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George MacDonald Fraser

Flashman und die Rothäute

Band 7 der Flashman Manuskripte

Kuebler Verlag

Das Buch

Harry Flashman in Nordamerika, wo er mit einem Planwagenzug – der ein Bordell auf Rädern ist – nach Westen zieht. Wild Bill Hickok, der Apachen-Häuptling Geronimo, Kit Carson und Crazy Horse werden zu seinen guten Bekannten und mit General Custer reitet er in Richtung Little Bighorn. Es gibt ein Wiedersehen mit Susie, der Bordellmutter aus New Orelans und ihren Schützlingen. Dramatisch und voller Spannung – und mit einer realistischen Darstellung der Handlungsweise der Indianer.

Der Autor

George MacDonald Fraser wurde vor allem berühmt durch die „Flashman Manuskripte“, einer Serie historischer Romane. Dabei handelt es sich um die fiktiven Memoiren von Sir Harry Flashman, einem hoch dekorierten britischen Offizier im Ruhestand, der auf seine Abenteuer zwischen 1840 und 1890 zurückblickt, die ihn unter anderem mit Bismarck, Abraham Lincoln, Crazy Horse, General Custer, Lola Montez und vielen anderen zusammengeführt hatte. Geboren wurde Fraser 1925, wurde Soldat und kämpfte in Burma. Er wurde Journalist, Schriftsteller und Drehbuchautor (unter anderen „Die drei Musketiere“ und den James-Bond-Film „Octopussy“). Er starb 2008.

Flashman

und die Rothäute

Flashman beim Goldrausch und am Little Bighorn

1849-50 und 1857-76

Aus den nachgelassenen Papieren Harry Flashmans

Herausgegeben und bearbeitet von

George MacDonald Fraser

Ins Deutsche übertragen von Wolfgang Proll

Band 7 der Reihe „Die Flashman Manuskripte“

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Copyright © 1982 by George MacDonald Fraser,

FLASHMAN AND THE REDSKINS

© der deutschen Übersetzung 1987 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin

Erschienen im Ullstein Taschenbuch Verlag.

Deutsche Übersetzung von Wolfgang Proll.

Neu durchgesehene, überarbeitete und ungekürzte Ausgabe:

Copyright © 2013 Kuebler Verlag GmbH, Lampertheim. Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Einscannen oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Herausgegeben von Bernd Kübler

Umschlaggestaltung: Grafissimo! Daniela Hertel

ISBN Buchausgabe 978-3-942270-97-7

ISBN Digitalbuch 978-3-86346-113-3

Einleitung

Im Mai 1848 war Flashman nach einem Kartenspiel-Skandal gezwungen, aus England zu fliehen, und er reiste auf der Balliol College nach Afrika, einem Schiff, das seinem Schwiegervater, John Morrison aus Paisley, gehörte und von Captain John Charity Spring, MA, befehligt wurde, einem ehemaligen Dozenten des Oriel College. Zu spät erst entdeckte Flashman, dass das Schiff ein illegaler Sklaventransporter und sein Kapitän trotz akademischer Vergangenheit ein mörderischer Exzentriker war. Nachdem sie in Dahomey eine Ladung Sklaven an Bord genommen hatte, überquerte die Balliol College den Atlantik, wurde jedoch von der amerikanischen Marine gestellt; in New Orleans gelang es Flashman, zu entkommen, und er fand vorübergehend Zuflucht in einem Bordell, dessen matronenhafte Besitzerin, eine für diese Dinge empfängliche Engländerin namens Susan Willnick, von seinem schelmenhaften Charme gefesselt war.

Danach verbrachte Flashman mehrere ereignisreiche Monate im Mississippi Valley, häufig Hals über Kopf auf der Flucht. Eine Zeitlang gab er sich (neben vielem anderen) als Offizier der Königlichen Marine aus; er wurde auch gegen seinen Willen zum Agenten der „Untergrundbahn“, einer Organisation, die entlaufene Sklaven nach Kanada schmuggelte, doch unglücklicherweise wurde der seiner Obhut anvertraute Schützling von einem rachsüchtigen Pflanzer namens Omohundro erkannt, woraufhin Flashman seinen Schützling im Stich ließ und sich hastig über die Reling eines Dampfboots aus dem Staub machte. Als nächstes fand er eine Anstellung als Sklaventreiber auf einer Plantage, verlor aber seinen Posten, als er mit der Frau seines Chefs in einer kompromittierenden Situation angetroffen wurde. Dann entführte er eine schöne Mischlingssklavin, verkaufte sie unter falschem Namen, verhalf ihr anschließend zur Flucht und entkam mit ihr und dem Erlös aus dem Verkauf über die Eisschollen des Ohio River, von Sklavenjägern verfolgt, die ihm ins Hinterteil schossen; doch es gelang ihm, seine und Cassys Flucht dank der rechtzeitigen Hilfe des damaligen Kongressabgeordneten Abraham Lincoln zu bewerkstelligen.

Da ihm Anklagen wegen Sklavenhandels, Sklavendiebstahls, Hochstapelei und sogar Mord drohten, war Flashman jetzt darauf bedacht, nach England zurückzukehren. Statt dessen verschlug ihn ein Missgeschick erneut nach New Orleans, wo er in seiner Not gezwungen war, seinem ehemaligen Befehlshaber, Captain Spring, um Hilfe zu ersuchen, der von einem korrupten amerikanischen Gericht von der Anklage des Sklavenhandels freigesprochen worden war und sich zur Heimreise anschickte. Flashman, der auf seinen Irrwegen beharrlich gewisse Dokumente über die Balliol College gehütet hatte – Dokumente, die die Beteiligung des Schiffs am Sklavenhandel belegten, und mit denen Flashman gehofft hatte, seinen verhassten Schwiegervater zu erpressen –, bot diese jetzt als Preis für seine Überfahrt nach Hause an; Captain Spring, dessen übliche Böswilligkeit durch das Verlangen gemildert wurde, diese für ihn selber so gefährlichen Papiere an sich zu bringen, erklärte sich einverstanden.

An diesem Punkt, zwischen Scylla in Form der amerikanischen Justiz und Charybdis in Person des diabolischen Springs, beendete unser erschöpfter Erzähler das dritte Paket der Flashman-Papiere – und das nächste Kapitel seines Amerika-Abenteuers setzt ein.

Vorbemerkung

Es ist ein bezeichnendes Merkmal der Flashman-Papiere, der Memoiren des berüchtigten Raufbolds aus Tom Browns Schooldays, die 1966 in einem Auktionslokal in Leicestershire entdeckt wurden, dass ihr Autor sie in voneinander unabhängigen Abschnitten verfasst hat und jedes Mal von neuem seinen Werdegang beschreibt und die Hintergründe erklärt. Das hat mir sehr bei der Herausgabe der Papiere geholfen, die mir von Mr. Paget Morrison aus Durban anvertraut wurden, Flashmans nächstem legitimen Verwandten; das bedeutete, dass ich beim Öffnen jedes neuen Manuskriptpakets erwarten konnte, dass der Inhalt ein vollständiges, in sich geschlossenes und ohne Erläuterungen verständliches Buch darstellte, das nur ein kurzes Vorwort und ein paar Fußnoten erforderte. Sechs Bände folgten diesem Schema.

Der siebte Band erwies sich als Ausnahme; er folgt chronologisch (auf die Minute genau) auf das dritte Paket1, und wurde von seinem betagten Autor nur mit einer sehr kurzen Einleitung versehen. Daher hielt ich es für nötig, am Ende dieser Vorbemerkung ein Résumé des dritten Bandes anzufügen, damit neue Leser die Ereignisse verstehen, die zu Flashmans siebtem Abenteuer führten.

Aus den früheren Papieren ging deutlich hervor, dass Flashman während der Intervalle seines hervorragenden und skandalösen Dienstes in der britischen Armee mehr als einmal Amerika besucht hat; dieser siebte Band schildert seine Odyssee im Wilden Westen. Es mag andere geben, die sowohl den Goldrausch von 1849 als auch die Schlacht am Little Bighorn erlebt haben, doch haben sie weder Aufzeichnungen über diese Ereignisse hinterlassen, noch waren sie so eng wie Flashman – wenn auch wider Willen – mit drei der berühmtesten Indianerhäuptlinge sowie mit führenden amerikanischen Militärs, Grenzern und Staatsmännern jener Zeit bekannt, von denen er lebendige und vielleicht enthüllende Porträts hinterlassen hat.

Wie bei seinen früheren Memoiren auch, halte ich seine Glaubwürdigkeit nicht für fraglich. Wie Kennern dieser Bände wohl bewusst ist, war sein persönlicher Charakter beklagenswert, sein Benehmen lasterhaft und verworfen und sein Talent, aus Torheit oder Übermut Unheil anzurichten, schier unerschöpflich; im Grunde war seine einzige versöhnliche Eigenschaft seine schamlose Wahrheitsliebe als Memoirenschreiber. Wie die Fußnoten und Anmerkungen hoffentlich zeigen, habe ich mich bemüht, seine Angaben zu überprüfen, sofern dies möglich war, und ich schulde Bibliothekaren, Leitern von Museen und vielen anderen freundlichen Angehörigen der großen amerikanischen Öffentlichkeit Dank, sei es in Santa Fe, Albuquerque, Minneapolis, Fort Laramie, auf Custers Schlachtfeld, am Yellowstone und Arkansas River oder in Bent's Fort.

George MacDonald Fraser

1 Erschienen unter dem Titel Flashman – Held der Freiheit.

Erster Teil

Der Neunundvierziger

Kapitel l

Ich habe die Sprache der Apachen nie richtig gelernt. Wohlgemerkt, das ist auch nicht einfach, hauptsächlich, weil diese roten Wilden selten lange genug still stehenbleiben – und wenn man ein Fünkchen Verstand besitzt, tut man das selber ebenfalls nicht, denn es könnte sonst durchaus sein, dass man sich beim Studium ihrer Ausspracheregeln für Vokale (die übrigens einmalig sind) mit dem Kopf nach unten über einem langsam brennenden Feuer wiederfindet oder durch die Jornada del Muerto um sein Leben reiten muss, während sie einem heulend auf den Fersen sind und versuchen, einem Speere in die Leber zu spießen. Ich habe in meinem Leben beide Situationen durchgemacht und kann gerne darauf verzichten.

Trotzdem ist es merkwürdig, dass ich es nie zu dieser Zungenfertigkeit gebracht habe, denn abgesehen von Stiftengehen und Hurerei ist das Schwadronieren in der jeweiligen Landessprache meine stärkste Seite; ja, ich beherrsche neun Sprachen besser als die Einheimischen und kann mich in etwa einem Dutzend anderer verständlich machen. Und ich kenne die Apachen weiß Gott gut genug; ich war sogar einmal eine Zeitlang mit einer Apachin verheiratet, mit Aufgebot, Perlenschnüren, Büffeltanz und allem, was dazugehört, und ein scharfes kleines Biest war sie auch, mit ihrer pfirsichbraunen Samthaut und ihren glühenden, schwarzen Augen, und an den Schenkeln trug sie diese Beinkleider aus weißem Hirschleder mit winzigen Silberglöckchen an den Seiten ... wenn ich meine Augen schließe, kann ich sie noch heute klingeln hören, sechzig Jahre danach, und ich spüre die Piniennadeln unter meinen Knien, rieche den Holzrauch, der sich mit dem würzigen Moschusgeruch ihres Haares und dem Duft der wilden Blumen vor ihrer Hütte mischt ... die weichen Lippen spielen an meinem Ohr und murmeln: „Bring meine Glöckchen noch einmal zum Läuten, pinda-lickoyee...“ Ach ja, lang, lang ist's her. Aber das ist die richtige Art, eine Sprache zu erlernen, wenn man so will, zwischen Seufzen und Stöhnen, und wenn es in diesem Fall nicht geklappt hat, so ist der Grund, dass meine dralle Wilde nicht nur die Tochter eines großen Häuptlings war, sondern von der Seite ihrer Mutter her eine mexikanische Hidalga, und dass sie dazu neigte, sich für etwas Besonderes zu halten und anstelle des Stammesdialekts des gewöhnlichen Volks nur Spanisch zu sprechen. In einer Indianerhütte in Mimbreno können die Weiber ebenso hochnäsig und etepetete sein wie in einem Salon in Belgravia1, glauben Sie mir. Zum Glück gibt es ein Mittel dagegen.

Doch das gehört im Moment nicht zur Sache. Selbst wenn mein Apache nie weit über „Nuetsche-shee, eetzan“ hinauskam, was frei übersetzt so viel wie „Mädchen, komm her“ heißt und alles ist, was man zu wissen braucht (abgesehen von ein paar schmeichelhaften Freundschaftsbezeugungen und Gewinsel um Gnade, was auch nicht viel hilft), so erkenne ich doch dieses diabolische Kauderwelsch, wenn ich es höre. Dieses gutturale, zischelnde Genuschel mit all seinen „tz“–, „zl“– und „rr“-Lauten wie von einem betrunkenen schottischen Juden, der Schwierigkeiten mit seinen falschen Zähnen hat, ist etwas, das man nicht so rasch vergisst. Als ich es vor ein paar Wochen im Travellers Club hörte und den instinktiven Impuls unterdrücken konnte, zur Tür zu hechten und zu schreien „Holla! Reitet drauflos und rettet eure Haare!“, schaute ich mich um und sah, dass dieser gewaltige Wortschwall von einem käsig aussehenden Kauz mit arroganter, hochtrabender Stimme und bekleckerter Hemdbrust kam, der in einer Ecke des Rauchsalons eine Gruppe von Speichelleckern um sich geschart hatte. Ich wollte wissen, was er damit bezweckte, und er entpuppte sich als irgendein berühmter Anthropologe oder so was, der im Royal Geographic einen Vortrag über nordamerikanische Indianer gehalten hatte.

„Und was wissen Sie über Indianer, außer dass Sie dieses widerliche Geplapper verstehen?“ fragte ich ziemlich hitzig, denn er hatte mir einen gehörigen Schrecken eingejagt, und ich konnte auf den ersten Blick sehen, dass er einer von diesen schnüffologischen Aufdringlingen war, die mit Fliegenwedel und Notizbuch durch die Gegend stolzieren, den Niggern Lügen entlocken und dem Dragoman zu viel Trinkgeld aus der College-Kasse geben. Er schaute verblüfft drein, bis man ihm sagte, wer ich sei und dass ich selber nähere Bekanntschaft mit nordamerikanischen Indianern gemacht hätte, von diversen anderen Eingeborenen ganz zu schweigen. Daraufhin gab er mir abweisend eine lasche Hand und ließ sich dazu herab, mir eine oder zwei unbequeme Fragen über meine Reisen in Amerika zu stellen. Ich sagte ihm, ich sei mit Terry und Custer zusammen gewesen – und weiter kam ich nicht, denn da sagte er schon in verdammt hochnäsigem Ton „Ach, wirklich?“, zeigte mir die kalte Schulter und fing an, das höllischste Geschwätz von sich zu geben, das man je gehört hat, und der übrigen Gesellschaft alles über die barbarische Behandlung zu erzählen, die die Yankees den Stämmen in den Ebenen nach dem Aufstand erteilt hatten, über ihre ungerechte Indianerpolitik im allgemeinen, über die Schändlichkeit des Reservat-Systems und die Gräuel, die im Namen der Zivilisation an harmlosen Nomaden verübt werden, die nichts weiter wünschen, als in Ruhe gelassen zu werden, um ihrer traditionellen Lebensweise als friedliche Hirten nachzugehen, ihre einfache Kultur zu pflegen, ihre alten Götter zu verehren und im Übrigen herum zu hüpfen wie Faune in Arkadien. Zum Glück hatte ich noch nicht zu Abend gegessen.

„Edle Wilde, wie?“ sagte ich, als er eine Pause machte, um Luft zu holen, und er warf mir einen Blick voll bösartiger Gefühlsduselei zu.

„So würde ich sie vielleicht nennen“, fauchte er. „Darf ich annehmen, dass Sie mir da widersprechen?“

„Das kommt drauf an, von welchen Indianern Sie reden“, sagte ich. „Also, Spotted Tail war ein Gentleman. Chico Velasquez dagegen war ein boshaftes, heimtückisches Scheusal. Aber Sie haben vermutlich keinen von beiden gekannt. Möchten Sie einen Brandy?“

Er wurde rosarot. „Nein, vielen Dank. Ich nehme an“, fuhr er zornig fort, „unter ‚Gentleman‘ verstehen Sie jemanden, der alle Hoffnung aufgegeben und sich unterworfen hat, während ‚Scheusal‘ zweifellos jeden standhaften, unabhängig gesinnten Patrioten bezeichnet, der sich der Ungerechtigkeit der Fremdherrschaft widersetzt oder gegen Vertragsbrüche revoltiert –“

„Falls standhafte, unabhängige Gesinnung darin besteht, Frauen die Finger abzuschneiden und sich die Lederhose damit zu schmücken, dann war Chico sicherlich ein Patriot“, sagte ich. „Und wohlgemerkt, das war die freundliche Seite seines Benehmens. Heda, Kellner, noch einen, und halten Sie Ihren Daumen nicht ins Glas, verstanden?“

Mein neuer Bekannter lief noch rosaroter an und rang nach Luft; das Argumentum ad Chico Velásquez2 war ihm ungewohnt und machte ihn offenbar fuchsteufelswild, wie ich es beabsichtigt hatte.

„Von einem Barbaren muss man Barbarei erwarten – besonders, wenn er über jedes erträgliche Maß hinaus provoziert worden ist!“ schnaubte er höhnisch. „Wirklich, Sir – wollen Sie im Ernst die abwegige Brutalität dieses ... dieses Velásquez, wie Sie ihn nennen – der, wie ich seinem Namen entnehme, jenem unglücklichen Pueblo-Volk entstammt, das jahrhundertelang spanischen Gräueltaten ausgesetzt war –, wollen Sie das mit der wohlbedachten Unterdrückungs- nein, Ausrottungspolitik einer modernen, christlichen Regierung vergleichen? Sie reden von der Grausamkeit eines Indianers? Und doch rühmen Sie sich der Bekanntschaft mit General Custer, und Sie haben bestimmt auch von Chivington gehört? Sand Creek, Sir! Wounded Knee! Washita! Aha, sehen Sie!“ rief er triumphierend. „Ich kann Ihnen ihr eigenes Lexikon zitieren! Und in Anbetracht dessen wagen Sie es, Washingtons Behandlung des amerikanischen Indianers gutzuheißen?“

„Ich heiße sie nicht gut“, sagte ich und mäßigte meinen Zorn. „Aber ich verurteile sie auch nicht. Es ist halt so gekommen, wie Ebbe und Flut, und da ich gesehen habe, wie es sich abgespielt hat, bin ich nicht so dumm, vorschnell die närrischen, sentimentalen Schlüsse zu ziehen, die in den klösterlichen Studierstuben der Colleges modern sind, das kann ich Ihnen sagen –“

Es gab Protestrufe, und mein Anthropologe bekam einen Koller. „Modern, soso! Haben Sie gelesen, Sir, was Mrs. Jackson geschrieben hat?3 Wissen Sie nicht, welch erbärmliches Los man einem stolzen und würdigen Volk aufgezwungen hat? Da Sie am Kampf gegen die Sioux teilgenommen haben, dürfte es Ihnen nicht entgangen sein, mit welch gefühllosem und rachsüchtigem Eifer dieser und anschließende Feldzüge geführt wurden! Gegen einen wehrlosen Widersacher! Können Sie die Ausrottung der Modocs, der Apachen oder eines Dutzends anderer Stämme rechtfertigen, die ich Ihnen nennen könnte? Sie sollten sich schämen, Sir!“ Er kam jetzt richtig in Fahrt, und ich wurde auch eine Spur angeheizt. „Und das alles in einer Zeit, da man die Kräfte eines riesigen, modernen Staats auf eine Politik der Menschlichkeit, Genügsamkeit und Aufklärung hätte verwenden können! Aber nein – all den finsteren, alten Vorurteilen und Hassgefühlen musste voll freier Lauf gelassen werden, um den verschmähten ‚Feind‘ zu vernichten oder praktisch in Leibeigenschaft zu zwingen.“ Er machte eine verächtliche Geste. „Und alles, was Sie dazu sagen können, ist ‚Es ist halt so gekommen‘. Pfui, Sir! So hätte auch Pilatus sich ausdrücken können. ‚Es ist halt so gekommen‘.“ Das gefiel ihm, und er ließ sich weiter darüber aus. „Der Landpfleger in Judäa hätte einen guten Adjutanten für Ihren General Terry abgegeben, denke ich mir. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend, General Flashman!“

Das hätte ihm ermöglicht, einen Abgang in Ehren zu vollziehen, aber ich gebe ein Streitgespräch nicht auf, wenn die Aussicht besteht, jemanden durch Vernunft zu überzeugen.

„Also hören Sie mal her, Sie blässlicher, kleiner Miesling!“ sagte ich. „Jetzt habe ich die Nase voll von Ihrem heuchlerischen, frömmelnden Geschwafel. Sehen Sie sich das mal an!“ Und während er wieder einen Koller bekam und sein kriecherisches Gefolge entsetzte Schreie von sich gab, neigte ich meinen Kopf und zog meine Haare auseinander, um ihm etwas zu zeigen. „Sehen Sie die kahle Stelle da? Die, mein emsiger Herr Forscher, wurde vom Skalpiermesser eines Brulé in der Hand eines friedlichen Hirten einem Mann zugefügt, der aus Leibeskräften dazu beigetragen hat, den Brulés und allen anderen im Land der Dacotahs eine gehörige Abreibung zu verpassen.“ Das war eine grobe Übertreibung, aber das macht nichts. „So viel zu Menschlichkeit und Genügsamkeit –“

„Guter Gott!“ schrie er und zuckte zurück. „Na schön, Sir – Sie können vielleicht eine Verwundung vorzeigen, aber das beweist nicht, dass Sie Recht haben. Es erklärt eher Ihre Voreingenommenheit –“

„Es beweist, dass ich zumindest weiß, wovon ich rede! Und das ist mehr, als Sie von sich behaupten können. Was Custer angeht, so ist er als der Idiot anerkannt und zu den Akten gelegt worden, der er nun mal war, während Chivington ein mordlustiger Irrer und, was noch schlimmer ist, ein Amateur war. Aber falls Sie glauben, die beiden seien auch nur einen Deut schuldiger gewesen als Ihre geliebten Rothäute, dann sind Sie noch viel dümmer, als Sie aussehen. Was selbstanklägerische Meckerfritzen wie Sie nicht verstehen können“, fuhr ich mit höchster Lautstärke fort, während die Speichellecker an mir herumzerrten und nach den Türhütern riefen, „ist folgendes: Wenn furchtsame, auf ihren Vorteil bedachte Männer – mit anderen Worten alle x-beliebigen Männer, ob rot oder weiß, zivilisiert oder wild – sich von Angesicht zu Angesicht in einer Wildnis gegenüberstehen, die sie, der Himmel weiß warum, beide besitzen wollen, dann bricht ein Krieg aus, und der Schwächere geht unter. Politik kümmert einen dabei einen feuchten Dreck – da geht es um Männer, die voll Angst und Wut und Ungewissheit die Wälder und den Horizont absuchen, verstehen Sie das, Sie stockblinder Bücherwurm, Sie! Und da faseln Sie von Aufklärung, mein Gott –“

„Halt du seinen anderen Arm fest, Fred!“ sagte der Portier und zog mich fort. „Kommen Sie jetzt, General, wenn ich bitten darf.“

„– warum versuchen Sie nicht mal, einen Trupp Komantschen auf dem Kriegspfad mit Aufklärung zu begegnen? Kommen Sie mal den Jicarillas, die Mrs. White und ihr Baby am Rock Creek aufgeschlitzt haben, mit Menschlichkeit und Zurückhaltung! Haben Sie schon mal eine Ranch in Del Norte gesehen, nachdem die Mimbrenos ihre Visitenkarte dort abgegeben haben? Nein, das haben Sie nicht, Sie plüschärschiger Mistkerl, Sie! Ist ja gut, Steward, ich gehe ja schon, verdammt noch mal ... aber eins will ich Ihnen sagen“, schloss ich, und ich glaube wohl, ich habe dem akadämlichen Affen, der sich hinter einen Sessel verzogen hatte und aussah, als würde er gleich Reißaus nehmen, mit dem Finger gedroht, „ich kann mit Indianern – ebenso wie mit dem Rest der Menschheit – jedenfalls verdammt viel mehr anfangen als Sie, und ich nehme sie nicht zum Vorwand, um meine Tugendhaftigkeit zur Schau zu tragen, obwohl sie mir schnurzegal sind, so wie Sie es tun, also bitte! Ich kenne Leute wie Sie! Vertragsbrüche? Pah, Sie eingebildeter Tintenkleckser! Chico Velásquez hätte einen Vertrag nicht einmal beachtet, wenn er im Dunkeln darüber gestolpert wäre ...“ Aber da war ich schon draußen auf der Pall Mall und redete in den Wind.

„Wer zum Teufel hat überhaupt jemals behauptet, die Regierung in Washington sei christlich?“ fragte ich, doch der Portier meinte, das könne er wirklich nicht sagen, und ob ich eine Droschke möchte?

Sie wundern sich vielleicht, dass ich wegen eines aufgeblasenen Windbeutels, der hohle Phrasen drischt, derart aus dem Häuschen geraten bin; normalerweise sitze ich nur dabei und schnaube verächtlich, wenn die Alleswisser anfangen, sich über die armen, unterdrückten Heiden auszulassen, und wenn sich die Gelegenheit ergibt, mache ich eine spitze Bemerkung – ja, ich habe sie doch tatsächlich die Sepoy-Aufständischen als ehrenwerte Patrioten rühmen hören, ohne dass ich mir auch nur die Mühe gemacht hätte, aus Protest einen Wind streichen zu lassen. Ich kenne die Heiden und ihre Unterdrücker recht gut, wissen Sie, und auch die törichte Angewohnheit, Jahre später selbstgefällig über sie zu Gericht zu sitzen, bis zum Stehkragen angefüllt mit Frömmelei, Ignoranz und aus Büchern angelesenen Vorurteilen. Die Menschheit ist roh, dumm und unverbesserlich, jawohl, und damit basta. Und das gilt ebenso für Crazy Horse wie für Custer – und die sind beide Gott sei Dank seit langem dahin. Aber bei Leuten wie meinem anthropologischen Freund der Halbwahrheiten hört für mich der Spaß auf; oh, es hat etwas für sich, was er sagt, das ist schon richtig – aber es ist nur eine Seite der Geschichte, und wenn ich höre, wie das mit dieser ganzen rechthaberischen Überzeugung ausposaunt wird, als sei jeder weiße Mann ein Schurke und jede Rothaut ein Heiliger, und die Dummköpfe schlucken das und fühlen sich dementsprechend schuldig ... also, das kann mich auf die Palme bringen, besonders wenn ich ein Glas intus habe und meine Nieren knirschen. So bin ich also wegen ungebührlichen Benehmens aus dem Travellers hinausgeflogen. Das macht mir nicht viel aus; ich war ohnehin nicht Mitglied.

Natürlich war das Ganze ein übertriebener Gefühlsaufwand. Die Sache ist die, nehme ich an, dass ich sogar jetzt noch eine merkwürdige Verbundenheit mit dem Wilden Westen empfinde, obwohl ich dort die meiste Zeit damit zugebracht habe, mich in die Büsche zu schlagen, zu fliehen und zu Gott zu beten, dass ich mit heiler Haut davonkommen möge. Das überrascht Sie vielleicht, wenn Sie meine Geschichte kennen – vom alten Flashy, dem dekorierten Helden und schändlich korrupten Feigling, der in seinem ganzen skandalösen und unzüchtigen Leben nie ein anständiges Gefühl aufgebracht hat. Jaja, aber das hat seinen Grund, wie Sie noch sehen werden.

Außerdem, wenn man den Westen fast von Anbeginn an gesehen hat wie ich – als Händler, Wagenführer, Kopfgeldjäger, irregulärer Soldat, Hurenbock, Spieler, indianischer Krieger (na ja, so darf man sich wohl bezeichnen, wenn man bewaffnet dem Feind gegenübertritt, auch wenn man nicht lange bei der Stange bleibt) und als widerwilliger Hilfsmarshal bei niemand Geringerem als J. B. Hickok, Esq. –, dann behält man unweigerlich ein gewisses Interesse bei, selbst im neunundneunzigsten Lebensjahr.4 Und es genügt eine Kleinigkeit – der verwehte Duft von Holzrauch, ein bestimmter Sonnenuntergang, der Geschmack von Ahornsirup auf Eierkuchen oder ein paar unerwartet gehörte Worte Apache –, und ich sehe die Wagen zur Furt am Arkansas hinunterrumpeln, das Piano steckt im Morast fest, und alle lachen, während Susie „Banjo on my knee“ spielt ... das Sternenbanner flattert über dem Tor von Bents Fort ... die Pfeile der Navajos dringen mit widerlichem Knirschen durch die Zeltleinwand ... die großen Bisonherden breiten sich in der Feme wie eine Öllache auf der gelben Ebene aus ... das Poltern und Stampfen des Fandango, wenn die Absätze der Poblanas klappern und ihre Seidenröcke über die Knie hochwirbeln ... die bärtigen Gesichter von Gallantins Reitern im Feuerschein ... die Luft wie Nektar, als wir im Frühling hoch unter den weiß aufragenden Gipfeln von Eagle Nest nach Fort St. Vrain und Laramie reiten ... der unglaubliche Gestank der dunklen, triefenden Gestalten im Schweißbad der Apachen in Santa Rita ... die großen, narbigen Cheyenne-Krieger mit ihrem herabhängenden Federschmuck, die würdevoll wie Könige zum Kriegsrat reiten ... das runde, feste Fleisch unter meinen Händen, die süßen Lippen, die im Wald von Gila flüstern „Bring meine Glöckchen noch einmal zum Läuten“ ... oh ja, sicher doch, Madam ... und dann der Alptraum – die Schreie und Schüsse und das Kriegsgeheul, als Galls Hunkpapa-Horde durch den Staub herangestürmt kam und George Custer sich hinhockte, den kahl geschorenen Kopf in den Händen, und sich das Leben aus dem Leib hustete, während die rot-gelbe Teufelsfratze mich unter dem Helm aus Büffelhaut anschrie und der Tomahawk auf meine Schläfe niedersauste...

„Tja, Boys, da haben sie mich gekillt“, wie Wild Bill zu sagen pflegte – nur war das nicht von Dauer, und heute sitze ich zu Hause am Berkeley Square und starre im Regen auf die Bäume hinter den Gittern hinaus, verfluche den Krampf in meiner Schreibhand und erinnere mich, wo alles begann: 1849 auf einer Straße in New Orleans, wo Ihr bescheidener Diener verängstigt hinter John Charity Spring her trottete, dem Master of Arts aus Oriel, Sklavenhändler und mordlustigem Irren, der wütend mit fest zugeknöpfter Jacke und tief in die Stirn gezogenem Hut zum Kai hinunter stampfte und dabei abwechselnd fluchte und Horaz zitierte...

„Ich hätte Sie vor Finisterre über Bord werfen sollen“, faucht er. „Das wäre Ihnen recht geschehen, bei Gott! Na gut, ich habe meine Chance verpasst – quandoque bonus dormitat Homerus.“5 Plötzlich drehte er sich zu mir um, und sein heller, entsetzlich kalter Blick hätte Brandy zum Gefrieren gebracht. „Aber Homer wird nicht noch einmal schlafen, Mister Flashman, darauf können Sie wetten. Ein falscher Schritt von Ihnen auf dieser Reise, und Sie werden sich wünschen, die Amazonen hätten Sie erwischt.“

„Captain“, sagte ich ernst, „ich bin ebenso sie Sie darauf bedacht, aus dieser Sache heraus zu kommen – und Sie haben es doch selbst gesagt: Wie kann ich ein falsches Spiel mit Ihnen treiben?“

„Wenn ich das wüsste, wäre ich genauso ein kleiner, schmutziger Judas wie Sie.“ Er betrachtete mich finster. „Je mehr ich darüber nachdenke, umso mehr gefällt mir die Idee, diese Papiere von Comber in meinem Besitz zu haben, bevor wir einen Schritt weitergehen.“

Nun, diese Papiere – die belegten, dass Spring selbst ebenso wie mein geiziger schottischer Schwiegervater bis zum Hals im illegalen Sklavenhandel steckten – waren die einzige Karte in meiner Hand. Wenn Spring sie erst hatte, würde er mich tatsächlich über Bord werfen. Entsetzt wie ich war, schüttelte ich den Kopf, und er zeigte mit einem höhnischen Grinsen seine Zähne.

„Wovor haben Sie Angst, Sie Wurm? Ich habe gesagt, dass ich Sie nach Hause bringe, und ich halte mein Wort“, knurrte er, und die Narbe an seiner Schläfe schwoll feuerrot an, ein sicheres Zeichen, dass er sich anschickte, den Mond anzuheulen. „Wollen Sie etwa wagen, das Gegenteil zu behaupten, Sie zitterndes Häufchen Gedärm? Wagen Sie das? Nein, das wagen Sie lieber nicht! Wozu auch, Sie Dummkopf – fünf Minuten nachdem Sie Ihren Fuß an Bord gesetzt haben, bekomme ich sie ohnehin, denn Sie tragen sie bei sich, nicht wahr? Sie würden es nicht wagen, sie aus den Augen zu lassen. Ich kenne Sie.“ Er grinste noch einmal gemein. „Omnia mea mecum porto6, das passt zu Ihnen. Wo sind sie – in Ihrem Jackenfutter oder in der Stiefelsohle?“

Es war kein Trost, dass sie in keinem von beiden waren, sondern in meinen Hosenbund eingenäht. Er hatte mich in der Hand, und wenn ich nicht auf der Stelle der Gnade oder Ungnade der Yankee-Gerichtsbarkeit ausgeliefert werden wollte – die wegen Mord, Sklavenraub, Hochstapelei als Marineoffizier, Betrug, Diebstahl von Pferd und Wagen, Meineid und Urkundenfälschung (so ziemlich alles außer Bigamie) hinter mir her war –, hatte ich keine andere Wahl, als die Papiere herauszurücken und zum Himmel zu hoffen, dass er sein Wort hielt. Er sah mir das an der Nasenspitze an und feixte.

„Dachte ich es mir doch. In Ihrem Gesicht kann man lesen wie einem offenen Buch – und das ist obendrein ein übler Schmöker. Also her damit, wenn ich bitten darf.“ Er deutete mit dem Daumen auf eine Schenke auf der anderen Straßenseite. „Kommen Sie schon!“

„Captain – warten Sie um Himmels willen damit, bis wir an Bord sind! Die Häscher der Yankee-Marine suchen bestimmt inzwischen die Stadt nach mir ab ... bitte, Captain, ich schwöre, Sie werden sie bekommen –“

„Tun Sie, was man Ihnen sagt, verdammt noch mal!“ krächzte er, packte meinen Arm mit eisernem Griff, zerrte mich fast im Laufschritt in die Kneipe und stieß mich auf einen Platz in der am weitesten von der Bar entfernten Ecke. Sie war einigermaßen dunkel, und an den Tischen lungerten nur ein oder zwei feine Pinkel herum, während sich an der Theke ein paar Händler und Kaufleute unterhielten, aber der Laden war genau die Art von respektabler Räuberhöhle, in der meine Bekannten von Justiz und Marine verkehren würden. Ich wies flehentlich darauf hin.

„Fünf Minuten mehr oder weniger werden Ihnen nicht schaden“, sagte Spring, „und mir werden sie Gewissheit verschaffen, ob Sie mit einer lebenslangen Gewohnheit brechen, indem Sie ausnahmsweise einmal die Wahrheit sagen.“ Während er also nach Juleps brüllte und dem schwarzen Kellner einen Fußtritt gab, weil er zu langsam war – ich bat zu Gott, dass er mit seinen gepflegten Tischmanieren keine Aufmerksamkeit erregen würde –, hielt ich mich mit dem Rücken zum Raum und begann hastig, die Naht an meinem Hosenlatz mit einem Federmesser aufzutrennen.

Er trommelte ungeduldig mit den Fingern und knurrte, während ich das Paket hervorholte – dieses wertvolle Bündel von dünnen, eng beschriebenen Papieren, für das Comber gestorben war –, dann blätterte er es durch und knirschte beim Lesen mit den Zähnen. „Dieses undankbare, scheinheilige Reptil! Er hätte ein Jahr lang dahinsiechen sollen! Ich war wie ein Vater zu dem Mistkerl, und da sieht man, wie er mir mein Wohlwollen gedankt hat, bei Gott – mit Herumschleicherei und Spionieren wie eine Ratte an der Luke! Aber ihr seid ja alle gleich, ihr mieses, vornehmtuerisches Geschmeiß! Jaja, Master Comber, Phaedrus hat Euren Grabspruch geprägt: saepe intereunt aliis meditantes necem7 und das geschieht dem Schweinehund recht!“ Er stopfte die Papiere in seine Tasche, trank und sah mich grübelnd mit diesem wahnsinnigen Funkeln in den Augen an, das ich noch so gut von der Balliol College her kannte. „Und Sie – warum haben Sie die Papiere behalten? Um mich vor ein Hinrichtungskommando zu lotsen, Sie –“

„Niemals!“ protestierte ich. „Wenn ich das gewollt hätte, wäre ich damals vor Gericht dazu in der Lage gewesen – aber ich habe es nicht getan, oder?“

„Und dabei Ihren eigenen schmutzigen Hals in die Schlinge gesteckt? Sie doch nicht!“ Er lachte bellend. „Nein ... ich nehme stark an, Sie haben sie behalten, um den schottischen Geizhals Morrison um ein nettes Sümmchen zu schröpfen – das war der Grund, nicht wahr?“ Er mochte zwar wahnsinnig sein, aber dumm war er nicht. „Keine Ehrfurcht vor dem Alter, Sie Abschaum! Nun, falls das Ihre Absicht war, haben Sie Pech gehabt. Er ist tot – und bestimmt zur Hölle gefahren. Ich habe es vor drei Wochen von unserem Agenten in New York erfahren. Das wirft Sie glatt um, was, mein Freundchen?“

Das tat es, aber nur für einen Moment. Denn wenn ich auch einer Leiche nicht die Daumenschrauben anlegen konnte – nun, das brauchte ich ja auch nicht mehr, oder? Das Vermögen dieses miesen Schurken würde seinen Töchtern zufallen, von denen meine hübsche, einfältige Elspeth ihm die liebste war – zum Kuckuck, ich war reich! Er war schätzungsweise schlappe zwei Millionen wert gewesen, und mindestens ein Viertel davon stand ihr zu – und mir. Es sei denn, der gerissene alte Knicker hatte irgendeine juristische Spitzfindigkeit ausgeheckt, um meine Pfoten davon fernzuhalten, wie er es in den vergangenen zehn Jahren getan hatte. Aber das ging nicht – Elspeth musste erben, und die konnte ich um den kleinen Finger wickeln... oder? Sie war immer in mich vernarrt gewesen, obwohl ich den Verdacht hatte, dass sie auch auf anderen Hochzeiten tanzte, wenn ich ihr den Rücken zukehrte – doch dessen konnte ich nicht sicher sein, und außerdem hatte ein gelegentliches außereheliches Techtelmechtel keine große Bedeutung gehabt, solange sie von Papa abhängig war. Aber da sie jetzt im Geld schwamm, trieb sie es womöglich mit Hinz, Kunz und Küster, und zu viel des Guten könnte ihre Begeisterung für den abwesenden Ehemann dämpfen. Wer weiß, wie sie den heimkehrenden Odysseus empfangen würde, wenn sie jetzt stinkreich und durch Auswahl verwöhnt war? Abgesehen davon, so wie ich mein hübsches Hohlköpfchen kannte, würde sie den Zaster – meinen Zaster – ausgeben wie ein besoffener Herzog an seinem Geburtstag. Je eher ich nach Hause kam, umso besser – aber dass Morrison den Löffel abgegeben hatte, war jedenfalls eine erfreuliche Nachricht.

Spring beobachtete mich scharf und mit verdrießlicher Miene, wie er es sonst mit dem Wetter tat, und da ich wusste, wie genau er auf guten Ton bedacht sein konnte, obwohl er ein mörderischer Pirat war, versuchte ich, ein feierliches Gesicht aufzusetzen, und murmelte etwas von unerwartetem Schicksalsschlag, schlimmem Unglück, unersetzlichem Verlust und so weiter und so fort.

„Das sehe ich“, höhnte er. „Von Gram zerfressen, würde ich sagen. Ich kenne die Anzeichen – ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter und dabei ein verdammtes Leuchten im Blick auf die Erbschaft. Pah, warum flennen Sie nicht noch, Sie heuchlerischer Hund? Nulli jactantius moerent, quam qui laetantur8, oder um Tacitus frei zu übersetzen, Sie zählen im Geist schon die Taler! Nun, noch haben Sie sie nicht, Bürschchen, und falls Sie London Bridge Wiedersehen wollen –“, er fletschte die Zähne, „– dann treten Sie überaus vorsichtig auf und halten Sie sich im Windschatten von John Charity Spring.“

„Was soll das heißen? Ich habe Ihnen die Papiere gegeben – Sie sind verpflichtet, für meine Sicherheit zu sorgen –“

„Oh, das werde ich, keine Bange.“ Seine unheimlich leeren Augen bekamen einen hinterlistigen Zug. „Me duce tutus eris9, und wissen Sie auch, warum? Weil Sie feststellen werden, wenn Sie nach England kommen und mit den übrigen Aasgeiern aus Morrisons Sippschaft Ihre schmutzigen Pfoten auf sein Vermögen gelegt haben, dass Sie einen erfahrenen Direktor für seine ausgedehnten maritimen Geschäfte brauchen – die legalen und die anderen.“ Er grinste mich triumphierend an. „Sie werden zwar schwer für ihn blechen müssen, aber dafür bekommen Sie einen zuverlässigen, gebildeten Geschäftsmann, der nicht nur eine Flotte dirigiert, sondern dem man auch die Sorge dafür anvertrauen kann, dass niemals indiskrete Nachforschungen hinsichtlich Ihrer jüngsten Aktivitäten in Amerika angestellt werden oder die Tatsache bekannt wird, dass Ihre Unterschrift als Lademeister in den Heuerlisten eines Sklavenschiffs zu finden ist –“

„Du lieber Himmel, Sie haben es gerade nötig!“ rief ich. „Ich bin schanghait, gekidnappt worden – und was ist mit Ihnen?“

„Verdammt noch mal, wie kommen Sie dazu, mir gegenüber diesen Ton anzuschlagen?“ brüllte er, und am Nebentisch drehten sich ein paar Köpfe um, so dass er seine Stimme auf ihren normalen Knurrton senkte. „Englische Gesetze können mich nicht schrecken; ich werde in Brest oder Calais bleiben und mein Geld in Francs oder Gulden einstreichen. Dank dieses elenden Abschaums von Paukern in Oxford, die mich aus Bosheit in die Gosse geworfen und mich meiner Würde und der Früchte meiner Gelehrsamkeit beraubt haben ...“ Seine Narbe färbte sich wieder leuchtend rot, wie sie es immer tat, wenn von Oxford die Rede war; Oriel hatte ihn rausgeschmissen, wissen Sie, weil er zweifellos im College silberne Löffel gestohlen oder den Dekan erwürgt hatte, doch er behauptete stets, das sei akademischer Futterneid gewesen. Er zuckte und zappelte vor Wut und beruhigte sich dann. „Mir hat England nichts mehr zu bieten, aber Ihre ganze Zukunft liegt dort – und davon wird verdammt wenig übrig bleiben, wenn die Wahrheit über dieses vergangene Jahr herauskommt. Die Armee? Schimpf und Schande. Ihr neu erworbenes Vermögen? Ruin. Vielleicht baumelt man Sie sogar auf“, sagte er und schmatzte mit den Lippen. „Und Ihre Frau Gemahlin würde es bestimmt schwerer haben, Zugang zu vornehmen Kreisen zu finden. In Hinsicht darauf“, fügte er gehässig hinzu, „frage ich mich, wie sie die Neuigkeit aufnehmen würde, dass ihr Mann ein wüster Hurenbock ist, der an Bord der Balliol College alles besprungen hat, was sich bewegte. Im Großen und Ganzen wäre gegenseitige Diskretion in unser beider Interesse, finden Sie nicht auch?“

Und dieser gemeingefährliche Irre grinste mich zynisch an und leerte sein Glas. „Auf der Heimreise werden wir Muße haben, das Geschäftliche zu besprechen – und Ihre humanistische Erziehung wiederaufzunehmen, deren Unterbrechung durch die aufdringlichen Mistkerle von der amerikanischen Marine Sie sicher ebenso bedauern wie ich. Hiatus valde deflendus10, wie ich Ihnen bereits gesagt habe, falls ich mich recht erinnere. Jetzt sehen Sie zu, dass Sie ausgetrunken bekommen, und dann gehen wir.“

Wie ich schon sagte, er war wirklich wahnsinnig. Wenn er glaubte, er könnte mich mit seinen lächerlichen Drohungen erpressen – er, ein in Verruf geratener und zum Piraten gewordener Universitätslehrer, der in die Klapsmühle gesperrt würde, sobald er in zivilisierter Gesellschaft seinen Mund aufmachte dann irrte er sich gewaltig. Doch ich hütete mich wohlweislich, das zu diesem Zeitpunkt zu sagen; bescheuert oder nicht, er war meine einzige Hoffnung, aus diesem widerwärtigen Land herauszukommen. Und wenn ich quer über den ganzen Atlantik sein unentwegtes Gelaber über Horaz und Ovid erdulden musste, so sei's drum; ich trank aus, schob meinen Stuhl zurück, wandte mich zum Schankraum um – und marschierte geradewegs in einen Alptraum.

Es war eine ganz gewöhnliche, banale Sache, aber sie änderte den Lauf meines Lebens, wie solche Dinge es oftmals tun. Vielleicht kam Custer dadurch ums Leben, ich weiß es nicht. Als ich meinen ersten Schritt vom Tisch fort machte, brüllte ein Mann, der an der Theke stand, vor Lachen auf, trat einen Schritt zurück und stieß mich mit seiner Schulter an. Einen Augenblick noch, und ich wäre ungesehen an ihm vorbei gewesen – aber er rempelte mich an und drehte sich um, um sich zu entschuldigen.

„Verzeihung, Sir“, sagte er, dann trafen sich unsere Blicke, und volle drei Sekunden lang standen wir erstarrt da und stierten uns in gegenseitigem Wiedererkennen an, denn dieses Gesicht hatte ich schon einmal gesehen: den struppigen Backenbart, die Narbe auf der Wange, das vorstehende Kinn, die spitze Nase und die dicht beieinander liegenden Augen. Ich erkannte es, bevor ich mich an seinen Namen erinnerte: Peter Omohundro.

1 Stadtteil in London

2 Chico Velásquez, ein Häuptling der Ute oder Yuta, war bekannt dafür, dass er sich die Hosen mit abgeschnittenen Fingern seiner Feinde schmückte.

3 Helen Hunt Jackson, Autorin von A Centruy of Dishonour, Verteidigerin der Indianerrechte und harte Kritikerin der amerikanischen Indianerpolitik.

4 Aus diesem und anderen versteckten Hinweisen geht hervor, dass dieses Paket der Memoiren 1909 und 1910 geschrieben wurde.

5 Selbst der gute Homer schläft zuweilen (d. h., auch dem Aufmerksamsten entgeht manchmal etwas).

6 Ich trage all meine Habe bei mir.

7 Die für andere Übles ersinnen, gehen oft unter (d. h., wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein).

8 Niemand zeigt falschere Trauer als der, der sich innerlich freut.

9 Mit mir als Führer wirst du sicher sein.

10 Ein sehr bedauerlicher Mangel.