Cover

Vorwärts in den Abgrund

5. Dezember 2011

In Durban finden gerade Verhandlungen zur Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen statt. Bereits beschlossene politische Maßnahmen, die begrenzt waren und auch nur teilweise umgesetzt wurden, sollen ausgeweitet werden.

Diese Maßnahmen gehen auf die Konvention aus dem Jahr 1992 und auf das Kyoto-Protokoll von 1997 zurück, dem die USA nicht beigetreten waren. Der erste Verpflichtungszeitraum des Kyoto-Protokolls läuft 2012 aus. Eine Schlagzeile der New York Times trifft die Stimmung vor den Verhandlungen in Durban: »Dringende Probleme, aber geringe Erwartungen«.

Während die Delegierten in Durban tagen, gaben der Council of Foreign Relations und das Program on International Policy Attitudes (PIPA) eine Zusammenfassung von neueren Umfragen heraus, die ergeben, dass »die öffentliche Meinung auf der ganzen Welt und in den Vereinigten Staaten von der Regierung verlangt, dass sie der Klima­erwär­mung einen höheren Stellenwert einräumt und multilaterale Maßnahmen gegen die Klima­erwär­mung mit Nachdruck unterstützt.« Die meisten US-Amerikaner stimmen dem zu, obwohl das PIPA einräumt, dass »diese Zustimmung in den letzten Jahren gesunken ist, und dass die Amerikaner sich mit 70 Prozent Zustimmung deutlich weniger Sorgen über die Klima­erwär­mung machen als die Weltbevölkerung mit 84 Prozent Zustimmung. Die amerikanische Bevölkerung hat nicht erkannt, dass unter Wissenschaftlern ein Konsens darüber besteht, dass sofortige Maßnahmen gegen den Klimawandel dringend nötig sind … Eine große Mehrheit ist der Ansicht, dass der Klimawandel sie schließlich persönlich beeinträchtigen wird, doch nur eine Minderheit glaubt, dass sie jetzt schon betroffen ist – im Gegensatz zur öffentlichen Meinung in den meisten anderen Ländern. Amerikaner neigen dazu, die Sorgen ihrer Mitbürger zu unterschätzen.«

Diese Meinungen sind kein Zufall. Im Jahr 2009 begann die Energiebranche mit Unterstützung verschiedener Wirtschafts­lobby­organisationen mehrere große Kampagnen gegen den nahezu einhelligen Konsens in der Wissenschaft, dass die von Menschen verursachte Klima­erwär­mung eine ernste Bedrohung darstellt.

Dieser Konsens ist nur deshalb »nahezu einhellig«, weil er von zahlreichen Experten nicht geteilt wird, die die Ansicht vertreten, dass die Warnungen über den Klimawandel unzureichend sind. Außerdem gibt es eine kleine Gruppe von Wissenschaftlern, die bestreiten, dass es überhaupt eine Bedrohung gibt.

Die Medien halten sich in der Frage an ihre übliche »Ausgewogenheit« und bringen »Argumente beider Seiten«: Die eine Seite ist die überragende Mehrheit der Wissenschaftler, die andere Seite sind die Leugner. Wissenschaftler, die noch viel drastischere Warnungen aussprechen werden weitgehend ignoriert.

Eine Folge davon ist, dass im Gegensatz zur weltweiten öffentlichen Meinung und im krassen Widerspruch zu den Tatsachen nur ein Drittel der US-amerikanischen Bevölkerung glaubt, dass in der Wissenschaft ein Konsens über die Gefahren der Klima­erwär­mung besteht.

Es ist allgemein bekannt, dass die US-amerikanische Regierung in Bezug auf das Klima­problem im Rückstand ist. PIPA schreibt: »Die öffentliche Meinung auf der ganzen Welt missbilligt die Klima­poli­tik der Vereinigten Staaten weitgehend … Die USA gelten weithin als das Land mit den schlimmsten Auswirkungen auf die globale Umwelt; an zweiter Stelle steht China. Am positivsten wird Deutschland gesehen.«

Um weltweiten Ereignissen eine Perspektive zu geben, hilft es beizeiten, sich in intelligente außerirdische Beobachter hineinzuversetzen, welche die seltsamen Vorgänge auf der Erde beobachten. Die würden sich wundern, warum das reichste und mächtigste Land in der Geschichte der Menschen diese jetzt wie Lemminge fröhlich in den Abgrund führt.

Letzten Monat gab die Internationale Energieagentur (IEA), die 1974 auf Initiative des US-Außenministers Henry Kissinger gegründet worden war, einen aktuellen Bericht über den raschen Anstieg der Kohlendioxid-Emissionen aufgrund des Verbrauches von fossilen Brennstoffen heraus.

Die IEA schätzt, dass das »Kohlendioxid-Budget« der Welt im Jahr 2017 aufgebraucht sein wird, wenn es so weiter geht wie bisher. Dieses »Budget« ist die Emissionsmenge, bei der die Klima­erwär­mung höchstens zwei Grad Celsius betragen würde, was als sicherer Grenzwert gilt.

Fatih Birol, der leitende Wirtschaftsexperte der IEA, sagte: »Unsere Zeit läuft ab … Wenn wir unseren Energieverbrauch nicht jetzt neu ausrichten, werden wir die maximalen Grenzwerte überschreiten, die laut den Wissenschaftlern als sicher gelten. Und dann gibt es kein Zurück.«

Das Energieministerium der USA brachte ebenfalls letzten Monat Emissionswerte für das Jahr 2010 heraus. Die Associated Press (AP) berichtete, dass die Treib­haus­gas-Emissionswerte »einen Rekord­anstieg verzeichneten«; das bedeute, dass »die Treib­haus­gaswerte den schlimmsten Fall überschreiten«, den der Weltklimarat (IPCC) 2007 angenommen hatte.

John Reilly, Leiter des Klimawandel-Programms des Massachusetts Institute of Technology (MIT), sagte laut AP, dass die Wissenschaftler die Voraussagen des IPCC durchgängig für zu vorsichtig halten – im Gegensatz zu den Leugnern und Extremisten, die im Rampenlicht stehen. Reilly erklärte, dass das Worst-Case-Szenario des IPCC ungefähr den Mittelwert dessen darstellt, was die Wissenschaftler des MIT für wahrscheinlich halten.

Als diese bedrohlichen Szenarien an die Wand gemalt wurden, brachte die Financial Times einen ganzseitigen Artikel, der die optimistische Hoffnung zum Ausdruck bringt, dass die USA sich für ein ganzes Jahrhundert von Treibstoffimporten unabhängig machen könnten – mittels neuer Techniken zur Förderung fossiler Energieträger in Nordamerika selbst.

Diese Prognosen seien zwar ungewiss, berichtet die Financial Times, doch die USA könnten »Saudi-Arabien und Russland überspringen und zum weltgrößten Hersteller flüssiger Kohlenwasserstoffe – sowohl Rohöl als auch leichtere Flüssiggase – werden.«

Angenommen, dieser Glücksfall tritt ein, könnten die USA auch ihre weltweite Vormachtstellung erhalten. Die Financial Times verlor – außer einigen Bemerkungen über lokale Auswirkungen für die Umwelt – kein Wort darüber, was die Welt bei diesen großartigen Aussichten zu erwarten hätte. Brennstoffe sind zum Verbrennen da. Was schert uns das Weltklima?

Fast jede Regierung unternimmt wenigstens vorsichtige Schritte gegen die Katastrophe, die uns wahrscheinlich bevorsteht. Die USA haben die Führung übernommen – aber in die entgegengesetzte Richtung. Das Repräsentantenhaus, in dem die Republikaner dominieren, ist gerade dabei, die Umweltmaßnahmen abzubauen, die Richard Nixon eingeführt hatte, der in gewisser Weise der letzte »liberale« Präsident war.

Diese reaktionären Maßnahmen sind nur eines von vielen Anzeichen der Demokratiekrise, in der sich die USA seit einer Generation befinden. Die Kluft zwischen der öffentlichen Meinung und der staatlichen Politik hat sich in zentralen Fragen der politischen Debatte – darunter das Budgetdefizit und Arbeitsplätze – zu einem breiten Abgrund ausgeweitet. Dank einer Propagandaoffensive ist diese Kluft jedoch in der Frage, die derzeit das größte Problem der ganzen Welt und wohl das größte Problem in der Geschichte der Menschheit ist, nicht so breit.

Man müsste es den hypothetischen außerirdischen Beobachtern schon nachsehen, wenn sie zu dem Schluss kämen, dass wir irgendeinem tödlichen Wahn anheimgefallen sind.

Menschen und Unpersonen

5. Januar 2012

Am 15. Juni 2011, drei Monate nachdem die NATO begann, Libyen zu bombardieren, unterbreitete die Afrikanische Union (AU) dem UNO-Sicherheitsrat die afrikanische Position zu dem Angriff, der in Wirklichkeit ein Bombenangriff der traditionellen imperialistischen Aggressoren war – Frankreich und Großbritannien, unterstützt von den USA, die ursprünglich den Überfall koordinierten, sowie am Rande einige weitere Länder.

Es ist daran zu erinnern, dass es zwei Interventionen gab: Die erste war die Forderung nach einer sogenannten Flugverbotszone, einem Waffenstillstand und Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung – das war die Resolution 1973 des UNO-Sicherheitsrates vom 17. März 2011. Nach einem kurzen Augenblick wurde diese Intervention beiseite geschoben und das imperialistische Trio schloss sich den Aufständischen an, denen es als Luftwaffe diente.

Zu Beginn der Bombenangriffe rief die Afrikanische Union zu Diplomatie und Verhandlungen auf, um eine humanitäre Katastrophe in Libyen abzuwenden. Innerhalb eines Monats schlossen sich die BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) und andere Länder diesem Aufruf an, darunter die Türkei, Regionalmacht und NATO-Mitglied.

Das imperialistische Trio war bei seinen Angriffen in Wirklichkeit ziemlich isoliert. Sie bombardierten nun einen launischen Tyrannen, den sie eben noch unterstützt hatten, als es ihnen zum Vorteil gereicht hatte. Sie hofften auf ein Regime, das westlichen Forderungen nach Kontrolle über die reichen Bodenschätze Libyens zugänglicher wäre, und das dem Afrikanischen Kommando der USA (AFRICOM) einen Stützpunkt in Afrika anbieten würde; derzeit muss sich AFRICOM nämlich mit Stuttgart begnügen.

Ob die relativ friedlichen Maßnahmen entsprechend der UNO-Resolution 1973, die von fast allen Ländern der Welt unterstützt wurde, die schrecklichen Verluste an Menschenleben und die Zerstörung von Libyen verhindert hätten, kann man nicht wissen.

Am 15. Juni teilte die AU dem Sicherheitsrat mit, dass es »selbstherrlich, arrogant und provokant war, die AU drei Monate lang zu ignorieren und das heilige Land Afrika weiterhin zu bombardieren«. Die AU legte außerdem einen Plan für Verhandlungen und für die Stationierung von AU-Überwachungstruppen in Libyen vor, flankiert von Maßnahmen zur Versöhnung, doch alles umsonst.

Der Appell der AU an den Sicherheitsrat legte auch den Hintergrund ihrer Anliegen dar: »Souveränität war und ist ein Werkzeug für die Befreiung der Völker Afrikas, die sich in den meisten afrikanischen Ländern nach Jahrhunderten der Ausplünderung durch Sklavenhandel, Kolonialismus und Neokolonialismus Wege der Veränderung bahnen. Fahrlässige Angriffe gegen die Souveränität afrikanischer Länder kommen also neuen Wunden im Schicksal der afrikanischen Völker gleich.«

Den afrikanischen Appell kann man in der indischen Zeitschrift Frontline nachlesen, doch im Westen hörte man praktisch nichts von ihm. Das ist nicht verwunderlich, denn Afrikaner sind »Unpersonen«, wenn man den Begriff von George Orwell heranzieht, der so Menschen bezeichnete, denen es nicht zustehe, in die Geschichte einzugehen.

Am 12. März erlangte die Arabische Liga den Status einer »Person«, da sie die UNO-Resolution 1973 unterstützte, doch dieser Status geriet bald darauf wieder in Zweifel, als sie die Bombenangriffe des Westens, die darauf folgten, nicht unterstützte.

Und am 10. April wurde die Arabische Liga wieder zur Unperson heruntergestuft, da sie die UNO aufforderte, auch für den Gaza­strei­fen eine Flugverbotszone einzurichten und die israelische Belagerung aufzuheben – diese Forderungen wurden praktisch ignoriert.

Auch das ist völlig logisch. Palästinenser sind geradezu beispielhafte Unpersonen. Ein Beispiel lieferte die November-Nummer der Zeitschrift Foreign Affairs 2011, deren Aufmacher aus zwei Artikeln über den Konflikt zwischen Israel und Palästina bestand.

Der eine stammte aus der Feder von Yosef Kuperwasser und Shalom Lipner, zweier Vertreter des Staates Israel. Sie machen die Palästinenser dafür verantwortlich, dass der Konflikt weiterhin andauert, da diese sich weigerten, Israel als jüdischen Staat anzuerkennen (was diplomatischen Gepflogenheiten entspricht: Man anerkennt Staaten, aber nicht die Privilegien einzelner Bevölkerungsgruppen, die in ihnen leben).

Den anderen schrieb der amerikanische Politikwissenschaftler Ronald R. Krebs, der das Problem in der israelischen Besatzung sieht. Sein Artikel trägt den Untertitel: »Wie die Besatzung die Nation zerstört.« Welche Nation? Natürlich Israel, das daran leidet, auf Unpersonen herumzutrampeln.

Ein weiteres Beispiel: Im Oktober 2011 verkündeten die Schlagzeilen die Freilassung von Gilad Schalit, des israelischen Soldaten, der von der Hamas gefangengenommen worden war. Das New York Times Magazine brachte einen Artikel darüber, was seine Familie durchgemacht hatte. Schalit wurde im Austausch gegen hunderte Unpersonen freigelassen, über die man nichts erfuhr, abgesehen von einer nüchternen Erörterung, ob deren Freilassung Israel schaden könnte.

Über Hunderte weitere Palästinenser, die zum Teil schon seit langer Zeit sowie ohne Anklage oder Prozess in israelischen Gefängnissen sitzen, erfuhr man nichts.

Unter den Gefangenen, die nicht erwähnt wurden, sind die Brüder Osama und Mustafa Abu Muamar, Zivilisten, die vom israelischen Militär während des Angriffes auf Gaza am 24. Juni 2006 entführt worden waren – einen Tag, bevor Schalit gefangen genommen wurde. Die beiden Brüder »verschwanden« dann in israelischen Gefängnissen.

Von der Gefangennahme eines Soldaten einer angreifenden Armee mag man halten, was man will, doch die Entführung von Zivilisten ist eindeutig ein weitaus schwerwiegenderes Verbrechen – außer es handelt sich nur um Unpersonen. Das versteht sich von selbst.

Diese Verbrechen sind natürlich nicht mit vielen anderen zu vergleichen, darunter die verschärften Angriffe gegen die Beduinen, die israelische Staatsbürger sind und in der Wüste Negev im Süden Israels leben.

Israel hatte sie schon einmal vertrieben, und nun sollen nach einem neuen Programm dutzende Beduinendörfer zerstört und die Bewohner ein zweites Mal vertrieben werden. Das geschieht natürlich in lobenswerter Absicht.

Das israelische Kabinett erklärte, dass an ihrer Stelle zehn jüdische Siedlungen errichtet würden, »um eine neue Bevölkerung im Negev anzuziehen«, d. h. Unpersonen sollten durch richtige Menschen ersetzt werden. Da kann wohl niemand etwas dagegen haben.

Diese eigenartigen Unpersonen findet man überall, auch in den USA: in den Gefängnissen (die ein weltweiter Skandal sind), in den Suppenküchen, in den Slums …

Beispiele sind jedoch irreführend. Die Bevölkerung dieser Welt steht als Ganzes am Rand eines tiefschwarzen Abgrundes.

Daran wird man täglich gemahnt, und oft nur von kleinen Begebenheiten, zum Beispiel als letzten Monat die Republikaner im US-Repräsentantenhaus eine praktisch kostenfreie Umstrukturierung verhinderten, mit der die extremen Wetterereignisse des Jahres 2011 untersucht und bessere Vorhersagen ermöglicht worden wären.

Die Republikaner fürchteten, dass dies ein Einfallstor für »Propaganda« über die Klima­erwär­mung gewesen wäre. Und Klima­erwär­mung ist nach den Glaubenssätzen, welche die Kandidaten der Republikaner (die einst eine richtige politische Partei waren) herunterbeten, ein »Unproblem«.

Arme, traurige Menschheit.

Jahrestage aus der Ungeschichte

4. Februar 2012

George Orwell hat den hilfreichen Begriff der »Unperson« erfunden, für Wesen, denen die Menschlichkeit abgesprochen wird, weil sie sich nicht an die Staatsdoktrin halten. Dem könnten wir den Begriff der »Ungeschichte« hinzufügen, um das Schicksal der Unpersonen zu beschreiben, die aus ähnlichen Gründen aus der Geschichte getilgt werden. Ein gutes Beispiel für den Umgang mit der Ungeschichte der Unpersonen sind Jahrestage. Wichtige Jahrestage werden meist mit der gebotenen Feierlichkeit begangen, wie zum Beispiel der Angriff auf Pearl Harbor. Andere Jahrestage werden nicht beachtet, und wir können viel über uns selbst lernen, wenn wir sie aus der Ungeschichte herausholen.

Gerade eben wird ein wichtiges Ereignis ignoriert, das eine große Bedeutung für die Menschen hatte: der fünfzigste Jahrestag der Entscheidung von Präsident Kennedy, eine direkte Invasion in Südvietnam zu beginnen, die sich rasch zum schlimmsten Verbrechen eines Angriffskrieges seit dem Zweiten Weltkrieg entwickeln sollte.

Kennedy befahl der US-amerikanischen Luftwaffe, Südvietnam zu bombardieren. (Bis Februar 1962 wurden hunderte Einsätze geflogen.) Er genehmigte den Einsatz von Chemiewaffen gegen Nahrungsmittelanbauflächen, um die aufständische Bevölkerung auszuhungern. Und er begann Umsiedlungsprogramme, mit denen schließlich Millionen von Dorfbewohnern in städtische Slums und in »Wehrdörfer« (“strategic hamlets”) umgesiedelt wurden, die in Wirklichkeit Konzentrationslager waren. Dort sollten die Bauern vor den einheimischen Partisanen »beschützt« werden. Die Regierung wusste natürlich, dass die Bauern die Kämpfer unterstützten.

Die Regierung versuchte kaum, die Angriffe zu rechtfertigen, und wenn doch, dann mit irgendwelchen Erfindungen.

Ein typisches Beispiel ist die leidenschaftliche Rede, die Präsident John F. Kennedy am 27. April 1961 vor der American Newspaper Publishers Association hielt, bei der davor warnte, dass »wir auf der ganzen Welt mit einer monolithischen und rücksichtlosen Verschwörung konfrontiert sind, die ihren Einfluss vor allem mit verdeckten Mitteln ausweitet.« Am 25. September 1961 sagte er bei einer Rede vor den Vereinten Nationen, dass es keine Zurückhaltung mehr gebe, wenn diese Verschwörung in Laos und in Vietnam ihre Ziele erreicht.

Die unmittelbaren Folgen kann man bei dem renommierten Indochina-Experten und Militärhistoriker Bernard B. Fall nachlesen, der gewiss kein Kriegsgegner war, dem die Menschen in jenen gemarterten Ländern aber nicht gleichgültig waren.

Anfang 1965 schätzte er, dass von 1957 bis 1961 etwa 66 000 Menschen in Südvietnam getötet worden waren, und von 1961 bis April 1965 weitere 89 000, die meisten von ihnen Opfer des Marionetten­regimes der USA oder »der erdrückenden Übermacht der USA: Waffen, Napalm, Düsenbomber und schließlich das Kampfgas Adamsit«.

Die Entscheidungen wurden geheim gehalten, und ebenso die schrecklichen und dauerhaften Folgen. Nur ein Beispiel: Scorched Earth (»Verbrannte Erde«) von Fred A. Wilcox war die erste ernsthafte Studie über den Einsatz von Chemiewaffen in Vietnam. Das Buch erschien vor einigen Monaten und wird wohl unter der Rubrik »Ungeschichte« ad acta gelegt werden. Geschichte ist im Wesentlichen das, was geschehen ist. Ungeschichte ist im Wesentlichen, das Geschehene verschwinden zu lassen.

1967 nahmen die Proteste gegen die Verbrechen in Südvietnam ein erhebliches Ausmaß an.

Hunderttausende US-Soldaten wüteten in Südvietnam und dicht besiedelte Gebiete wurden dicht bombardiert. Die Invasion wurde über ganz Indochina ausgeweitet.

Die Folgen waren so grauenhaft, dass Bernard B. Fall voraussagte, dass »Vietnam als kulturelles und historisches Gebilde … von der Vernichtung bedroht ist, da … das Land unter den Schlägen der größten Kriegsmaschinerie, die jemals auf ein so großes Gebiet losgelassen wurde, buchstäblich verendet.«

Als der Krieg nach acht weiteren verheerenden Jahren endete, war der Mainstream gespalten: Die Einen nannten ihn eine »gute Sache« und meinten, dass er mit größerem Engagement auch zu gewinnen gewesen wäre; für die Kritiker am anderen Ende des Spektrums war er »ein Fehler« gewesen, der sich zudem als kostspielig erwiesen hatte.

Dazu sollte noch die Bombardierung der Bauern im entlegenen Norden von Laos kommen, die ein solches Ausmaß erreichte, dass ihre Opfer noch Jahre später in Höhlen leben mussten und ums Überleben kämpften; und kurz danach kamen die Luftangriffe gegen die Landbevölkerung von Kambodscha, die schlimmer waren als alle Luftangriffe der Alliierten im Pazifik während des Zweiten Weltkrieges zusammengenommen.

1970 hatte Henry Kissinger, der Nationale Sicherheitsberater, »ein großangelegtes Bombardement gegen Kambodscha« befohlen, »Alles, was fliegt, gegen alles, was sich bewegt« – ein Aufruf zum Völkermord, wie man ihn nur selten in historischen Archiven findet.

Laos und Kambodscha waren »geheime Kriege«, d. h. die Berichterstattung über sie war spärlich und die Tatsachen sind der breiten Öffentlichkeit und sogar der gebildeten Elite kaum bekannt, obwohl diese jedes tatsächliche oder angebliche Verbrechen der offiziellen Feinde auswendig herbeten kann.

Ein weiteres Kapitel aus den prallen Annalen der Ungeschichte:

In drei Jahren werden wir einen weiteren Gedenktag anlässlich eines Ereignisses, das bis heute Bedeutung hat, begehen – oder auch nicht: den achthundertsten Jahrestag der Magna Carta.

Dieses Dokument bezeichnete die Historikerin Margaret E. McGuiness im Zusammenhang mit den Nürnberger Prozessen als Grundlage für einen »besonders amerikanischen Zweig des Rechtsverständnisses: bestraft wird nur jemand, dessen Schuld in einem gerechten Verfahren mit einer ganzen Palette von verfahrensrechtlichen Schutzbestimmungen nachgewiesen wurde.«

In der Magna Carta heißt es, dass man »keinen freien Mann« seiner Rechte berauben darf, außer »durch das gesetzliche Urteil von Seinesgleichen oder durch geltende Gesetze«. Diese Prinzipien wurden später auf alle ausgeweitet. Sie wurden über den atlantischen Ozean getragen und gingen in die Verfassung und in die Bill of Rights der USA ein, in der es heißt, dass keine »Person« ohne ordentliches und rasches Verfahren ihrer Rechte beraubt werden darf.

Natürlich bezog sich der Begriff »Person« für die Gründerväter nicht auf alle Menschen.

Die Ureinwohner von Amerika waren keine Personen. Sklaven ebenso wenig. Frauen zählten auch eher nicht dazu.

Aber konzentrieren wir uns auf den Grundbegriff der Unschuldsvermutung, der schon als Teil der Ungeschichte in Vergessenheit geraten ist.

Ein weiterer Schritt zur Aushöhlung der Grundsätze der Magna Carta erfolgte mit Obamas Unterzeichnung des National Defense Authorization Act, der die Praxis der unbefristeten Gefangenschaft in Militärgewahrsam ohne Gerichtsverfahren festschreibt, wie sie unter Bush und unter Obama gang und gäbe war.

Diese Praxis ist nun für Menschen, die beschuldigt werden, während des »Krieges gegen den Terror« feindliche Kräfte unterstützt zu haben, zwingend vorgeschrieben; handelt es sich bei den Beschuldigten um Staatsbürger der USA, so ist sie eine mögliche Option.

Wohin das führt, zeigt der erste Guantánamo-Fall, der unter Präsident Obama vor Gericht verhandelt wurde. Omar Khadr war ein ehemaliger Kindersoldat, dem das abscheuliche Verbrechen zur Last gelegt wurde, sein Dorf in Afghanistan zu verteidigen, als es von US-amerikanischen Truppen angegriffen wurde. Khadr geriet im Alter von fünfzehn Jahren in Gefangenschaft, war acht Jahre lang in Bagram und in Guantánamo inhaftiert und wurde im Oktober 2010 schließlich vor ein Kriegsgericht gestellt, das ihn vor die Wahl stellte, sich entweder nicht schuldig zu bekennen und den Rest seines Lebens in Guantánamo zu verbringen, oder sich schuldig zu bekennen und nur mehr weitere acht Jahre in Gefangenschaft zu bleiben. Khadr wählte Zweiteres.

Es gibt viele weitere Beispiele, die den Begriff des »Terroristen« verdeutlichen. Eines ist Nelson Mandela, der erst im Jahr 2008 von der Terrorliste gestrichen wurde. Ein anderes ist Saddam Hussein. 1982 wurde der Irak von der Liste der Terrorstaaten gestrichen, damit die Regierung von Ronald Reagan Saddam Hussein, der gerade in den Iran einmarschiert war, Unterstützung zukommen lassen konnte.

Die Anklage ist launisch, Rechtsmittel sind ausgeschlossen, und die Vorwürfe werden häufig von politischen Zielen getragen: Im Fall von Mandela ging es um Reagans Unterstützung für die Verbrechen des Apartheidregimes, das sich gegen »eine der berüchtigtsten Terrororganisationen« der Welt verteidigte – den African National Congress.

Zum Glück ist das alles Ungeschichte.

Was will der Iran?

1. März 2012

Die Zeitschrift Foreign Affairs brachte in ihrer Januar/Februar-Ausgabe 2012 einen Artikel von Matthew Kroenig mit dem Titel »Es ist Zeit für einen Angriff gegen den Iran. Warum ein Militärschlag das geringste Übel ist« (Time to Attack Iran: Why a Strike Is the Least Bad Option), und Kommentare zu anderen Wegen, die iranische Bedrohung einzudämmen.

In allen Medien läuten die Alarmglocken über einen wahrscheinlichen Angriff Israels gegen den Iran, während die USA zögern, sich die Option eines Angriffskrieges aber offen halten – und damit wieder einmal routinemäßig gegen die UNO-Charta, die Grundlage des Völkerrechtes, verstoßen.

Spannungen werden verschärft, und Erinnerungen an das Vorspiel zu den Kriegen gegen Afghanistan und gegen den Irak liegen in der Luft. Die Kriegstrommeln werden von der aufgeheizten Rhetorik der Vorwahlen in den USA untermalt.

Man sagt, die »internationale Gemeinschaft« – ein verklausulierter Ausdruck für die USA und ihre Verbündeten – mache sich Sorgen über die »unmittelbare Bedrohung«, die der Iran darstelle. Die einfache Bevölkerung der Welt sieht das jedoch ganz anders.

Die Blockfreien Staaten, eine Bewegung aus 120 Ländern, unterstützt mit Nachdruck das Recht des Iran, Uran anzureichern. Die Mehrheit der Amerikaner unterstützte dieses Recht nach einer Umfrage von WorldPublicOpinion.org ebenso – bis zur Propaganda­schlacht der beiden letzten Jahre.

China und Russland sind gegen die Iran-Politik der USA. Das trifft auch für Indien zu. Indien hat erklärt, es würde die US-Sanktionen ignorieren und den Handel mit dem Iran ausweiten. Die Türkei verfolgt eine ähnliche Linie.

Die Europäer sehen Israel als die größte Bedrohung für den Weltfrieden. In der arabischen Welt ist der Iran unbeliebt, aber nur eine ganz kleine Minderheit sieht ihn als Bedrohung an. Vielmehr werden Israel und die USA als die herausragende Bedrohung gesehen. Eine Mehrheit ist der Ansicht, dass die Region sicherer wäre, hätte der Iran Atomwaffen: In Ägypten waren nach Umfragen der Brookings Institution und Zogby International am Vorabend des Arabischen Frühlings 90 Prozent der Bevölkerung dieser Meinung.

Westliche Berichterstatter machen viel Aufhebens darum, dass die arabischen Diktatoren angeblich die Position der USA gegenüber dem Iran unterstützen. Gleichzeitig ignorieren sie die Tatsache, dass die übergroße Mehrheit der Bevölkerung in den arabischen Ländern gegen diese Position ist. Das ist so entlarvend, dass sich jeglicher Kommentar erübrigt.

Sorgen über das Atomwaffenarsenal Israels äußern seit Langem auch einige Beobachter in den Vereinigten Staaten. General George Lee Butler, der ehemalige Vorsitzende des United States Strategic Command, bezeichnete die Atomwaffen Israels als »extrem gefährlich«. Oberstleutnant Warner D. Farr schrieb in einer Zeitschrift des US-Militärs, dass »ein Zweck der israelischen Atomwaffen, der nicht oft genannt wird, aber offensichtlich ist, in ihrem ›Einsatz‹ gegen die Vereinigten Staaten besteht« – wohl um sicherzustellen, dass die USA Israel beharrlich unterstützen.

Derzeit ist ernsthaft zu befürchten, dass Israel versucht, den Iran zu irgendeiner Aktion zu provozieren, welche die USA zu einem Angriff verleitet.

Zeev Maoz, ein führender israelischer Militärexperte, kommt in seinem Buch Defending the Holy Land. A Critical Analysis of Israel’s Security and Foreign Policy zu dem Schluss, dass »die Bilanz der Atomwaffenpolitik Israels ausgesprochen negativ« und der Sicherheit des Staates abträglich ist. Er drängt stattdessen darauf, dass Israel ein regionales Abkommen für ein Verbot von Massenvernichtungswaffen anstreben sollte – eine massenvernichtungswaffenfreie Zone, wie sie die UNO-Vollversammlung in ihrer Resolution 1974 gefordert hat.

Die westlichen Sanktionen gegen den Iran haben derweil die üblichen Auswirkungen, darunter einen Mangel an Grundnahrungsmitteln – nicht für die herrschenden Mullahs, aber für die Bevölkerung. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass die mutigen iranischen Oppositionellen die Sanktionen ablehnen.

Die Sanktionen gegen den Iran könnten dieselben Folgen haben wie die Sanktionen gegen den Irak, die von hoch angesehenen UNO-Diplomaten, die diese Sanktionen umzusetzen hatten und schließlich aus Protest zurücktraten, als »Völkermord« bezeichnet wurden.

Die Sanktionen gegen den Irak hatten verheerende Folgen für die Bevölkerung und stärkten Saddam Hussein; wahrscheinlich bewahrten sie ihn vor dem Schicksal der umfangreichen Verbrecherkartei an Diktatoren, die von den USA und Großbritannien unterstützt wurden und florierten, bis sie von hausgemachten Meutereien gestürzt wurden.

Es gibt kaum glaubwürdige Erörterungen, worin die iranische Bedrohung denn eigentlich besteht, aber es gibt eine maßgebliche Antwort – vonseiten des Militärs und der Geheimdienste der USA. Diese haben vor dem Kongress klar dargelegt, dass der Iran keine militärische Bedrohung darstellt.

Der Iran hat sehr beschränkte militärische Einsatzkapazitäten und seine strategische Doktrin ist defensiv, sie soll so lange eine Abschreckung gegen eine Invasion darstellen, bis eine diplomatische Lösung greift. Falls der Iran Atomwaffen entwickelt (was noch nicht bewiesen ist), wären diese Teil seiner Abschreckungsstrategie.