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AUS DEM
ISLÄNDISCHEN
VON
KARL-LUDWIG WETZIG

Impressum

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Tropen

www.tropen.de

 

© 2015 by Hallgrímur Helgason

Für die deutsche Ausgabe

© 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlag: Herburg Weiland, München

Unter Verwendung einer Fotografie von Frank Stolle

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-50151-3

E-Book: ISBN 978-3-608-10834-7

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

 

Die Zitate aus Halldór Laxness’ Roman Sein eigener Herr folgen der deutschen Übersetzung von Bruno Kress, Göttingen: Steidl, 1998.

Inhalt

1Deutsche Bundesbahn

26,40 DM

3Hohenzollernstraße

4Joghurt und Käse

5Rotten und Reagan

6München Hell

7Frau Mitchell

8Krankenhaus

9Schwabing

10Zelle 1981

11Pershing II

12Vomito d’artista

13»Boredom is just a lack of attention«

1410AAA+++

15Artline

16The Large Glass

17Polizei

18Villeroy & Boch

19Spazieren gehen

20Spatenbräu, Festzelt

21Liebe Genossen

22Das Biermeer

23Zulassungsprüfung

24Hippiescher Garten

25BHV

26Die Neuen Wilden

27Der Knall

28Der Winter kommt nach Bayern

29Olympiastadion

30Der Stiefelkönig

31Der heilige Joseph von Kleve

32»Al gabinetto!«

33Norwegisches Institut für Wald und Landschaft

34München leuchtet

35Italienische Reise

36Antonella Pasetti

37Schweizerische Bundesbahnen

38Cinema pornografico

39Pittura concettuale

40Trattoria La Luna

41Dante Carabinieri

42Bistecca fiorentina

43Unsere Nordischen Freunde

44Camera numero trentadue

458 Minutes of Gold

46»Das ist Literatur.«

47»If you leave me now, you’ll take away the biggest part of me.«

48Einsamkeit hat viele Namen

49Haltestelle

50Der Splash

51Sigurs Abend

52Siegermorgen

53Deutsche Demokratische Republik

54Ein Porträt des Künstlers als junger Ossi

55Sprengstoffdetektor

56Zelle 128

57Herr Oskarsson

58Das Relief in der Mittagsbar

59Morgen an der Skúlagata

60Auf Seite 23, rechts

1

Deutsche Bundesbahn

Er saß am Fenster und sah zu, wie Westdeutschland vorbeiflog. Straßen, Bäume, Häuser in schnellem Vorlauf. Wenigstens standen die Kühe in stoischer Ruhe und ließen sich von den Weiden in die Augen der Betrachter werfen. Der Himmel mit einer sinkenden Septembersonne über rasenden Baumwipfeln zog langsamer vorüber.

Die Reisenden warteten darauf, dass die Stadt näher kam.

Neben ihm im Abteil döste eine mollige Frau mit kurz geschnittenen Haaren, die nackten Oberarme von den Widrigkeiten des Lebens ausgestopft. Der junge Mann warf aus den Augenwinkeln Blicke auf das rotfleckige Fleisch und achtete sehr darauf, nicht damit in Berührung zu kommen, er fürchtete kaum etwas mehr als die Probleme anderer. Auf dem Sitz gegenüber, am Gang neben Abteiltür und schaukelndem Vorhang, saß ein Herr mit Goldrandbrille, feingliedrigen Händen, Bart und einem Nest krauser Haare im Nacken und las eine landkartengroße Tageszeitung; auf dem mittleren Platz neben ihm schwankte eine ältere Frau mit dünnen Lippen und feinem Damenbärtchen und löste in einer Illustrierten ein Kreuzworträtsel mit stumpfem Bleistift. Dem jungen Mann missfiel beides. Warum etwas so kostbares wie Zeit totschlagen? Stumpfer Bleistift, stumpfer Verstand!

Er selbst wollte nicht einen Augenblick verpassen. Das Zugfenster zeigte einen fünf Stunden langen Film, der ihn die ganze Zeit über fesselte. In dem Buch, das er bei sich hatte, kam er nicht weiter. Joyce, Ein Porträt des Künstlers als junger Mann. Wie Hunde in Lichtgeschwindigkeit beschnupperten seine Augen jedes Laubblatt, das vorbeischoss. Er war gerade erst Anfang zwanzig, jeder Tag war ein Schrank voll hochglanzpolierter Wunder. Sonnenaufgang in Keflavík, Holland aus der Luft, das Logo der Deutschen Bundesbahn …

Der junge Mann war hier schon einmal entlanggefahren, doch nicht bei Tageslicht. Alle Isländer, die Europa bereisen wollten, mussten den Zug nehmen. Alle Maschinen aus Island landeten in Luxemburg, von dort ging es per Bus nach Frankfurt und dann weiter im Zug. Die Isländer hatten sich als Einfallstor nach Europa ein Land ausgesucht, das noch kleiner war als das ihre, und einen Flughafen, der noch unansehnlicher war als der ihre zu Hause, einen Flugplatz, der anderen Fluggesellschaften als der isländischen völlig unbekannt war, denn kein anderes Flugzeug landete dort. Niemand in Europa kannte dieses verborgene Zwergenland, das ein Volk beherbergte, das nur ein klein wenig größer war als das isländische, aber noch weniger von sich hielt. Selbst den Bäumen hier fehlte das Selbstvertrauen, das ihre belaubten Brüder jenseits der Grenze ausstrahlten. Die Winznation aus dem Nordatlantik betrat den Kontinent wie ein Partygast, der durch die Klotür eintritt, niemanden grüßt und so tut, als sei er schon seit Langem da. Falls dem überhaupt jemand Beachtung schenkte. Keiner hier kannte Island, und Island kannte keinen.

»From island?«, fragte sein Sitznachbar im Bus, ein Rucksackreisender aus Italien. Aus seinem Mund kam das Wort »Insel«, doch in seinen Augen stand zu lesen, dass er Irland meinte.

Jung stakste wie ein langbeiniges Kind in den Frankfurter Eisenbahntempel, eingeschüchtert und unfähig zu sprechen, ein einziges großes Auge. Die Wände bestanden aus drei Meter dicken Mauern, und die Halle war doppelt so hoch wie die größte Sporthalle in Island. Eine weibliche Stimme hallte durch das Gewölbe, und tausend Gesichter schwebten vorbei, jedes von den Spuren seines Lebens geprägt. Riesige Werbetafeln bedeckten die Wände: Ein Cowboy mit schneeweißem Hut, der vor bizarren Felsen in Utah eine Go West qualmte. Im Ostblock zierten Helden der Sowjetunion und bärtige Intellektuelle die Brandmauern der Häuser, die Ahnväter des Kommunismus, hier im Westen stellten Models in der Raucherpause die Idole dar. Mit dieser Erkenntnis und zwei schweren Koffern schleppte er sich in die Schalterhalle. Er schwitzte heftig; ein isländischer Wintermantel war für einen deutschen Spätsommertag eindeutig zu warm. Aber das Ungetüm passte in keinen Koffer. Der dunkelblaue Mantel hatte eine Kapuze und war entfernt mit den legendären Dufflecoats verwandt, wurde mit einem Reißverschluss geschlossen und war aus einem derart steifen Wollstoff, dass er sich in etwa so bequem wie ein Fußabtreter trug.

Seine Brieftasche befand sich an Ort und Stelle unter der Kleidung. Ticket, Geld, Pass. Seine Mutter hatte es ihm eingeschärft, noch zu Hause, im Auto und am Flughafen: Ticket, Geld, Pass. Er hatte vorgehabt, mit dem frisch gestempelten Letzteren seinen Eltern zuzuwinken, die ihrem Jungen vom Eingangsbereich des Flughafens auf seinem Weg hinaus in die Welt nachblicken wollten, doch ein großer, dicker Mann hatte sich in der Tür postiert, und Jung hatte sich nach links beugen müssen, um mit dem linken Auge seinen Vater zu verabschieden, und dann schnell nach rechts, um mit dem rechten noch einen Blick auf seine Mutter zu erhaschen.

Die Geldbörse war handgenäht von seiner Großmutter aus den Ostfjorden, die im Zimmer neben dem des Jungen wohnte, im gleichen Alter wie das Jahrhundert war und zwei klobige Hör-geräte hinter den Ohren trug. Sie war weder je im Ausland ge-wesen noch hatte sie jemals eine Hose getragen, dafür schlich sie mit einer ewig feuchten Unterlippe herum, überall von den Fur-chen ihres Alters durchzogen wie ein Berghang bei der Schneeschmelze, sie ging durch das Haus ihres Sohns, so leise wie die ledergebundene Geschichte Islands, schlenkerte dabei mit von ewiger Arbeit langgezogenen Armen, die in großen, kräftigen Händen endeten, sodass sie eher an Ruder als an Körperteile erinnerten. Seit der Großvater 1940 gestorben war, war sie allein durchs Leben gerudert, allein mit drei Söhnen an Bord und zweien auf dem Hof.

An die Geldbörse war ein weißes Gummiband angenäht, wie der junge Mann es vom Gummitwist der Mädchen kannte. Er hatte es in aller Herrgottsfrühe in Reykjavík über die Hüfte gestreift wie ein primitives Strumpfband und die Börse anschließend in die Unterhose gestopft. Das ist sicherer. Der dicke Pass spannte das kühle Kunststoffmaterial und erinnerte ihn bei jedem Schritt, wenn die Außenkante der Brieftasche gegen die Innenseite seines Schenkels stieß, an die gut gemeinte Litanei.

»En wurst …«

Der langbeinige Junge bestückte ein deutsches Wort unversehens mit einem dänischen Artikel, vergaß aber, das Substantiv mit einem Großbuchstaben anzufangen. Das war zu hören. Und er vergaß obendrein ein bitte. Das Isländische verwendete keine überflüssigen Höflichkeitsfloskeln dieser Art. Es gab ja auch nur drei Restaurants in Island. Einmal hatte er eines von ihnen besucht. Das war acht Jahre her. Büfett im Hotel Loftleiðir. Die Butter hatte in großen Kugeln auf Eiswürfeln in einer Glasschüssel gelegen, um sie kühl zu halten. Er hatte sich drei Kugeln davon mit einem Löffel auf einen tiefen Teller gepackt und welterfahren den jüngeren Zwillingsbrüdern erklärt, es handele sich um Vanilleeis, war dann aber beim ersten Bissen eines Besseren belehrt worden. Mittlerweile waren seine Brüder sechzehn, wärmten die Anekdote aber regelmäßig wieder auf und lachten noch immer darüber.

Die Wurst kam mit großem Anfangsbuchstaben und gelbem Senf. Zu den Vorfahren des jungen Mannes gehörte im 19. Jahrhundert ein deutscher Kaufmann, und im hintersten Winkel seines Inneren war ein Frohlocken zu vernehmen, irgendwelche schnauzbärtigen Gene leckten sich die Lippen, sie waren endlich in die Welt hinausgekommen, an den Rand eines Bahnhofs. Weiße Tischtücher und harte Sitzbänke. Und filztrockene Bierdeckel mit Schriftzügen in Schönschrift. Der Kellner fragte, ob er ein Bier wolle, aber er lehnte ab. In Island war Bier verboten. Der junge Mann hatte in seinem Leben noch nie Bier getrunken und wollte hier nicht damit anfangen. Ticket, Geld, Pass.

2

6,40 DM

Mit dem Zug in eine Stadt zu kommen ist etwa so, wie einen Menschen durch ein Vergrößerungsglas kennenzulernen. Zuerst erkundet man die Zehennägel, dann den Spann, dann das Bein. Wie mochte der Mensch in Wahrheit aussehen? Wir versuchen, uns ein Gesamtbild ausgehend von Knöcheln und Nasenflügeln zu machen.

Der Himmel war warmblau, die letzten Strahlen des Tages blitzten hier und da waagerecht um Hausecken wie vergoldete Wasserstrahlen. Er kniff die Augen zusammen und sah der Vermehrung der Oberleitungen zu, ihr Netz schien immer dichter zu werden, je näher sie kamen, als wäre die Stadt eine Spinne in der Mitte ihres Netzes. Jung fasste sich ans Gesicht wie eine Fliege, die ihren Kopf mit den beiden Vorderbeinen putzt, und rieb sich seinen Gesichtsausdruck weg; er wollte einer neuen Stadt nicht mit einer alten Grimasse entgegentreten. In einem Mundwinkel trat unter der Haut ein hässlicher Pickel hervor.

Das Einzige, was er von München kannte, waren Boney M und der FC Bayern München. Er hatte nie nach München gewollt. Eigentlich hatte er ins geteilte Berlin gehen wollen, mit der faszinierenden Mauer und der Atmosphäre des Kalten Krieges, er wollte ein freier Künstler werden, in der Freien Stadt West-Berlin, frei von allem – von Freunden, Familie, Schule und Land. Aber der Sohn des Dichters hatte über diese Idee nur geschnaubt.

»Du darfst dich in Deutschland gar nicht aufhalten, außer wenn du eine Schule besuchst.«

»Eine Schule?«

»Ja, warum bewirbst du dich nicht an der Kunsthochschule?«

»Schule halte ich nicht aus. Ich habe die Nase voll von Schulen.«

»Nach nur einem Winter ›Bild und Hand‹?«

»Ja. Schule ist was für Heulsusen.«

»Aber was willst du denn machen in Berlin?«

»Ich will da nur sein.«

»Sein?«

»Ich sein.«

»Das geht nicht. Du musst studieren oder eine Arbeit haben.«

»Aber das ist doch Arbeit.«

Der Sohn des Dichters hatte hingegen gleich gewusst, was er wollte, und sich an der Uni Freiburg für Literaturwissenschaft eingeschrieben. Hölderlin, Heine, Handke, das waren Männer nach seinem Geschmack. Er war jemand, dessen Wort Gewicht hatte. Er las und sprach Deutsch, kannte Deutschland, sein Vater hatte ein Gedicht auf den Kölner Dom geschrieben. Und es stimmte natürlich, was er sagte. In West-Berlin wäre der junge Mann auf der Straße angehalten worden, nach seinem Ausweis und persönlichen Angaben gefragt und dann ins Kittchen gesteckt worden. In großen Ländern hing alles an Stempeln. Obwohl das west-liche Wirtschaftssystem angeblich auf der »Freiheit des Einzelnen« beruhte, fürchtete es kaum etwas mehr als die wirkliche Freiheit des Einzelnen. Er entschloss sich, nachzugeben und sich an einer Hochschule zu bewerben, aber da waren die Fristen abgelaufen, außer an der Kunstakademie in München.

Der Name der Stadt dröhnte aus einem Lautsprecher über dem Zugfenster, der wie ein vorsintflutliches Radio aussah. Sein Herz machte einen Satz, und Jung sprang auf. Er hatte drei Minuten zum Aussteigen, drei Minuten und zwei Koffer … Ticket, Geld, Pass. Er warf sich mit ausholenden Bewegungen in den Mantel und schlug dem Mann mit den feingliedrigen Händen fast die Zeitung aus denselben, drehte sich um und wischte aus Versehen mit den Schößen über das Kreuzworträtsel der Frau in der Mitte, als er die Koffer aus dem Gepäcknetz über den Sitzen zerrte. Er kam aus einem dünn besiedelten, weiten Land und war beengte Verhältnisse nicht gewöhnt. Darum stieß er heftig mit dem Schnurrbärtigen zusammen, der sich ebenfalls erhoben hatte.

»Bitte!«

»Excusigung.«

Die Sonne war hinter der Stadt zu einem anderen Horizont verschwunden, hatte aber die meiste Hitze auf dem schattigen Bahnsteig zurückgelassen. Der junge Mann vergoss Schweiß in Strömen, als er seine beiden Gepäckstücke, eines dieser modernen Plastikungetüme, riesig und weinrot, und einen dunkelbraunen Koffer härterer Machart, in Etappen den Bahnsteig entlangschleppte. Die reisegeübten Bayern überholten ihn mit ihren großen Zeitungen unter dem Arm oder einem kleinen Hündchen an der Leine. Die Leute waren erstaunlich leicht gekleidet, ohne Mäntel, nur in kurzärmeligen Hemden, manche sogar in kurzen Hosen, ein Mann barfuß in Sandalen. Und er hatte gedacht, die Deutschen seien Menschen, bei denen Ordnung und Anstand herrschten.

Er blieb unter einer riesengroßen schwarzen Anschlagtafel stehen, die die Abfahrt der Züge anzeigte. In Zeilen von Rechtecken erschienen jeder Buchstabe und jede Zahl in einem eigenen schwarzen Kästchen. Wenn eine Anzeige geändert werden musste, blätterten Täfelchen um, bis die richtige Nummer erschien. Fasziniert sah sich Jung dieses Umblättern eine Weile an, das Geräusch, das dabei entstand, erinnerte ihn an das Klopfen von Schwimmhäuten auf einem nachtstillen Hochlandsee.

Westdeutsche Taxis waren beigegelb lackiert und sahen aus wie Buttercremeschnitten. Dagegen mussten ostdeutsche Taxis natürlich kartoffelgelb sein. Oder gab es da gar keine Taxis? Aber wer hatte bloß diese grässliche Farbe ausgesucht? Dem Isländer wurde ein wenig flau, als er draußen vor dem Bahnhof vor der Reihe von cremegelben, fetten Mercedes-Limousinen stand. Er schaffte es, einem schwermütigen Fahrer mit Hängebauch, der bei jedem Koffer schnaufte, eine Adresse zu nennen, und beobachtete dann vom Rücksitz aus den Taxameter wie ein Schießhund. Lass dich nicht übers Ohr hauen!

Der Taxameter zeigte 2 Mark und 70 Pfennig, 3 Mark, 3 Mark und 30 Pfennig … Der Preis kletterte gleichmäßig weiter. Er stieg sogar, wenn das Taxi stand. 30 Pfennig für einmal Warten an einer roten Ampel! Unverschämtheit! Auf der Toilette im Zug hatte er einen Fünfmarkschein aus der Geldbörse gezerrt, um Geld für das Taxi parat zu haben, aber jetzt stand die Taxiuhr schon bei 4,40 DM. Hätte er besser kein Taxi genommen? Doch, nimm vom Bahnhof ein Taxi. Das ist das Einfachste. Hatte seine Mutter gesagt. Aber sie hatte ihm andererseits auch eingeschärft: Verschwende dein Geld nicht für Überflüssiges wie Taxis. Mama war Meisterin der Flexibilität.

»Ist das dein Ernst, allein nach Deutschland zu gehen, bevor du den Abschluss von der Kunsthochschule hast?«

»Ja, die Kunsthochschule ist nichts für mich.«

»Aha. Nun, es wird dir sicher gut tun, etwas von der Welt zu sehen.«

Und jetzt stand er mit zwei Koffern schweißgebadet in einem blauen Mantel auf einem Bürgersteig im Herzen des Kontinents und war ein wenig verunsichert, nachdem er hinter dem Hosenbund nach zwei weiteren Markstücken hatte fischen müssen. Das cremegelbe Taxi entfernte sich, bis es etwa noch so groß war wie das flaue Gefühl in seinem Bauch.

3

Hohenzollernstraße

Seine Mutter kannte eine Frau, die einen Sohn hatte, der in München Philosophie studierte. So kam es, dass der junge Mann Zugang zu dessen etwa schrankgroßer Bleibe auf der vierten Etage eines Studentenwohnheims erhielt. Der Sohn war noch nicht eingetroffen, und deshalb durfte Jung die erste Woche in dieser Behausung verbringen.

Das Haus besaß keinen Aufzug, er musste zweimal laufen, um seine Koffer auf die vierte Etage zu schleppen. Nach der ersten hatte sich der Mantel in eine finnische Sauna verwandelt. Er kam trotzdem nicht auf den Gedanken, ihn auszuziehen. Wenn man jung ist, hat man mehr in den Beinen als im Kopf.

Er holte tief Luft, wischte sich den Schweiß von der Stirn und trocknete die Hand am Mantel ab, ehe er sie dem Mann reichte, der oben auf dem Treppenabsatz auf ihn wartete. Seinem Akzent nach zu urteilen war er Schweizer, hager und mit schütterem Haar, gelblich brauner Haut, grauem T-Shirt. Worte kamen aus ihm heraus wie Schinkenstückchen aus einem Fonduetopf. Es dauerte ein Weilchen, bis Jungs Ohr die deutschen Worte verstand, die in dem Schweizer Käse steckten. Der Mann mit dem schütteren Haar zeigte Jung die Unterkunft und führte ihn einen langen, braun glänzenden Flur entlang, klimperte dabei mit seinem Schlüsselbund und glich unangenehm einem Gefängniswärter. Endlich blieb er vor einer Tür stehen und schloss auf. Der Isländer bedankte sich und schob sich mit den Koffern quer in die Zelle. Die Wände waren getäfelt, ein Schreibtisch unter einem kleinen Fenster, ein winziges Waschbecken seitlich daneben und, davon abgetrennt, ein schmales Bett: das Zimmer des Philosophiestudenten.

Der junge Mann war seltsam unempfänglich für die erhabenste Disziplin des menschlichen Geistes. Nachdem er um Weihnachten sein Abschlussexamen absolviert hatte, hatte er den halben Winter an der Universität Islands in Philosophieseminaren gehockt und mit grünem Kugelschreiber unter eisweißem Neonlicht einige Notizbücher mit Stichwörtern und Kritzeleien an den Seitenrändern gefüllt. »Wie begann die Kausalkette, und wo trat die Vernunft des Menschen auf den Plan? Entsteht Wissen aus Erfahrung oder aus logischem Denken?« Zu solchen Fragen hegten viele kluge Köpfe (Spinoza, Leibniz, Hume, Kant …) Ansichten, die auf den jungen Mann wie algebraische Formeln wirkten. Doch anders als bei der Mathematik, deren Zweck – obwohl er selbst sie nicht begriff – in der Welt der Wissenschaften und im Ingenieurswesen zu liegen schien, konnte er absolut keinen Sinn in diesen philosophischen Spekulationen erkennen. Er verstand nicht, warum sich Menschen überhaupt mit solchem Blödsinn abgaben. Nach der Natur des Lebens zu suchen und seine Beschaffenheit zu sezieren, konnte man vielleicht eine edle Tätigkeit nennen, ihm aber kam das wie die ebenso erhabene Aufgabe vor, nach den Anfängen des Universums zu suchen. Unnützes Kratzen an verschlossenen Türen. »Lasst die Geheimnisse Geheimnisse bleiben und das Leben hell!«, hörte er es in den hintersten Gängen seines Verstandes brüllen, in einer ausgestorbenen Sprache, die er dennoch zu verstehen schien. Er wollte etwas über dieses Leben zum Ausdruck bringen, sagen, wie es ihm erschien, aber dabei war ihm vollkommen egal, warum es so war, wie es war, welcher Art es war, oder wo es herkam. Er hielt es nicht für ein Zeichen von Klugheit, »kluge« Fragen zu stellen, sondern klug erschien es ihm, gerade die nicht zu stellen.

Anstatt in der Nationalbibliothek an der Hverfisgata über der Kritik der reinen Vernunft oder Anarchy, State and Utopia zu brüten, zog er ein knallgelbes Taschenbuch mit einem weißhaarigen Großphilosophen auf dem Titelbild aus seiner Tasche, auf das er in einer Buchhandlung gestoßen war und aus dem er erst wieder auftauchte, nachdem er es vollständig gelesen hatte: From A to B and Back Again: The Philosophy of Andy Warhol. »Ich glaube nicht an den Tod, denn wenn er kommt, bin ich weg.« War das nicht wahre Philosophie? Eine, die die ewigen Fragen auf die einzige Weise beantwortete, die dem Menschen zu Gebote stand: schräg, absurd. Jung hatte über den ehrwürdigen Lesesaal geblickt, über eifrig lesende Studenten und den gänzlich kahlköpfigen Bibliothekar, und er hatte sich ein wenig über diese kleine, ernste Stadt erhaben gefühlt.

»Das Leben ist wie Kaffee. Es kühlt nur ab, wenn man zu tief hineinsieht«, hatte er dem Mädchen mit den kurzen Haaren und den großen Brüsten gesagt, als sie am Morgen nach der vorherigen Nacht über einen schneeknirschenden Bürgersteig der tief stehenden Wintersonne entgegengingen. Der Vorabend hatte in einer bis in die Nacht dauernden, aber eher langweiligen Party in ihrer Wohnung an der Ringbraut geendet, auf der auf Bärte versessene, kaum beflaumte Altersgenossen mithilfe von Hegel-, Marx- und Habermaszitaten die Existenz zu sezieren suchten, untermalt von der Musik einer Band namens Yes, die in ihm nur ein großes No hervorrief. Dennoch war er als Letzter gegangen oder, richtiger, nicht gegangen. Sie waren vor Kurzem aufgewacht.

»Besser man nimmt einen Schluck, solange er noch heiß ist«, war er fortgefahren, im steifen, blauen Wollmantel, mit scharf zusammengezogenen Augenbrauen und sonnenhellem Haar.

Sie hatte lächelnd zu ihm aufgeblickt aus ihrem rundlichen Gesicht mit der kleinen Nase, aber großen, dunklen Augen und darunter ein paar hübschen Sommersprossen.

»Ja, und wir haben uns einen großen Schluck genehmigt!«

Er hatte gelacht, konnte sich aber kaum erinnern, was eigentlich passiert war. Die Party war dermaßen öde gewesen, dass er sich in ein Glas mit Wodka gemixten Nachtdunkels geflüchtet hatte. Es hatte ekelhaft geschmeckt, war aber immer noch besser als Yes und Marx gewesen.

»Erzähl mir nicht, du seist auf Linie. Im fünften Band sagt Mao ganz klar, dass das Industrieproletariat die Revolution anführt. Händler und Kaufleute sind nicht das Volk. Ich meine, guck dir nur deine Mutter an! Sie kann niemals die Revolution anführen. Genau das ist es, woran der Opportunismus immer so kläglich scheitert: Er ist so schlecht in der Klassenanalyse. Wenn irgendwer Verbündeter des Proletariats sein kann, dann sind es die Bauern. Lenin spricht vom Bündnis der Bauern und des Proletariats als Grundlage der sozialistischen Revolution. Darum geht es im Marxismus-Leninismus. Unter anderem.«

Oh, wie schrecklich, so jung zu sein! Ein reiner Jungmann in einer unreinen Welt. Gefangener der eigenen Generation. Sklave in den Ketten der Zeit. Und die eigene Persönlichkeit ein nicht entwickeltes Bild in einer kalten Flüssigkeit. Einer kalten, dunklen, mit Wodka aufgebesserten Flüssigkeit.

Immer wieder hätte er gern geschrien: »Warum macht ihr die Revolution nicht einfach?! Vollkommen wird sie doch sowieso nie!« Aber das traute er sich dann doch nicht, es hätte bloß Öl ins Diskussionsfeuer gegossen und sein Leiden um weitere zwei Stunden verlängert.

Und wer war er denn, politische Fragen zu stellen? Er, der auf Seite 7 von Lenins Staat und Revolution aufgegeben und nie das Kommunistische Manifest gelesen hatte, ein Mann, der weder den Marxismus noch die eigene Gesellschaft verstand und am allerwenigsten sich selbst, ein Mann, der in Terylenhosen bei Pfeifchen rauchenden Hippies saß, Großvaterwesten zu Teenagerpickeln trug, Philosophie hasste, aber von sich behauptete, den Weltgeist zu suchen, der Dienstagabends Skilaufen trainierte, aber Mittwochabends zu den Dark Music Days ging, zu Yes brummte, aber mit verträumten Augen die Eagles-Platte in der Mitte des Stapels ansah. In Wahrheit war er ein Verräter, der seine Klasse, seine Generation und ihre Partys verriet.

Er schlürfte in kleinen Schlucken lauwarmes, ekliges Gesöff und fragte sich, warum er nicht einfach nach Hause ging, da traf ihn ein lächelnder Blick aus den Augen der Gastgeberin, der jungen Frau mit den großen Brüsten hinter den beiden Mädels in Latzhosen, die es trotz der todernsten, Pfeife schmauchenden Revolutionsführer schafften, die Langeweile mit schrill kreischendem Gelächter zu unterbrechen.

Endlich ging die Party zu Ende. Die Flaumbärtigen entzogen sich, einer nach dem anderen mit ihren schweigsamen »Genossinnen«, bis auf einen, der im letzten Gefecht des Abends gefallen war, einem Disput über die dialektische Sichtweise des Marxismus-Leninismus auf das spätbürgerliche, aber wahrscheinlich auch ewig schlechte Gewissen der isländischen »Intelligenzia« gegenüber den Arbeitern in der Fischindustrie.

Jung saß auf der Couch neben der Leiche mit Lennonbrille und Led-Zeppelin-Frisur und war selbst nur noch eine Haaresbreite von deren Zustand entfernt. Wenig später kam sie aus dem Bad und fragte, ob er nicht lieber in einem Bett schlafen wolle. Es stellte sich heraus, dass es nur ein Bett gab.

Zungenschläge gingen in Klamottenabstreifen über und in müdes, betrunkenes Durcheinander, das ein gewisses, verwundertes Aufflackern weiter unten zustande brachte, das höher flammte und sich ausbreitete und schließlich in einer Art nervenentflammten Betäubung endete. Es war unmöglich, sich klarzumachen, was da eigentlich ablief. Das Dunkel im Zimmer schien ihm bis auf die Knochen zu dringen. Er wusste nicht einmal, ob er noch Hosen anhatte oder nicht. Von marxistisch-leninistischer Langeweile gelähmt, mit zehn zwanzig Minuten langen Yes-Stücken sediert und fast bewusstlos vom Alkohol, begegnete ihm hier, völlig unvorbereitet, das Wunder des Lebens. Das Leben ist ein sternhagelvoller Clown, der uns die besten Brocken hinwirft, wenn wir am schlechtesten darauf vorbereitet sind. Nach dem letzten Glas kommt das erste Mal. Oder? Hatte dieses ominöse Es stattgefunden? War es wirklich passiert?

»War das …?«

»Ja«, antwortete sie und lachte ihn an wie eine Mutter ihr Kind, und er betrachtete dieses fröhliche Gesicht und fragte sich, ob es nur an seinem inneren Durcheinander, dem Tohuwabohu in seinem Kopf lag, dass dieses Mädchen nicht seine Ring-Braut werden konnte.

Er war noch ein Kind, das vom Leben keine Ahnung hatte, sich aber dreist anmaßte, all die guten Menschen zu verachten, die ihr Leben darauf verwendet hatten, ihm auf den Grund zu gehen. In dem Zimmer auf der vierten Etage in der Münchner Hohenzollernstraße schämte er sich noch immer für diese jugendliche Arroganz und bezweifelte ihre Berechtigung, während er die Koffer absetzte und sich einmal halb im Kreis drehte.

Die Bücherregale des Philosophiestudenten standen voll mit gelehrten deutschen Büchern. Ledereinbände und abgegriffene Taschenbücher. Auf dem Schreibtisch stand das berühmte Foto von Lou Salomé, Friedrich Nietzsche und Paul Rée. Wie Zugochsen stehen die beiden Männer vor dem Wagen, und sie kniet darin und schwingt die Peitsche. Er kannte das Bild, intelligente junge Westler waren in jener Zeit von Lou Salomé besessen. Sie war die Frau. In dieser jugendlichen Anbetung ging es jedoch nicht nur um sie, denn dahinter verbarg sich auch ein Schuss Eifersucht. Ihr war das gelungen, wovon sie träumten: nicht nur mit Rilke, sondern auch mit Freud und Nietzsche ins Bett zu gehen.

Auf der Mauer am Waschbecken lag Letzterer im Bett, mit seinem dicken Walrossschnauzbart und den dräuenden Augenbrauen, erschöpft nach einer wilden Nacht mit Genialität oder Wahnsinn oder mit der Frau … Der junge Mann glaubte in dem Zimmer plötzlich etwas vom zärtlichen Ringen der Halbgötter zu schnuppern, hundert Jahre alten Sexschweiß. Er drehte sich um und stand Richard Wagner in Lebensgröße gegenüber. Er stand auf den Dielen am Fenster: Ein älterer Mann des 19. Jahrhunderts mit schräg sitzendem Barett, der sich gerade mit dem Schleier der Unsterblichkeit umgeben zu haben schien und voller Inspiration der eigenen Göttlichkeit ins Auge blickte, die ihn erwartete.

Die Anwesenheit all dieser Übermenschen ließ das Zimmer noch kleiner wirken. Der junge Mann schaffte es gerade, sich zwischen Nietzsche und Wagner in die Schlafnische zu zwängen. Erst als er sich aufs Bett geworfen hatte, entdeckte er an der Wandtäfelung über dem Bett ein weiteres großes Porträt von Wagner: Der Komponist beugte sich über ihn, mit strenger Miene und einem dissonanten Stück Orchestermusik in den Augen. Es war absolut unmöglich, in dem Lärm Schlaf zu finden.

Im Bauch räkelte sich das flaue Gefühl wie eine faule Katze. Woher kam es nur? Von dem Frankfurter Würstchen?

4

Joghurt und Käse

Der junge Mann hatte nicht die leiseste Ahnung von klassischer Musik. Seine Aufzucht war nahezu ohne Kontakt mit diesem befremdlichen Phänomen langer, formloser Musik ohne Schlagzeug und Gesang vonstattengegangen (die nahezu das gesamte Programm des staatlichen Rundfunks füllte), abgesehen von zwei Stunden Klavierunterricht, die er im Alter von acht Jahren abgesessen hatte. Das Notensystem hatte er als persönliche Beleidigung aufgefasst. Wieso sollte er den Vorschriften längst Verstorbener folgen? Was für eine Unterdrückung! Was für eine Einengung! Er, ein ansonsten folgsamer Junge, widersetzte sich seiner Mutter. Sonst erledigte er bereitwillig jede Hausaufgabe, die man ihm vorsetzte, und er schrieb in jeder Klassenarbeit eine Bestnote, aber er weigerte sich, weitere Stunden in dieser Stickarbeit für die Ohren zu besuchen, die eine rundliche, wohlmeinende Tante in ihrer Wohnung in einem zwei Jahre alten Block etwas oberhalb im Viertel Háaleiti abhielt.

»Ich hasse diese Noten!«

Seine Schwester, ein Jahr jünger und viel geduldiger, schaffte es trotz ihres türenschlagenden Bruders, weiterhin zu Hause Tonleitern zu üben, und traktierte im Wohnzimmer das Klavier, während er mit finsterem Gesicht im geblümten Flur mit einem zusammengerollten Wollstrumpf als Handball Unterarmwürfe gegen die Badezimmertür trainierte, dabei jedes Tor mit dem Schrei begleitend: »Und Geir trifft!« Denn der Junge war nicht er selbst, sondern kein Geringerer als das Handballgenie Geir Hallsteinsson, der Abgott aller Jungen. Gleichzeitig betätigte er sich als Sportreporter fürs Fernsehen und übernahm nach jedem Tor die Rolle der gesamten johlenden Tribüne in der Laugardalshalle.

Ein kleiner Junge war ein komplettes Länderspiel.

Jawohl! Handball war besser als die beste Musik! Die Nuancen und Akzentsetzungen im Spiel der isländischen Nationalmannschaft überragten jede Fuge, am Ende jedes Spielzugs tobte die Halle, jedes Tor war eine künstlerische Leistung. Sigurbergur Sigsteinsson waagerecht in der Luft, »und der Ball ist im Tor!« Dann kam der absolute Höhepunkt: »Hjalti hält!« Die Menschen zu Hause sprangen von ihren Stühlen, denn dieses Konzert wurde live übertragen. Endlich gab es etwas, in dem Isländer etwas konnten. Wir konnten andere Nationen schlagen, sogar die Dänen!

Für den Jungen stellte die Handballnationalmannschaft die rechtmäßige Regierung Islands dar, sie war auf jeder Position eindeutig mit dem besten Mann besetzt, allen voran Geir Hallsteinsson aus Hafnarfjörður, der beste Rechtshandschütze der Welt, ein Mann, der in jedem Spiel zehn Tore warf, ein Arm, an den eine ganze Nation glaubte und der sie nie enttäuschte. Bewundernswert waren seine Ruhe und sein vorbildliches Betragen auf dem Spielfeld. Geir verlor auch in der Hitze des Spiels nie die Kontrolle über sich und rastete aus, er schien nicht einmal ernsthaft zu schwitzen, vielmehr vollbrachte er ein Wunder und trabte dann in seiner ganz eigenen Art, sich zu bewegen, mit rhythmischen Handbewegungen und Kopfnicken über das Spielfeld zurück wie ein übercooler James Bond im Smoking nach einer leider unvermeidlichen Liquidierung. Jung beherrschte diesen Laufstil und verwandelte sich mehrmals am Tag in Geir Hallsteinsson und seine ganze Umgebung in ein unglaubliches Unentschieden gegen den amtierenden Weltmeister Rumänien.

Der Handball besaß noch immer einen Platz in seinem Herzen, und trotz gutwilliger Bemühungen hatte sich ihm die Welt der Musik nicht erschlossen. Bei den Dark Music Days hatte er drei Streichquartette von »lebenden Komponisten« über sich ergehen lassen, bei denen ihm vier Instrumentalisten mit ihren Bögen einen ganzen Abend lang um Kopf und Ohren strichen, allesamt unisono mit einem Wust kleingelockter Haare auf dem Kopf, sodass man fast andauernd zum Niesen gereizt wurde.

Klassische Musik war noch langweiliger und unsinniger als Kreuzworträtsel und Schach. Der junge Mann hatte diese Trias »die überschätzte Zuflucht der Geistlosen« getauft. Wozu gab es das alles? Es diente keinem anderen Zweck als dem, die Zeit von Millionen Menschen totzuschlagen. Wieso, um alles in der Welt, hatte ein Viertel der Menschheit dieses große Bedürfnis danach, das Hirn auszuschalten und es in einem geschlossenen System dümpeln zu lassen, das von und für sich selbst lebte und mit dem Leben nichts zu tun hatte? C4 auf B5. Allegretto in a-Moll. Wort für »verstorben« mit 3 Buchstaben

Er ging über den Max-Joseph-Platz, gegen den Strom, ein schmaler, blasierter Jüngling mit hoher Stirn, hohen Wangenknochen, in grauer Jacke, das blonde Haar streng zurückgekämmt wie ein grimmig blickender Hitlerjunge, der vierzig Jahre zu spät zum Appell antrat. Er musterte die Gesichter der ihm festlich herausgeputzt Entgegenkommenden in dunkelgrünen Jankern mit Goldknöpfen, Windstille im Haar und Programmheft in der Hand. Was für Schafe! Es war Sonntagabend in Bayern, und die Einheimischen kamen aus der Oper, einem großen Steinkasten an einem Ende des Platzes, der samt Säulenportikus alles gab, um eher wie ein strenggläubiger griechischer Tempel auszusehen als wie ein westlicher Vergnügungstempel.

Warum eigentlich diese ewige Beweihräucherung der Vergangenheit?

Sie schienen ihre eigene Gegenwart, ihr eigenes Leben zu hassen. Ich hätte nicht hierherkommen sollen. Ich hätte doch nach Berlin gehen sollen. Die Mauer ist keine altgriechische Fälschung mit unerträglichen Opern und Philosophengefasel. Dem jungen Mann ging auf, dass er in die Hauptstadt all dessen gekommen war, was er am meisten verabscheute. Oder sollte er besser sagen, in die Hauptstadt all dessen, was er nicht verstand?

Die Bauchschmerzen machten sich wieder bemerkbar. Was, zum Teufel, war das eigentlich? Er ging weiter und fand endlich den Platz, den er gesucht hatte, den Marienplatz.

Der Himmel hatte alle Farbe verloren, doch die Häuserwände schienen sie aufgesogen zu haben und leuchteten noch vom Sonnenglanz des Tages in intensivem Hellgelb. Glockenbehängte Kirchtürme schmückten sich mit warmen Kupferhüten, Abend wölbte sich darüber. Aus Arkaden drangen Geigenklänge, Absätze von Frauen knallten auf das Pflaster der Fußgängerstraßen. Das Rathaus war in seiner steinernen Zier eine imposante Erscheinung, eine barockisierte dunkle Felswand. Unwillkürlich stockte ihm kurz der Atem, auf so etwas war er nicht vorbereitet. Es erinnerte am ehesten an die Schluchtwände von Ásbyrgi oder die Basaltwände am Strand von Reynisfjara. Die Menschen hier schienen keine solchen Naturphänomene zu haben und bauten sie nach. Ohne sie würde die Stadt nur aus Bier bestehen.

Der Dom mit den Doppeltürmen, den er zuvor passiert hatte, war hoch wie die Felswände von Hornbjarg, aus roten Ziegelsteinen erbaut, massiv und recht geistlos bodenständig. Das Baujahr aber hatte ihn schockiert. Auf einer kleinen Plakette an der Außenmauer stand, dass die Kirche in den Jahren 1468 bis 88 erbaut worden war. Sein eigenes Volk hatte bis zum heutigen Tag noch kein derartiges Bauwerk zustande gebracht. Zur Bauzeit des Doms hausten die Isländer noch in provisorischen Unterkünften, die jeweils für einen Winter errichtet wurden, und so sollten sie noch vier weitere Jahrhunderte leben. Die Isländer waren ein Volk, das im Freien kampierte. Während andere Völker ihre Straßen pflasterten, schichteten sie ein paar Steintürmchen zur Orientierung im Nebel auf. Im Vergleich zu dieser großen Stadt war Reykjavík ein Campingplatz. Obwohl man es ihm vielleicht nicht auf den ersten Blick ansah, war der junge Mann eine Art Ausgestoßener, der in die Zivilisation kam.

Er bekam Hunger und hielt auf dem Heimweg nach einem Lebensmittelgeschäft Ausschau, doch das einzige, das er fand, hatte geschlossen. Sollte er in ein Restaurant gehen? Er musste sorgsam haushalten mit dem Geld, das er den Sommer über bei Brücken-bauarbeiten in den Westfjorden, täglich von sieben bis neunzehn Uhr, sauer verdient hatte. Es musste für den ganzen Winter reichen. Natürlich hätte er ein Studiendarlehen beantragen können, aber was er von langen Warteschlangen und endlosen Formularen zu hören bekam, hielt ihn davon ab. Außerdem hatte ihm sein Gewissen gesagt, es wäre nicht recht, ein Darlehen für etwas zu beantragen, das er mehr als Eintrittskarte nach Westdeutschland denn als ernsthaftes Studienvorhaben betrachtete.

Er stellte sich in Gedanken ein Gespräch mit seiner Mutter vor: »Hast du etwas gegessen?« »Nein, die Geschäfte sind geschlossen. Es ist Wochenende.« »Kannst du nicht irgendwo auswärts essen?« »In einem Restaurant? Du hast doch gesagt, das wäre zu teuer.« »Ja, stimmt. Nein, das solltest du besser nicht tun.«

Tatsächlich verlief das Gespräch am Münzfernsprecher im Wohnheim ähnlich.

»Nein, geh nicht im Restaurant essen. Das ist zu teuer.«

»Aber alle Geschäfte sind geschlossen.«

»Na, dann geh doch in ein Restaurant. Du musst schließlich etwas essen.«

Der hagere Schweizer erschien auf dem Gang, er trug nun kurze Hosen und Sandalen. Ohne Socken. Dazu ein dickes Lehrbuch unter dem Arm.

»Und sonst? Ist das Zimmer in Ordnung?«

»Doch, doch. Vielleicht ein bisschen eng. Es ist schon so viel Philosophie drin.«

Seine Mutter lachte kurz und ließ dann eine Lobrede auf das Talent und die Fähigkeiten des Sohnes ihrer Freundin vom Stapel. Jung hatte das meiste schon mehr als einmal gehört, außerdem wurde seine Aufmerksamkeit von den Zehennägeln des Mannes mit den dünnen Haaren in Anspruch genommen, der gerade an ihm vorbeitippelte. Sie waren lang, sehr schief und (man musste es so sagen) furchtbar hässlich. War es unter den Deutschen wirklich gang und gäbe, dass man in aller Öffentlichkeit seine Zehennägel sehen ließ? In Island lief man nicht einmal in den eigenen vier Wänden derart barfuß herum. Höchstens im Schwimmbad hatte Jung bisher Männer mit nackten Füßen gesehen.

Kurz darauf beendete er das Gespräch mit seiner Mutter und ging den Geräuschen nach in die Küche. Der Schweizer stand gerade mit einem Wasserkessel in der Hand an der Spüle, sein Buch lag auf dem Tisch. Der Isländer ließ den Blick an seinem Körper nach unten wandern, hinab an dürren, behaarten und gelblich braunen Beinen, bis er schließlich ungläubig auf die Zehen und die Nägel starrte. Konnte dieser Mann wirklich ein Student sein? War es Menschen in solchem Aufzug erlaubt, eine deutsche Universität zu betreten? Was war aus der berühmten deutschen Disziplin geworden?

»Studierst du auch?«

»Ja, Mathematik.«

Mathematik? Wie konnte ein Mensch mit derart schiefen Zehennägeln eine einzige Matheaufgabe richtig lösen? Jung wollte den Gedanken abschütteln und fragte hastig, ohne zu wissen, wie er es richtig ausdrücken sollte, wo er so spätabends noch etwas zu essen bekommen könne.

»Nein, ich bin nicht aus Essen«, antwortete der Hagere. »Ich komme aus dem Bayerischen Wald.«

Sein Dialekt war so breit, wie seine Lippen schmal waren. Er kam also gar nicht aus der Schweiz, sondern aus Bayern, und er sprach also Bairisch. Hörte sich an wie zerhacktes Deutsch. War es im Bayerischen Wald vergessen worden und vergammelt? Doch als Jung sein Anliegen verständlich gemacht hatte, stellte der Waldmensch sofort den Kessel ab, öffnete den Kühlschrank und holte Brot, Käse und etwas, das er Joghurt nannte, heraus und bot es ihm an. Jung zögerte einen Moment und warf einen Blick auf die Fußnägel. Konnte er wirklich von so einem Waldhippie Essen annehmen? War der Käse vielleicht genauso verdorben wie sein Deutsch? Aber der Hunger meldete sich, zusammen mit diesem Unwohlsein, das ihn vor dem Bahnhof angesichts der buttercremegelben Taxis befallen hatte. Ob es sich wohl legen würde, wenn er etwas aß? Er nahm Platz und sah zu, wie der barmherzige Bayer Butter und Käse auswickelte.

»Bitt’ sehr, greif halt zu!«

»Danke.«

Das Brot war dunkel und hatte eine knusprige Kruste, die Butter war kühl und gesalzen, der Käse sehr kräftig und dieser Joghurt wie etwas aus einer anderen Welt. Es war wohl die deutsche Variante einer besonderen Sorte Joga-Skyr, von der er in Island schon gehört hatte. Dem jungen Mann waren noch nie solche Köstlichkeiten zu einem einfachen Abendbrot vorgesetzt worden. Es schmeckte ungewohnt, aber richtig lecker! Seine deutschen Gene begannen zu jodeln. Wie konnte Brot besser als Brot, Butter besser als Butter schmecken?

Das erste Stück Käse kam fast seinem ersten Kuss gleich, einem psychophysischen Abenteuer, in dem er vor einem halben Jahrzehnt auf dem kleinen, aber schweißnassen und schwingenden Tanzparkett im abgelegensten Gemeinschaftssaal auf dem Hof Bæir an den Snæfjallaströnd gelandet war. Plötzlich hatten sich ihm Weiten in der tanzenden Schweißmasse geöffnet, die Drei-Mann-Combo Dísa aus Bíldudalur hatte sich in Benny Goodmans Bigband verwandelt und die eishelle Sommernacht in eine von den Tausendundeinen, in der sich das kleine Versammlungshaus sanft auf einem See vor Alexandria wiegte. Jedes Nervenende badete in himmlisch weicher Lagunenlauge. Ihm wurde derart wunderlich zumute, dass er während seines märchenhaften Kusses mit großen Augen den Kranführer Torfi anstarrte, der gerade, richtig fein gemacht, ebenso fein eine Stadtfrau aus Reykjavík mit langem Stammbaum übers Parkett schob und ihm spöttisch zugrinste: Ja, Kollege, das ist das Leben.

Der Kranführer hatte ihn früher am Abend zu einem Gespräch unter vier Augen beiseitegenommen, in dem er besonders hervorhob, was für ein Prachtkerl der Vater von Jung war, aber ihm auch mehrfach den Rat gab, dass junge Männer das Leben genießen sollten: »Alles ist schön am Morgen des Lebens«. Als Jung mitten in seinem ersten Kuss in das hagere Gesicht des Kranfahrers blickte, guckte der zurück, als hätte er gerade den Arm seines Krans direkt in den Kern des Lebens hinabgesenkt, dort eines der sieben Weltwunder an den Haken bekommen und würde es nun kurz, rosa glänzend und schäumend, aus der Tiefe hieven, um dem Jungen einen Blick darauf zu gönnen, ehe er es wieder versenkte.

Der Trupp der Brückenbauarbeiter hatte an Bord der im Ísafjarðardjúp verkehrenden kleinen Fähre Fagranes