Vorwort

Mehr als fünfundzwanzig Jahre sind seit jener Zeit verflossen, als sich die Begebenheiten zutrugen, welche ich auf den nachstehenden Blättern schildere. Blicke ich aus dem Gewoge und Getriebe des mich heute umrauschenden Lebens zu jenen Erlebnissen der Jugend zurück, so möchte ich oft glauben, es wäre jene Zeit, die doch so unendlich anders war als die heutige Zeit, nie gewesen. Aber um so mächtiger und klarer steigt dann das Bild der Vergangenheit vor mir herauf, bis in die kleinsten Einzelheiten vermag ich es zu durchschauen und kaum bedarf es eines Blickes auf das vor mir liegende vergilbte Schreibheft, worin ich in kurzen Worten einst das Wichtigste von dem verzeichnete, was ich als hannoverscher Soldat im alten Lüneburg, sowie auf dem mir unvergeßlichem Zuge nach Langensalza sah und erlebte.

Wenn ich mich in meinen Schilderungen nicht damit begnügte, lediglich Das wieder zu erzählen, was ein allgemeines historisches Interesse haben könnte, vielmehr Dinge, Zustände und Begebenheiten ganz nach dem Eindrucke schilderte, den ich seiner Zeit davon empfangen habe, so glaube ich dazu eine gewisse Berechtigung zu haben. Ich verfolge mit meiner Erzählung nicht den Zweck, Beiträge zur Geschichtsschreibung zu liefern – denn das wird jeder Officier, dem seine Stellung einen Überblick über die Verhältnisse gewährte, hundertmal besser können: ich will lediglich schildern, wie es einem hannoverschen Soldaten, der mit dem Gewehr in der Hand in Reih und Glied stand, in jenen Tagen ums Herz war. Es mag mir dabei verziehen werden, wenn ich in meinen Erinnerungen hie und da von der eigentlichen Sache abschweife und Fernliegendes in den Kreis meiner Betrachtungen ziehe oder auch auf Vorhergeschehenes zurückgreife. Wie der Strom, wenn wir ihn aufwärts bis zu seinen ursprünglichen Anfängen verfolgen, sich in kleinere und größere Zuflüsse, Bäche und Quellen auflöst, so auch entstand aus mancherlei Nebensächlichem, aus dem Kleinen und vielfach Unbedeutenden heraus das Gesammtbild der Stimmungen und Eindrücke, das ich dem gütigen Leser auf den nachfolgenden Blättern möglichst getreu und wahr vor Augen zu führen mich bemühte.

Friedrich Freudenthal

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Vorwort

1. Jugenderinnerungen.

2. Vorbereitungen zum freiwilligen Eintritt und Abschied vom Heimathsdorfe.

3. Auf der Wanderung nach der Garnison.

4. Einkehr bei Cord Wübbe.

5. In Harburg.

6. Der erste Tag in Lüneburg.

7. Das fidele Quartier.

8. Hannoversche Garnison- und Armeeverhältnisse.

9. Im Freiquartier bei Meister Dömitz.

10. Einiges über Ausrüstung und Ausbildung des hannoverschen Infanteristen.

11. Das alte Lüneburg.

12. Ein dienstfreier Nachmittag.

13. Meister Dömitz politisiert und prophezeit Krieg.

14. Das „Naturwunder“ im Kaltenmoor und das Nachtmanöver.

15. Die Preußen kommen!

16. Der 15. Juni 1866.

17. Eisenbahnfahrt von Lüneburg bis Göttingen.

18. Marsch nach Ballenhausen.

19. Ruhe- und Friedenstage in Ballenhausen und Sieboldshausen.

20. Die Wehrhaftmachung der Armee in Göttingen in den Tagen vom 16. bis zum 21. Juni.

21. Der erste Marschtag.

22. Weitermarsch über Mühlhausen. Biwak bei Seebach.

23. Marsch durch den Hainich. Biwak bei Osterbehringen.

24. Die Brigade Bülow vor Eisenach am 24. Juni.

25. Rückblick auf die Gesammtoperationen der Armee während der Zeit vom 21. bis zum 26. Juni.

26. Weitermarsch am 26. Juni. Biwak hinter der Unstrut bei Thamsbrück.

27. Die Schlacht bei Langensalza.

28. Der Tag nach der Schlacht.

29. Die Capitulation.

30. In die Heimath!

1.
Jugenderinnerungen.

In einem einsam gelegenen Dorfe der Heide, im Hause meiner Großeltern, verlebte ich meine früheste Jugend, die Zeit von meinem vierten bis zum fünfzehnten Lebensjahre. Mein Großvater war Lehrer des Ortes. Schon frühzeitig traten Wißbegierde und der Drang nach Ausbildung bei mir hervor. Soviel mein Großvater dies bei seinem anstrengenden Beruf – er hatte nicht selten 110–120 Kinder in seiner Klasse zu unterrichten – ermöglichen konnte, suchte er mein Bestreben durch Privatunterricht, den er mir namentlich in den langen Winterabenden ertheilte, zu fördern; im Uebrigen mußten Bücher aushelfen, die ich theils in der bescheidenen Büchersammlung meines würdigen Erziehers vorfand, theils bei verschiedenen Bewohnern des Dorfes zusammenborgte. Fast kein Haus des ziemlich großen Ortes blieb von meinen Fahndungen auf Bücher und lesbare Gegenstände verschont; meistens bestand aber die Ausbeute nur in alten Kalendern und Volksbüchern. Von letzteren erinnere ich mich noch der Geschichten von Eulenspiegel, von der schönen Magelone, von dem Ritter Peter mit den silbernen Schlüsseln, von den vier Haimonskindern, vom gehörnten Siegfried, von der unschuldig verstoßenen Genoveva u. a. m. Einigemale gerieth auch ein Jahrgang des in den vierziger Jahren von W. Schröder herausgegebenen Hannoverschen Volksblattes in meine Hände; hier waren es die Schilderungen hannoverscher Kriegszüge und der Abenteuer hannoverscher Soldaten, die mich ganz besonders anzogen. Auch durch Erzählungen alter Leute im Dorfe, die die Zeit der französischen Besitznahme im Anfange dieses Jahrhunderts noch mit erlebten, wußte ich mir Kenntniß von den damaligen kriegerischen Ereignissen zu verschaffen.

Es lebten noch zwei alte „Waterlooer“ im Dorfe, deren einer unser nächster Nachbar war. Er hatte im Landwehrbataillon Verden gedient und bei Quatrebras und Waterloo mitgekämpft. Ich besuchte den alten Vater Hans Jürgen W. – im Dorfe wurde er der Sitte gemäß nach dem Hausnamen „Kösters Vader“ genannt – sehr oft in seinem kleinen ärmlichen Altentheilstübchen, das er mit seiner auch schon betagten Ehegenossin bewohnte. Er saß dann mit dem Strickstrumpf von grober Wolle in der Hand auf einem mit gespaltenen Weidenruthen beflochtenen Eichenstuhl, einem Hausgeräth, welches er, wie manche andere Gegenstände in seiner Wohnung, mit eigener Hand angefertigt hatte und welches zwar dem Aeußern nach gerade nicht viel Kunst- und Stilgemäßes verrieth, dafür aber wieder den Eindruck großer Dauerhaftigkeit und Widerstandsfähigkeit machte und somit zu der knorrigen und zähen Figur des alten Waterloomannes vortrefflich paßte.

Während „Köster’s Vader“ erzählte, sah er grade vor sich weg oder auch auf die Arbeit, welche er in den Händen hielt, und unaufhörlich wickelte sich der grobe Wollenfaden von dem Knäuel ab, welches dem Alten auf der Brust an einem an der Jacke befestigten Messinghaken hing. Er wandte bei seinen Erzählungen nicht die geringsten rednerischen Kunstfertigkeiten oder Gesten an, wie man sie selbst bei Erzählern aus dem Volke häufig findet, kaum daß die Stimme sich hier und da etwas hob und etwas lebhafter wurde – und doch, wie wirksam waren die einfachen Schilderungen der blutigen Kämpfe in jenen ruhmreichen Tagen von Quatrebras und Waterloo. Man sah ihn deutlich vor Augen, den braven Major Christoph von der Decken – von seinen Leuten „de ole Christawer“ genannt – wie er bei Waterloo, im heftigsten Feuer ruhig seine kurze Pfeife rauchend, mitten im Carré hielt und vom Pferde herab die junge, des Kampfes ungewohnte Mannschaft in plattdeutscher Sprache und unter allerlei humoristischen Redewendungen zum Widerstande gegen die unaufhörlich anstürmenden französischen Cavalleriemassen anfeuerte. Und dann die weiteren Einzelheiten des gewaltigen Kampfes, die verheerende Wirkung des französischen Artilleriefeuers, das Hin- und Herwogen der Schlacht, das Gestöhn der Sterbenden und Verwundeten, der Angriff der Kaisergarde, die sich gegen 7 Uhr Abends, eine gewaltige verderbendrohende Colonne, auf die englisch-hannoversche Stellung warf, auf 50 Schritt mit einer vernichtenden Salve empfangen und dann mit dem Bajonett angegriffen, durchbrochen und über den Haufen geworfen wurde; die Schilderung von der Flucht jener stolzen, sieggewohnten Krieger, von dem Angriff der auf der ganzen Linie unter betäubendem, vieltausendstimmigem Victoria- und Hurrahgeschrei vorrückenden Engländer und Hannoveraner – das Alles machte auf mich, der ich den Worten des Alten mit fast athemloser Spannung horchte, einen unauslöschlichen Eindruck und nicht müde wurde ich, mir von ihm immer wieder auf’s Neue „von Waterloo“ erzählen zu lassen. Da ich, wie er wußte, stets ein dankbarer und aufmerksamer Zuhörer war, so brauchte ich ihn niemals lange zu bitten.

Die würdige Ehehälfte des alten Invaliden, bei welcher leider eine gleiche Begeisterung für alte Kriegsgeschichten nicht vorhanden zu sein schien, pflegte jedoch oft Einspruch zu erheben, „Gott, Vader,“ sagte sie dann wohl, „wullt Du all wedder von Din Kriegerreisen vertellen? Wat däst Du da na Waterloo henn to lopen? Harrst dor wegbliewen schöllt, denn harrn de Franzosen Di ok nich dör dat Been schaten!“

„Ol dumme Wiew,“ brauste dann der Alte auf, „kann mi argern öwer so’n mallen Snack! Harrn wi Bunnepart bi Waterloo nich den Paß verleggt, denn harr’t ja Dütschland mitsammts Hannoverland in Ewigkeit slecht gahn! Weeßt doch good genoog, wat de Musjöhs hier hus’t hebbt, as se hier wören.“

Nach solcher Unterbrechung wurde dann der Faden der Erzählung wieder aufgenommen und für dieses Mal blieben wir von weiterer Störung verschont.

Der alte Invalide ist längst dahingegangen, seit fünfundzwanzig Jahren ruht er schon mit seinem braven vaterlandsgetreuen Herzen in kühler Erde, Niemand weiß mehr die Stätte, wo er begraben liegt, und das Haus, worin er wohnte, ist vor Jahren abgebrochen; aber dennoch lebt er in meinen Erinnerungen fort und noch oft sehe ich ihn im Geiste vor mir, wie einst in seiner dürftigen Behausung, oder ich sehe ihn in der kleinen Dorfkirche auf gewohntem Platze, wo er allsonntäglich zu sitzen pflegte in verschlissenem, ärmlichen Gewande zwar, aber mit der silbernen Waterloo-Medaille am blau-rothen Bande auf der Brust. Friede seinem Staube und Ehre seinem Andenken!

Noch andere alte Veteranen, von der Göhrde und Waterloo, lernte ich in meiner Jugend kennen, ja sogar ein alter Legionär war darunter, der die Feldzüge in Spanien und Portugal mitmachte. Sie alle trugen durch ihre Erzählungen dazu bei, daß das Vaterlandsgefühl in mir mächtig erstarkte und später in meinem ganzen Lebensgange stets eine vorherrschende Stellung behauptete. Als ich daher in meinem 15. Jahre die Dorfschule verließ und mein Streben nach weiterer Ausbildung keine wirksame Unterstützung fand, richteten sich naturgemäß meine Blicke auf die Armee. Ich hielt es für ehrenhaft, dem Könige und Vaterlande als Soldat zu dienen und gleichzeitig hoffte ich, daß ich in der Garnison leichter Gelegenheit finden würde, meinen Wissensdurst zu befriedigen.

Ich hätte gleich nach der Confirmation als Spielmann eintreten können, aber dazu war ich nicht sehr geneigt. Signalhorn und Querflöte blasen und die Trommel „rühren“, wie im Soldatenliede der „kleine Tambour Veit“, das waren Beschäftigungen, denen ich keinen rechten Geschmack abgewinnen konnte. So wurde denn von meinen Eltern, welche inzwischen von ihrem bisherigen Wohnorte in das Haus meiner Großeltern übergesiedelt waren, beschlossen, daß ich noch zuvor einige Jahre im Schreibfache thätig sein sollte.

Es fand sich für mich eine Stelle bei einem Gerichtsvogt in dem einige Tagereisen von meinem Heimathsdorfe F... entfernten Kirchdorfe L... Dort hatte ich von Pfingsten 1864 bis Ostern 1866 Gelegenheit, die Leiden und Freuden eines Schreiberjungen nach allen Richtungen hin kennen zu lernen. Zu den Freuden rechne ich die Stunden, die ich in der Wohnung eines alten Mannes, des Klempners Sp..., verbringen konnte. Er war Veteran von Waterloo und hatte unter Major Baring La Haye Sainte mit vertheidigen helfen. Obschon halb erblindet, war der alte Mann noch eifrig in seinem Geschäft thätig. Ich pflegte ihn häufig an Sonntagnachmittagen zu besuchen. Natürlich bildeten die Kriegserlebnisse des alten Mannes dann das Hauptthema unserer Unterhaltung.

In jenem Orte wohnte auch ein alter Kanonier von Waterloo. Von ihm hörte ich oft erzählen, wie er und die anderen Kanoniere der Batterie jedesmal von den Geschützen zu den Carrés flüchteten, wenn die französische Cavallerie herangebraust kam. Hatten sie etwas lange gezögert und war dann das betreffende Carré schon geschlossen, so warfen sie sich vor der Front desselben auf die Erde und suchten Schutz unter den vorgestreckten Bajonetten.

Einen Kameraden des Letzteren lernte ich einige Jahre später bei irgend einer Gelegenheit kennen. Er war Seminarwärter zu St ... und hatte sich die Eigenthümlichkeit angewöhnt, daß er statt Waterloo immer „Wasserloo“ sagte. Wahrscheinlich hatte die Bildungsstätte, deren Räume seiner Aufsicht anvertraut waren, so verfeinernd auf ihn eingewirkt, daß er es für seine Pflicht hielt, das ehrliche niederdeutsche Wort zu verballhornen. Seine Erzählungen von der „Schlacht bei Wasserloo“ machten in Folge dessen stets einen mehr komischen, als ernsten Eindruck auf mich.

2.
Vorbereitungen zum freiwilligen Eintritt und Abschied vom Heimathsdorfe.

Als der Frühling des Jahres 1866 herannahte, hielt es mich nicht länger in der Schreibstube. Mit Einwilligung meiner Eltern gab ich meine Stellung auf, und in den letzten Tagen des März traf ich in der Heimath ein. Am 1. April wurde das Osterfest gefeiert und am 16. desselben Monats fand die alljährliche Rekruteneinstellung statt. Es wurde beschlossen, daß ich mich in Lüneburg bei dem Districts-Commissär zum freiwilligen Eintritt in das 3. in Hannover in Garnison stehende Jägerbataillon melden sollte.

Mein Wunsch war eigentlich, bei der Cavallerie zu dienen, aber meine Eltern erhoben ernstlichen Einspruch. Der Dienst bei dieser Waffe schien ihnen zu schwer und zu gefahrvoll; sie wußten von so vielen Unglücksfällen zu erzählen, die durch schlagende, beißende oder durchgegangene Pferde verursacht worden waren, daß es mir noch heute ein Räthsel ist, auf welche Weise sie damals zu einem so zahlreichen Schatz beklagenswerther hippologischer Ereignisse gelangt sein konnten.

Mit dem leichten Sinne der Jugend wußte ich mich über diese erste Enttäuschung hinwegzusetzen. Bei mir hieß es damals: Soldat um jeden Preis! Hatte ich mich bislang in meinen kindischen Träumereien als „kühner Reitersmann“ auf „stolzem Rosse“ mit dem „blitzenden Schwert“ in der Hand einhersprengen sehen, so stieg ich jetzt mit guter Fassung einige Stufen herab – Jägerbüchse und Käppi mit Roßschweif, sowie der grüne Rock mit schwarzen Kragen bildeten von nun an den Mittelpunkt meiner Zukunftsgedanken.

Die wenigen Wochen, welche mir bis zu meinem Eintritt verblieben, vergingen sehr rasch und so war denn der Tag meiner Abreise – es war dieselbe auf den 13. April festgesetzt – nahe und ich mußte die nöthigen Vorbereitungen zu meinem Vorhaben treffen. Weitläufiger Schreibereien bedurfte es dazu allerdings nicht. Eine kurze Bescheinigung des Ortsvorstehers, wodurch man sich nöthigenfalls legitimieren konnte, genügte. Als Alter des freiwilligen Eintritts beim Militär war das 17. Lebensjahr festgesetzt, ich hatte dasselbe noch nicht völlig erreicht, aber da man in hannoverscher Zeit nicht so ängstlich auf den Buchstaben sah und ich überdies, wenn auch nicht gerade groß, doch ziemlich zäh und kräftig war, so zweifelte ich nicht, daß ich angenommen werden würde.

Der Ortsvorsteher, welcher mir die Bescheinigung ausstellte, hielt große Stücke auf mich, er hatte mir immer mit großer Bereitwilligkeit Bücher geliehen, von denen er eine ziemliche Sammlung besaß. Jedesmal, wenn er – was häufig vorkam – eine Reise nach Hamburg machte, brachte er außer sonstigen für die Haushaltung erforderlichen Waaren auch ein Quantum geistiger Nahrung mit, die er „up de Kahr“, das heißt von jenen „fliegenden“ Antiquaren einkaufte, welche ihre Bücherschätze am Hopfenmarkt und auf anderen öffentlichen Plätzen auf einer dazu hergerichteten Karre feil zu halten pflegen. Von diesen Reisen war ich meistens schon vorher unterrichtet und mit großer Spannung harrte ich jedesmal der Rückkehr meines Gönners, denn es war unter uns eine stillschweigende Abmachung, daß ich die mitgebrachten Bücher zuerst zum Durchlesen erhielt. Dieses Wohlwollen, welches der gute Mann mir von jeher erzeigte, hatte durch meine zweijährige Abwesenheit keine Veränderung erlitten. Er wünschte mir das beste Fortkommen und ließ es sich nicht nehmen, mir auf das Bündigste zu bescheinigen, daß ich mir „keine Schlechtigkeit hätte zu Schulden kommen lassen und auch sonst mit der Feder gut umzuspringen wüßte“. Damit war diese Sache erledigt und es blieb mir nur noch die Aufgabe, mich von guten Freunden und Bekannten, „getreuen Nachbarn und desgleichen“ zu verabschieden. Da nun die Bewohner eines weltfernen Dorfes gewissermaßen eine große Familie bilden – selbstverständlich nicht dem Verwandtschaftsgrade, sondern der Art des Zusammenlebens nach, wie solches sich seit uralter Zeit herausbildete –, so waren die Abschiedsbesuche, welche ich abzuhalten hatte, recht zahlreich und erforderten fast den ganzen mir noch verbliebenen freien Tag.

Am Abende dieses Tages, als die Dämmerung bereits herein zu brechen begann, wanderte ich noch einmal die in friedlicher Stille sich zeigende Dorfstraße entlang. Ziemlich am Ende des Dorfes angekommen, lenkten meine Schritte sich allmählich einem etwas abseits gelegenen Gehöft zu. Obschon ich mich nun der Gedanken und Absichten, mit denen sich damals mein jugendliches Herz beschäftigte, heute nicht ganz klar mehr entsinne, so glaube ich doch, daß, wenn ich die Goethe’schen Verse

„Ich ging – –

So für mich hin

Und nichts zu suchen

Das war mein Sinn – –“

auf meine abendliche Wanderung hätte anwenden wollen, dies der „Logik der Thatsachen“ nicht völlig entsprochen hätte. Auch weiß ich bestimmt, daß ich nicht, wie der Goethe’sche Wanderer, „im Schatten ein Blümchen stehn“ sah, denn es war ja im April und Blumen und Waldesschatten gab es noch nicht – dafür aber erschienen mir sehr bald „wie Sterne leuchtend zwei Äuglein schön“ und zwar keine Blumenaugen, sondern liebe freundliche Menschenaugen. Als ich nämlich die Umzäunung des Gehöfts erreicht hatte, traf ich an der zum Uebersteigen der Einfriedung dienenden Vorrichtung, im Plattdeutschen „Stägel“ genannt, mit der Tochter des Höfners zusammen. Es war dies ein junges Mädchen von 18 Jahren, meine Jugendfreundin und Schulkameradin. Blauäugig und blondhaarig, schlank von Wuchs und mit hübschen, freundlichen Gesichtszügen ausgestattet, erschien Anna H... mir natürlich als der Inbegriff aller weiblichen Schönheit und Vollkommenheit.

Meine Freundin setzte sich auf das niedrige bankartige „Stägel“ und begann allerliebst zu plaudern von allerlei nichtssagenden Dingen, während ich, an den Zaun gelehnt, ihr zuhörte, oder auch ihre meist scherzhaften Reden nach besten Kräften zu erwidern versuchte. Anna vergaß bei alledem nicht, an dem baumwollenen Strickstrumpf, den sie in den Händen hielt, eifrig weiter zu stricken, was mir gar so recht nicht gefiel, denn wenn sie ab und zu lächelnd zu mir auf sah und ich gerade im Begriff stand, mich mit einem schwärmerischen Blick in die „unergründlich süße Nacht“ ihrer lieben Augen zu vertiefen, machte mir zu oft der böse Strickstrumpf einen Strich durch die Rechnung. Irgend eine entschlüpfte Masche oder ein sonstiges Hinderniß erforderte plötzlich Anna’s Aufmerksamkeit, ihr Blick wich dem meinen aus und wandte sich dem Werkzeuge zu, das sie in der Hand hielt, und statt in die schönen blauen Augen meiner Freundin zu schauen, mußte ich dann ohne daß ich es wollte auf die langweilige Fläche des im Werden begriffenen Strumpfes blicken. Dies verursachte mir jedesmal Mißbehagen und ich führe es auf jenen Abend zurück, daß ich mit der Zeit eine große Abneigung gegen „blaue Strümpfe“ jeder Art faßte.

Mittlerweile war die Dämmerung weiter fortgeschritten und ein Stündchen mochte uns Beiden in unschuldigem Geplauder vergangen sein. Anna schickte sich an, das Gespräch abzubrechen. Sie mußte sich, wie sie sagte, wieder ins Haus begeben, sonst würde sie von ihrer Mutter ausgescholten. Während sie das Strickzeug kunstgerecht zusammenrollte und dann Knäuel und Strumpf mit der mit der maschenfreien Nadel durchbohrte, richtete sie in scheinbar unbefangenem und gleichgültigem Tone die Frage an mich, ob ich in Lüneburg wohl Zeit behalten würde, Claus Eggers – den Sohn eines benachbarten Besitzers –, der bei der 8. Compagnie des 5. Infanterie-Regiments diene, aufzusuchen. Als ich meiner Freundin entgegnete, daß sich dies wohl ermöglichen lassen würde, bat sie mich, an Claus einen Gruß von ihr zu bestellen. Ich versprach, ihren Auftrag gerne ausführen zu wollen, denn Claus Eggers war auch mir befreundet, obschon er 3–4 Jahre älter war als ich.

Nach Erledigung dieses Zwischenfalles reichte Anna mir die Hand und wir nahmen Abschied von einander. Ich bat meine Freundin, mir ein freundliches Andenken zu bewahren; sie versprach mir dies und wünschte mir alles Gute auf den Weg. Mit den althergebrachten treuherzigen Worten: „Bliew gesund un munter, Fritz! Lat di’t man recht good gahn!“ ging sie von mir. Von Weitem rief sie mir noch eine „Gute Nacht“ zu, dann verschwand sie in der Thür ihres väterlichen Hauses und ich wandte mich der Straße zu und begab mich auf den Heimweg.

Die Nacht war inzwischen völlig hereingebrochen. Eine milde, warme Frühlingsnacht war es die sich auf das Dorf herniedersenkte und Wiesen und Felder, sowie den Wald und die Heide in der Ferne in schwarze, undurchsichtige Schatten einhüllte. Die Bewohner der Bauernhäuser und Kathen, an denen mein Weg vorüber führte, ruhten meistens schon von der schweren Arbeit des Tages, nur in einzelnen Häusern noch stand die der Straße zugekehrte große Thür, welche die Einfahrt zur Diele bildet, offen und man sah die Bewohner bei dem auf dem niedrigen Herde hell brennenden Feuer beschäftigt. Vielleicht mengten die Frauen Teig an – „Süern“ nennt man dies in Plattdeutsch –, um am andern Tage Brod zu backen, oder eine andere unaufschiebbare Arbeit hielt die Insassen noch wach.

Friedliche Stille herrschte ringsum, kein Lüftchen regte sich in den noch unbelaubten Zweigen der hochstämmigen Eichen und Buchen auf den Hofplätzen; aus der Ferne erscholl allerdings der Gesang der Burschen und Mädchen, die sich zu frohem Zeitvertreib im Dorfe auf dem Platze bei der Linde versammelt hatten, und in den Pausen machte sich das Gequack der Frösche bemerkbar, welche in den Sümpfen einer in der Nähe des Dorfes gelegenen Niederung hausten. Diese braven unverwüstlichen Frühlingsbassisten ließen ihre Stimmen aber nur erst noch vereinzelt und unter bescheidenem Kraftaufwand ertönen. Es war das Piano des Erprobens und richtigen Abwägens der Stimmen; jeder feucht-versumpfte Sangesbruder übte noch für sich allein. Von einem kräftigen anhaltenden Chorgesange konnte noch nicht die Rede sein, dazu war die Saison noch nicht weit genug vorgeschritten.

Vom Dorfe herüber erklang es indessen:

„Morgen will mein Lieb abreisen,

Abschied nehmen mit Gewalt...

– – –

Laub und Gras das mag verwelken,

Aber treue Liebe nicht;

Kommst Du mir gleich aus den Augen,

Doch aus meinem Herzen nicht.“

Ohne über den Inhalt des alten Volksliedes weiter nachzudenken, stimmte mich die schwermüthig-langgezogene Weise ernst und wehmüthig und unter dem Eindruck dieser Stimmung erreichte ich die Behausung meiner Eltern.

3.
Auf der Wanderung nach der Garnison.

Es war im Familienrathe beschlossen worden, daß mein Vater mir bis Lüneburg das Geleite geben sollte.

Also begaben wir Beide uns am folgenden Tage früh Morgens auf die Reise. Bis Harburg, welches etwa 4 bis 5 Meilen entfernt war, gedachten wir zu Fuß zu wandern; von dort wollten wir zur weiteren Reise die Bahn benutzen.

Die Mehrzahl der Eisenbahnlinien, welche jetzt die Heide durchschneiden, war damals noch nicht vorhanden; die Strecke Bremen-Hamburg war allerdings vermessen und von der Regierung genehmigt, aber noch nicht im Bau begriffen. Auf den Landstraßen gab es allerdings Post- und Omnibusfuhrwerke, aber die Fahrzeiten waren meistens auf die Nacht verlegt, auch war das Reisen mit der Post ziemlich kostspielig. Man mußte sich also, besaß man kein eigenes Fuhrwerk, auf Schusters Rappen verlassen. Fußwanderungen von 10 bis 12 Stunden waren nichts Ungewöhnliches; ich selber bin solche und noch weitere Strecken oft in einem Tage marschirt. Die jungen Bursche im Dorfe, welche in Hannover bei den Gardetruppen dienten, legten den 16stündigen Weg bis dahin regelmäßig in einer Tour zu Fuß zurück. Das waren gute Vorübungen, um marschfähige Soldaten zu erzielen, mit denen es möglich war Außerordentliches zu leisten. So legten, wie nebenbei bemerkt werden mag, im Holsteinischen Feldzuge am 29. Mai 1848 die 5. und 7. Compagnie vom Lüneburger Regiment (deren Mannschaften vorwiegend der Heide entstammten), um an dem Gefecht bei der Nübeler Mühle theilnehmen zu können, in 38 Stunden ein Strecke von 26 Stunden Entfernung zurück, ohne daß sie einen einzigen Mann als marode hätten zurücklassen müssen. Eine erstaunliche Leistung, wenn man bedenkt, daß dieser Marsch bei große Hitze ausgeführt wurde und daß zu damaliger Zeit die Infanterie viel schwerer bepackt war als heutigen Tages.

Es wäre zu wünschen, wenn in unserem Zeitalter, wo die große Mehrzahl der Handwerksgesellen (von den wohlhabenden Classen gar nicht zu reden) mit der Bahn fährt und ein Marsch von wenigen Meilen als eine große Kraftleistung gilt, Gottfried Seumes Wahlspruch: „Vieles ginge besser, wenn man mehr ginge“, wieder beherzigt würde. Man sollte sich darauf besinnen, daß die Natur uns die Füße nicht gab, um sie in modisch enge Stiefelchen einzuzwängen, daß der Mensch nicht lediglich geschaffen ist, um sich von der Locomotive oder von dienstbereiten Vierfüßlern von einem Ort zum anderen schleppen zu lassen. Körper, Geist und Gemüth würden gewinnen und die Menschen sich näher kommen, wenn man wieder mehr auf eigenen Füßen sich einher bewegte, sich die Welt mehr auf freier Wanderung über Berg und Thal, durch Wald und Heide ansähe, als durch die von Staub und Wasserdunst getrübten Fenster eines Eisenbahncoupees.

Früh um fünf Uhr hielten wir unseren Auszug. Ein sonniger, herrlicher Frühlingsmorgen lag über dem Dorfe. Aus den Giebelöffnungen und Schornsteinen der strohgedeckten Häuser stieg blauer Rauch empor, die Pferde wieherten in den Ställen und auf den Hofplätzen und Zäunen krähten lustig die Hähne, umgeben von der gackernden und scharrenden Hühnerschaar; Gänse streckten unter vorlautem Geschnatter die Hälse in schlangenartigen Windungen durch die Lücken der Einfriedungen und hier und da begrüßte uns ein zottiger Hofhund mit fröhlichem Gebell und vertrautem Wedeln des buschigen Schweifes. Oft trat dann der Besitzer des Hauses, durch das Gekläff neugierig gemacht, vor die Thür und frug nach unserem Vorhaben und nach dem Ziel unserer Reise.

Außerhalb des Dorfes, im Felde, wo frischgrüne Saaten sich weithin erstreckten, sowie in der braunen Heide, die uns umgab, als wir Dorf und Feldmark im Rücken hatten, begrüßte uns vielstimmiger Sang munterer Lerchen. Klar und rein, durch keine Wolke getrübt, wölbte sich über uns der blaue Äther. Ein frostiger Hauch hatte vor Sonnenaufgang die während der Nacht aufgestiegenen Wasserdünste zertheilt und zu Boden geschlagen, zu Millionen Tropfen verdichtet hingen die blinkenden Thauperlen an den Spitzen der Grashalme und an den Zweiglein des braunen Heidekrautes.

Durch die Aussicht auf den von allen Seiten sich ankündenden herrlichen Frühlingstag in beste Stimmung versetzt wanderten mein Vater und ich fröhlich unseres Weges. In dem nächsten Dorfe hielten wir eine kurze Rast. Es wohnte dort in einem einsamen Hüttlein unfern des Weges ein altes Mütterlein, die Schwester meines Großvaters. Von ihr mußte noch Abschied genommen werden.

Wir trafen die Großtante am Heerdfeuer. Sie saß auf einem niedrigen strohbeflochtenen Schemel und stocherte mit der Feuerzange in die Asche. Augenscheinlich war sie beschäftigt, sich den Morgencaffee zuzubereiten. Als wir sie begrüßten, sah sie erfreut auf und reichte uns mit einem herzlichen, „Willkommen!“ die Hand. Wir erwiderten den Gruß mit dem herkömmlichen „Dank ok!“ und setzten das Mütterchen sodann von unserem Vorhaben in Kenntniß. Unser Besuch währte jedoch nur kurze Zeit, denn ein weiter Weg lag noch vor uns. Beim Abschiede umfaßte die Greisin mit ihren mageren, knochigen, in einem langen arbeitsvollen Leben rauh und hart gewordenen Händen meine Rechte und redete mit vermahnenden, ernsten Worten auf mich ein, mich dabei gleichzeitig mit ihren klaren Augen so treuherzig-innig anschauend, daß ich ganz bewegt wurde und jene Scene sich meinem Gedächtnis für mein ganzes Leben unauslöschlich einprägte. „Wat Di ok bevörsteiht, min beste Jung,“ – so ungefähr sprach sie – „vergitt Din Heimath un Dinen Gott nich! Wenn Du de twe Deel blos fast hollst, denn kann Di dat nümmer slecht gahn. Ick hev all Veele kennt, de wied in de Weld ’rüm kömen un naher ehr Heimath verachten un öwer datt spotten dä’n, wat jüm in de Jugend lehrt wör, awer ick glöw nich, dat dat en’n Menschen glüklich maken kann. Lewer nich geboren, as Heimath un Gotts Word verloren! Dat pleg ick daför to holen, min Jung. Süh, nu lat Di dat good gahn, min Beste, ick bün nich bang um Di!“