem Flätscheln konnte hier nicht die Rede sein. Sein Lächeln war sogar ziemlich sympathisch. Ein besonders netter Zug von ihm war, daß er damit auf Komplimente wie auf Beleidigungen, auf Triumphe wie auf Niederlagen reagierte. Vor einigen Tagen zum Beispiel hätte ein weniger ausgeglichener Mann wohl die Nerven verloren, als ein schlechtverankertes Regal unter dem Gewicht des zwanzigbändigen Oxford English Dictionary zusammenbrach und seine Last auf eine Gruppe städtischer Würdenträger niedergehen ließ, die gerade das frischrenovierte Kulturzentrum besichtigte. Nur einer der Besucher wurde getroffen, ihm fiel der zweite Band mit voller Wucht auf den Zeh. Es handelte sich um Stadtrat Cyril Steel, einen erbitterten Gegner des Zentrums, der im Stadtrat häufig lauthals die »Verschwendung öffentlicher Mittel für einen Haufen windigen Unsinns« angeprangert hatte. Percy Follows, der eine PR-Katastrophe befürchtete, war herumgerannt wie ein verschreckter Pudel, aber Dee hatte einfach in die Fernsehkamera gelächelt, die das Ereignis für BBC Mid-Yorkshire aufzeichnete, und erklärt: »Jetzt wird sogar Stadtrat Steel einräumen müssen, daß ein wenig Gelehrsamkeit eine gefährliche Sache sein kann und unser Unsinn nicht unbedingt windig ist.« Dann hatte er seine Ausführungen fortgesetzt.

Jetzt sagte er: »Nein, wegen mir müssen wir das nicht in die engere Wahl ziehen, obwohl es nicht schlecht geschrieben ist. Was die Zeichnung betrifft, sie ist teils Illustration und teils eine Art Illumination, glaube ich. Wirklich interessant sind aber die Parallelen zu einem Bericht in der heutigen Gazette

Er nahm die Mid-Yorkshire Gazette aus dem Zeitungsgestell. Sie erschien zweimal wöchentlich, am Mittwoch und am Samstag. Es handelte sich um die Mittwochsausgabe. Er schlug die zweite Seite auf, legte sie vor Rye auf den Tisch und deutete mit dem Daumen auf eine Meldung.

AA-Mann stirbt bei tragischem Unfall

Mr. Andrew Ainstable (34), ein Pannenhelfer der Automobile Association, wurde am Dienstag morgen offenbar ertrunken in einem flachen Bach unterhalb der Straße nach Little Bruton aufgefunden. Mr. Ainstable war, wie sich herausstellte, auf dem Weg nach Little Bruton, um dort Starthilfe zu leisten. Thomas Killiwick (27), ein ortsansässiger Farmer, der die Leiche entdeckte, vermutet, daß Mr. Ainstable angehalten hatte, um sich zu erleichtern, dann ausgerutscht und auf den Kopf gefallen war. Die Polizei will sich dazu zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht äußern. Mr. Ainstable hinterläßt seine Frau Agnes und eine verwitwete Mutter. Man rechnet damit, daß in den nächsten Tagen eine gerichtliche Untersuchung anberaumt wird.

»Und, was meinst du?« wollte Dee wissen.

»Ich meine, nach dem Stil dieses Berichts zu urteilen, war es eine weise Entscheidung, daß die Leute von der Gazette es uns überlassen haben, den literarischen Wert dieser Geschichten zu prüfen.«

»Nein. Ich spreche von der Sache mit dem Dialog. Ist doch ein merkwürdiger Zufall, findest du nicht?«

»Eigentlich nicht. Ich glaube, es ist gar kein Zufall. Schriftsteller holen sich ihre Ideen bestimmt oft aus der Zeitung.«

»Aber der Artikel stand erst heute morgen in der Gazette. Und der Text stammt aus den Einsendungen, die sie gestern abend rübergeschickt haben. Also haben sie ihn wohl gestern irgendwann erhalten. Am selben Tag, an dem der arme Kerl da ums Leben gekommen ist, und bevor der Autor etwas darüber gelesen haben kann.«

»Gut, dann ist es also doch ein Zufall«, erwiderte Rye gereizt. »Ich habe gerade eine Geschichte über einen Mann gelesen, der im Lotto gewinnt und dann einen Herzinfarkt bekommt. Ich wage zu behaupten, daß diese Woche tatsächlich irgendwo jemand im Lotto gewonnen und einen Herzinfarkt bekommen hat. Und auch wenn es der Aufmerksamkeit der Pulitzer-Preis-Jäger bei der Gazette entgangen ist, es bleibt doch ein Zufall.«

»Trotzdem«, sagte Dee, der nicht so leicht davon abzubringen war, die Sache merkwürdig zu finden. »Da ist noch was, das Pseudonym fehlt.«

Die Regeln des Wettbewerbs sahen vor, daß die Teilnehmer ein Pseudonym unter den Titel ihrer Erzählung setzten, um eine unparteiische Beurteilung zu gewährleisten. Dasselbe Pseudonym schrieben sie auf einen verschlossenen Umschlag, der ihren wahren Namen und ihre Adresse enthielt. Die Umschläge blieben in der Redaktion der Gazette.

»Dann hat er es halt vergessen«, meinte Rye. »Nicht, daß es wichtig wäre. Die Geschichte wird wohl kaum den Preis bekommen, oder? Also wen schert es, wer sie geschrieben hat? Kann ich jetzt weitermachen?«

Dick Dee hatte dem nichts entgegenzusetzen. Aber Rye fiel auf, daß er das Manuskript weder in den Papierkorb wandern ließ noch auf seinem Kommt-in-Frage-Stapel plazierte, sondern beiseite legte.

Kopfschüttelnd wandte sich Rye der nächsten Erzählung auf ihrem Stapel zu. Sie hieß »Traumzeit« und war mit lila Tinte geschrieben. Eine große, krakelige Handschrift mit durchschnittlich vier Wörtern pro Zeile. Sie begann so:

Als ich heute morgen aufwachte, stellte ich fest, daß ich einen feuchten Traum gehabt hatte, und als ich so dalag und mich zu erinnern versuchte, bemerkte ich, wie mich wieder die Erregung packte …

Seufzend beförderte sie den Text in den Papierkorb und nahm sich den nächsten.

Drei

Was für ein beschissenes S-p-ielchen haben Sie jetzt wieder im Sinn, Roote?« sagte Peter Pascoe und fletschte dabei die Zähne.

Das war eine Form der Kommunikation, die ihm nicht leicht fiel, und sein Bemühen, die Schneidezähne zu entblößen, während er gleichzeitig den Verschlußlaut P aussprach, führte zu einem melodramatisch-orientalischen Klangeffekt, ohne freilich die erwünschte bedrohliche Wirkung zu erzielen. Er mußte das nächste Mal genauer aufpassen, wenn ihn der Hund seiner Tochter anfletschte, der Männer nicht mochte.

Roote schob das Heft, in das er gerade kritzelte, unter die Gazette und betrachtete ihn mit einem Ausdruck liebenswürdiger Verwunderung.

»Verzeihung, Mr. Pascoe? Ich kann nicht ganz folgen. Ich spiele überhaupt nicht, und ich glaube, die Regeln des Spielchens, auf das Sie anspielen, sind mir unbekannt. Brauche ich dafür auch einen Schläger?«

Lächelnd blickte er auf Pascoes Sporttasche, aus der der Griff eines Squashschlägers ragte.

Stichwort für ein weiteres Zähnefletschen, das ausdrücken sollte: Du hältst dich wohl für ein ganz schlaues Kerlchen, Roote!

Das Ganze erinnerte allmählich an ein schlechtes Fernseh-Drehbuch.

Er hatte sich aber nicht nur bemüht, die Zähne zu fletschen, sondern auch versucht, sich bedrohlich vor Roote aufzubauen. Natürlich konnte er nicht wissen, wie bedrohlich seine Körperhaltung auf einen zufälligen Beobachter wirkte, aber es war die Hölle für seinen verspannten Schultergürtel, dem er das vorzeitige Ende seiner ersten Squashpartie seit fünf Jahren zu verdanken hatte. Vorzeitig? Dreißig Sekunden nach Beginn des Vorspiels, das war demütigend präpenetrativ.

Sein Gegner hatte sich rührend um ihn gekümmert und ihm im Umkleideraum Mittel zur äußeren und in der Bar des University Staff Club solche zur inneren Anwendung verabreicht – und das ganz ohne schadenfrohes Kichern. Dennoch hatte sich Pascoe belächelt gefühlt. Als er dann durch die reizende gepflegte Gartenanlage zum Parkplatz ging und Franny Roote sah, der auf einer Bank saß und ihn angrinste, war seine sorgsam unterdrückte Wut aufgewallt, und bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte, hatte er sich schon bedrohlich vor ihm aufgebaut und die Zähne gefletscht.

Es war an der Zeit, die Rolle zu wechseln.

Er versuchte, sich zu entspannen, setzte sich auf die Bank, lehnte sich zurück, zuckte vor Schmerz zusammen und sagte: »Okay, Mr. Roote. Fangen wir noch mal von vorne an. Wären Sie so nett, mir zu sagen, was Sie hier machen?«

»Mittagspause«, entgegnete Roote. Er hielt eine braune Papiertüte in die Höhe und leerte ihren Inhalt auf der Zeitung aus. »Baguette plus Salat mit Mayo, fettarm. Apfel, Granny Smith. Und eine Flasche Leitungswasser.«

Das paßte. Roote sah nicht gerade aus, als würde er sich besonders energiereich ernähren. Er war mager, beinahe schon ausgemergelt, ein Zustand, der durch seine schwarze Freizeithose und das T-Shirt noch unterstrichen wurde. Sein Gesicht war fahl wie glattgeschliffenes Treibholz und sein blondes Haar so kurz geschoren, daß er fast kahl wirkte.

»Mr. Roote«, begann Pascoe vorsichtig, »Sie wohnen und arbeiten in Sheffield, und das heißt, daß es selbst mit einer großzügig bemessenen Mittagspause und einem sehr schnellen Auto eine ausgefallene Idee wäre, ausgerechnet hier zu vespern. Außerdem ist es das dritte, nein, ich glaube, das vierte Mal, daß ich Sie im Lauf der letzten Woche in meiner Nähe gesehen habe.«

Zum ersten Mal hatte er ihn am frühen Abend auf der Heimfahrt von der Mid-Yorkshire-Polizeizentrale auf der Straße bemerkt. Ein paar Tage später war er mit Ellie ins Kino gegangen, und als sie nach der Vorstellung aufstanden, hatte er Roote fünf oder sechs Reihen hinter sich entdeckt. Und letzten Sonntag bei einem Spaziergang mit seiner Tochter Rosie im Charter Park, wo sie Schwäne fütterten, hatte er eine schwarzgekleidete Gestalt erspäht, die auf der Bühne des unbenutzten Musikpavillons stand.

Da hatte er sich vorgenommen, in Sheffield anzurufen, aber am Montag war dafür keine Zeit gewesen, und am Dienstag erschien ihm die Angelegenheit bereits zu trivial, um so viel Aufhebens davon zu machen. Jetzt aber, am Mittwoch, tauchte der Kerl wie ein schwarzer Unglücksvogel wieder auf, und diesmal in unmittelbarer Nähe, daß es kein bloßer Zufall sein konnte.

»Oh, Mann, jetzt hab’ ich’s. Ja, Sie sind mir auch schon ein paarmal aufgefallen, und als ich Sie gerade eben aus dem Staff Club kommen sah, dachte ich, nur gut, daß du nicht paranoid bist, Franny, alter Junge, sonst würdest du jetzt denken, daß Chief Inspector Pascoe dich beschattet.«

Das war eine wirklich atemberaubende Verdrehung der Tatsachen.

Aber auch eine Warnung, mit größter Vorsicht vorzugehen.

»Dann ist es also für uns beide nur ein Zufall«, sagte Pascoe. »Der Unterschied ist aber der, daß ich hier wohne und arbeite.«

»Ich auch«, erwiderte Roote. »Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich schon mal anfange? Ich hab’ nur eine Stunde Zeit.«

Er biß kräftig in sein Baguette. Seine Zähne waren makellos, von einer beinahe künstlichen Regelmäßigkeit und so leuchtend weiß, daß sie auf einer Hollywood-Gala wunderbar die Blitzlichter reflektiert hätten. Die zahnärztliche Versorgung bei Strafgefangenen mußte sich in den letzten Jahren erheblich verbessert haben.

»Sie wohnen und arbeiten hier?« fragte Pascoe. »Seit wann?«

Roote kaute und schluckte.

»Seit ein paar Wochen«, antwortete er.

»Und warum?«

Roote lächelte. Wieder die Zähne. Er war wirklich ein hübscher Junge gewesen.

»Ich würde sagen, ich habe es eigentlich Ihnen zu verdanken, Mr. Pascoe. Ja, eigentlich sind Sie der Grund dafür, daß ich zurückgekommen bin.«

Ein Eingeständnis? Womöglich ein Geständnis? Nein, nicht von Franny Roote, der stets die Fäden in der Hand behielt. Selbst wenn man mitten in der Szene das Drehbuch änderte, blieb er der Regisseur des Ganzen.

»Was soll das heißen?« fragte Pascoe.

»Wissen Sie, nach dem kleinen Mißverständnis in Sheffield habe ich meine Stelle im Krankenhaus verloren. Nein, bitte denken Sie nicht, daß ich Ihnen die Schuld zuschieben will, Mr. Pascoe. Sie haben nur Ihre Arbeit getan, und es war meine Entscheidung, mir die Handgelenke aufzuschneiden. Aber die Leute im Krankenhaus schlossen offenbar daraus, daß ich krank sei, und kranke Menschen sind in einem Krankenhaus natürlich am wenigsten willkommen. Es sei denn, sie liegen flach. Und kaum hatte man die Anschuldigungen fallengelassen, da ließen mich auch meine Arbeitgeber fallen.«

»Tut mir leid«, meinte Pascoe.

»Nein, bitte, wie gesagt, Sie tragen keine Verantwortung. Auf jeden Fall hätte ich dagegen angehen können, der Betriebsrat hätte eine Lanze für mich gebrochen, und alle meine Freunde waren sehr hilfsbereit. Ja, ich bin mir sicher, das Arbeitsgericht hätte zu meinen Gunsten entschieden. Aber es schien mir der richtige Zeitpunkt für einen Tapetenwechsel. Ich bin da drinnen nicht religiös geworden, Mr. Pascoe, nicht in dem Sinne, aber ich bin zu der Einsicht gelangt, daß es für alle Dinge unter der Sonne den richtigen Zeitpunkt gibt, und ein Mensch, der die Zeichen nicht beachtet, schlecht beraten ist. Also machen Sie sich keine Gedanken.«

Er bietet mir Absolution an! dachte Pascoe. Einen Augenblick fletsche ich bedrohlich die Zähne, im nächsten liege ich auf den Knien und werde von meinen Sünden freigesprochen!

»Das erklärt immer noch nicht …«, wandte er ein.

»Warum ich hier bin?« Roote biß noch einmal ab, kaute, schluckte. »Ich arbeite für die Gärtnerei der Universität. Ist was ganz anderes, ich weiß, aber die Veränderung ist mir recht angenehm. Als Krankenhauspförtner steht man gut da, aber man hält sich meistens im Haus auf und hat so viel mit Toten zu tun. Jetzt bin ich an der frischen Luft, und rundum lebt alles! Sogar wenn der Herbst kommt, gibt es noch jede Menge Leben und Wachstum. Gut, dann kommt der Winter, aber auch das ist nicht das Ende aller Dinge, nicht wahr? Nur ein langer Schlaf, ein Kräftesparen, ein Warten auf das Zeichen, wieder hervorzutreten und zu erblühen. Ein bißchen wie das Gefängnis, wenn der Vergleich nicht zu weit hergeholt ist.«

Er nimmt mich auf die Schippe, dachte Pascoe. Da muß ich wohl mal die Peitsche knallen lassen.

»Die Welt ist voller Gärten«, entgegnete er kühl. »Warum ausgerechnet dieser? Warum sind Sie nach Mid-Yorkshire zurückgekommen?«

»Oh, tut mir leid, das hätte ich erwähnen sollen. Es geht um meinen anderen Job, meine eigentliche Beschäftigung – meine Doktorarbeit. Sie wissen doch, daß ich an meiner Dissertation arbeite? Rache und Vergeltung im englischen Drama? Natürlich, Sie wissen es. Das Thema hat Sie doch damals auf die falsche Spur gebracht, nicht wahr? Ich kann das verstehen, wo doch Mrs. Pascoe bedroht wurde und so weiter. Die Sache haben Sie aber geklärt, oder? In den Zeitungen habe ich jedenfalls nichts darüber gefunden.«

Er verstummte und sah Pascoe fragend an, der schließlich antwortete: »Ja, wir haben das geklärt. Und in den Zeitungen stand nicht viel.«