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Nr. 100

 

Die Tochter des Kometen

 

von Paul Wolf

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

Mythor, der Sohn des Kometen, begann seinen Kampf gegen die Mächte des Dunkels und des Bösen in Gorgan, der nördlichen Hälfte der Welt.

Dann, nach einer relativ kurzen Zeit des Wirkens, in der er dennoch Großes vollbrachte, wurde der junge Held nach Vanga verschlagen, der von den Frauen beherrschten Südhälfte der Lichtwelt. Und obwohl in Vanga ein Mann nichts gilt, verstand Mythor es nichtsdestoweniger, sich bei den Amazonen einen geachteten und gefürchteten Namen zu machen.

Nun aber, da Mythor zum Hexenstern gelangt ist, dem Ort, an dem die Zaubermütter Fronja, die Tochter des Kometen, in Gefangenschaft halten, weil sie von einem Deddeth besessen ist, scheint sich das Schicksal unseres jungen Helden zum Schlechten zu wenden. Mythor, der für seine geliebte Fronja selbst das höchste Opfer zu bringen bereit ist, lässt sich von den Zaubermüttern in die Hermexe versetzen, die auf das Luftschiff Luscuma gebracht wird.

Damit tritt Mythor eine unfreiwillige Reise an. Die Luscuma fliegt in die Schattenzone, wo man sich der Hermexe entledigen will, in dessen Innern nicht nur ganze Horden von Dämonen eingeschlossen sind, sondern auch DIE TOCHTER DES KOMETEN ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Fronja und Mythor – Die Tochter und der Sohn des Kometen als Gefangene der Hermexe.

Robbin – Ein Pfader aus der Schattenzone.

Luscuma – Die Steuerhexe fliegt einen eigenwilligen Kurs.

Burra – Kriegsherrin an Bord der Luscuma.

Scida, Gerrek, Heeva und Lankohr – Mythors Freunde auf dem Weg in die Schattenzone.

1.

Der 1. Tag der Reise

 

Juchheirassa! Juchheirassassa! Wir fliegen in die Schattenzone!

Gerrek schreckte hoch und krachte mit dem Kopf gegen etwas Hartes. Er wurde zurückgeschleudert, drehte sich halb um seine Achse und verlor den Halt. Er fiel ein kurzes Stück, bevor er der Länge nach auf einem Holzboden landete. Benommen blieb er liegen und versuchte sich darüber klar zu werden, wie ihm geschehen war.

In seinem Geist hallte ein einzelnes Wort nach: fliegen ... fliegen ...

Ich bin das Einhorn! Ich bin das Schiff!, erklang wieder die lautlose Stimme von vorhin. Wer mich fährt, kommt sicher ans Ziel. Guten Morgen – und willkommen an Bord.

Da wurde sich Gerrek schlagartig bewusst, wo er sich befand.

Er rappelte sich hoch. Die Planken schienen ihm unter den Beinen wegzugleiten, und er stützte sich auf die Hängematte, aus der er vor Schreck gefallen war, als ihn der lautlose Weckruf der Steuerhexe erreichte. Aber die Hängematte bot ihm keinen Halt, sie pendelte hin und her ...

»Mir wird übel«, klagte der Beuteldrache. »Ich werde luftkrank.«

»Jammerlappen«, schalt ihn Scida. Er sah die alte Amazone durch den Vorhang aus Schnüren, der ihre Hängematte von der seinen trennte.

Allmählich wurde es um Gerrek lebendig. Im Hintergrund sah er den wuchtigen Körper der Amazone Burra. Sie saß in ihrer Hängematte und ließ die stämmigen Beine herabbaumeln. Sie trug nur das Untergewand, ihr Haarknoten hatte sich gelöst, und die Strähnen hingen ihr wirr ins Gesicht.

»Das kann nur ein böser Traum sein«, meinte Gerrek unglücklich. »Kneife mich jemand in ... Au!«

Er schrie auf, als ihm jemand auf den Schwanz trat. Er wirbelte herum und sah sich Tertish gegenüber. Die Todgeweihte war bereits angekleidet, sie schien in voller Rüstung geschlafen zu haben. »Sei Burra beim Anlegen der Rüstung behilflich«, befahl sie.

»Ich bin doch kein Männchen für alles«, begehrte Gerrek auf.

»Das ist bedauerlich«, sagte Tertish. »Aber du wirst dein Bestes geben, wenn du dir nicht Burras fürchterlichen Zorn zuziehen willst.«

Das wäre das letzte, was sich der Beuteldrache wünschte, darum fügte er sich. Murrend tastete er sich über die schwankenden Planken einen Weg zu Burras Abteil. Dabei kam er an einer Hängematte vorbei, die sich zwei kleine, grünhäutige Wesen teilten.

Es waren der Aase Lankohr und die Aasin Heeva, die unzertrennlich waren, seit sie sich am Hexenstern begegneten. Sie saßen einander mit überkreuzten Beinen gegenüber und rieben ihre Nasen gegeneinander.

»Habt ihr nichts Sinnvolleres zu tun?«, sagte Gerrek und fügte mit Nachdruck hinzu: »Wir fliegen mit der Luscuma in die Schattenzone.«

Aber die beiden schienen ihn gar nicht zu hören.

»Was willst du?«, herrschte Burra ihn an, als er vor ihr stand.

Unter ihrem Blick spürte Gerrek, wie sich ihm förmlich die Haarbüschel an seinem Körper aufstellten. Er schluckte so heftig, dass sein Kehlkopf auf- und abhüpfte. Obwohl er um fast einen Fuß größer als Burra war, kam er sich ihr gegenüber winzig vor.

Sie war die hässlichste Amazone, der er je begegnet war – und die furchterregendste. Ihr Gesicht war kantig und breit, mit stark hervortretenden Backenknochen, einer flachgedrückten Nase und breitem, wulstigem Mund. Sie hatte die Lippen etwas geschürzt, so dass die gelben, zugefeilten Zähne hervorsahen. Ihre dunklen Augen waren in schwere Tränensäcke eingebettet und wurden von buschigen, balkenartigen Augenbrauen begrenzt, die sich an der Nasenwurzel mit einer dicken, bläulichen Narbe kreuzten.

Ihre breiten muskelbepackten Schultern wirkten wie ausgestopft, ihr Brustkorb war so breit wie der von zwei normalen Männern. Die Schenkel, die unter dem Lendentuch hervorsahen, waren so stark wie die Leibesmitte eines Mannes. Darauf ruhten ihre Pranken, sehnig, schwielig, kraftvoll.

Und diese wildeste und stärkste Amazone von Vanga, die als schier unbesiegbar gegolten hatte, hatte in Mythor ihren Meister gefunden. Gerrek konnte es noch immer nicht glauben. Aber es war Tatsache, geschehen im Regenbogendom des Hexensterns von Vanga.

»Was glotzt du so«, fuhr sie ihn wieder mit ihrer rauen Stimme an. »Willst du mir nicht antworten?«

»Ich soll dich ankleiden«, brachte Gerrek schließlich hervor.

»Verschwinde, ich komme allein zurecht«, sagte Burra und wischte mit der Hand durch die Luft.

Gerrek wollte der Aufforderung schleunigst Folge leisten, aber da rief ihn Burra zurück.

»Beuteldrache«, sagte sie eindringlich. »Du, als Freund Mythors, solltest stets Standhaftigkeit, Stolz und Mut beweisen und eher in den Tod gehen, als solche Demütigungen auf dich zu nehmen. Nur so kannst du dich Mythors Freundschaft würdig erweisen.«

Gerrek überlegte kurz, dann erwiderte er:

»Ich werde nicht von falschen Ehrbegriffen geplagt. Und doch kann Mythor in jeder Lebenslage auf mich zählen. Ich würde für ihn durchs Feuer gehen.«

»Du müsstest schon in die Hermexe steigen, um ihm beizustehen«, meinte Burra.

»Ich würde auch das tun, gäbe es einen Weg.«

»Ich will dir glauben.«

Burra sprang aus der Hängematte und machte sich an ihrer Rüstung zu schaffen, die in einem unordentlichen Haufen auf dem Boden lag. Für sie war das Gespräch beendet.

Gerrek zögerte, bevor er fragte:

»Und wie wird es weitergehen?«

»Du kennst der Zaubermutter Zaem Befehle«, sagte Burra, ohne ihn anzusehen.

»Gedenkst du etwa, dich blind daran zu halten?«, fragte Gerrek.

Burra wirbelte herum, ihr Gesicht war von Zorn gezeichnet.

»Kein Wort mehr. Sonst drehe ich dir deinen dürren Drachenhals um.«

Gerrek machte, dass er wegkam. Er sah ein, dass er zu weit gegangen war. Burra hatte schwer genug an ihrer Bürde zu tragen, auch ohne dass sie von vorlauten Beuteldrachen daran erinnert wurde.

Burra hatte sich damals, im Nassen Grab, eines schweren Vergehens gegen ihre Zaubermutter Zaem schuldig gemacht, als sie Mythor gegen deren Willen am Leben ließ. Burra tat dies nicht aus Wohlwollen für Mythor, sondern nur, um ihn später eines Todes sterben zu lassen, der eines Sohnes des Kometen würdiger war: Sie wollte ihn im ehrenvollen Zweikampf töten. Doch war es ganz anders gekommen, und Mythor hatte über sie triumphiert. Nun war sie ihm verpflichtet, hatte sogar ihr bisher namenloses Schwert nach ihm Mythor getauft.

Ihre Zaubermutter Zaem sah das als nochmalige Verfehlung an und schickte Burra daher auf diesen Bußflug in die Schattenzone und zur Nordwelt Gorgan. Die Zaem verlangte nicht weniger von ihrer Amazone, als dass sie die Hermexe, in der Mythor und Fronja eingeschlossen waren, beim Durchqueren der Schattenzone über Bord warf und somit den Mächten der Finsternis übergab.

Gerrek konnte sich vorstellen, in welchem Gewissenskonflikt sich Burra befand. Und er hätte sich selbst in den Schwanz beißen mögen, dass er in dieser Wunde rührte.

Er schlich sich davon und suchte den hintersten Winkel der Unterkunft auf. Von Scida war nichts mehr zu sehen, und auch die Aasenmatte war leer. Nur aus Burras Richtung kam ein Rumoren, das zeigte, dass sie mit dem Anlegen der Rüstung beschäftigt war. Ihre drei Amazonen, Tertish, Gudun und Gorma, standen in angemessenem Abstand daneben und warteten geduldig, bis Burra fertig war.

Endlich verstummten die Geräusche, schwere Schritte entfernten sich über die Treppe nach oben. Stille kehrte ein.

Gerrek war allein.

Er dachte nicht daran, an Deck zu gehen und luftkrank zu werden. Das Fliegen bekam ihm nicht, und es ging ihm hier unten schon schlecht genug. Aber es war um vieles schlimmer, wenn ihm der Wind um die Ohren pfiff und sich die schwindelerregende Tiefe seinen Augen darbot.

Er wollte die Zauberflöte aus seinem Beutel holen, um darauf zu spielen. Er hatte es inzwischen zu wahrer Meisterschaft auf diesem Instrument gebracht, und das Spiel beruhigte ungemein.

Aber dann übermannte ihn doch die Neugierde. Er steckte die Zauberflöte weg und stieg an Deck. Hier hatten sich bereits alle Amazonen versammelt, und Gerrek kam gerade zurecht, als die Steuerhexe mit ihrem lautlosen Aufruf begann:

Alles herhören! Hier spricht eure Steuerhexe Luscuma. Ich bin das Einhorn! Ich bin das Schiff! Ich bin die Beauftragte der Zaubermütter von Vanga. Mein Wort ist euch Befehl!

 

*

 

Es war eine Lust zu fliegen.

Es war eine eigene Lust, das Schiff zu sein und im Einhorn des Bugs zu wohnen. Der fischförmige Ballon und der Schiffsrumpf waren ihr Körper, im Kopf des Einhorns wohnte ihr Geist. Sie hatte Augen überall, sie hörte alles, sie spürte jeden Atemzug und jeden Herzschlag aller über fünfzig Wesen an Bord. Sie kannte die Namen aller und war über ihre wichtigsten Wesenszüge und Eigenschaften unterrichtet. Zaem hatte ihr alles verraten, was sie über ihre Schützlinge wissen musste.

Da war Burra von Anakrom, die die schwersten Prüfungen bestanden hatte, die die Götter für eine Amazone nur ersinnen konnten – und die an einem Mann aus Gorgan gescheitert war.

Zaem hatte ihr über Burra gesagt:

»Sie ist wild und ungezähmt – und doch scheint sie innerlich gebrochen. Sie hat mich hintergangen und verraten, aber sie ist es mir dennoch wert, dass ich ihr noch eine Chance einräume. Sie soll die Kriegsherrin auf dir sein, Luscuma. Ihr soll es vorbehalten bleiben, die Hermexe mit Mythor und Fronja und den sie bedrängenden Dämonen in die Schattenzone zu werfen. Wenn sie das getan hat, dann darf sie in meine Dienste zurückkehren.«

Und da war Lexa. Eine Amazone von vierzig Jahren, die mit zwölf Gefährtinnen als »Sucherin« zum Hexenstern gekommen war. Über sie wusste Zaem zu sagen:

»Sie ist das Gegenteil von Burra, vor allem sittenstreng und enthaltsam. Sie war eine Amazone der Zuma, doch da diese Zaubermutter von den Blutigen Zähnen nie wieder zurückkehren wird, machte sich Lexa auf die Suche nach einer anderen Zaubermutter. Sie hat sie in mir gefunden, ich kann mir keine Treuere vorstellen. Sie wird ein wachsames Auge auf Burra und ihren seltsamen Haufen von Getreuen haben. Lexa hat in jungen Jahren einmal gefehlt, Frucht dieser Sünde ist ihre achtzehnjährige Tochter Jente, die sie begleitet. So alt ihre Tochter ist, so lange hat Lexa Buße getan. Sie wird auf der Luscuma für Zucht und Ordnung sorgen – und dafür, dass keine Stimmen wider mich aufkommen.«

Und dann gab es da noch diesen seltsamen Mann, der in schlafendem Zustand an Bord gebracht wurde, und der nicht geweckt werden sollte. Mescal war sein Name. Zaem meinte über ihn:

»Er ist eine Missschöpfung der Zahda. Eine Kreatur, aus Mann und Frau zusammengesetzt, aber doch wiederum keines von beiden. Er ist männisch und weibisch zugleich, in der Worte übelster Bedeutung. Zahda wollte mit dieser Schöpfung beweisen, dass das Weibliche sich mit dem Männlichen verträgt. Aber Mescal beweist das Gegenteil. Wie auch immer, er soll den Flug mitmachen. Wenn die Luscuma Gorgan erreicht hat, dann setze ihn in der Männerwelt aus.«

Und dann war da noch die Fracht, Hermexe genannt.

Ein äußerlich unscheinbares flaschenförmiges Gefäß. Zwei Fuß groß und bauchig, mit einer dellenartigen Einbuchtung an der unteren Rundung – und drei Hälsen, die versiegelt waren.

Aber der Inhalt der Hermexe war überaus brisant.

Zaem hatte sie darüber informiert.

»Zahda und die anderen Leisetreterinnen glaubten, Fronja, die Tochter des Kometen und Erste Frau von Vanga, retten zu können, obwohl ein Deddeth sie beherrschte und allmählich aufzehrte. Sie verfrachteten Fronja in diese Hermexe, um sie von der Umwelt abzukapseln. Sie glaubten, Fronja auf diese Weise zu schützen und taten so ungewollt das Richtige – sie schützten Vanga, unsere Welt, vor Fronja. Denn wisse, der Deddeth war ein Vorbote der Dämonen. Sie schickten ihn aus, Fronja zu beherrschen, um sich dann in großer Schar auf sie stürzen zu können. Doch landeten sie alle in der Hermexe. Und darin sind sie noch immer. Dämonen ohne Zahl, die, wenn sie entfleuchen könnten, unsere Welt in Besitz nehmen würden. Darum, Hände weg von der Hermexe! Niemand darf sie öffnen. Sie hat versiegelt zu bleiben. In ihr ist auch ein Mann eingeschlossen, ein Gesandter des Kriegers Gorgan. Mythor, der Sohn des Kometen. Er war vermessen genug, Fronja in die Hermexe zu folgen, um sie gegen die Dämonen zu schützen. Sein Schicksal ist besiegelt. Er wollte es nicht anders.«

Die Hermexe hing nun in der Takelage, zusammen mit Körben, in denen Waffen und andere Ausrüstung untergebracht waren, und den Säcken mit dem Ballast. Eine harmlos scheinende Flasche mit drei Hälsen, aber sie hatte es in sich.

Luscuma – das Einhorn, das Schiff – wartete geduldig an Zaems Zacke des Hexensterns, bis die Zaubermutter die über fünfzigköpfige Schar an Bord berief, die den Flug mitmachen sollte.

Dazu gehörten, neben den Amazonen der verschiedenen Zaubermütter, auch ein Aasenpärchen mit Namen Lankohr und Heeva und ein gar seltsames Geschöpf, das als Beuteldrache bezeichnet wurde. Gerrek hieß der verwahrlost aussehende Feuerspucker. Auch er war weder Mann noch Tier, einem Albtraum der Gaidel entsprungen, die ein Opfer von Fronjas Deddeth geworden war ...

Zaem trat vor die Kriegerinnen hin und trug ihnen auf, in die Schattenzone zu fliegen und die Hermexe ins Reich der Finstermächte zu werfen, um danach nach Gorgan vorzudringen und dort Männer verschiedener Abstammung und Herkunft einzufangen – »vom Bettler bis zum Edelmann!«

Und dann war der Start erfolgt.

Die Zaubermütter waren mit der Luscuma. Sie spannten einen magischen Tunnel durch die Lüfte, um dem Luftschiff den Kurs zu weisen – eine magische Regenbogenbrücke vom Hexenstern bis zur Großen Barriere an der Dämmerzone.

Sie, Luscuma, das Einhorn, das Schiff, wiegte ihre Schützlinge in den Schlaf und weckte sie wieder am ersten Morgen der Reise.

Juchheirassa! Juchheirassassa! Wir fliegen in die Schattenzone!

Sie flog nicht zum ersten Mal dorthin, sie war schon einmal in diesem Brodem des Bösen gewesen.

Damals hatte sie noch einen Frauenkörper besessen. Sie war eine Hexe gewesen, die Steuerhexe Luscuma, der gute Geist des Schiffes.

Das war sie noch immer, doch ihren Frauenkörper hatte sie verloren. Sie musste ihn in der Schattenzone zurücklassen und in das Einhorn schlüpfen, um den Dämonen zu entkommen.

Jetzt war sie das Einhorn. Das Schiff. Als solches war sie zu ihrer Zaubermutter Zaem zurückgekommen. Und die Zaem besaß keine bessere Dienerin, die sie mit dieser Mission hätte beauftragen können: Die heißeste Fracht, die je durch die Lufträume von Vanga geflogen worden war – eine Hermexe, in der Dämonen ohne Zahl steckten.

Sie fühlte sich dieser Aufgabe gewachsen.

Als Schiff, als Einhorn, war sie mächtiger als je in ihrem Frauenleben. Sie hatte einen stattlichen Körper. Der gasgefüllte Ballon von der Form eines Fisches maß achtzig Schritt in der Länge. Darin wohnte die Kraft, eine Gondel von dreißig Schritt Länge durch die Lüfte von Vanga zu tragen. Und dazu noch eine über fünfzig Köpfe zählende Besatzung, ausreichende Waffenvorräte, genügend Nahrung, Fässer mit Wasser, Gepökeltem und Salz, und eine Fülle von magischem Gerät.

Als sie über die weiten Meere von Vanga dahintrieb, da konnte sie sich mit den Augen des Einhorns selbst in der spiegelglatten Wasseroberfläche sehen. Sie war schön, grazil, majestätisch, ein vollkommenes Luftschiff, das von ihrem starken Geist beherrscht wurde.

Einst war sie selbst auf dem Bugkastell gestanden, als stolze Hexe, die glaubte, sich selbst mit den Dämonen in ihrem Herrschaftsbereich messen zu können. Jetzt standen dort Burra und Lexa und dachten gewiss ebenso.

Doch Luscuma klärte sie darüber auf, dass sie ohne ihre Hilfe verloren wären.

Ich bin das Einhorn. Ich bin das Schiff. Ich bin der alles beherrschende Geist. Ihr dagegen seid nur meine Arme. Du, Burra, bist der Arm des Krieges. Wenn gekämpft wird, gilt dein Wort. Du, Lexa, bist die Wächterin über die guten Sitten. Wo gegen sie verstoßen wird, schreitest du ein. Ihr kennt den Willen unserer Zaubermütter. Ihr wisst, was unser Ziel ist. Ich werde als euer guter Geist dafür sorgen, dass wir es nicht aus den Augen verlieren.

Damit beendete Luscuma die Versammlung und flog einige ausgelassene Manöver innerhalb der Grenzen des Regenbogentunnels.

Es war eine Lust zu fliegen.

Und es war eine Lust, das Schiff zu sein und im Einhorn zu wohnen ... wären da nicht undeutliche Schatten gewesen. Schatten, die die Hermexe warf, und andere, von denen Luscuma nicht sagen konnte, woher sie kamen.

Von dem feuerspuckenden Beuteltier?

Oder von dem im Schlaf liegenden weibischen Mann?

Die Schatten wurden stärker, je länger der Tag dauerte, aber sie wurden nicht fassbarer. Und als der Tag sich zum Abend neigte, spürte Luscuma die Schatten wie eine schwere Last auf sich. Aber als die Nacht kam, da wurden die Schatten von der alles bedeckenden Schwärze verschluckt, und Luscuma wiegte ihre Schützlinge in den Schlaf.

Ich bin das Einhorn! Ich bin das Schiff! Ich beschütze euch – Gute Nacht!

2.

Der 2. Tag

 

Nach dem Weckruf der Steuerhexe ließ sich Lexa von ihrer Tochter Jente ankleiden. Jente tat es, nur mit einem Lendentuch bekleidet. Sie hatte einen schönen Körper, mit breiten Schultern und schmaler Leibesmitte, einem flachen Bauch und starken, ausladenden Hüften. Ihre Bewegungen waren geschmeidig.

»Ich sehe mich in dir wie in einem Spiegel«, stellte Lexa fest, als ihre Tochter letzte Hand an sie legte.

»Du bist mein Vorbild«, sagte Jente gesenkten Blicks.

Lexa hob ihr Kinn an und sah ihr fest in die Augen. Was sie darin sah, wollte ihr nicht recht gefallen. Tief auf dem Grund von Jentes Augen lag eine versteckte Gier, ein ungestillter und nur mühsam unterdrückter Hunger.

In plötzlich aufwallender Angst um das Schicksal ihrer Tochter, legte ihr Lexa die Hände auf die Schultern.

»Sei stark, Jente«, sagte sie eindringlich. »Bitte Vanga, unsere Urmutter, dass sie dir die Kraft gibt, deine Fleischeslust zu bezähmen.«

Lexa sprach es nicht aus, aber wenn sie sagte, dass sie sich in ihrer Tochter wie in einem Spiegel sah, dann meinte sie vor allem ihre Jugend. Als Lexa in Jentes Alter stand, da war sie eine Sünderin gewesen. Sie hatte für ihr ausschweifendes Leben einen hohen Preis zahlen müssen. Ihr war das Schlimmste passiert, was einer ehrgeizigen Amazone widerfahren konnte – sie hatte ein Kind bekommen.

Doch sie war nicht daran zerbrochen. Sie war auf die entlegene Insel Sargoz gezogen, wo sie ihre Tochter Jente gebar. Sie sah es als Gnade an, dass ihr Kind kein Junge war, und benannte aus Dank dafür ihr damals noch namenloses Seelenschwert ebenso – Jente. Dies kam einem Gelübde gleich, ihre Tochter streng und sittsam zu erziehen. Achtzehn lange Jahre hatte sich Lexa daran gehalten, bis sie fand, dass ihre Tochter gewappnet war. Doch nun, wenn sie Jente in die Augen blickte und die Unruhe darin bemerkte, war sie nicht sicher, ob sie allen Versuchungen würde standhalten können.

Nachdem auch die elf anderen Amazonen und Jente angekleidet waren, suchten sie gemeinsam den kleinen Tempel mittschiffs auf, um dort ihrer Urmutter Vanga zu huldigen. Lexa stellte verbittert fest, dass sich von den anderen Amazonen keine einfand.

Als das morgendliche Ritual beendet war, fühlte sich Lexa wie gereinigt und gestärkt, und sie war von der Zuversicht durchdrungen, dass sie das Tagwerk meistern würde. Sie wagte einen kurzen Seitenblick zu ihrer Tochter und stellte erleichtert fest, dass ihre Haltung voll Demut war.

»Wohlan, lasst uns das Schiff besichtigen«, sagte Lexa frohen Mutes zu ihren Gefährtinnen, die alle wie sie Entsagung und innere Einkehr auf der Insel Sargoz gesucht hatten und mit ihr zum Hexenstern gezogen waren, um eine neue Bestimmung zu bekommen. Sie hatten sie in den Diensten der Zaem gefunden.

Es gab an Bord der Luscuma kaum etwas für die Amazonen zu tun, denn die Steuerhexe führte das Luftschiff sicher auf dem Kurs, den die Zaubermütter bestimmten. Gefahren drohten weder von den Elementen, noch von den Bewohnerinnen der Inseln und Länder, die sie überflogen – denn die Zaubermütter waren mit ihnen.

Sie schützten die Luscuma.

Es gab auch keine Schwierigkeiten mit den anderen Amazonen, die im Dienste der verschiedenen Zaubermütter standen. Sie übten sich in Zurückhaltung und achteten einander, auch wenn sie verschiedener Gesinnung waren. Immerhin hatten sie eine gemeinsame Aufgabe, das schweißte sie zusammen.

Nur Burra und ihre Gefährten wollten sich nicht anpassen, sie wirkten wie Fremdkörper in der Bordgemeinschaft. Lexa und ihre Amazonen hatten es sich zur Aufgabe gemacht, auf sie ein besonders wachsames Auge zu haben.

Lexa war die Sittenwächterin auf der Luscuma.

Kaum an Deck, wurde sie Zeuge eines Vorfalls, der ihr Missfallen erregte. Lankohr und Heeva saßen zwei Körperlängen über der Bordwand in den Wanten. Sie hatten sich mit den Beinen in den Tauen eingehängt, so dass sie die Arme frei hatten. Sie machten damit seltsame Verrenkungen, klatschten hin und wieder mit den Händen gegeneinander und drückten und rieben zwischendurch die Gesichter aneinander, dazu wisperten sie.

»Schamloses Gnomenpack!«, rief Lexa empört zu ihnen hinauf. »Haltet sofort ein und kommt herunter, sonst lasse ich euch im Netz ins Schlepptau nehmen.«

Lexa hatte in ihrem Zorn ihr Herzschwert Rasaal gezogen und streckte die Klinge den beiden Aasen entgegen. Die hatten ihren ersten Schreck bereits überwunden. Jetzt grinsten sie frech und starrten durchdringend auf Lexa herab. Plötzlich rief Lankohr in gespieltem Entsetzen:

»O Schreck! Was hältst du in der Hand?«

Lexa starrte ungläubig auf ihre Klinge, die sich wand und zu einer siebenköpfigen Schlange wurde. Sie öffnete erschrocken die Hand und wich einen Schritt zurück. Als die Schlange auf den Planken landete, wurde sie wieder zu ihrem Herzschwert.

Die beiden Aasen turnten kichernd durch die Takelage und verschwanden im Schutz des fischförmigen Ballons.

»Das werdet ihr mir büßen«, versprach Lexa, nachdem sie sich nach ihrem Schwert gebückt hatte.

Dann erst entdeckte sie Tertish, die vor sie hingetreten war.

»Du solltest nicht so streng mit den Aasen sein«, sagte die Todgeweihte. »Aasen sollte man lassen, wie sie sind. Wenn man sie ändert, verlieren sie ihre magischen Fähigkeiten. Und wenn wir erst in der Schattenzone sind, werden wir ihre Dienste noch brauchen.«

Bevor Lexa etwas erwidern konnte, entfernte sich Tertish wieder. Ihre Linke hing steif von ihrem Körper, die Handfläche war leicht nach hinten gedreht, so dass Lexa das Sternmal sehen konnte, das sie als Todgeweihte kennzeichnete.

Lexa wollte ihr folgen. Aber da tauchte Burra von Anakrom in Begleitung von Gudun und Gorma auf, und Lexa überlegte es sich anders.

Die hässliche Amazone würdigte die Sittenwächterin keines Blickes. Sie ging einfach an ihr vorbei, als sei sie Luft für sie. Nach einigen Schritten blieb sie stehen und blickte hoch. Sie hatte unter der Stelle haltgemacht, an der die Hermexe drei Körperlängen über dem Deck in den Tauen hing.

Burra starrte lange zu dem bauchigen Behältnis mit den drei Hälsen hinauf. Lexa fragte sich, woran Burra dachte. Leistete sie im Stillen ihrer Zaubermutter Zaem Abbitte? Oder gehörten ihre Gedanken der Tochter und dem Sohn des Kometen, die in der Hermexe eingeschlossen waren?

»Sertina und Ambule«, sagte Lexa laut und vernehmlich. Nachdem die beiden angesprochenen Amazonen aus ihrem Gefolge vor sie hingetreten waren, trug sie ihnen auf: »Ihr beide übernehmt die erste Wache an der Hermexe. Padra und Hanuika werden euch später ablösen. Ihr seid dafür verantwortlich, dass niemand dem Dämonengefäß zu nahe kommt.«

Sertina und Ambule kletterten über die Strickleiter zu der hölzernen Plattform hoch, über der die Hermexe verankert war, und bezogen darauf Posten.

Burra wandte sich ab. Sie strafte Lexa immer noch mit Verachtung.

»Dein Hochmut wird dich noch zu Fall bringen, Burra«, murmelte Lexa ergrimmt.

Allmählich belebte sich das Deck mit Amazonen. Es waren Kriegerinnen aller Zaubermütter vertreten. Sie trugen auf ihren Helmen den Blitz der Ziole, die Flammen der Zirri, das Zwillingszeichen der Zanni oder den Zauberstab der Zoud. Diese Symbole fanden sich zumeist auch in den Wappen auf ihren Brustharnischen. Einige von Lexas Begleiterinnen trugen noch den Drachen auf Helm und Harnisch, der das Zeichen der verschollenen Zuma war. Andere hatten bereits den Drachen mit dem Schwertsymbol vertauscht, um zu zeigen, dass sie in die Dienste der Zaem getreten waren.

Lexa fiel erst jetzt auf, dass ihre Tochter nicht unter ihren Begleiterinnen war. Als sie sich nach Jente erkundigte, berichtete ihr Oscuse:

»Ich sah sie einen Abgang benutzen und unter Deck verschwinden. Jente tat, als wolle sie sich davonstehlen.«

Lexa erinnerte sich des hungrigen Blickes ihrer Tochter, das weckte eine böse Ahnung in ihr.

»Begleite mich«, verlangte sie von Oscuse und folgte der Amazone zu dem Abstieg, durch den Jente verschwunden war.

Unter Deck begegneten sie drei Amazonen der Zytha, deren Helme Kristalle zierten. Sie machten ihnen ehrfürchtig Platz.

»Habt ihr eine Jungamazone mit einem Drachenhelm gesehen?«, erkundigte sich Lexa.

»Deine Tochter Jente?«, fragte eine der drei, deren Helm ein Blutkristall zierte und deren Name Mirrel war. »Nein, sie ist uns nicht begegnet.«

Lexa wartete, bis sich die drei entfernt hatten, dann sagte sie zu Oscuse:

»Lass uns die Kajüte des Schläfers aufsuchen.«

Oscuse machte ein entsetztes Gesicht.

»Du glaubst doch nicht, dass Jente ...«

»Ich hoffe, dass ich mich irre«, schnitt ihr Lexa das Wort ab.

Sie irrte sich nicht. Als sie die Tür zu Mescals Kajüte aufstieß, war Jente über den im magischen Schlaf liegenden Geschaffenen gebeugt, und sie streckte gerade beide Hände aus, um ihm übers Gesicht zu streichen. Erschrocken wirbelte sie herum.

Lexa riss mit einem Aufschrei beide Schwerter aus den Scheiden und richtete die Klingen auf ihre Tochter.

»Lexa!«, rief Oscuse erschrocken. »Bändige deinen Zorn! Wie gerecht er dir auch erscheinen mag, solltest du dir anhören, wie deine Tochter ihr Tun rechtfertigt.«

»Ich will nichts hören!«, schrie Lexa. »Sie soll schweigen. Und will auch keinen Laut der Klage und des Schmerzes hören, wenn ich das Schlechte und Böse aus ihrem Körper peitsche.«

Lexa begab sich in die Waffenkammer und wählte aus dem Angebot verschiedenartiger Peitschen eine siebenschwänzige Eeno. Damit kehrte sie an Deck zurück und begab sich aufs Bugkastell. Von dort wandte sie sich der Galionsfigur des Einhorns zu und sagte:

»Luscuma, ich bitte dich, allen Amazonen an Bord zu verkünden, dass ich als Wächterin der guten Sitten meines Amtes walten und meine Tochter Jente Zucht und Anstand lehren werde.«

Gleich darauf konnte die lautlose Stimme der Steuerhexe von allen vernommen werden, als sie Lexas Willen verkündete.

Die Amazonen kamen neugierig näher und versammelten sich um das Bugkastell, um dem Schauspiel beizuwohnen. Es bildete sich eine schmale Gasse, als Jente von Oscuse und Kokura gebracht wurde. Sie entblößten ihr den Oberkörper und banden sie an das hölzerne Einhorn des Buges.

Lexa hob die siebenschwänzige Peitsche und begann mit der Bestrafung. Sie schloss dabei die Augen und verspürte tief in ihrem Innern einen Schmerz, als würde die Peitsche sie selbst treffen. Als sie fertig war, hatte Jente die ganze Zeit über keinen einzigen Laut von sich gegeben, und das erfüllte Lexa ein wenig mit Stolz.

Die Peitsche in der Hand, wandte sie sich den versammelten Amazonen zu. In den meisten Gesichtern las sie Missbilligung und Verständnislosigkeit. Als sie den Blick mit Burra kreuzte, spuckte die Amazone aus und wandte sich ab.

Plötzlich zerriss ein schriller Schrei die Stille, dem ein zweiter folgte. Alle Köpfe wandten sich in diese Richtung, um nach der Ursache der Schreie zu sehen.

Ihnen bot sich ein beklemmender Anblick. An der Stelle, wo die Hermexe in den Seilen verankert war, zeigte sich ein doppelt so großes Gebilde, über dessen verbeulter Oberfläche grünliche Flammen huschten. Sertina und Ambule, die die Hermexe bewachen sollten, wurden durch unerklärliche Kräfte von der Plattform geschleudert und landeten in der Menge. Sie rissen einige Amazonen mit sich zu Boden und blieben benommen liegen.

»Die Hermexe birst!«, rief jemand und löste damit einen Tumult aus. Im Nu war das Deck unter der Hermexe geräumt, Sertina und Ambule wurden aus dem vermeintlichen Gefahrenbereich gezerrt. Die Amazonen wichen so weit zurück, bis ihnen die Bordwand und die Deckaufbauten den Weg versperrten. Die meisten hatten ihre Waffen gezückt, als könnten sie sich damit gegen die Kräfte wehren, die sie aus der Hermexe bedrohten.

»Was hat das zu bedeuten?«

»Die Dämonen versuchen, aus ihrem Gefängnis auszubrechen.«

Lexa starrte auf ihre noch immer reglose Tochter hinunter, deren Rückenwunden von Oscuse und Kokura behandelt wurden.

»Solange das Böse in uns ist«, sagte sie bitter, »haben die Dunkelmächte Macht über uns. Züchtigung ist Reinigung. Nur so können wir das Böse austilgen.«

Ein Aufschrei ging durch die Amazonen, als sich die Hermexe wieder aufblähte. Eine Feuersbrunst aus grünen Flammen huschte über ihre verformte Oberfläche, gleich darauf jagten dunkle Schatten über sie. Eine Weile ging das Toben der unerklärlichen Kräfte mit unverminderter Heftigkeit weiter, ohne dass das für die Besatzung und das Schiff selbst irgendwelche Folgen gehabt hätte.

Doch gerade als das unheimliche Wechselspiel von grünen Flammen und wirbelnden Schatten allmählich abebbte und die Amazonen sich wieder entspannten, ging ein Ruck durch die Luscuma.

Im selben Moment meldete sich die Steuerhexe auf jene lautlose Art und Weise, die alle hören konnten.

Ich bin das Einhorn. Ich bin das Schiff. Ich fliehe die unheilbringenden Finstermächte.

Ein neuerlicher Ruck ging durch das Luftschiff, der die meisten Amazonen von den Beinen riss, und unter Geheul und Getöse wurde die Luscuma von orkanartigen Kräften fortgerissen in einen finsteren Tunnel wirbelnder Gewitterwolken.

 

*

 

Lankohr und Heeva waren so sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass sie von den Geschehnissen an Deck nichts mitbekamen. Sie waren im Hochstand mit der Riesenarmbrust gewesen, der hinter dem Fischkopf des Gasballons aufragte, und befanden sich gerade auf dem Abstieg durch die Wanten, als die Wächterinnen der Hermexe von der Plattform geschleudert wurden.

»Was hat das zu bedeuten?«, erkundigte sich Lankohr bei seiner Gefährtin, als er sah, wie sich die Hermexe aufblähte und grüne Flammenzungen und formlose Schatten über ihre pulsierende Oberfläche jagten.

»Schwarz-magisches Wetterleuchten«, erklärte Heeva leichthin und fügte hinzu: »Es besteht kein Grund zur Besorgnis. Aber wir sollten trotzdem versuchen, die ausschlagenden Kräfte einzudämmen.«

»Wir?«, fragte Lankohr und schluckte. »Ich fürchte, du überschätzt meine Fähigkeiten. Meine magischen Kenntnisse halten sich in Grenzen.«

»Du bist nicht allein«, sagte Heeva zärtlich und ergriff seine Hand. »Wir ergänzen einander ausgezeichnet. Gemeinsam sind wir stark.«

Lankohr war gerührt. Heeva ließ es ihn nie merken, dass sie ihm in magischen Belangen himmelhoch überlegen war. Aber sie hatte schon recht, dass er an ihrer Seite über sich selbst hinauswuchs.

Sie kletterten Hand in Hand in Richtung der Hermexe, als sie plötzlich die Ankündigung der Steuerhexe in ihrem Geist vernahmen, die Finstermächte fliehen zu wollen.

»Halte dich fest!«, konnte Heeva ihren Gefährten noch warnen, bevor die Luscuma von dem magischen Sturm fortgerissen wurde, den die Steuerhexe selbst entfachte.

»Jetzt schnappt sie völlig über«, rief Lankohr.

»Die Steuerhexe wird die Ausstrahlung der in der Hermexe tobenden Dämonen spüren und daraus auf eine Bedrohung für das Schiff und die Besatzung schließen«, erklärte Heeva dicht bei ihm. »Wir müssen sie überzeugen, dass alles viel harmloser ist, als es scheint.«

»Ist es das wirklich?«, fragte Lankohr zweifelnd.

Heeva gab keine Antwort. Sie angelte nach einem Seil und ließ Lankohr überwechseln, bevor sie es selbst tat. Sie waren nur noch drei Aasenlängen über Deck, als das Seil mit einem Knall riss. Aber bevor es im Sturm davongeschleudert werden konnte, griff eine mächtige, schwielige Hand danach und hielt es fest, bis sich Heeva und Lankohr in Sicherheit gebracht hatten. Ihre Retterin folgte ihnen unter Deck. Es war keine andere als Burra.

»Du musst uns zum Einhorn bringen«, verlangte Heeva von der Amazone. »Ich will versuchen, die Steuerhexe zu beruhigen, damit sie diese rasende Fahrt beendet.«

»Luscuma kann dich von jeder Stelle des Luftschiffs aus hören«, meinte Burra.

»Nicht in dieser Lage, wo sie ganz im Bann der Hermexe steht«, erwiderte Heeva. »Sie hat sich abgekapselt. Man kann mit ihr nur durch körperlichen Kontakt mit dem Einhorn Verbindung aufnehmen. Luscuma glaubt, uns nur durch eine halsbrecherische Flucht retten zu können. Das müssen wir ihr ausreden.«

Burra überlegte kurz, dann nickte sie.

»Gudun! Gorma!«, rief sie. Als die beiden Amazonen zu ihr kamen, trug sie ihnen auf: »Ihr müsst alles versuchen, um den Flug zu verlangsamen. Setzt die Bremssegel. Lasst Drachen steigen, in denen sich der Wind fangen kann. Und wenn wir tief genug sind, dann lasst Körbe ins Wasser ... Werft meinetwegen auch den Anker ... Nur tut alles, um den Flug zu bremsen. Ich bringe die beiden Aasen zum Einhorn.«

Während Burra noch sprach, war ihr Heeva bereits auf die rechte Schulter geklettert. Nun hob Burra Lankohr auf die andere.

»Haltet euch nur gut fest«, meinte die Amazone und lachte. Dann eilte sie mit den beiden durch den Schiffsgang in Richtung Bug. Das Schiff schwankte und schlingerte und wurde einige Male heftig durchgeschüttelt, aber Burra hatte keine Mühe, auf den Beinen zu bleiben. Während ringsum die Amazonen verzweifelt um Halt bemüht waren, schien Burra mit den Schiffsplanken verwachsen zu sein.

Endlich erreichte sie den Aufgang zum Bugkastell. Sie kämpfte sich die Treppe hoch und stieß die Bodenklappe einfach mit dem Kopf auf. Heeva und Lankohr mussten sich tief ducken, um sich nicht ebenfalls die Köpfe anzuschlagen. Als Burra ins Freie kletterte, verfiel die Luscuma plötzlich in Sturzflug. Das kam selbst für die Amazone so unerwartet, dass sie für einen Moment den Boden unter den Beinen verlor und nach vorne stürzte. Aber sie fing sich sofort wieder an den Tauen ab und zog sich an den Halteseilen weiter.

»Verrückte Steuerhexe!«, schimpfte sie gegen das Heulen des Sturmes, als sie sah, wie das Schiff fast senkrecht auf die schäumende Wasseroberfläche unter ihnen zustürzte. »Willst du denn das Schiff fluten und mit uns tauchen?«

Ich bin das Einhorn. Ich bin das Schiff, meldete sich da die Steuerhexe. Ich werde euch retten, meine Schäfchen. Ich werde euch in Sicherheit bringen.

»Du wirst uns ertränken!«, schrie Burra.

Sie hatte das hoch aufragende Einhorn erreicht und schlang nun die Arme um die hölzerne Galionsfigur. Doch fand sie daran keinen rechten Halt und glitt immer wieder ab. Da sah sie die Stricke, mit denen Jente an das Einhorn gebunden worden war, und schlang sie sich kurz entschlossen um den Leib.

»So, jetzt habe ich die Arme frei«, sagte Burra erleichtert. Sie legte ihre kräftigen Hände an die herabbaumelnden Beinchen der beiden Aasen und hielt sie fest. »Euch kann nichts mehr passieren.«

»Außer, dass du uns die Beine brichst«, klagte Lankohr.

Burra lachte dazu.

»Was wollt ihr nun machen?«, fragte sie.

»Strecke dich, Lankohr«, sagte Heeva und beugte sich so weit nach vorne, bis sie mit ihren Händen das Einhorn berühren konnte. »Tu es mir gleich, bis auch du mit dem Einhorn in Berührung kommst. Damit verstärken wir unseren magischen Einfluss auf die Steuerhexe.«

Das Luftschiff stürzte noch immer dem schäumenden Meer entgegen. Als der Absturz schon unvermeidlich schien, ging auf einmal ein Ruck durch die Luscuma. Das Heck wurde förmlich nach unten gerissen, und der Bug bäumte sich auf.

Als Burra sich umdrehte, sah sie, wie sich links und rechts des Hecks die Bremssegel blähten. Gleichzeitig schlugen die beschwerten Wasserkörbe ins Meer ein, dass es nur so spritzte.

»Gudun und Gorma leisten gute Arbeit«, sagte sie zufrieden. Sie wandte sich wieder den Aasen zu. »Macht schon, ihr Kleinen. Mir wird hier sonst langweilig.«

Heeva und Lankohr schienen sie nicht zu hören. Sie streckten sich weit nach vorne und strichen mit ihren Händen über die geschnitzte Mähne des Einhorns. Dabei sprach Heeva auf die Steuerhexe ein.

»Halte ein, Luscuma, halte ein! Es droht keine Gefahr für dich und die Besatzung. Die Dämonen sind uns so fern, dass sie uns nicht erreichen können.«

Was plapperst du für dummes Zeug, Aasin, erwiderte die Steuerhexe. Ich war in der Schattenzone. Ich kenne die Dämonen. Ich kann ihre Nähe deutlich spüren.

»Das ist nur Trug«, meinte Heeva. »Die Dämonen sind in der Hermexe sicher aufgehoben. Sie können nicht ausbrechen. Was du empfängst, ist nur ein harmloses Wetterleuchten, nicht mehr.«

Wie kannst du deiner Sache so sicher sein?, erkundigte sich Luscuma. Ich fühle die Nähe der Dämonen ganz deutlich. Auch wenn man sie nicht sieht, so weiß ich, dass sie unter uns sind.

»Das ist richtig«, erklärte Heeva. »Die Dämonen sind uns nahe, aber andererseits wieder so fern, dass sie uns nicht erreichen können. Sie befinden sich in Orphals Reich Nebenan. In einer anderen Welt. In der Welt des Kleinen, des Unsichtbaren.«

Was redest du da für Unsinn, Aasin. Du willst mich nur besänftigen. Ich muss euch retten!

Eine Sturmbö erfasste die Luscuma und ließ sie einen Satz nach vorne machen. Die dabei entstehenden Gewalten waren so stark, dass sie das eine Bremssegel zerfetzten und die Leinen von zwei Wasserkörben rissen. Dadurch bekam die Luscuma Schlagseite und begann abzutrudeln.

»Mäßige dich wenigstens, Luscuma«, sagte Heeva eindringlich. »Wenn du nicht Vernunft annimmst, wirst du dich noch mitsamt uns in den Meeresfluten versenken – und die Schattenzone nie erreichen. Du musst dich von mir überzeugen lassen, dass dich die Magie der Dämonen in der Hermexe nicht erreichen kann, so nahe sie dir auch zu sein scheinen.«

Nun gut, stimmte die Steuerhexe zu. Erkläre es mir, was es mit diesem Reich Nebenan auf sich hat. Aber versuche nicht, mich zu täuschen. In der Tat, ich spüre die Nähe der Finstermächte nicht mehr so stark.

»Weil sie erkannt haben, wie sinnlos ihr Ausbruchsversuch war«, erklärte Heeva. »Die Hermexe ist das sicherste Gefängnis, das man sich vorstellen kann.«

Burra stellte fest, dass sich die Fahrt des Luftschiffs beruhigt hatte. Die Steuerhexe brachte es auf einen geraden Kurs. Als sich die Amazone umdrehte und nach der Hermexe Ausschau hielt, stellte sie fest, dass sie wieder ihre natürliche Form hatte. Aber über die Oberfläche des Behältnisses jagten immer noch schattenhafte Gebilde, gefolgt von Wellen kleiner grüner Flämmchen.

Die Amazonen an Deck hatten nicht mehr so sehr gegen die magischen Elemente zu kämpfen, und in dieser Verschnaufpause gelang es ihnen, das zerrissene Bremssegel zu ersetzen. Dadurch verlangsamte sich die Fahrt der Luscuma noch mehr.

»Orphal ist der Herr des Unsichtbaren«, erklärte Heeva. »Sein Reich ist überall um uns, aber es liegt in einem anderen Bereich. Einst gelang es dem Aasen Hermon und der weißbemantelten Hexe Spola, einen Zugang in dieses Reich Nebenan zu finden. Sie drangen zu Orphal vor und überlisteten ihn. Danach verpflichtete sich Orphal, einige Teile seines Reiches an sie abzutreten. Hermon und die Hexe Spola steckten Grenzen um die ihnen zugesprochenen Landesteile und verpackten sie in Gefäße – in sogenannte Hermexen. In unserer Welt scheinen diese Gefäße klein und unbedeutend. Doch sind sie innen größer, viel größer als außen. Denn in ihnen sind weite Gebiete des Reiches von Nebenan eingeschlossen. Und jede Hermexe hat ein Tor, durch das man von hier nach Nebenan gelangen kann, geradewegs in die Hermexe hinein. Und mit Hexensiegeln kann man die Hermexen so verschließen, dass niemand, der in sie eingeschlossen ist, wieder heraus kann. Der Aase Hermon hat, zusammen mit anderen seines Volkes, in jahrelanger Arbeit das Innere der Hermexen ausgebaut, mit Fallen und Labyrinthen, und in manchen Hermexen befinden sich wahre Trutzburgen. Das Besondere aber ist, dass alle Einrichtungen den seltsamen Gesetzen des Reiches Nebenan unterliegen, mit denen kein Uneingeweihter zurechtkommt. Und auch die Dämonen gehören dazu, denn sie haben nie Zugang zu Orphals Reich im Kleinen gefunden. Und selbst wenn sie einen Ausgang fänden, könnten sie nicht das Hexensiegel aufbrechen, das ihn verschließt. An Bord der Luscuma könnten das überhaupt nur zwei Personen. Nämlich Lankohr und ich. Und wir werden uns hüten. Du siehst, Luscuma, dass keinerlei Gefahr für uns besteht.«

Was du sagst, klingt einleuchtend, ließ sich die Steuerhexe vernehmen. Nun empfinde ich die Ausstrahlung der Finstermächte auch nicht mehr als Bedrohung.

Noch während die lautlose Stimme der Steuerhexe zu vernehmen war, beruhigten sich die von ihr heraufbeschworenen Elemente. Der Tunnel aus Gewitterwolken lichtete sich, die Winde schliefen ein, und bald brach der erste Sonnenstrahl durch.

Die Luscuma glitt ruhig und majestätisch hoch über der Inselwelt von Vanga durch die Lüfte.

Burra befreite sich von dem Strick und stieg mit den beiden Aasen auf den Schultern zum Mittelschiff hinab. Lankohr und Heeva versuchten vergeblich, sich aus ihrem Griff zu strampeln. Burra hielt mit ihnen zielstrebig auf die Hermexe zu. Darunter blieb sie stehen und starrte zu dem in den Seilen verankerten Gefäß hinauf, das nun wieder so harmlos und unscheinbar wirkte wie irgendein Behältnis dieser Form. Keine Schatten huschten über seine Hülle, keine grünen Flammen schlugen daraus.

»Die Steuerhexe konntest du beruhigen, kleine Heeva«, sagte Burra. »Aber mich hat es sehr bedenklich gestimmt, was du sagtest.«

»Du kannst mir vertrauen, Burra«, sagte Heeva. »Alles, was ich sagte, entspricht der Wahrheit.«

Burra nickte nachdrücklich.

»Eben das macht mir Sorge. Ich denke an jene, die mit den Dämonen in die Hermexe eingeschlossen sind. Wie mag es ihnen ergangen sein, während die Dämonen tobten? Was wird aus ihnen werden?«

Die Amazone spürte, wie Lankohrs kleinen Körper ein Zittern durchlief, als er kaum vernehmlich murmelte:

»Ich habe es bisher ängstlich vermieden, über Fronjas und Mythors Schicksal nachzudenken. Aber nun stellt sich die Frage, wie sie diese Drangperiode der Dämonen überstanden haben.«

Heeva schwieg dazu. Burra spannte sich an und sagte in die so entstandene Stille:

»Können wir nichts tun? Ist es nicht möglich, in die Hermexe vorzustoßen, um Fronja und Mythor beizustehen? Für Mythor hat es doch auch einen Weg zu Fronja gegeben.«

»Nur die Zaubermütter haben die Macht, das Tor ins Nebenan einseitig aufzustoßen«, sagte Heeva. »Ich dagegen würde bei einem solchen Versuch auch den Dämonen das Tor öffnen und ihnen die Möglichkeit geben, über Vanga herzufallen. Ich kann nichts tun, nur hoffen.«

Burra machte eine wütende Bewegung und schleuderte dabei ungewollt die beiden Aasen von ihren Schultern.

»Hoffen! Hoffen!«, rief sie zornig. »Worauf denn?«

»Darauf«, sagte Heeva, während sie sich aufrichtete und zu der Amazone hinaufsah, »dass die Dämonen Fronja und Mythor am Leben lassen, um sie als Geiseln zu verwenden.«

Burra schloss in ohnmächtiger Wut die Augen und dachte:

Ich hätte meine Zaubermutter bitten sollen, mich ebenfalls in die Hermexe zu sperren!

Aber diese Chance hatte sie vergeben.

Burra stand noch lange so da und merkte gar nicht, wie die Nacht über die Luscuma hereinbrach. Erst der Nachtruf der Steuerhexe gemahnte sie daran, dass es Zeit war, sich in die Unterkunft zu begeben.

3.

Die Eingeschlossenen: Mythor

 

Mythor sah die Gesichter der ihn umgebenden Zaubermütter ins Riesenhafte wachsen. Sie wurden zu wahren Gebirgen, erstreckten sich ins Uferlose, bis er keine Einzelheiten mehr an ihnen erkennen konnte. Die Umrisse verschwammen, die Farben vermischten sich, verloren ihre Leuchtkraft. Alles vereinte sich zu einem düsteren Einerlei, zu einem rasenden Wirbel, der ihn erfasste.

Er wurde davon hinabgerissen, auf die Hermexe zu, die sich zu einem mächtigen Ding aufblähte ...

... und ihn verschluckte.

In seinem Kopf war ein Pochen, ein hämmernder Schmerz. Er fühlte sich wie in eine Riesenfaust eingeklemmt, die ihn zusammendrückte, ihn auf eine Größe zusammenpresste, die es ihm erlaubte, durch eine Ritze in die Hermexe zu schlüpfen.

Solche und ähnliche Gedanken beschäftigten seinen Geist, während er tatsächlich keine Wahrnehmungen hatte. Der Wirbel um ihn begann sich so rasch zu drehen, bis seine Bewegung nicht mehr auszumachen war. Mythor trieb in einem Nebel, er fühlte kein Gewicht. Er schien zu schweben.

Plötzlich traf ihn etwas wie ein Hammerschlag.

Der Ring – Vinas Ring –, der ihm dazu verholfen hatte, in die Hermexe einzudringen, barst in unzählige Splitter. Sie umschwärmten ihn wie funkelnde Tautropfen, Irrlichtern ähnlich. Aber allmählich versanken sie im Nichts.

Wieder ein Hammerschlag. Mythor krümmte sich und spürte, wie er auf etwas Hartes gedrückt wurde. Auf einmal hatte er wieder Gewicht. Aber sein Körper war ihm ungewohnt schwer, und er hatte an ihm wie an einer ungeheuren Last zu tragen. Er hatte den Eindruck, von der Größe eines Käfers zu sein und die zwei Fuß große Hermexe auf den Schultern tragen zu können.

Doch redete er sich ein, dass seine Sinne ihm nur einen Streich spielten.

Der Boden unter ihm war kalt, und als er das Gesicht dagegen drückte, kühlte das angenehm seine glühend heiße Haut. Das Pochen in seinem Kopf legte sich allmählich, der Schmerz ebbte ab.

Er begann einen Druck gegen seine Rippen zu spüren, und als er die Hände über den Boden gleiten ließ, ertasteten sie Stufen. Ja, so musste es sein, er lag über die Stufen einer Treppe hingestreckt. In dem Maß, wie der hämmernde Schmerz nachließ, begann er den Druck ihrer Kanten zu spüren.

Er war so müde, dass er am liebsten schlafen wollte. Aber er kämpfte gegen die Müdigkeit an und stemmte sich unter Aufbietung aller Kräfte hoch.

Er dachte an Fronja – und das verlieh ihm Kraft.

War er überhaupt in der Hermexe? Oder hatte ihm Zaem einen Streich gespielt und ihn in irgendein Gefängnis gesteckt?

Vor seinen Augen begann es zu flimmern. Er zwinkerte einige Male, bis durch das erlöschende Flimmern ein unscharfes Bild zu erkennen war. Geräusche drangen an sein Ohr, die sich nur langsam entwirrten. Er glaubte, Stimmen zu hören und den Klang von seltsamen Instrumenten, den Kriegshörnern der Caer ähnlich ... irgendwo wurden Trommeln geschlagen. Vor ihm erhob sich eine steinerne Wand. Er kam auf die Beine und stellte fest, dass er auf einer schmalen Wendeltreppe stand. Ein Schwindel drohte ihn zu erfassen, und er lehnte sich gegen die Mittelsäule.

Die Geräusche wurden deutlicher – kamen näher. Nur das monotone Trommeln schien aus gleichbleibender Entfernung zu ihm zu dringen.

Mythor zog die Luft durch die Nase ein – und ihm wurde augenblicklich übel. Ein furchtbarer Gestank, ein Gemisch aus Moder und Verwesung, schlug ihm entgegen. Beim nächsten Atemzug empfand er den ekelerregenden Gestank als stärker. In ihm verkrampfte sich alles, als ihm erneut der Pesthauch entgegenschlug.

Er wickelte sich den Umhang ums Gesicht und verschaffte sich für einige Atemzüge Erleichterung. Aber bald durchdrang der üble Geruch auch den Stoff seines Umhangs.

Von oben war nun ganz deutlich ein vielstimmiges Gemurmel zu hören. Die Stimmen wurden lauter, aber nicht verständlicher. Mythor hatte den Eindruck, dass sich die Unbekannten in einer fremden Sprache unterhielten. Und er war sicher, dass sie den bestialischen Gestank mit sich brachten, der ihm den Atem raubte.

Plötzlich schoss etwas um die Mittelsäule der Wendeltreppe. Ein knisterndes, flatterndes Tuch, aus dem eine grüne Klauenhand ragte. Bevor Mythor noch eine Abwehrbewegung machen konnte, hatte sich die Klaue in seiner Brust verkrallt und zog ihn nach oben.