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Sigrid Lenz

Über den Horizont hinaus

Gay Romance und mehr - Band 1


Vielen lieben Dank an Denis Atuan für die Hilfe und Unterstützung durch die Jahre.


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Weihnacht im Camp

Marvin saß auf seiner Pritsche, die Beine angezogen, die Hände vor den Knien verschränkt. Sein Kopf lehnte rückwärts gegen die Wand, seine Augen starrten auf das stabile Drahtgeflecht, das die Matratze über seinem Schlafplatz an ihrem Ort hielt. Die Gedanken traten ihre Wanderung an, verirrten sich, stockten immer wieder an der gleichen Stelle, bevor sie zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehrten.

Das Training war hart, unerträglich fast, und dauerte bereits viel zu lang. Marvin konnte kaum fassen, dass er die Hälfte bereits überstanden hatte. Doch noch viel weniger konnte er fassen, erst jetzt erkannt zu haben, dass er die lange Zeit niemals ohne diesen einen Menschen überstanden hatte. Und am meisten wunderte ihn die Festigkeit der Überzeugung, mit der er diese Tatsache als gegeben ansah. Ohne Ian hätte er längst aufgegeben. Ohne Ian hielt ihn nichts in diesem schäbigen Camp, dieser öden Umgebung. Ohne Ian fiele es ihm nicht ein, auch nur in Erwägung zu ziehen, die unzumutbaren Befehle und Aufgaben, die sich die Schleifer aus den Fingern sogen, zu befolgen.

Was für einen Sinn sollte es auch haben, sich Menschen zu unterwerfen, die lediglich aufgrund ihrer Uniformen und ihrer Dienstjahre glaubten, sich alles herausnehmen zu können.

Wenn er das wollte, dann wäre er auf der Straße geblieben. Wenn er sich aufzugeben wünschte, dann bekäme er dort ausreichend Gelegenheit. Doch jedes Mal, wenn ihn das Bedürfnis überkam, alles hinter sich zu lassen, wenn er den Drang in sich spürte, davon zu laufen, so wie er damals aus seinem Elternhaus davongelaufen war, dann tauchte Ians Bild in seiner Vorstellung auf. Dann sah er Ian vor sich, so wie er ihm das erste Mal begegnet war, an ihrem ersten Tag. Er sah dessen dunkle Augen, das schwarze Haar, mit Wasser glatt an den Kopf gekämmt. Den warmen, kräftigen Haut-Ton, der irgendwo zwischen Bronze und Kupfer schwankte. Den aufrechten Wuchs, die schlanke Gestalt, die ihn, wie Marvin selbst aus der Entfernung erkannt hatte, um mindestens einen Kopf überragte.

Erst viel später, als sie sich besser kannten, erfuhr er, dass Ians Vorfahren aus Südostasien stammten, dass darin der Grund für sein exotisches Aussehen lag. Vielleicht spielte auch eine Rolle, dass irgendwo in dem Mix seiner Ahnen sich ein Cherokee tummelte. Vielleicht verlieh ihm die Unklarheit seiner Herkunft den Zauber, das Unwiderstehliche, dem Marvin sich nicht entziehen konnte.

So jemandem wie Ian war er nie zuvor begegnet. Ruhig, fast einsilbig, und doch klarer in seinen ausgewählten Aussagen, als jeder andere es zu sein vermochte, der redenschwingend versuchte, sich aus der Menge hervorzuheben. Wenn Ian sprach, dann hörte man ihm zu. Wenn er einen Entschluss fasste, dann hatte dieser Hand und Fuß. Es kam Marvin beinahe so vor, als wüsste Ian immer genau, was er zu tun hatte, als führte eine unsichtbare Macht den Dunkelhaarigen durch dessen Leben.

Eine Macht, die in Marvins Leben fehlte, die für ihn nicht existierte. Die er vielleicht aber auch einfach nicht erkannte. Die sich unter all dem anderen Müll, den Unsicherheiten und Seelenqualen verbarg, die er Tag für Tag mit sich herumschleppte.

Marvins Augen folgten den Linien über seinem Kopf, die sich, je länger er auf sie starrte, immer mehr verwirrten und verzerrten. Die Muster wanderten, verzogen sich und begannen vor ihm zu tanzen, bis er es nicht mehr aushielt und die Augen schloss.

Ein Geräusch ließ ihn aus seinem Traum aufschrecken. Marvin blinzelte und richtete seine Aufmerksamkeit auf den Abschnitt der Baracke, den er von seiner Position aus wahrnehmen konnte.

Eine schlanke Gestalt hielt in ihrem Weg inne. Ian bückte sich, bis Marvin auch sein Gesicht erkennen konnte und sah den Blonden erstaunt an. „Was tust du noch hier?“, fragte er mit zusammengezogenen Augenbrauen.

Marvin wich Ians Blick aus. „Ich fahr nicht“, antwortete er kurz.

„Okay?“ Ians Augenbrauen wanderten nach oben. „Ich dachte nur…“ Er verstummte.

Marvin zögerte, doch entschlossen rutschte er vorwärts und schwang seine Beine über die Bettkante.

„Was dachtest du?“, fragte er neugierig.

Ian sah ihn wieder an, lächelte kurz. „Ich dachte, ich wäre der Einzige, der die Feiertage hier verbringt. Bis jetzt war ich es zumindest.“

Jetzt war es an Marvin erstaunt auszusehen. „Du warst schon öfter über Weihnachten alleine?“

Ian nickte und zuckte mit den Schultern. „Bin ich gewohnt. Weihnachten ist kein Festtag für mich.“

Marvin biss sich auf die Lippen. „Und Familie?“, rutschte es ihm heraus, noch bevor er sich bremsen konnte.

Wieder zuckte Ian mit den Achseln. „Existiert nicht. Bis auf meinen Onkel sind alle gestorben, und der ist froh, wenn er von mir nichts hört oder sieht.“

„Aber…“ Marvin errötete, peinlich berührt, dass er den anderen praktisch ausgefragt hatte.

Ian legte seinen Kopf schief. „Ist schon okay“, meinte er, als habe er Marvins Gedanken gelesen. „Ich könnte dich dasselbe fragen.“

Das Rot in Marvins Gesicht vertiefte sich.

Ian grinste. „Ich tu’s aber nicht“, sagte er und richtete sich auf, schickte sich an, den Raum zu durchqueren und seinen eigenen Schlafplatz aufzusuchen.

„Warte.“ Marvin beugte sich vor. „Wenn du…“

Er wollte ihm mitteilen, dass es kein Problem für ihn darstellte, wenn der andere ihn ebenso ausfragen wollte, doch im letzten Moment besann er sich eines Besseren. Eigentlich wünschte er sich wirklich nicht, dass irgendjemand aus diesem Leben, über seine Vergangenheit Bescheid wusste. Die war abgeschlossen und beendet. Die Akten unter Verschluss. Watson hatte ihm versichert, dass niemand außer ihm Zugang zu Marvins richtigem Namen, zu seiner Geschichte und seiner Herkunft erhielte. Ohne Watson befände er sich immer noch in der aussichtslosen Situation, aus welcher der Mann ihn aufgelesen hatte.

Und doch – manchmal – nur manchmal – fragte Marvin sich, ob er sich wirklich eine Verbesserung eingehandelt hatte, indem er sich damals in die Hände des ehemaligen Studienfreundes seines verhassten Vaters begeben hatte.

Er biss sich auf die Zunge, kehrte in die Gegenwart zurück.

„Wir… wir könnten doch… also, ich meine, wenn du sowieso auch hier bleibst…“

Ian stand schon in der Tür, doch sah sich über die Schulter um. In seinen Augen glitzerte es belustigt.

„Klar, Marvin. Warum nicht?“

Marvin ließ sich erleichtert zurücksinken. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Ein Lächeln, das vielleicht mehr dümmlich als selig wirken mochte. Aber das störte ihn nicht. In diesem Moment konnte er an nichts anderes denken, als an das Glitzern in Ians Blick und an die Möglichkeit mindestens drei Tage mit ihm zu verbringen. Mit ihm in seiner Nähe. Ohne dass ihn Trainer, Schleifer oder gehässige Kameraden ablenkten. Es genügte ihm, dass er Ian einfach besser kennenlernen konnte, dass er Gelegenheit bekam, sich mit ihm zu unterhalten, etwas über ihn zu erfahren. Hoffentlich viel mehr, als er bisher über ihn gelernt hatte.

Das Camp war gähnend leer. Die eisige Kälte, der pfeifende Wind, der über Ausbildungsplätze, Gebäude und durch die dünnen Wände fuhr, befahlen den wenigen Posten, die das Los gezogen hatten, den Ort vor unliebsamen Besuchern zu schützen, sich innerhalb von mindestens vier Wände zurückzuziehen. Nicht dass es an dieser vergessenen Ecke der Welt etwas zu stehlen gäbe. Es hatte durchaus seinen Grund, das Ausbildungscamp fernab von jeder Zivilisation aufzuschlagen. Wurden dort doch Kräfte ausgebildet, die, bevor sie zur Anwendung gelangen konnten, an ihre Grenzen und darüber hinaus katapultiert wurden.

Ohne Verletzungen, ohne Schmerzen, ohne dass eine Seele nach der anderen gebrochen wurde, ließ sich das gesetzte Ziel nicht erreichen. Und jede Form der Ablenkung, jede Form von Versuchung erschwerte das Vorhaben, Männer zu Soldaten zu formen, die weder Rücksicht, noch Erbarmen kannten. Die bereit waren, alles und jeden zu opfern, inklusive der eigenen Person, wenn es um das Große und Ganze ging, um das hehre und zugleich bedeutungslose Ziel, dem diese Einrichtung sich verschrieben hatte.

‚Leere Worte‘, dachte Marvin und wiederholte damit einen Gedanken, der ihn seit seinem Eintritt plagte. Er schlug seine Arme um den Körper im vergeblichen Versuch, sich zu wärmen. ‚Anscheinend ist es ihnen bei mir noch nicht gelungen. Anscheinend steht mir der Zusammenbruch noch bevor, oder auch das totale Versagen.‘
Dabei war die Entscheidung zu diesem Leben nicht von ungefähr gekommen, nicht schwergefallen. Sie war die natürliche Konsequenz seiner bisherigen Handlungen, der einzige Weg, der ihm geblieben war.

Mit vor Kälte brennenden Augen verfolgte er die Atemwolke, die in der kalten Luft aufquoll, bevor sie langsam begann sich aufzulösen, ohne dass ihre Wärme an der Temperatur der Umgebung etwas änderte.

Ian hatte er seit dem Vormittag nicht mehr gesehen. Als habe der sich wissentlich vor ihm zurückgezogen. Marvin scheute sich, in den benachbarten Schlafraum einzutreten. Obwohl er nicht wirklich wusste, was ihn davon abhielt. Vielleicht fürchtete er die Ablehnung, vielleicht fürchtete er, seinen Enthusiasmus zu offen darzulegen.

Vielleicht ahnte er, dass Ian auf seine eigene unnachvollziehbare Art, mehr über ihn wusste, als er durfte. Fürchtete, dass dieser ihn ablehnte, wenn er erst in seine Seele gesehen hatte. Vielleicht war es Ian kein Geheimnis geblieben, dass Marvin zu manchen Zeiten, wenn es besonders schwer für ihn war, sich nicht scheute, von Bett zu Bett zu gehen auf der Suche nach Ablenkung, nach Erleichterung, nach Erlösung.

Ian sah mehr als andere. Davon war Marvin überzeugt. Und ebenso überzeugt war er von Ians Fähigkeit, Schlüsse zu ziehen und Konsequenzen unerbittlich durchzusetzen. Vielleicht war es nicht der Gedanke an Zurückweisung, der Marvin fernhielt. Mit Zurückweisung konnte er umgehen.

Seinen Stolz, seine Selbstachtung hatte er verloren, als er zum ersten Mal vor einem Mann für Geld in die Knie gegangen war. Aber der Gedanke, in diesen schwarzen Augen ein Gefühl wie Verachtung zu lesen, erschreckte Marvin mehr, als er vor sich zugeben konnte.

Ian hatte zugegeben, allein zu sein. Sein Leben war mit Sicherheit nicht leichter gewesen als Marvins eigenes. Das bewiesen schon die zahlreichen Narben, die Ians Hüften und Schultern bedeckten. Dennoch trug der sein Schicksal mit Würde. Ian wäre nie zu dieser erbärmlichen Figur geworden, zu diesem Schatten eines Menschen, als der Marvin sich durch die langen Jahre seiner Jugend geschleppt hatte.

Plötzlich legte sich eine kalte Hand auf seine Schulter. „Was machst du hier draußen?“, fragte Ian.

„Ich… ähm. Frische Luft schnappen“, murmelte Marvin verlegen, als wäre er bei einer Indiskretion ertappt worden.

„Ah.“ Ian schwieg, ließ jedoch seine Hand auf Marvins Schulter ruhen. Erst nach einer Weile hob er an zu sprechen. „Wenn du noch länger hier bleibst, ohne dich zu rühren, holst du dir eine Lungenentzündung. Dann wird es schwierig werden, dreißig Kilometer am Stück zu laufen.“

„So besorgt?“ Marvin hatte nicht beabsichtigt, bitter zu klingen, doch die Kälte und eine seltsame Anspannung ließen die Worte aus seinem Mund strömen, ohne dass er direkten Einfluss auf deren Tonfall nehmen konnte.

Ians Hand glitt von Marvins Schulter herab. Marvin hörte, wie der andere scharf den Atem einsog. Rasch drehte er sich um.

„Ich meine, du hast recht“, beeilte er sich zu murmeln, ohne Ian anzusehen. „Es ist nicht sehr schlau, hier in der Kälte zu warten und sich die Füße abzufrieren.“

Ian sah ihn prüfend an. „Dann komm doch rein“, sagte er. Ich hab Tee aufgesetzt. Eigentlich nutze ich es immer aus, die Alleinherrschaft über alles zu besitzen.“

„Kein lästiges Anstehen mehr“, ergänzte Marvin.

„Endlich Zeit zum Duschen“, grinste Ian.

„Ausschlafen?“, fragte Marvin.

„Es ist Weihnachten“, bestätigte Ian. „Irgendetwas müssen doch auch wir davon haben.“

Ein dankbares Lächeln auf den Lippen folgte Marvin dem Größeren ins Innere des Gebäudes. Sie durchquerten die verlassenen Gänge, deren dünne Wände die Kälte nicht vermochten abzuhalten und gelangten schließlich in den vorderen Schlafraum, der eine kleine Kochnische als besonderen Luxus enthielt.

Für gewöhnlich achteten die Besitzer der nahe gelegenen Betten genau auf die Exklusivität dieser Ausstattung. Was bedeutete, dass die Wenigsten in den Genuss kamen, sie für sich nutzen zu durften. Umso behaglicher war es, dem brodelnden Teekessel bei seiner Arbeit zuzusehen, den Geruch der frisch überbrühten Blätter mit allen Sinnen aufzufangen und sich schließlich an dem warmen Getränk zu laben.

Erst als Marvins Körper sich an das wohlige Gefühl, das seinen Magen durchströmte, gewöhnt hatte, ergriff Ian die blecherne Kanne, sowie seine eigene Tasse und winkte Marvin wie selbstverständlich, ihm zu folgen. Marvin zögerte ein wenig, als sie an der Schwelle zu Ians, nun von ihm allein besetzten Schlafraum, ankamen. Doch Ian drehte sich zu ihm um, lächelte dunkel, als könnte er seine Zurückhaltung verstehen. „Komm“, sagte er leise. „Ich habe da etwas, das dich sicher interessieren wird.“

Marvin hob die Augenbrauen, doch er folgte Ian. Was auch immer der im Sinn haben mochte, Marvin fiele sicher schwer, es ihm zu verwehren.

Ian führte ihn quer durch den Raum, knipste lediglich das kleine Oberlicht an der Seite an, gegen deren Wand sein Bett gelehnt war. Er zog den klapprigen Tisch, der die Ecke des Zimmers ausfüllte und für gewöhnlich am ehesten von den wenigen Briefe-Schreibern oder lesefreudigen Camp-Bewohnern besetzt wurde, hervor. Nun war der leer und Ian setzte mit elegantem Schwung seine Tasse und die Kanne darauf ab. Er lächelte als Marvin beinahe zaghaft näher kam, streckte langsam die Hand aus und nahm ihm die Tasse ab, um sie neben seine zu stellen.

Er winkte einladend in Richtung seines Bettes und ließ sich gleichzeitig mit Schwung selbst darauf nieder. Er beugte sich hintenüber, so dass sich seine lange Gestalt zusätzlich dehnte und griff mit geübter Hand unter das Nachbarbett. Als er wieder hoch kam, umklammerten seine Finger eine viereckige Flasche mit einer golden schimmernden Flüssigkeit.

„Hier.“ Lächelnd hielt er sie Marvin entgegen. „Was sagst du?“

Marvin erwiderte das Lächeln und legte den Kopf schief, eine eingehende Prüfung vortäuschend. „Nicht übel. Wo hast du die her?“

Ian zuckte mit den Schultern. „Verdient“, antwortete er. „Ich trinke nur normalerweise nicht.“

Marvin nahm ihm die Flasche ab und hielt sie schräg gegen das Licht, so dass ihr Inhalt mild glänzte.

„Wie kommt es, dass du sie hast bewahren können?“ Marvin stellte sich nur für einen Augenblick vor, wie seine Schlafgenossen reagieren würden, bekämen sie Wind von einer seltenen Kostbarkeit wie dieser.

Ian sah ihn prüfend an. Beinahe schien es Marvin, als könne der die Bilder in seinem Kopf empfangen. Doch dann wandte der Dunkelhaarige den Blick ab. Sein Lächeln verbreiterte sich.

„Es würde sich keiner getrauen, mir etwas weg zu nehmen“, stellte er fest. Marvin stellte die Flasche ab und sah Ian entwaffnend an.

„Das kann ich mir vorstellen“, sagte er schließlich. Wenn er ehrlich war, dann konnte er es sich sogar besser vorstellen, als er vermutet hätte. Auch wenn Ian kein Riese war, weder besonders groß, noch ein Muskelprotz, so bewiesen seine stets aufrechte Haltung und schlanke Gestalt, dass sein Körper durchtrainiert und gestählt eine Ahnung davon erlaubte, wie sich die Auseinandersetzung mit ihm anfühlen würde. Zudem hatte Marvin Ian mehr als einmal beim Sport beobachtet. Hatte ihn sogar genau genug beobachtet, um von dem Spiel der Muskeln unter dem leichten Baumwollshirt so abgelenkt zu werden, dass er seinen eigenen Einsatz wiederholt verpasste.

Es war ein Vergnügen, Ian zuzusehen. Sein Gang besaß etwas zugleich Federndes und doch auch Festes.

Er drehte sich mit einer Eleganz, die Ihresgleichen suchte. Sein Sprung gewann von Mal zu Mal an Höhe. Die Sicherheit, mit der er den Ball fing und führte, vermittelte ausgeklügelte Präzision. Selbst wenn der Stoff schweißnass an seinem Oberkörper klebte, die Haare, die immer einen Tick zu lang waren für den Ort an dem sie sich befanden, doch die niemand sich getraute, ihm abzuschneiden, um sein Gesicht flogen, um schließlich daran kleben zu bleiben, erschien er Marvin immer noch als der erstrebenswerteste Mann in seinem Universum.
Nicht, dass Marvin dies etwa zugäbe. Zumindest nicht vor jemand anderem, als vor sich selbst. Seine Besorgnis, dass manch einem die Faszination nicht unbemerkt bliebe, mit der er Ian begegnete, war nicht unbegründet. So ziemlich jeder, der näher mit ihm zu tun hatte, wusste wie Marvin tickte.

Ian dagegen blieb ein Geheimnis. Hauptsächlich existierten Gerüchte, doch wenn es um konkrete Informationen ging, zeigten sich die Befragten, so bewandert sie auch sonst sein mochten, ratlos. Ian blieb ein Mysterium, in jeder Hinsicht. Sogar in der, die seine Sexualität betraf.

Doch die Frage existierte. Und je länger Marvin in Ians Nähe blieb, desto drängender wurde sie, wenigstens für ihn.

Ian hatte sich wieder aufgerichtet und begann am Verschluss der Flasche zu nesteln.

„Willst du stehen bleiben?“, fragte er belustigt und Marvin reagierte sofort. Peinlich berührt ob seiner Langsamkeit ließ er sich rasch neben den anderen sinken.

„Nein, bestimmt nicht“, beeilte er sich zu versichern und atmete genießerisch den Duft ein, welcher der geöffneten Flasche entströmte. „Guter Stoff“, meinte er anerkennend. „Was hast du dafür getan?“

Ian schenkte mit Schwung in beide Tassen eine beachtliche Portion des Getränks. „Das willst du nicht wissen“, erwiderte er. Als Marvin sich zu ihm drehte, bemerkte er zum ersten Mal einen bitteren Zug um den Mund des Dunkelhaarigen.

Schnell richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Tassen und streckte unsicher die Hand nach seiner aus. Vermischt mit der Wärme des Tees, verteilte sich der Geruch des Alkohols im Raum. Die Moleküle tanzten in der Luft, schienen geradewegs durch die Nase in Marvins Gehirn zu wandern. Als er sich wieder zu Ian umblickte, war das Bittere aus dessen Gesichtszügen verschwunden, und Marvin kam es vor, als habe er es sich nur eingebildet.

Er ergriff seine Tasse und nickte Ian dankbar zu. Eigentlich war es kein Wunder, dass seine Phantasie ihm permanent Streiche spielte, nicht solange er seine Vergangenheit nicht endgültig abzuschütteln wusste.
Und wer behauptete, dass es jedem so gehen müsse, wie es ihm selbst ergangen war?

Es gab unzählige Möglichkeiten für einen Gefallen, den Ian jemandem für diesen Preis erwiesen hatte. Wahrscheinlich eine Arbeit abgenommen, einen Sieg im Sport errungen, oder auch nicht errungen. Marvin würde sich nicht erdreisten, eine Meinung darüber zu bilden, so geheim und verborgen sie auch sein mochte.

Er hob die Tasse an die Lippen, atmete genießerisch den Duft ein, der ihm nach den erzwungenen Wochen Abstinenz wie das göttlichste Ambrosia vorkam, und nahm schließlich einen kräftigen Schluck. Er schmeckte das scharfe Getränk auf seiner Zunge, fühlte, wie es die Kehle hinunter rann. Vielleicht war es nicht der beste Tropfen, aber dennoch einer der angenehmeren Wege, der trostlosen Wirklichkeit zu entfliehen.

„Danke“, seufzte Marvin und schloss die Augen. „Ist einfach schon zu lange her.“ Als er seine Augen wieder öffnete, sah er Ian vor sich, der ihn belustigt anblickte.

„Ist das so?“, fragte dieser neckisch. „Da bin ich ja froh, dass ich für die richtige Weihnachtsstimmung sorgen konnte.“

„Das kannst du allerdings“, bekräftigte Marvin und fühlte, wie sich die wohlige Wärme in ihm ausbreitete. „Das ist definitiv eines der besseren Weihnachtsfeste für mich.“

Ian verengte seine Augen zu Schlitzen und Marvin fiel auf, dass er zwar die Tasse hielt, aber noch immer nicht davon getrunken hatte, als er schließlich über ihren Rand hinweg sprach. „Die anderen können aber doch nicht so schlimm gewesen sein.“

Marvin schüttelte den Kopf. „Das kommt ganz auf den Blickwinkel an“, antwortete er ausweichend und nahm noch einen Schluck. Das warme Gefühl verteilte sich mit seinem Blut, strömte durch die Glieder und erhitzte ihn angenehm von innen. Nach einem weiteren Schluck spürte er, wie sich seine Zunge löste, und zu seinem Erstaunen empfand er auch dies als angenehm. Und ehe er sich versah, hatte Marvin sich komfortabel zurückgelehnt und betrachtete mit offenem Interesse die schlanken Finger, mit denen Ian seine Tasse hielt, während er sprach.

„Weihnachten gab es nur mich und meinen Vater. Seine Persönlichkeit gab dem Wort ‚eiskalt‘ eine vollkommen neue Bedeutung. Gelegentlich erinnerte er mich daran, wie meine Mutter Selbstmord begangen hatte. Damals war ich drei Jahre alt, aber er ließ es trotzdem immer so klingen, als sei es meine Schuld gewesen.“

„Das tut mir leid.“ Ians Augen trafen auf Marvins, der seine rasch niederschlug, um weiterzusprechen.

„Weglaufen wurde irgendwann zu einer echten Alternative. Nur ist…“ Er zögerte, fuhr dann fort. „Nur ist Weihnachten auf der Straße auch nicht gerade ein Hochgenuss.“

Er seufzte. „Wird dann zu einem Tag wie jeder andere. Einem, an dem man alles tut, um sein Überleben zu sichern. Und wenn es nur darum geht, einen Schlafplatz, etwas zu essen, die Droge, auf der man gerade ist, für diese eine Nacht zu finden.“

Ian nickte, als verstünde er auf einmal. „Aber du bist da heraus gekommen.“

Marvin trank ein weiteres Mal. Jetzt spürte er die Wärme bereits in seinem Gesicht. „Nicht direkt. Ich wurde eher an meinen Haaren hinausgezogen.“

Ian räusperte sich verlegen. „Wenn du nicht darüber reden willst, dann ist das okay.“

Marvin schüttelte den Kopf. „Ist schon in Ordnung.“ Er hob den Blick, starrte Ian verschmitzt an. „Nichts davon findet sich mehr in meinen Papieren. Dafür wurde gesorgt.“ Er zuckte mit den Schultern. „Es würde dir also niemand glauben, solltest du es weitererzählen.“

Ian presste die Lippen zusammen. „Das würde ich niemals tun“, erwiderte er ruhig.

Marvin sah ihn erschrocken an. „Ich weiß“, murmelte er. „Das war dumm… so etwas zu sagen.“

Ian setzte seine Tasse ab und ergriff Marvins Hand und führte sie ebenfalls zum Tisch, wo der sein eigenes Trinkgefäß losließ. „Das war es nicht“, meinte er, während er Marvin in die Augen blickte. „Du kannst nicht wissen, was ich tun werde.“

„Doch.“ Marvin nickte und schüttelte gleichzeitig den Kopf. „Ich… ich habe so ein Gefühl…“

In Ians Augen blitzte es auf. „Das ist gut“, sagte er und fügte dann leiser ein paar Worte hinzu. Marvin musste sich nach vorne lehnen, um sie zu verstehen.

„Das habe ich auch“, wiederholte Ian und wandte sich Marvin zu, so dass sie beinahe mit ihren Gesichtern aufeinander trafen. Gleichermaßen irritiert entfernten sie sich rasch wieder voneinander. Doch nur für einen Moment. Dann beugte Ian sich wieder in Richtung des Tisches und fragte mit einem Nicken in Richtung Teekanne. „Möchtest du?“

Marvin blinzelte. Sein Blick wanderte zu der Flasche. „Ich hätte lieber noch etwas davon“, meinte er sehnsüchtig. Ian zog die Augenbrauen hoch, aber erfüllte doch den Wunsch des Blonden. Jedoch nicht ohne dem Schnaps noch eine gute Portion Tee hinzuzufügen.

„Danke.“ Marvin nahm seine Tasse wieder auf, nippte daran, stellte sie jedoch danach gleich wieder ab. Er atmete aus und wandte sich dann zu Ian, der ihn nicht aus den Augen gelassen hatte.

„Du… du denkst doch jetzt nicht schlecht von mir?“, fragte Marvin und leckte sich nervös die Lippen.

„Wieso sollte ich?“ Ian lehnte sich zurück. „Ich habe nicht das Recht zu beurteilen, was geschehen ist. Worauf es ankommt, ist nur, wer du jetzt bist.“

Marvin umfasste seine Knie mit den Händen. „In Wirklichkeit… in Wirklichkeit bin ich jetzt auch nicht besser.“

Marvin konnte sich selbst nicht erklären, woher das Bedürfnis rührte, Ian sein Herz auszuschütten. Er war für gewöhnlich gut darin, die Dinge für sich zu behalten. Darin bestand sogar eines der Prinzipien, die zu erlernen, er sich an diesem Ort befand. Trotzdem kam es ihm mit Ian anders vor. Er fühlte, dass er mit ihm ehrlich sein musste. Dass es keinen Sinn ergab, Ian etwas vorzuspielen. Dieses war ein Mann, wenn nicht sogar der erste, den er kennengelernt hatte, den er weder belügen konnte noch wollte. Es hing zu viel davon ab.

„Ich bin schwach“, fuhr er fort. „Wäre ich nicht von der Straße aufgesammelt worden, dann hätte man mich dort mittlerweile vermutlich längst in irgendeinem Loch verscharrt.“

Ian dachte nach. „Immerhin hast du zugelassen, dass dir geholfen wird“, sagte er. „Und… wenn ich das richtig sehe, hast du dich auf den Weg gemacht.“

Marvin lachte. „Auf den Weg? Nein, eher nicht. Ich bin auf den Weg gesetzt worden. Nachdem ich meinem väterlichen Beschützer zu alt geworden bin, und er es leid war, sich die Ausgaben zu machen, hielt er es für die beste Lösung, mich in einer anständigen Umgebung unterzubringen.“ Marvin schnaubte. „Vor allem in einer Umgebung, auf der er beide Daumen halten konnte, wenn er so wollte.“

Ian öffnete den Mund. „Es ist also…“ Er stockte.

Marvin schwieg betreten. „Scheiße passiert. Und alles in allem hatte ich noch Glück. Ich muss nur weiter mitspielen.“

Ian schüttelte den Kopf. „Das ist also das System, für das zu kämpfen wir ausgebildet werden.“

„Das Beste von allen“, brummte Marvin.

Um Ians Mund zuckte ein schiefes Lächeln. „Ich denke trotzdem, dass du auf dem richtigen Weg bist, Marvin.“

„Und wie kommst du darauf?“

Ian schwieg eine Weile, bevor er antwortete. „Ich habe dir zugesehen?“

„Mir?“ Marvins ohnehin schon erwärmtes Gesicht begann zu glühen. „Wieso… ich…“

Ian schüttelte tadelnd den Kopf. „Eigentlich sollten wir doch darauf trainiert werden, das zu bemerken. Ich habe bemerkt, dass du mich ansiehst.“

„Du hast…?“ Nun war Marvin sich sicher, eine verlegene Röte auf den Wangen zu zeigen.

„Klar.“ Ian nickte und sah Marvin von der Seite an. „Glaub mir, das fand ich schmeichelhaft. Mir ist nicht aufgefallen, dass du einen von den anderen so angesehen hast.“

„Das… das ist, weil du etwas Besonderes bist“, erwiderte Marvin. „Du… ich…“ Er stockte.

„Du findest mich gutaussehend?“, vergewisserte Ian sich lächelnd. „Keine Sorge, ich hab das schon gehört.“

Marvin lächelte zurück. „Dann weißt du, dass ich nicht anders konnte.“

„Genau wie ich“, sagte Ian und wurde ernst. „Du weißt gar nicht, wie sehr du auf andere wirkst.“

„Ich…“

„Du verkaufst dich unter Wert. Ich meine… du solltest nicht…“ Er schwieg.

„Entschuldige bitte“, fuhr Ian schließlich fort. „Ich habe kein Recht, so etwas zu sagen.“

Marvins Hitze wich einer Kälte, die von innen heraus in ihm hochstieg. „Doch, das hast du“, erwiderte er heiser. „Ich… ich schätze, es ist eine Art Macht der Gewohnheit.“

Ians Stimme wurde leise und sanft. „Das ist es nicht“, sagte er. „Du suchst nach etwas, und weißt nur nicht, wo du es finden kannst.“

Marvin holte tief Luft. „Ich weiß nicht, wonach ich noch suchen könnte.“

„Da gibt es etwas“, fuhr Ian fort. „Doch du musst es allein finden. Das muss wohl jeder.“

„Hast du…“

Ian schüttelte den Kopf. „Ich bin auch auf der Suche. Doch vielleicht…“ Er stockte, sah Marvin an mit seinen dunklen, samtenen Augen. „Vielleicht sollten wir zusammen weitersuchen. Vielleicht können wir gemeinsam etwas finden, das finden, was wir brauchen.“

Marvin schluckte. Dann nickte er. „Ich… das würde ich mir wünschen, Ian.“

Der Dunkelhaarige lächelte. Er legte seine Hand auf die Marvins, welche immer noch sein Knie umklammerte. Langsam, ein wenig zögernd beugte er sich vor. Ließ dem anderen ausreichend Zeit, ihm auszuweichen, sollte er so wollen.

Doch Marvin wich nicht aus. Im Gegenteil. Von unsichtbaren Fäden gezogen, bewegte er sich auf Ian zu, fühlte wie sich der Abstand zwischen ihren Körpern, zwischen ihren Lippen verkleinerte, bis sie schließlich aufeinandertrafen in einem ersten, zarten Kuss. Einem Kuss, wie keiner der beiden ihn je zuvor erlebt hatte. Vorsichtig, zerbrechlich, der zitternde Keim einer Pflanze, die es gerade, wenn auch mit Mühe geschafft hat, den Erdboden zu durchstoßen. Ein Kuss, der ein Anfang sein konnte, ebenso wie ein Ende. Ihre Lippen öffneten sich. Ihre Münder bewegten sich zaghaft zuerst, doch dann drängender, mit wachsendem Hunger, mit steigender Erregung.

Plötzlich trennten sie sich, fuhren auseinander, als wäre ihnen erst in diesem Augenblick bewusst geworden, was sie taten.

„Es… es tut mir leid“, wisperte Marvin. „Ich… ich wollte nicht.“

„Was wolltest du nicht?“ Ians Brustkorb hob und senkte sich in raschem Tempo. Ein leises Keuchen entfuhr ihm, gefolgt von einem Lächeln, das tief in seinem Inneren seinen Ursprung hatte, nach oben stieg und sich wie ein Leuchten auf seinem Gesicht ausbreitete.

„Du…“ Marvin sah ihn ungläubig an. Sein Herz raste und er fühlte das Blut in seinen Adern pochen. Es gab für ihn kaum eine andere Erinnerung als die an Männer, die es nicht wagten, ihre Neigung zuzugeben, noch nicht einmal vor dem Menschen, den sie als ihren Partner ausgewählt hatten. Es war nur Sex, eine Notwendigkeit, ein Bedürfnis und nichts, das fälschlicherweise mit Gefühlen in Zusammenhang gebracht werden durfte.

Doch Ians offenes Lächeln belehrte ihn etwas Besseren. Und wie ein Wunder stieg die Erkenntnis in ihm auf, dass hier jemand war, der ihn verstand, der vielleicht sogar fühlte, dachte wie er selbst.

„Du…“

Ian nickte und sein Lächeln verbreiterte sich, wurde zu einem Strahlen. „Ich verstehe gut, viel zu gut, wovon du sprichst, was du erzählt hast. Daher glaube ich, dass wir uns auf einem ähnlichen Weg befinden. Vielleicht gelingt es uns, ein Stück davon gemeinsam zu gehen. Vielleicht…“

Er schwieg, strich sich eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht, wartete auf Antwort.

„Ja“, stieß Marvin hastig, etwas zu hastig hervor. „Ja, das würde ich gerne. Ich würde gerne…“

Doch Ian hatte sich bereits zu dem Blonden herüber gelehnt, verschloss seinen Mund mit einem weiteren Kuss. Und Marvins Arme wanderten wie von selbst den starken Rücken hinauf, umschlangen den Dunkelhaarigen fest und sicher, bezeugten und bestätigten das gegebene Versprechen, das mehr verhieß als ein Weihnachten, auf das es sich zu freuen lohnte. Ein Versprechen, das eine Zukunft in Aussicht stellte, zum ersten Mal in seinem Leben eine wirkliche Zukunft.

Ende

Augenblicke

Thomas hielt ihn fest, fester als er ihn je zuvor gehalten hatte.

„Wieso hast du mir das nie erzählt“, flüsterte er mit erstickter Stimme und barg sein Gesicht an der Schulter des anderen, als sei er es, der getröstet werden müsse.

„Wie konntest du mir das verheimlichen?“

Will versuchte, sich von den umstrickenden Armen zu befreien, doch zu stark war der Griff des Dunkelhaarigen, der sich an ihn klammerte, als sei er der Strohhalm, der Thomas vor dem Ertrinken bewahren würde. Will hatte ihn selten so erschüttert gesehen, nie so verletzlich wie in diesem Augenblick, in dem der Größere sich mit Macht an ihn presste.

„Was hätte ich dir sagen sollen“, wisperte er als Antwort. „Du wolltest es nicht wissen. Niemand will so etwas wissen.“

„Ich liebe dich, Will.“ Thomas löste sich von dem Blonden. „Natürlich hätte ich es wissen sollen, wissen müssen.“

Will schüttelte den Kopf, fuhr sich mit seinen langen Fingern durch das schweißnasse Haar. „Das alles ist zu lange her, eine Ewigkeit. Niemand sollte sich daran erinnern. Es… es tut mir leid, dass es mir herausgerutscht ist.“

„Nein.“ Thomas‘ Stimme klang sanft, als er Will wieder an sich zog, der sich nur allzu gern in die Umarmung schmiegte, die er zu lange hatte missen müssen. „Es war richtig so. Ich verstehe jetzt so vieles, ich verstehe, warum du dich zurückgezogen hast.“

Seine Hände glitten über den nackten Rücken des anderen, liebkosten die Spuren der Narben, die den geliebten Körper bedeckten. Sie gehörten zu Will ebenso wie die seelischen, die ihn zu dem Mann gemacht hatten, der er war.

„Es war nicht deine Schuld. Denke nie, dass es deine Schuld war.“

„Ich weiß“, antwortete Will heiser. „Und doch ist damals etwas in mir zerstört worden, das sich nicht wieder reparieren lassen wird, niemals wieder.“

Thomas hielt ihn, und Tränen liefen über sein Gesicht, vermischten sich mit denen Wills, als ihre Wangen sich berührten.

„Dann nehme ich dich so, wie du bist“, flüsterte er. „So und nicht anders.“

  Ende

 Lakota

Floyd zügelte sein Pferd. Eine seltsame Unruhe ergriff ihn, die Vorahnung eines Ereignisses, das in seinen Visionen der vergangenen Tage noch immer keine konkreten Formen angenommen hatte.

Seit er in das Reservat zurückgekehrt war, hatte es nur ein einziges Ziel für ihn gegeben: die Lücke, die sein Vater hinterlassen hatte, zu füllen, so gut er es vermochte.

Je stärker seine Verbindung zu den Geistern seiner Väter wurde, je deutlicher er spürte, dass er dieses Land nicht mehr werde verlassen können, selbst wenn er es wünschte, um so schmerzhafter wurde die Erkenntnis für ihn, dass die kurze Begegnung mit Walter das Einzige sei, was er jemals an Nähe erfahren durfte. Sein Weg, der Weg des Schamanen, musste alleine beschritten werden. Es gab keinen Platz für eine Freundschaft, die noch dazu an den Widerständen, die sich ihr auf den ersten Blick entgegen stellten, scheitern musste. Und doch, und obwohl Floyd sich sicher war, dass Walter und er durch Welten getrennt waren, wanderten seine Gedanken immer wieder zu dem Mann zurück. In den wenigen Tagen, die sie zusammen erlebt hatten, war er ein anderer geworden, hatte er sich verändert und der Lakota begann erst in diesem Augenblick zu erkennen, wie tief diese Veränderung reichte.

Floyd legte die Hand über die Augen, schützte sie vor der Sonne und starrte auf den Streifen Staubes, den der einsame Wagen auf der Landstraße aufwirbelte.

Konnte es wirklich sein? Sein Herz machte einen Sprung.

Er war es. Floyd wusste nicht warum, doch Walter war zu ihm zurückgekehrt, hatte über endlose Meilen hinweg empfunden, was Floyd ebenso gefühlt hatte. Dass sie zusammen gehörten. Dass vor ihnen ein Pfad lag, den sie gemeinsam beschreiten sollten.

Floyd lachte und die Ahnen in seinem Herzen lachten mit ihm.

 Ende