Valerio Varesi

Mit leeren Händen

Commissario Soneri verfolgt eine Spur

Deutsch von Karin Rother

 

Für Simona Mammano für die wertvollen Ratschläge, sowohl die ermittlungstechnischen als auch die anderen. Für Paola Pioppi, die «Frau in Gelb» aus der Brianza, die den Anstoß zu diesem Roman gegeben hat.

 

Für Ilde und die anderen «Mädels» vom Frassinelli-Verlag, die sich so liebevoll um meine Bücher kümmern.

Wieder wartete die Stadt vergeblich auf Regen. Am späten Vormittag waren ein paar vielversprechende Wolken hinter dem Dom aufgetaucht, hatten sich jedoch eine Stunde später in der Hitzeglocke aufgelöst. Dann kam die Sonne wieder zum Vorschein und heizte die Häuser langsam auf, als wolle sie die Stadt auf kleiner Flamme garen, und Soneri begann von neuem, in seinem Leinenhemd unaufhörlich vor sich hin zu schwitzen. Juvara litt noch stärker. Der Commissario hatte nur einen spöttischen Blick für seinen Inspektor übrig, als der versuchte, die kaputte Klimaanlage wieder in Gang zu setzen. Nachdem der Regen einen weiteren Tag ausgeblieben war, konnte man sich einfach nichts mehr vormachen. Die Hitze lauerte unerbittlich am Straßenrand, im klebrigen Asphalt, zwischen den kochend heißen Autos. Soneri öffnete das Fenster, und die Luft schlug ihm entgegen wie der faulige Atem einer Kuh. Im gleichen Augenblick fuhr eine Polizeistreife mit quietschenden Reifen davon, Motoren heulten auf, und Beamte eilten in den Hof. Die Anspannung entlud sich nun also auf andere Art, dachte der Commissario, und ihm fiel auf, dass sich das düstere Blau der Wolken am Himmel nur unwesentlich vom Blau der Uniformen hier unten unterschied.

«Was ist passiert?»

Statt dem Commissario zu antworten, stellte Juvara das Funkgerät lauter, und die aufgeregte Stimme des Streifenchefs Pasquariello schallte durch die Räume des Einsatzkommandos. «Ein Raubüberfall», fasste Juvara zusammen. «Vier Vollidioten haben die Sparkasse mit Einwegspritzen überfallen.»

Mit atemlosen Stimmen meldeten die Beamten den Coup, der alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie forderten Verstärkung an, um die Fluchtwege zu blockieren. Zwei der Bankräuber waren mit einem Moped geflüchtet, die anderen beiden in unterschiedliche Richtungen davongerannt. Mit einem Auto in den Gassen der Altstadt nach ihnen zu suchen war nicht einfach. Weitere Streifenwagen rasten davon.

«Eine Schlägerei vor der Bar in der Via Trento 13», brüllte Pasquariello jetzt. «Mindestens fünfzehn Leute, die mit Flaschen aufeinander losgehen», gab er an die Streifenwagen im Bezirk weiter.

«Sollen wir die Vettern um Verstärkung bitten?», schaltete sich die raue Stimme des stellvertretenden Polizeipräsidenten ein, womit er die Carabinieri meinte. Das Keuchen eines Beamten, der die Bankräuber verfolgte und kaum Luft zum Sprechen bekam, unterbrach ihn: «Wir haben einen von ihnen geortet … Er flüchtet zu Fuß in Richtung Barriera Repubblica …» Er verstummte, um Atem zu schöpfen, bevor er versuchte, den Mann zu beschreiben: «Er trägt ein blaues T-Shirt, Jeans und weiße Turnschuhe.» Man hörte die Schritte des Polizisten, die den Flüchtigen ohne große Aussicht auf Erfolg verfolgten, und mit Unbehagen dachte Soneri daran, was es bedeutete, durch die sengende Hitze rennen zu müssen.

Es war, als würde die Stadt plötzlich von dröhnendem Donner erschüttert. In der Via Langhirano bedrohte ein Verrückter die Passanten mit einem Messer.

«Im Sommer sperren sie die Käfige auf», knurrte Soneri in Anspielung auf die Geisteskranken, die im August Freigang bekamen und durch die menschenleere Stadt spazierten.

«Es wird nicht mehr lange dauern, bis sie uns um Unterstützung bitten», meinte Juvara. «Noch ein Notfall, und sie haben keine Streifen mehr.»

Auf der verlassenen Piazza im Hof, dort, wo die Sonne am heftigsten brannte, verschwammen die Konturen in der flirrenden Luft.

«Wenn es erst wieder ordentlich regnet, legt sich das schnell wieder», sinnierte der Commissario.

«Wenn es nur überhaupt endlich regnen würde», stöhnte der Inspektor, fächelte sich mit einer Akte Luft zu und begann dann erneut, die Knöpfe an der Fernsteuerung der Klimaanlage zu studieren.

Wieder meldeten sich Stimmen über Funk. Ein Beamter bat die Zentrale darum, einen Krankenwagen in die Via Trento zu schicken: Bei der Schlägerei waren zwei Personen verletzt worden und hatten Schnittwunden davongetragen. Im Hintergrund hörte man Geschrei. Dann wieder den Beamten, der warnte, dass sie die Lage nicht unter Kontrolle bekamen: «Wir sind zwei gegen fünfzehn», brüllte er.

Auch der Kollege in der Zentrale, die ein Stockwerk über dem Einsatzkommando lag, brüllte jetzt. Er versuchte, gleichzeitig Anweisungen für drei Einsätze zu geben, von denen keiner einfach durchzuführen war.

«Wenn nötig», sagte die Stimme, «können wir Leute von der Siena-Monza zu Hilfe schicken.» Siena-Monza stand für das Einsatzkommando, und die Vorstellung, für einen Streifeneinsatz nach draußen zu müssen, jagte Juvara – zum ersten Mal seit Tagen – einen kalten Schauer über den Rücken.

«Sie haben sie bestimmt sowieso wieder aus den Augen verloren», brummte Soneri und lauschte den Stimmen der Beamten, die bei dem Banküberfall im Einsatz waren. Sie klangen ruhiger, als würden sie nicht mehr rennen. Auch die Schlägerei schien sich beruhigt zu haben, denn jetzt kamen über Funk die Personalien der Verhafteten, eine schroffe Abfolge von Namen, die nach trockenem Husten klangen und denen monotones Buchstabieren folgte. Laut für Laut mit dem Anfangsbuchstaben einer Stadt: «Alessandria, Milano, Empoli, Domodossola …»

So überraschend, wie es ausgebrochen war, legte sich das Chaos, und der Raum versank wieder in Stille. Nach all der Aufregung schien sie noch tiefer, beinahe endgültig, wie nach einem hoffnungslosen Streit. In dieser Pause spürte Soneri einen Stich, den er nicht hätte zuordnen können. Als wieder die Stimme aus dem Funkgerät ertönte, war es, als materialisierte sich der Stich in Vokalen und Konsonanten.

«Zwei Unbekannte haben dem Mann vor dem Teatro Regio sein Akkordeon gestohlen. Schaut euch da mal um», wies Pasquariello die Beamten an.

Juvara beobachtete, wie Soneri sich eine Zigarre in den Mund steckte und mit einem solchen Ruck aufstand, dass er selbst allein davon in Schweiß ausgebrochen wäre, und dann mit großen Schritten auf die Tür zuging. «In dieser Stadt lässt sich einiges ertragen: die Hitze, die Geisteskranken … Aber nicht, dass man ihr auch noch die Musik nimmt.»

Zunächst verstand der Inspektor Soneris Anspielung nicht, bis er sich wieder an Gondo, den Akkordeonspieler, erinnerte, einen kleinen, rundlichen Mann mit unschuldigem Gesicht und einem Lächeln, das seine letzten drei Zähne entblößte. Doch da war es schon zu spät: Soneri durchquerte bereits den Hof.

Trotz der weißen Mittagssonne ging der Commissario schnell, er schwitzte stark und tropfte wie ein soeben zum Trocknen aufgehängtes Bettlaken. Wer könnte ein Interesse daran haben, einem Mann das Akkordeon zu stehlen, der mit den Almosen der Passanten seinen Lebensunterhalt bestritt? Mit den Jahren war Gondo auf den Stufen vor dem Teatro Regio, dem bekanntesten Musiktheater der Stadt, selbst so etwas wie eine kleine Berühmtheit geworden. Die bekanntesten Sänger kamen, um in Begleitung seines Akkordeons eine Arie anzustimmen und sich für die Zeitung fotografieren zu lassen. Man sagte, der Alte bringe Glück, und so war er im abergläubischen Theatermilieu zu einer Art Talisman geworden. Man behauptete sogar, dass manche Künstler ihm Geld schickten, wenn sie ihm das Verdienst an ihren Erfolgen zuschrieben. Als der Commissario ihn jetzt stumm und mit gesenktem Kopf sah, fragte er sich, wer wohl zu so einer sinnlosen Gemeinheit imstande war. Dieser Diebstahl war so absurd, dass er ihm irgendwie suspekt erschien. Entweder war er von einem anderen armen Schlucker verübt worden, der das Instrument weiterverkaufen wollte, oder es steckte etwas völlig anderes dahinter.

Gondo war so verstört, dass er kein Wort herausbrachte.

«Hast du sie gesehen? Wie viele waren es?», fragte Soneri.

Der Mann drehte sich ruckartig um und versuchte ihn einzuordnen. Aus einem schwachen Aufblitzen seiner Augen schloss der Commissario, dass er ihn wiedererkannt hatte, doch Gondo beschränkte sich darauf, die rechte Hand zu heben und zwei Finger auszustrecken.

«Erinnerst du dich an ihre Gesichter?»

Der Mann schüttelte den Kopf und blickte starr vor sich hin.

«Commissario», sagte da ein Beamter, «einer der Zeugen hat ausgesagt, dass sie ihn von hinten angegriffen und offenbar etwas zu ihm gesagt haben, bevor ihm das Akkordeon entrissen wurde.»

Sie hatten es am helllichten Tag getan, so viel stand fest. Zwei Männer, die ein Instrument mit vergilbten Tasten stahlen: Da war einfach zu viel. Inzwischen hatte sich Gondo mit verschränkten Armen und gekrümmtem Rücken zusammengekauert, als sei ihm kalt.

Als Soneri in die Hocke ging um sich dem Alten zu nähern, reichte diese Bewegung aus, dass ihm erneut der Schweiß in Strömen herunterlief.

«Wenn du willst, dass wir sie erwischen, musst du uns alles erzählen, was du gesehen hast», bemühte er sich, überzeugend zu klingen.

Doch Gondos Augen waren wie zwei Spiegel, an denen alles abprallte.

«Willst du, dass wir sie erwischen oder nicht?»

«Ich will mein Akkordeon», murmelte er kaum hörbar.

«Dann musst du uns helfen», beharrte Soneri, der davon ausging, dass der Alte die Täter gesehen hatte.

Statt einer Antwort drehte sich Gondo von ihm weg. Und plötzlich war das alles dem Commissario zu viel, die Hitze, der Schweiß und seine unerträgliche Ohnmacht. Mühsam richtete er sich wieder auf und merkte, dass seine Hose in den Kniekehlen schweißnass war. Denn fiel ihm wieder ein, dass er aus persönlichen Gründen hergekommen war. Die Wut darüber, wie dumm die Welt war und wie hoffnungslos arrogant, hatte ihn zu dem Akkordeonspieler geführt. Außerdem kannte er Gondo und wusste, wie seine Musik an nebligen Wintertagen im Zentrum klang: Das Klagelied einer hoffnungslos romantischen Stadt, die zunehmend verblasste und in schäbiger, habgieriger Anonymität versank. Letztendlich war nichts passiert, was auch nur entfernt in seine Zuständigkeit fiel: ein kleiner Diebstahl, nichts weiter. Und wenn es noch so verabscheuungswürdig war, es blieb doch nur ein kleiner Diebstahl.

Er nahm den Beamten, der die Zeugen vernahm, zur Seite: «Versuch alles, um dieses Akkordeon wiederzufinden, tu mir den Gefallen. Mir ganz persönlich.» Noch bevor er die Verblüffung des Polizisten hätte abschätzen können, wandte er sich zum Gehen.

Ihm war, als hätte sich eine klebrige Schicht auf seine Haut gelegt. Die Hitze nahm noch zu und raubte ihm fast den Atem. Als würde er langsam in eine Tasse Tee getaucht. Die Tür des Milord schien ihm der einzige Notausgang zu sein. Die kühle, klimatisierte Luft ließ ihn an den jähen Temperaturwechsel denken, wenn er als Kind auf dem Land in den Keller hinabstieg, wo sich auf muffigen, dunklen Treppen der Geruch von alten Holzfässern, nach Trester und Würsten staute. Ein junger Kellnerlehrling kam lächelnd auf ihn zu: «Sie möchten speisen?»

«Nein, nur Luft holen.»

Der Kellner blickte ihn erstaunt an. Soneri warf einen Blick auf die Uhr, es war kurz vor eins. Da er keine Lust hatte, allein zu Mittag zu essen, rief er Angela an.

«Hast du etwa plötzlich Arbeitszeiten wie ein normaler Angestellter?», wunderte sie sich.

«Ich war wegen eines Diebstahls am Theater, und das Milord ist der kühlste Ort weit und breit. Warum kommst du nicht her? Ich würde dir gerne erzählen, was passiert ist.»

«Ich kann nicht. Die Anhörung zieht sich hin. Geht es um Gondos Akkordeon?»

«Du weißt schon davon?»

«Einer deiner Kollegen von der Gerichtspolizei hat es mir gerade erzählt. Jeder in der Stadt kennt Gondo. Wer kann das nur gewesen sein?»

«Ich weiß es nicht. Es ist sehr seltsam», brummte Soneri.

«Es geht bergab mit der Welt, Commissario. Nicht einmal die Kriminalität kennt noch Grenzen: Überall wird geklaut, in Kirchen, in Krankenhäusern, und jetzt werden sogar die Straßen der Musik beraubt.»

Soneri hatte weder die Kraft, um zu antworten, noch um das Thema zu wechseln: Sein Beruf erschien ihm immer sinnloser … Tag für Tag versuchte er Ordnung zu schaffen, die Dinge wieder ins Gleichgewicht zu bringen: Er kam sich vor wie Sisyphos, der dem Schwinden seiner Kräfte zuschauen musste.

«Welcher Gedanke hat dir denn jetzt wieder die Sprache verschlagen?», fragte Angela ironisch, nachdem sie eine Weile gewartet hatte.

«Der, den Beruf zu wechseln», erwiderte er.

«Der Welt wirst du damit nicht entfliehen können, das ist wie mit der Hitze.»

«Zumindest für den Moment habe ich ein kühles Plätzchen gefunden. Schade, dass du nicht kommen kannst», verabschiedete sich der Commissario.

 

Er aß Prosciutto und Melone und verzichtete auch nicht auf den Wein: Kalter Malvasia, der ihm mit wohligen kleinen Schaudern die Kehle hinabrann. Wie immer beim Essen begann er zu grübeln, und so tauchte der Gedanke an Gondo wieder auf. Er erinnerte sich, dass er einst als fliegender Händler in den Bergdörfern Geschirr, Töpfe und Besen verkauft hatte. Die Leidenschaft für das Akkordeon hatte er vom Vater geerbt, vielleicht sogar das Instrument selbst. Dann war er in die Stadt heruntergekommen, um seine Rente auf den Stufen des Teatro Regio zu verdienen. «Hätte ich studieren können», sagte er, wenn jemand stehen blieb, um ein bisschen mit ihm zu plaudern, «wäre ich jetzt da drinnen», und zeigte auf die Oper, die er möglicherweise nie betreten hatte. Sein Gesichtsausdruck passte zu jemandem, an dem zu viele Gelegenheiten vorbeigezogen waren. In gewisser Weise befürchtete der Commissario, ihm zu ähneln, und er stand auf, um den Gedanken zu verscheuchen. Er fand schnell in die Wirklichkeit zurück, als er daran dachte, durch die Hitze zu müssen, nur um in sein glühend heißes Büro zu kommen. Zum Glück klingelte das Handy.

«Was ist los, Juvara, nochmal so eine verrückte halbe Stunde?»

«Schlimmer», murmelte der Inspektor düster.

«Was?»

«Also zunächst einmal wurde ein junges Mädchen in einem Park vergewaltigt. Eine Minderjährige, Draghi kümmert sich darum. Und dann wurde ein Mann tot in seiner Wohnung aufgefunden, eine ziemlich seltsame Geschichte.»

«Mord?», hakte Soneri nach.

«So gut wie sicher, aber die Beamten haben nicht wirklich durchgeblickt. Polizeipräsident Capuozzo sagt, dass Sie mal vorbeischauen sollen.»

«Wo?»

«In der Via Cavour 15.»

Die Geschäftsstraße mit den Designerläden, dachte der Commissario, nur einen Steinwurf vom Dom, vom Rathaus und vom Teatro Regio entfernt. Und mit einem Schlag spürte er großen Ärger auf sich zurollen. Dieser Eindruck verstärkte sich auf seinem Weg in die Via Cavour, wo die Touristen unter der Hitze stöhnten und von emsigen Küstern aus den Kirchen gescheucht wurden, und er verdichtete sich vor der weit aufgerissenen Haustür, bewacht von einem schwitzenden Beamten, zur Gewissheit. Die Wohnung lag im ersten Stock, von dem insgesamt drei Sicherheitstüren abgingen: Hinter zweien waren Büros, an der dritten dagegen hing ein Messingschild mit der Aufschrift GALLUZZO. In diesem Moment wurde sie von einem zweiten Beamten geöffnet, und Soneri musste nicht erst eintreten, um die Situation zu erfassen. Ein dunkelhaariger, braungebrannter, magerer Mann lag neben dem Sofa auf der Seite. Der Kopf war der Tür zugewandt, als hätte er mit letzter Anstrengung seinem Mörder nachgesehen, als dieser die Wohnung verließ.

Drinnen schien alles in größter Unordnung zu sein. Der Commissario blickte sich um, und da entdeckte er den Fremden, der dort rittlings auf einem Stuhl saß, die Ellbogen auf die Rückenlehne gestützt, und eher gelangweilt schien. Soneri beachtete ihn nicht weiter und beugte sich stattdessen über den Toten, um ihn aus der Nähe zu betrachten. Sein Gesicht war dunkelviolett geschwollen, und aus seinem halbgeöffneten Mund rann ein dünner Blutstrahl. Die aufgeschürften Handgelenke ließen vermuten, dass er vor seinem Tod gefesselt worden war. Er war vermutlich erschlagen worden. Erst nachdem er die Leiche untersucht hatte, sah der Commissario wieder auf und betrachtete den sitzenden Mann, der aufstand und ihm die Hand hinstreckte: «Orio De Angelis.»

«Sie haben ihn gefunden?»

«Ja, ist noch nicht lange her. Eine unserer Verkäuferinnen hat mich informiert, dass Francesco nicht im Laden aufgetaucht ist, was mir seltsam vorkam.»

«Wie sind Sie denn hier hereingekommen?»

«Ich habe den Schlüssel seiner Schwester geholt.»

Soneri trat ans Fenster: Von der luxuriös renovierten Zweizimmerwohnung hatte man Blick auf die Straße, auf der Abend für Abend die halbe Stadt flanierte, doch jetzt war sie fast leer. Direkt gegenüber ging die Via Dante ab, die breit genug war, um bis zur Parallelstraße Via Garibaldi zu sehen, wo bis vor wenigen Stunden die Musik von Gondos Akkordeon erklungen war. «In welcher Beziehung stehen Sie zu dem Toten?», fragte er unvermittelt und drehte sich mit einem schwungvollen Ruck um.

«Wir sind Geschäftspartner, Textilbranche. Ich kümmere mich vor allem um die Boutiquen der gleichen Kette in Mailand.»

«Und er», fuhr Soneri fort und deutete auf den Toten, «um welche kümmerte er sich?»

«Um den Laden hier unten im Haus.»

«Nur um den einen?»

«Er betrieb noch eine Filiale in Fidenza.»

Der Commissario erinnerte sich an ein Schaufenster neben der Eingangstür, doch die Straße war voller Bekleidungsgeschäfte: In der Stadt gab es inzwischen mehr Dessous als Brötchen zu kaufen.

Als Nanetti, der Chef der Spurensicherung, mit zweien seiner Leute erschien, verabschiedete Soneri sich von De Angelis. «Sie müssen sich zu unserer Verfügung halten», ermahnte er ihn. «Wenigstens ein paar Tage lang.»

Der andere wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß ab und nickte. «Ich werde noch eine Weile in der Stadt bleiben», sagte er.

«Das wird sicher das Beste sein», meinte der Commissario.

«Glauben Sie denn, das Ganze wird sich lange hinziehen?», fragte De Angelis beunruhigt.

«Das kommt ganz darauf an», erwiderte Soneri unbestimmt. Das Chaos in seinem Kopf erlaubte ihm nicht, Genaueres hinzuzufügen.

Nanetti fluchte vor sich hin, die Hitze erschwerte seine Arbeit. Der Commissario ging vor die Wohnungstür, und als ihm im Treppenhaus ein schwacher Luftzug entgegenkam, pries er für sich die alten Gemäuer. Er zog sein Handy heraus. «Juvara», begann er das Gespräch, «sieh zu, dass du alles über einen gewissen Francesco Galluzzo, Via Cavour 15, herausfinden kannst: Verwandtschaft, Freunde, Umgang. Vor allem aber Konten, Schulden, Versicherungen. Du weißt schon, Geld regiert die Welt, nicht wahr?» Er legte auf und wartete, bis Nanetti seine Arbeit beendet hatte und zu ihm kam.

«Und?», fragte er und zündete sich eine Toscano an.

«Ich habe den Eindruck, dass hier irgendwas aus dem Ruder gelaufen ist», erwiderte sein Kollege nach einer langen Pause.

Der Commissario nickte zustimmend. «Wie viele waren es deiner Meinung nach?»

«Mindestens zwei. Es gibt Fußabdrücke, die nicht vom Opfer stammen. Und auch nicht von dem Mann, der hier war. Sein Geschäftspartner, wenn ich das richtig verstanden habe?»

«Hast du seine Handgelenke gesehen?», fragte Soneri weiter nach, ohne zu antworten.

«Sieht ganz so aus, als hätten sie ihn gefesselt, um ihn niederzuschlagen, und ihm die Fesseln wieder abgenommen, sobald er bewusstlos war», bestätigte Nanetti. «Unter dem Sofa haben wir ein Küchenmesser und Reste einer Schnur gefunden.»

«Vielleicht wollten sie ihm nur eine Abreibung verpassen. Du weißt, was das bedeutet, oder?»

«Eine Warnung: Pass bloß auf, beim nächsten Mal bringen wir dich um.»

«Nur wird es kein nächstes Mal mehr geben», brummte der Commissario.

Nanetti lehnte sich gegen das Geländer und genoss ebenfalls die kühle Luft, die im Treppenhaus nach oben stieg. Dann ergänzte er: «Aber das ist nicht alles …»

Soneri machte eine fragende Kopfbewegung.

«Hast du das Durcheinander gesehen? Ich denke, sie haben nach etwas gesucht, hier hat offenbar jemand lange herumgewühlt. Außerdem konnten wir kein Handy finden.»

Der Commissario fragte sich, ob hier ein Dieb vom selben Schlag wie die Akkordeonräuber eingebrochen war. Er hatte den Eindruck, dass das alles irgendwie miteinander zusammenhing.

«Ein Einbruch kann es jedenfalls nicht gewesen sein», führte Nanetti weiter aus.

Soneri blickte ihn etwas unwirsch an: Er hasste es, auf die Folter gespannt zu werden. Dann ging ihm auf, dass sein Kollege vermutlich nur laut nachdachte.

«Warum wurde beispielsweise der Tresor nicht angerührt?», überlegte Nanetti weiter. «Er befindet sich am banalsten Platz der Welt, hinter einem Kunstdruck von Monet. Es ist nicht schwer, den Besitzer dazu zu bringen, ihn zu öffnen, wenn man ihn mit Schlägen traktiert.»

«Eine falsche Spur», meinte Soneri knapp. «Nicht einmal eine besonders raffinierte.»

«Ganz meine Meinung, schließlich lässt sich auch nicht erklären, warum die Tür nicht aufgebrochen wurde. Daraus kann man schließen, dass Galluzzo seine Mörder hereingelassen hat. Er kannte sie.»

«Vielleicht haben sie vor dem Haus auf ihn gewartet und ihn bedroht», überlegte Soneri.

«Aber dann hätten sie ihn doch gezwungen, den Tresor zu öffnen! Und da gibt es noch etwas Eigenartiges …», fügte Nanetti hinzu.

Der Commissario musste sich zwingen, ruhig zu bleiben, er verlor allmählich die Geduld. Aber er wartete ab, bis der Kollege fortfuhr: «Es sieht so aus, als sei ein relativ großer Plasmafernseher verschwunden. Da hängen lose Kabel herunter, und man sieht einen Abdruck an der Wand.»

«Das müssen Verrückte sein.»

«Kommt mir auch so vor.»

«Vielleicht hat Galluzzo ihn gerade selbst zur Reparatur gebracht …»

«Möglich …», murmelte Nanetti. «Aber wie auch immer, so wie sich das hier anlässt, scheint mir das ein ziemlich unangenehmer Fall zu werden.»

«Das war ja zu erwarten», knurrte Soneri. «Bei der Hitze brennen die Sicherungen durch», fügte er dann hinzu. Die Vorstellung, was ihn nun an Arbeit erwartete, war nicht sehr verlockend.

Er hatte den Sommer in der Stadt nie sehr gemocht. In den Gassen stank es nach Urin, und in den Bussen hing beißender Schweißgeruch. Er hasste die nächtliche Unruhe, wenn verzweifelte Betrunkene den Mond anbrüllten, und er hasste die Schlaflosigkeit, die auf die Müdigkeit in der Nachmittagshitze folgte. Wie sehr wünschte er sich den kühlen Nebel zurück, der alles einhüllte und unter sich verbarg. Zum Glück war es nicht mehr lange hin bis Mariä Himmelfahrt, die Stadt würde sich leeren, und nur die Alten und die armen Teufel würden zurückbleiben. Er tröstete sich mit dem Gedanken an ausgestorbene Straßen in der endlich stillen Stadt, wenn zum Abendessen in den Osterien die Tische draußen standen: seine persönliche kleine Sommerfrische.

Juvara hatte ihm ein paar Fotos von Galluzzo herausgesucht: ein ziemlich attraktiver Mann, elegant gekleidet und mit einem fröhlichen, jungenhaften Gesicht. Kein Vergleich mit der Leiche, die Soneri kurz zuvor in der Wohnung in der Via Cavour gesehen hatte: Die blauen Flecke, Schwellungen und Wunden hatten ihn verunstaltet … Er seufzte. Wie vergänglich der Mensch doch war. Als er das Foto weglegte, klingelte das Telefon.

«Wir sammeln Geld für ein neues Akkordeon», verkündete Angela.

«Gondo will kein neues Akkordeon, er will sein eigenes zurück. Ich glaube, er hat es von seinem Vater geerbt», stellte Soneri klar.

«Wenn er es erst hat, wird er darauf spielen wie auf dem alten», meinte sie. «Es ist immer noch besser, als zu betteln.»

«Er ist kein Bettler, er ist ein Straßenkünstler. Er hat sogar eine Genehmigung.»

«Nun, wenn du kurz am Teatro Regio vorbeigehst, kannst du dir ja selbst ein Bild machen: Er hat ein Schild aufgestellt, auf dem er die Passanten um Hilfe bittet, weil ihm das Akkordeon gestohlen wurde. Jeder, der ihn kennt, gibt ihm ein bisschen Geld.»

Knurrend legte der Commissario auf: Es bestand kein Zweifel daran, dass es mit der Welt bergab ging. Es machte sich an den kleinen Dingen bemerkbar. Er zuckte zusammen, als er Juvara neben sich hüsteln hörte, ohne dass er ihn hatte kommen hören. Sein Inspektor schob die Fotos zusammen und legte ihm eine Akte hin, auf die er mit Filzstift GALLUZZO geschrieben hatte.

Soneri spürte, wie ihm der Sessel aus Kunstleder im Rücken brannte, und stand mit einem Ruck auf. «Es geht schneller, wenn du erzählst, was du herausgefunden hast», sagte er und suchte nach einem kühleren Flecken. Sein Inspektor folgte ihm unschlüssig. Schließlich setzten sie sich auf das Sofa und streckten die Beine aus wie zwei Arbeiter in der Mittagspause.

«Galluzzo hatte kaum Bekannte», begann Juvara. «Er kam vor zwei Jahren aus Kalabrien, vor sechs Monaten übernahm er die Boutique Location in der Via Cavour. Das Geschäft gehört zu einer Kette, die sich an der Einrichtung amerikanischer Shopping Malls orientiert.»

Soneri machte eine gereizte Geste: «Ich habe es gesehen, etwas Aufgesetzteres und Überflüssigeres kann man sich kaum vorstellen.»

Der Inspektor verkniff sich seinen Unmut über die Unterbrechung, doch es entfuhr ihm ein Seufzer. Soneri verstand und bedeutete ihm mit einer weiteren Geste fortzufahren.

«Offenbar ging es im Laden nicht so gut, weshalb sein Geschäftspartner De Angelis aus Mailand gekommen war, um die Dinge wieder ins Lot zu bringen. Aber wenn der Betrieb einmal schlecht läuft …»

«Hatte Galluzzo Verwandte hier?», fragte Soneri.

«Nur eine Schwester, sie ist mit einem Immobilienmakler verheiratet, auch aus Kalabrien.»

«Wo wohnt sie?»

«Ganz in der Nähe, im Borgo del Parmigianino. Dort hat man auch Galluzzos Wagen gefunden: einen roten Mini Cooper.»

«Ungewöhnliches Modell für einen Fünfzigjährigen», meinte Soneri. «Parkte er sonst auch da?»

«Nein, er hatte einen Stellplatz in der Toschi-Garage, hinter dem Palazzo della Pilotta.»

«Und warum stand das Auto vor dem Haus der Schwester?»

«Wir wissen es nicht. Vielleicht war er in Eile, oder er wollte später noch einmal wegfahren.»

Das Telefon unterbrach sie.

«Der Zeitpunkt des Todes war ungefähr um eins», teilte ihm Nanetti mit. Der Commissario war überrascht, genau das hatte er sich gerade im Stillen gefragt. «Ich kann dir bestätigen, dass der Mann erst gefesselt, dann erschlagen und anschließend von den Fesseln befreit wurde. Die Verletzungen an den Handgelenken zog er sich zur gleichen Zeit zu wie die Schläge.»

«Wenn es keine Inszenierung ist, heißt das, dass sie ihn nur ein bisschen verprügeln wollten», stellte Soneri fest.

«Das glaube ich auch. Irgendwas ist da schiefgelaufen. Entweder ist der Schläger zu weit gegangen, oder Galluzzo war zu zart.»

«Klingt nach Unterweltmethoden, aber es könnte sich auch um einen Dieb handeln, einen Profi, der wusste, dass er etwas Wertvolles verbarg und das Versteck aus ihm herausprügeln wollte. Hast du nicht gesagt, es wurden ein paar Sachen gestohlen?»

«Es fehlen der Plasmafernseher, zwei Handys, drei teure Armbanduhren und ein Navigationssystem.»

«Mit wem habt ihr diese Inventarliste erstellt?»

«Mit dem Geschäftspartner. Er weiß über fast alles Bescheid. Er hat auch die Schwester des Opfers angerufen, die alles bestätig hat.»

Verdutzt schwieg Soneri. Mit der geduldigen Stimme eines Menschen, der daran gewöhnt ist, akribisch vorzugehen, fuhr Nanetti fort: «Wenn es ein Dieb war, bleibt die Frage, warum er den Tresor nicht angerührt hat», beharrte er und wiederholte seine Zweifel. «Wie soll er überhaupt hereingekommen sein? Weder die Tür noch das Fenster wurden aufgebrochen.»

«Bleibt als einzige Möglichkeit, dass sie ihn im Treppenhaus abgepasst haben», überlegte der Commissario und kämpfte gegen den Nebel in seinem Kopf an. «Nach sechs Uhr abends schließen die Büros, danach kommt dort niemand mehr vorbei.»

«Auf jeden Fall habe ich eine gute Nachricht für dich: Wir haben einen der besten Untersuchungsrichter erwischt: Percudani leitet die Ermittlungen.»

«Hat er einen Autopsietermin festgesetzt?»

«Morgen früh, du weißt doch, Percudani verliert keine Zeit.»

Der Commissario beendete das Gespräch und ging zurück zum Sofa. Juvara schlug die Akte wieder auf und schickte sich an, seinen Bericht fortzusetzen, als von neuem das Telefon klingelte.

Es war der Richter, als hätte Percudani nur darauf gewartet, seinem Ruf gerecht zu werden: «Morgen früh, nach der Autopsie, werde ich mit dem Polizeipräsidenten telefonieren. Möchten Sie dem Bericht der Spurensicherung noch etwas hinzufügen?»

«Nein, ich denke nicht …», stammelte Soneri verlegen. «Wir stehen ja erst am Anfang, und wir haben noch nichts herausfinden können …», fügte er ergeben hinzu.

Der Richter ließ ihn nicht ausreden. «Macht ja nichts, ich wollte nur sichergehen», schloss er resolut.

In der Zwischenzeit hatte es Juvara geschafft, die Klimaanlage zum Laufen zu bringen, die leise vor sich hin rauschte. Doch wieder schrillte das Telefon, und der Inspektor stöhnte. Diesmal war es Pasquariello: «Wir bringen den Wagen des Opfers zur Spurensicherung, aber ich kann Ihnen jetzt schon sagen, dass da jemand zwischen den Sitzen herumgestöbert hat.»

«Ein Dieb?»

«Sieht so aus. Die Beifahrertür wurde aufgebrochen, aber ich kann nicht sagen, ob sie etwas mitgenommen haben.»

«Fehlt nichts?»

«Augenscheinlich nicht. Die haben sogar die Kopfhörer für das Handy dagelassen. Allerdings waren im Aschenbecher zwei Tütchen …»

«Was für Tütchen?», drängte der Commissario.

«Ich mag mich täuschen, aber sie sehen aus wie solche, in denen man Kokain aufbewahrt.»

«Schauen wir mal, was Nanetti dazu sagt», erwiderte Soneri zögernd. Schlagartig war ihm der Verdacht gekommen, ob er es nicht mit einem Drogenabhängigen aus besseren Kreisen zu tun haben könnte, mit einem von der Sorte, die sich ein Vermögen durch die Nase zieht. Nur passte die aufgebrochene Tür ganz und gar nicht dazu. «Wenn nichts fehlt …», begann er, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken. Was er sagen wollte: Wenn allem Anschein nach nichts fehlte, dann hatte der Einbrecher vielleicht nach etwas gesucht, was sich momentan gar nicht im Wagen befand. Als ihm jedoch bewusst wurde, dass diese Überlegung zu gar nichts führte, brach er mitten im Satz ab und verstummte verlegen.

«Hallo!», rief der Streifenchef, als sei die Leitung unterbrochen.

«Gibt es sonst noch etwas zu besprechen?», knüpfte Soneri vollkommen unvermittelt wieder an ihr Gespräch an.

«Nein. Nur noch ein Detail …»

«Welches?»

«Gestern Abend hat Galluzzo im Nabucco gegessen.»

Soneri mochte das Restaurant nicht. Das Lokal strotzte vor geschmacklosem Luxus, es wimmelte vor ausgehaltenen Frauen, und die aufdringlichen Kellner überwachten einen wie Gefängniswärter.

«Der hat es sich aber gutgehen lassen», stellte er nüchtern fest. «Allein oder in Begleitung?»

«Allein», erwiderte Pasquariello, und seine Stimme verriet die Verwunderung darüber.

«In einem solchen Lokal isst man nicht alleine wie in einer Kantine», brummte der Commissario. Da der andere dazu nur schwieg, knurrte er einen Abschiedsgruß und legte auf. «Wo waren wir stehengeblieben?», fragte er Juvara. Dem schien es gerade gelungen zu sein, die Klimaanlage richtig einzustellen.

«Beim Wagen. Ich sagte, dass er vor dem Haus der Schwester geparkt war, obwohl Galluzzo einen Stellplatz in einer Tiefgarage hatte.»

«Auch dazu wird uns Nanetti Genaueres sagen können», meinte der Commissario kurz angebunden.

Juvara ordnete das Blatt mit der entsprechenden Notiz nach hinten, um es zu archivieren. Dann ging er zur nächsten Information über. «Galluzzo war verheiratet und hat einen siebzehnjährigen Sohn. Über die Frau ist nichts bekannt, sie sind seit zehn Jahren geschieden.»

«Hatte er Bekannte? Ich meine unter den anderen Ladenbesitzern oder Nachbarn?», bohrte Soneri weiter.

«Manche kannten ihn vom Sehen und beschreiben ihn als einen sehr freundlichen Mann, der jeden grüßte. Er war immer gut gekleidet und wirkte jünger, als er war. Echte Bekanntschaften scheint er jedoch nicht gehabt zu haben. Im Haus sind die alten Mieter durch die Sanierung vertrieben worden, um Platz für Büros zu machen. Nur eine alte Wohnungseigentümerin ist dort geblieben, aber bei all den Leuten, die in den Büros aus und ein gehen, hat sie den Überblick verloren, wer da alles kommt und geht.»

Angesichts dieser nicht sehr aussagekräftigen Informationen schien Soneri ungeduldig zu werden. Er streckte die Hand nach dem Luftstrom der Klimaanlage aus, die immer lauter rauschte. «Viel Lärm um nichts als heiße Luft», philosophierte er schließlich. «Die Hitze wird doch bloß lautstark durcheinandergewirbelt.»

Galluzzo hingegen schien sich mit der lautlosen Unauffälligkeit einer Maus durch die Stadt bewegt zu haben. Offenbar gab es niemanden, der ihn näher kannte, nichts, was über einen Blick oder einen Gruß am Ladeneingang hinausging. Niemand wusste etwas über sein Leben. Es schien, als habe er in völliger Abgeschiedenheit gelebt und nicht in der belebtesten Straße der Stadt.

Juvara widmete sich noch einmal kurz der Klimaanlage und schaffte es, den Lärm auf ein leichtes Blasen zu reduzieren.

«Und seine Verwandten?», fragte der Commissario. «Reiche Leute?»

«Soweit wir wissen, wohl eher vermögend. Seine drei Brüder sind ebenfalls Geschäftsleute, auch in der Textilbranche», erwiderte Juvara.

«Wo?»

«Im Süden, in Kalabrien und in der Basilikata.»

«Wenn der Laden nicht gut lief …», überlegte Soneri. «Hatte er Schulden?»

«Das müssen wir noch überprüfen, aber nach einem ersten Blick auf die Kontobewegungen sieht es nicht danach aus. Allerdings schwamm er auch nicht gerade im Geld», erklärte der Inspektor, «sein Kontostand ist eher bescheiden.»

Soneri schwieg. Sein Verdacht, dass ihm dieser Fall viel Ärger bescheren würde, verdichtete sich. Das sagte ihm seine Erfahrung. Wenn es in den ersten Stunden der Untersuchung nicht wenigstens ein paar klare Hinweise gab, bedeutete das, dass es eine der unangenehmeren Ermittlungen werden würde. Unruhig stand er auf, strich sich über den Schnurrbart und zündete den Stummel seiner Toscano an. Noch immer klebte ihm die Kleidung am Körper.

«Ich gehe nochmal in die Via Cavour», verkündete er, schon in der Tür. «Beim Gehen kann ich mir so etwas wie einen Luftzug wenigstens einbilden.»

Er durchquerte den Hof des Präsidiums und ging auf den Ausgang zur Via Repubblica zu, wo ihm ohrenbetäubender Krach entgegenschallte: Blechinstrumente, Trommeln und Pfeifen. Die Straße wurde von etwa hundert Leuten mit Transparenten und Schildern blockiert.

«Was wollen die?», fragte er die Wache am Eingang.

«Das sind die Arbeiter aus der Forneria Duomo, sie demonstrieren gegen den Abriss der Fabrik.»

Soneri hatte in seinem Leben Berge süßen Gebäcks aus der Forneria Duomo verspeist. So erinnerte er sich an die Veneziane, mit Zucker bestreute halbrunde Kuchen, die ihm seine Mutter manchmal vor der Schule kaufte, und bei der Erinnerung an den Geschmack durchströmte ihn eine Welle der Melancholie.

Ein Gewerkschafter zählte gerade die Gründe des Protestes auf: Der Eigentümer wollte die alten Fabrikgebäude niederreißen, um auf dem Gelände, das nahe am Stadtzentrum lag, Wohnhäuser zu bauen. Die Stadt war in die Hände von Spekulanten geraten, die rücksichtslos über die Geschichte hinweggingen, alles abrissen und dabei auch das Leben derjenigen, die ihnen im Weg waren, unter sich begruben.

Im Weggehen hörte der Commissario noch, wie jemand in ein Megaphon brüllte und das Eingreifen des Polizeipräsidenten forderte. Obwohl die Sonne schon so weit gesunken war, dass sie bereits die Dächer streifte, blieb die Hitze drückend. Soneri machte einen Umweg durch die Via Garibaldi, wo er in der Ferne Gondo in einem Haufen Lumpen zusammengekauert auf den Stufen des Teatro Regio sitzen sah. Als er in den Borgo Angelo Mazza einbog, versuchte er, der heißen Abluft der Klimaanlagen auszuweichen, die die wunderschönen Verkäuferinnen und ein paar unbedeutende bunte Fummel kühlten.

Kurz darauf stieg er die Treppe in der Via Cavour 15 hinauf, an der versiegelten Tür Galluzzos vorbei, in die oberen Stockwerke, wo die Hitze immer unerträglicher wurde. Oben angekommen, spürte er, wie ihm kitzelnd ein paar Schweißtropfen vom Hals den Rücken bis zum Hosenbund hinunterliefen. Er befand sich vor einer Tür, auf der CLARA VESCOVI stand.

Als er klingelte, gab eine alte Frau durch einen kleinen

Dass sie von selbst auf das Thema gekommen war, machte die Sache leichter.

«Wir haben uns nur gegrüßt. Gute Nachbarschaft gibt es ja heutzutage nicht mehr. Früher wohnten hier Familien, und an San Giovanni stellten wir Tische im Hof auf, um zusammen zu essen und zu feiern», erinnerte sich die alte Frau gedankenverloren.

 

«Und, haben Sie?»

Sie nickte.

  

Soneri hob fragend das Kinn.

«Blieben sie lange?»

Ein paar Sekunden lang schwieg Soneri. Unerwartete Enthüllungen verblüfften ihn immer etwas, was ihn wunderte, nach all den Jahren, die er damit verbracht hatte, in so vielen scheinbar untadeligen Leben herumzuwühlen.

Trotzdem musste die Alte einen leichten Vorwurf herausgehört haben, weil sie nun trotzig reagierte. «Ich spioniere meine Nachbarn nicht Tag und Nacht aus, selbst wenn ich die Zeit dazu hätte.»

 

«Ich kann nur sagen, dass er es sich nach meinem Eindruck an nichts fehlen ließ», erklärte die alte Frau und schob ihre Unterarme zur Seite, wobei sie Schweißspuren auf dem Glastisch hinterließ.

«Führte er das Leben eines reichen Mannes?»

Er erinnerte sich, dass Galluzzo sein letztes Abendessen im Nabucco eingenommen hatte. Vielleicht hatte die alte Frau recht.

«Ich verstehe das alles nicht mehr», bekräftigte die Alte noch einmal. «Und vielleicht täusche ich mich, wenn ich denke, dass dieser Mann über seine Verhältnisse gelebt hat», korrigierte sie sich.

«Ich verstehe das alles auch nicht», entfuhr es dem Commissario, der wieder aus seinen Erinnerungen auftauchte. Er fühlte sich nun nicht mehr nur dem Schicksal, sondern auch dem Mord an Galluzzo gegenüber ohnmächtig. Dieser Fall stellte sich ihm in ständig wechselndem Licht dar.

Galluzzo ließ es sich tatsächlich an nichts fehlen, genau wie Signora Vescovi vermutet hatte: ein schöner Wagen, junge Männer, teure Restaurants und Drogen.

«Reicht dir das nicht?», entgegnete Nanetti gutmütig. «Das Auto scheint jedenfalls bis in den letzten Winkel durchsucht worden zu sein.»

«Wenn man bedenkt, dass die Tür von jemandem aufgebrochen wurde, der sein Handwerk verstand … Wir haben nicht einen Kratzer gefunden.»

«Nach so vielen Jahren in diesem Beruf solltest du wissen, dass sich manchmal die unwahrscheinlichsten Dinge bewahrheiten», erinnerte ihn Nanetti.

«Wenn ich hier fertig bin, gebe ich dir noch einmal durch, was ich entdeckt habe. Vielleicht hilft dir das ja, klarer zu sehen.»