Brigitte
Kronauer

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Poesie und Natur,
Natur und Poesie

Klett-Cotta

Impressum

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Klett-Cotta

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© 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: ANZINGER | WÜSCHNER | RASP, München

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

 

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98303-6

E-Book: ISBN 978-3-608-10831-6

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe. 

Inhalt

Poesie und Natur

Mit Rücken und Gesicht zur Gesellschaft

Über Avantgardismus

Über Politik in der Literatur

Wirkliches Leben und Literatur

Wirkliches Leben und Literatur

Vom Umgang mit der Natur und wie sie mit uns umspringt

Die Gewalt der Bilder

Was ist schon ein Roman!

Eine »Reportage«

Ein Fragment

Ein Romanriese

Bibliographische Hinweise

Natur und Poesie

Marder und Kaninchen

Die Konstanz der Tiere

Tierlos

»Ach! wüßtest du, wie’s Fischlein ist«

Die Niederelbe. »Schweiz meiner Seele«, im Flachland?

Vom Riesengebirge bis Cuxhaven

Wir Avantgardisten

Demokratie in ihrer schönsten Gestalt

Landschaft ist nicht Natur

Herr Hagenbeck hirtet

Animalische Seligkeit

Bibliographische Hinweise

Poesie und Natur

Mit Rücken und Gesicht zur GesellschaftBel_98303_0001_001_abb_001.jpg

Über Avantgardismus

»hingegen die poeten mit ihren wörtern / wissen diese was sie sagen / was sie mit ihren wörtern in wahrheit sagen / wissen das jemals die poeten« (Ernst Jandl: »wissen, sagen«)

Vor zwei Monaten, am 2. April 2011, nach einem ungewohnt langen nördlichen Winter, sah ich beim Frühstück kurz von meiner Zeitungslektüre auf und, zunächst ohne zu stutzen, durch das Küchenfenster. Dann vertiefte ich mich wieder in die Hauptnachrichten zum damals akuten Weltzustand, also zu den Bemühungen, die japanische Atomkatastrophe zu begrenzen, zum Waffenstillstandsangebot der libyschen Aufständischen und dessen Ablehnung durch Gaddafi, und, lediglich eine innerdeutsche Affäre, zum Rückzug des Außenministers Westerwelle vom Parteivorsitz der FDP. Erst dann, nach Kenntnisnahme einer Anzeige des Bayerischen Rundfunks zur Übertragung der Oper Anna Bolena aus der Wiener Staatsoper, wurde mir plötzlich bewußt, daß ich eben etwas Außergewöhnliches aufgenommen, allerdings nicht im geringsten begriffen hatte.

Wie gesagt, diesem Augenblick waren viele stumme, geruchlose, unbewegte Wochen vorausgegangen. Als ich zum zweiten Mal nach draußen zur leicht frostigen, in blendender Helligkeit daliegenden Wiese sah, mit den wegen Unbelaubtheit scharfen Schlagschatten der Obstbäume darauf, kurzum die allererste optische Frühlingssensation konstatierte, die mir mit Verzögerung nun aber doch kurzfristig samt »Ah« und »Oh« den Atem verschlug, packte mich umgehend eine mir im Prinzip wohlvertraute Unruhe. Es war der energische, geradezu verbissene Wunsch zu formulieren, was ich wahrnahm, die Färbung und neuartige Beleuchtung, die komplette, nervös vibrierende Erscheinung in Wörtern festzuhalten und mich gleichzeitig ihres starken Appells zu entledigen.

Es hätte im Prinzip auch die bequeme Möglichkeit bestanden, meine Beobachtung in schon bestehende, von anderen geschriebene Zeilen einmünden zu lassen. Allerdings fiel mir so schnell nur Goethes »Mailied« ein. Von dessen genialisch drängendem Dreischritt »Es dringen Blüten aus jedem Zweig / Und tausend Stimmen aus dem Gesträuch / Und Freud und Wonne aus jeder Brust« konnte an diesem spröden Aprilmorgen nicht die Rede sein. Etwas anderes aber hatte mein Gedächtnis gerade nicht zur Hand.

Und war es in Wirklichkeit nicht auch so, daß sich im Hintergrund meines Kopfes, aktualisiert durch die japanischen Vorgänge, bereits eine ganz andere Empfindung einstellte? Es handelte sich um die Erinnerung an ein nach den Wahlen 2005 von den großen Energiekonzernen vorgelegtes Positionspapier zur unbefristeten Erzeugung von Atomstrom, selbstermächtigt unterschrieben vom Vorsitzenden der Gewerkschaft Verdi, was mich, nach über 25-jähriger Mitgliedschaft, zum Austritt aus dem assoziierten deutschen Schriftstellerverband bewogen hatte. Eine Prozedur, die übrigens mit mehr lästiger Korrespondenz verbunden ist, als man vermuten sollte.

Wäre es demnach, um den Eindruck der paar Sekunden oder Minuten des Überwältigtseins korrekt festzuhalten, nicht eine ästhetische Notwendigkeit gewesen, auch die gesellschaftskritische Folie mitzuerwähnen? Oder würde ich damit lediglich jener literarischen Etikette gehorchen, die jede epiphanische Naturwahrnehmung tabuisiert, grundsätzlich für verlogen, unangenehm idyllisch usw. hält und statt dessen in automatischem Moral- oder Feinschmeckerreflex längst gefällig gewordene Brechungen als unerläßlichen Zitronenspritzer in der süßen Suppe fordert, damit aber die flüchtige Eigentümlichkeit des Kerngeschmacks bis hin zu dessen Entschwinden konventionalisiert? Gerade auf dem Gebiet der Natur werden Abweichungen von solcher Art Wohlverhalten streng geahndet.

Und da haben Sie schon das Dreieck vor sich, in dem die Hersteller von Literatur balancieren:

Position 1: Das durchaus ungesicherte Erkennen nicht der ursprünglichen Wirklichkeit, aber des umweglos persönlich treffenden Eindrucks.

Position 2: Das verführerische Angebot schon bestehender, bewunderter künstlerischer Lösungen.

Position 3: Die Einebnung des Wahrgenommenen in Gestalt unbewußter Selbstzensur, durch die alles verschlingenden Muster, Klischees einer Instanz, die sich gegenüber jedem Einzelnen zur Gesellschaft zusammenrottet.

Niemand halte sich frei von den Anfechtungen unter Punkt 2 und 3. Das wäre auch nicht gut. Sie bilden ja ein, nein das Reibungspotential, das die stets zur Verflüchtigung bereite Nr. 1 erst funkeln läßt. Ich komme darauf zurück.

Ich bin keine Gedichteschreiberin, benötige aber in meiner Prosa unbedingt Naturmomente wie den eingangs geschilderten, trotz gefühlseinschüchternder Vorhaben wie die des sogenannten Geo-Engeneerings, die das terrestrische Klima und die Oberfläche der Ozeane zum Wohle der Menschheit verändern wollen. Ich arbeite mit puren Naturaugenblicken. Ich hoffe, in kritischer Unerschrockenheit und gedenke das getrost weiterhin zu tun.

Also notierte ich, mich auf nachträgliche Evokationsfähigkeiten verlassend, im vorliegenden Fall: »Aprilmorgenfrost, scharfes Schlagschattennetz, Grün gebremst anschwellend«. Wahrscheinlich wird das zu nichts führen, allenfalls zu einem inständigen Partikelchen in ganz anderem Zusammenhang. Es hat jedoch für mich zumindest eine temporäre verbale Entlastung bewirkt.

Merkwörter wie die eben genannten sind natürlich erprobte Stenogramme, d.h. in der Regel etwas anderes als unser fast säuglingshaftes und wohl besser geheimgehaltenes Lallen des ersten Eindrucks, wie es ein Wickelkind, im Wunsch nach Expression und nur dem Baby selbst und der Mutter verständlich, hervorstößt, bevor manierliche Adjektive daraus werden. Die Notizen dienen indessen der Rekonstruktion der Initialzündung, die eventuell eine irgendwann auf den Leser überspringende werden soll.

Worauf will ich hinaus?

Zunächst auf den alten Adalbert Stifter, erst etwas später auch auf den alten Avantgardisten Ernst Jandl.

»(…) und wenn sich dann die Großmutter in die Begeisterung geredet (…), und wenn sie nun anfing, zärtlich und schwärmerisch zu reden mit einem Wesen, das er nicht sah, und in Worten, die er nicht verstand, aber tiefergriffen instinctartig nachfühlte (…) und nun Alles dramatisch skizzenhaft durch einander reden ließ: da grauete er sich innerlich entsetzlich ab, und um so mehr, wenn er sie nicht mehr verstand, allein er schloß alle Thore seiner Seele weit auf, und ließ den phantastischen Ton eingehen, und nahm des anderen Tages das ganze Getümmel mit auf die Haide, wo er alles wieder nachspielte.«

So Stifter über einen kleinen Hirtenjungen in einfältig dörflicher Welt, der schließlich, ganz am Ende der Erzählung Das Haidedorf von 1840, zum großen Dichter geworden ist. Maßgeblich, so heißt es, durch eben diese ewig allein in sich gekehrte Großmutter und ihre Schöpfungen, in denen sie glühend und verwegen Propheten, Helden, Wunder und Verstorbene bruchstückhaft mischt und ihm auf diese Weise den Boden seines gewöhnlichen Lebens unter den Füßen wegzieht.

Was ist damit gesagt? In der ein Vierteljahrhundert später geschriebenen Geschichte Der Waldbrunnen wird es durch Parallelität unabweisbar: Hier ist es ein bei Stifter nicht zum ersten Mal auftauchendes »wildes Mädchen«, das einen ebenfalls kleinen, allerdings sehr wohlerzogenen Stadtjungen auf zutiefst verwirrende Weise fasziniert und aus seinen bisher üblichen Gedankengeleisen entführt. Es tut das vor allem durch seine Angewohnheit, im Wald auf einem hohen Stein zu stehen und, die Arme abwechselnd reckend, der Welt folgende Predigten zu halten: »Schöne Frau, alte Frau, weißes Haar, Augenpaar, Sonnenschein, Hütte dein, Märchenfrau, Flachs so grau, Worte dein, Herz hinein, Mädchen, Mädchen, Mädchen, bleib bei ihr, nähre sie, schlafe da, immer nah, alle fort, himmelhoch, Sonne noch, Jana, Jana, Jana.« Einige Zeit darauf ahmt der immer stärker hingerissene Junge, wenn er sich unbemerkt fühlt, in der Waldeinsamkeit ihre Anrufungen gestisch und verbal nach. Zwischen den beiden entsteht eine heftige erotische Anziehung, und Jana, das so attraktiv wilde Mädchen, wird eines Tages nicht allein die Frau des Jungen, sondern Verfasserin mirakulösester Gedichte sein.

Was fällt sofort als Gemeinsamkeit ins Auge?

In beiden Fällen ist ein gewisses Stammeln, ein fragmentarisches Erzählen, ein verstörendes und bezauberndes Negieren der erwarteten Zusammenhänge durch Einsame in einer normalen, die erwachende Begabung dieser Außenseiter verkennenden Umgebung unübersehbar. Beide Male führt es geradezu zwangsläufig zum wirklichen, also in keiner Weise epigonalen Künstlertum.

Die Entwicklung muß selbstverständlich nicht immer so radikal verlaufen. Was für den Dichter, das sei hier vorweg bereits unterstellt, unerläßlich ist, nämlich der segensreiche Kollaps des üblichen Verständigungsnetzes, kann auch, etwa per Kunstwerk in der Rezeption, zu einmaligen Erkenntnisschocks führen, und das ist ja auch schon viel und eine erstklassige Medizin, ob bitter oder schmackhaft.

In Wilhelm Raabes Fragment Altershausen von 1911 ist es dagegen alles andere als ein Gedicht, das, der geschilderten Methode verwandt, den Umsturz bewirkt. Diesmal nicht vom Beginn, sondern vom Ende eines Lebens her.

Der in Fachkreisen berühmte, Wirkliche und Geheime Obermedizinalrat und große Seelenarzt Fritz Feyerabend beschließt, einen Tag nach seinem von der akademischen Öffentlichkeit mit irritierendem Pomp begangenen 70. Geburtstag, den gleichaltrigen Schulfreund und seinerzeit hochbegabten Schlingel Ludchen Bock am gemeinsamen Kindheitsort Altershausen gewissermaßen als Spiegel und Stabilitätsgarant seines von den Feierlichkeiten des Vortags etwas derangierten Ichs aufzusuchen. Am Bahnhof des Städtchens hört er gleich zur Ankunft eine greinende Stimme: »Soll ich Sie das nach dem Hotel tragen?« Der erfahrene Arzt sieht in ein »feistes, runzelloses, unbärtiges Greisengesicht«, zwinkernd unter schlaffen Lidern: Symptome, die er bei sich sofort als idealtypische diagnostiziert. Kein Problem, Routine langer Praxis, viele Male erlebt.

Als aber dann dieses lallende, grienende, in jähem Wechsel schluchzende Wesen lacht: »Ich bin ja Ludchen Bock«, zuckt der gestern noch Hochgeehrte zurück und beginnt seinerseits fassungslos zu stammeln. Bald stellt sich heraus, daß Ludchen, der beste Kumpel der Kinderzeit, mit zwölf Jahren auf den Kopf gefallen und dann so stehen geblieben ist in der Entwicklung. Das siebzigjährige Kind spricht zwar in Sätzen, wirft aber die relevanten Kategorien des menschlichen Verkehrs durcheinander, redet den Arzt noch eben vertraulich mit »Fritze« an, dann wieder scheu mit »Herre, Herre«. Es gibt in seinem Kopf keine hierarchische Klassifizierung der Zeiten und ihrer Geschehnisse. Im Gehirn Ludchens sind es die menschlichen Einteilungsmuster selbst, die Ordnungen gesellschaftlicher Verständigung, die zu stottern begonnen haben.

Sie merken, ein gewisser, unvermeidlicher Lord Chandos (1603–1902) geht kurz durch den Raum.

In dem Versierten und Hochgeehrten, der durch das infantile Ludchen in den eigenen Kindheitspunkt und einstmaligen subjektiven Weltbeginn zurückstürzt, kommt eine nie vermutete Umwälzung in Gang. Er stellt sich vor, allein am Fenster des Hotelzimmers stehend, nachdem er dem Lebens- und Erinnerungsschock namens Ludchen keineswegs aus dem Weg gegangen ist, das unveränderte Kindheits-Altershausen würde ihn fragen: »Liebster Freund, haben Sie auch einmal nackt vor dem furchtbaren Geheimnis des Selbstbewußtseins gestanden? Und wenn – wie verhielten Sie sich ihm gegenüber?«

Was dieser Satz, der einen vorübergehenden Zusammenbruch des Ich-Bewußtseins markiert und die Struktur der Erzählung bestimmt, für das moderne Verständnis von Konsistenz und Kontinuität des Individuums, ähnlich wie Ernst Machs »Das Ich ist unrettbar« bedeutet, muß kaum erwähnt werden: Das stabile, zuverlässig abgegrenzte, mit linear fortschreitendem Lebenslauf ausgestatte Ich ist größtenteils eine gesellschaftliche Konstruktion.

»Du da, bin auch da! Auch du da?«, so hört plötzlich, im Strudel der Zeitauslöschung, der international renommierte Mediziner die Turmuhr, noch immer die von früher, achtmal in Ludchens Stammelsprache schlagen. Das schiere, erneuernde Wunder der Anwesenheit in der Gegenwart und sonst nichts, als ungeheuer bescheidene, man darf auch sagen: demütige, wortkarge Bilanz, Essenz und einzige Gewißheit einer in höchstem Maße dekorierten Wissenschaftsexistenz.

Bei Stifter also Kinder, bei Raabe der alte Arzt.

Und noch eine beispielhafte Variation avantgardistischer Impulse aus einem, wie mir scheint, unprogrammatischen Stottern, Lallen, Stammeln jenseits von Expressionismus und dem ihn überspitzenden Dadaismus, nämlich nicht gedacht als aggressiver Akt gegenüber bestehenden Sprachformen durch raffinierte Imitation von Primitivlauten, vielmehr hergeleitet aus einer durchaus inbrünstigen Beobachtung der Wirklichkeit:

Mehr als ein halbes Jahrhundert nach Wilhelm Raabe wurde der amerikanische Dichter William Carlos Williams geboren, mit Eliot und Pound der Dritte im Dreigestirn des überseeischen Aufbruchs ins 20. Jahrhundert, Zeitgenosse Gottfried Benns, wie dieser Arzt, jedoch ohne die Anfälligkeit seines europäischen Kollegen für Rauschgift und Verwesungszustände, auch nicht für die Übermacht abendländischer Bildungsgüter wie seine anfänglichen Mitstreiter und Mitkönige der Avantgarde Eliot und Pound. Er nahm den Weg vieler Erneuerer von der suchenden Einzelperson zum Teil einer Avantgardegruppe hin zum profilierten Einzelgänger.

Sein ganzes Erwachsenenleben lang ging es Williams um die Heilung seiner Patienten (vielfach aus dem Milieu armer Einwanderer mit allen sozialen Implikationen, besonders des Frauenlebens) und gleichzeitig um die Schaffung einer unabhängigen amerikanischen Literatur. Für ihn müssen es kommunizierende Röhren gewesen sein, Leben und Gedicht: Nicht, entgegen seiner früheren und generell der amerikanischen Avantgardethese, Sprache statt, sondern Sprache und Gefühl.

In seiner Autobiographie berichtet er von der wunderbaren Gelegenheit, als Arzt in den Praxisgesprächen, in denen die Kranken nach den richtigen Wörtern ringen, Zeuge zu sein »wenn die Worte geboren werden (…), er (der Arzt) genießt das Privileg, sie in ihrer unverdorbenen Neuheit in seine Obhut nehmen zu dürfen. Er sieht die Mühe, unter der sie geboren wurden (…). Außer dem Sprecher und uns selbst ist niemand zugegen, wir sind buchstäblich die Eltern dieser Worte. Nichts kann bewegender sein«.

Williams wittert unter den allgemeinen Sätzen das »Gedicht« als die außerordentliche, im »Wust der Worte« verborgene Substanz, das eigentlich von ihnen Gemeinte, das, was sie sagen wollen, aber nicht sagen können, das, was in den Lücken plötzlich sekundenhaft einzigartig und absolut originär aufleuchtet, wenigstens aber ahnbar wird. Unter dem »Wust der Worte«, der gelernten, übernommenen Zusammenhänge das tief verborgen Eigentümliche, Eigentliche, auf das er lauert, das in plötzlichem Stammeln hervorbricht und wieder abtaucht.

Es geht darum, den noch nie zuvor formulierten Augenblick überhaupt wahrzunehmen und dann mit Wörtern zu erwischen. Wie erreicht man das bei der Umsetzung in Literatur? Meist durch Reduktion, Destruktion, Dekonstruktion des zur Gewohnheit Gewordenen. Bei Williams hört sich das in seinem vielleicht bekanntesten Gedicht, zu dem Charles Demuth das berühmte Bild Number 5 malte, folgendermaßen an: »Die große Ziffer / Unter Regen / und Lichtern / sah ich in Gold / die Ziffer 5 / auf einem roten / Feuerwehrauto / das fuhr / unbeirrt / unbeachtet / mit Schellengeschepper / Sirenengeheul / und Rädergeratter / durch die dunkle Stadt.«

Warum diese älteren Beispiele?

1. Weil wir dazu neigen, ich nehme mich nicht davon aus, länger zurückliegende oder überhaupt vergangene Epochen und ihre Werke zur bequemen Abgrenzung, ja, für naiver, für altmodischer zu halten, als sie tatsächlich sind.

2. Weil man aber den Werken, auch bereits verblichener Hersteller, anmerkt, daß sie einmal Elemente einer Vorhut bildeten, falls sie jemals unkonventionelle Impulse in sich bargen. Sie verleihen dem Opus eine unvergängliche Frische. Denken Sie an die sture, der konkreten Poesie nahe Programmatik von Sannas unermüdlichem Refrain: »Ja, Konrad«, ein Sprachgeländer in der Verlorenheit des weißen Nichts, roter Faden in der Eiswüste aus Stifters Erzählung Bergkristall. Wie bewußt der Autor dieses »Ja, Konrad« einsetzt, erkennen Sie daran, daß es in der Erstfassung von 1845 nur dreimal auftaucht, in der Buchfassung von 1853 aber siebzehnmal. Magie des Monotonen! Literatur als Ritual, als zelebrierte Messe aus Elementen der Realität, ausführlich im Nachsommer, auf die Spitze getrieben in der posthum erschienenen Erzählung Der fromme Spruch. Ist nicht Jandl (wenn auch wiederum anders als Hubert Fichte in seinen synkretistischen Romanen) ebenfalls geprägt von den Litaneien der katholischen Liturgie? Entscheidend ist, wie man etwas – gerade Uraltes – benutzt und transformiert.

3. Um, bevor ich mit Jandl zur zweiten Form des Avantgardismus komme, die erste zu verdeutlichen: Es ist eine unmittelbar aus dem Leben und seinen bürgerlichen Übereinkünften sich herausarbeitende persönliche, unverstellt individuelle Sicht auf Dinge und ihre Benennungen bis hin, siehe Raabe, zur kindlichen Nacktheit.

Williams versuchte, bei der Kollision mit den Vulgärklischees des Alltags, aus dem Gestammel seiner Patienten das eine, richtige Wort herauszuschmelzen wie »Metall aus Erz«. Der Abendländer Ernst Jandl verfremdete die abgedroschene Umgangssprache, auch die assoziationsübersättigte Kultursprache im zunächst gegensätzlichen Verfahren durch Undeutlichmachen, Verhunzen, Weghören bis zum artifiziellen Lallen von Dialektlauten, durch unerhörte Zusammensetzungen, schrille Konfrontationen. Er hat, ähnlich wie, schon genannt, Expressionismus, Dadaismus und die – für mich zeitweise sehr wichtige – französische Avantgardebewegung des nouveau roman von vornherein auf die bestehende Sprachwelt, also ab ovo auf Literatur reagiert.

Man lasse mir das jetzt bitte einmal als vielleicht etwas grobe Unterscheidung durchgehen.

Die entschiedene Methodik, die seiner Arbeit zugrunde liegt, erläuterte Jandl 1967 in Berlin exemplarisch als Anmerkungen zu zwei Gedichten. Zu »wien: heldenplatz«: »Die Spannung ist die Spannung zwischen dem beschädigten Wort und der unverletzten Syntax.« In »amsterdam« die Umkehrung: »Dort wurde das Wort verändert, die Syntax belassen; hier ist (…) jedes Wort der Umgangssprache entnommen, aber zwischen den einzelnen Wörtern besteht eine Beziehung syntaktischer Unvereinbarkeit. Als dritte Kraft wirkt die semantische Komponente, die in einem Schwebezustand gehalten wird.«

Nun Jandls Gedicht »nach hause kommen«, ein Totschlagtitel, der, wäre er nicht klein geschrieben, altbackene lyrische Erwartungen weckt und kaum zu zähmende typische Assoziationsketten in Gang setzt. Überprüfen Sie das jetzt bitte schnell an Ihren eigenen! Nach Hause kommen also: Aus dem Krieg? Von einer Weltreise? Aus dem Krankenhaus? Überraschungen eigentlich ausgeschlossen. Es sei denn, auch das im Grunde alte Hüte, das Haus wäre abgebrannt oder die Ehefrau würde beim Seitensprung ertappt. Hier dagegen:

»öffnet die tür sich / lacht sich entgegen / umarmt sich / küßt sich / springt an sich hoch als das kind / springt an sich hoch als der hund / streichelt sich den kopf / nimmt die tasche sich aus der hand / hilft sich aus dem mantel / erzählt sich was alles war draußen / hört sich zu wie alles war zuhaus«.

Von den Handlungen her der denkbar normalste Eintritt in die eigene Wohnung, ultranormal, extrabanal. Nichts Neues unter der Sonne, die tagtägliche Leier?

Nein, ganz und gar nicht! Durch eine kleine Spiegeldrehung macht Jandl eine Halluzination der Sehnsucht eines Einsamen nach etwas nicht Vorhandenem, schmerzlich Vermißtem daraus. Oder, ebenso denkbar, die Verblendung eines Mannes, der alle pflichtgemäßen Handgriffe familiärer Kommunikation routinegemäß anstandslos ausführt, dabei, obwohl Frau, Kind, Hund zur Stelle sind, aber nur noch sich selbst wahrnimmt. »Semantischer Schwebezustand«, so oder so trostlos, so oder so komisch.

Aus noch schlichteren Wortbausteinen ein zweites Gedicht: »ich bin nicht gerne, wo ich bin / ich wäre nicht gerne, wo ich nicht bin / ach, wäre ich gerne, wo ich nicht bin / wäre vielleicht ich lieber, wo ich bin«.

Ein geläufiges und aufreizendes, hochromantisches und melancholisches Motiv, Pathos inbegriffen, Sie kennen es: Immer dort nämlich, wo du gerade nicht bist, ist das Glück. So weit, so gut und nicht allzu tragisch. Hier jedoch – man könnte einen Essay drüber schreiben, Jandl kommt mit vier Zeilen aus – ist die Fähigkeit zur Sehnsucht erloschen. Das ist das Schlimme. Hätte die Person noch den Wunsch, lieber woanders zu sein als hier, wo sie nicht gern ist, würde sie, mit dieser Option, auch eher ertragen, hier zu sein. So aber, ohne Vision, sind ihr alle Auswege, alle Alternativen verschlossen. Aus dem ehemaligen Wanderermotiv ist eins des Stillstands geworden.

Der Witz an der Sache ist, daß Jandl dieses schwerst Verzweifelte in Gestalt eines einfachen Kinderliedchens, eines spielerischen Abzähl- und Unsinnreims formuliert und es ausgerechnet durch die scheinbar nicht-kongruente, unpassende Form schafft, pfeilgerade ins Herz zu treffen. Die unverhoffte Gestalt ist plötzlich die einzig richtige. Sie macht den Erwachsenen zum hilflosen Kind der Welt und den eigenen Gemütsverhältnissen gegenüber, die Mitteilung des Gedicht zugleich harmloser und: grausamer!

Avantgardismus lenkt den Blick, für jede Generation neu, verschärft auf Form, auf Stil. Um den vorgefundenen, erpresserischen Zusammenhängen des Kollektivs zu entkommen, geht er in Gegenwehr auf Nullpunktpositionen zurück und baut von dort eine Sprachwelt auf. Erneuerung durch Verfremdung, fast immer zunächst als asketische Vereinfachung, Störung literarischer Kulinarik, um eine andere, auch in der trügerischen Schlichtheit kompliziertere Lektüre anzubieten.

Der Schweizer Robert Walser vermutete, eine unseren Lesegewohnheiten wie geschmiert entsprechende Literatur habe den Zweck, von »Differenziertheiten angenehm abzulenken«, und sowohl der Österreicher Jandl wie der deutsche Avantgardist Helmut Heißenbüttel haben einleuchtenderweise Erholung bei den Spannungs- und Konstruktionsritualen von Kriminalromanen gesucht.

Natürlich kann aber auch und gerade Avantgarde vergreisen, d.h. mechanisch werden, wenn ursprünglicher Aufbruch und Widerstand zu fixen, verselbständigten, allenfalls noch variierten Stilfiguren, zu sterilen Techniken eintrocknen. Dann wird Avantgarde zu Lebzeiten historisch. Erschreckend zu bemerken etwa in Robbe-Grillets, des großen Altmeisters des nouveau roman, letztem, vor einigen Jahren erschienenen Werk Die Wiederholung.

Er habe sich dem »wie man sagt, sogenannten Experiment verschrieben, nur weil ich Schwierigkeiten hatte, eine Redeweise für mich zu finden«, gestand Heißenbüttel, nicht in einer schwachen, sondern starken Minute. Er wie auch Ernst Jandl haben in späten Jahren den sehr ehrenvollen, ungeschützten Versuch unternommen, die eigene Vorhut, gestatten Sie das etwas riskante Bild, ihres Alters zu sein und die unentdeckten Verhältnisse ihres veränderten Zustands zu erkunden, unmittelbar auf die neuen Lebenserfahrungen zurückgreifend und im Bewußtsein überhaupt erst zu ihnen vorstoßend. In beiden Fällen ist es zu bewegenden Ergebnissen gekommen, auch wenn sie vielleicht diejenigen, die gewohnheitsmäßig nach saisonalen Neuerungen hecheln, damit nicht mehr vom Hocker gehauen haben sollten.

Avantgarde trägt in jeder Epoche ein anderes, oft gegensätzliches Gesicht, ist sich aber in ihrer Ablehnung blind überlieferter Zusammenhänge und Muster, des Käfigs vorgefundener Sprach- und bewußtlos übernommener Sprechzeremonien immer gleich.

Ich glaube, der neunzehnjährige Rimbaud hatte recht, als er verlangte, man müsse absolut modern sein. Nur so nämlich bleibt Sprache ein biegsames, federndes Instrument.

Denn allerdings ist diese Modernität weder zu verwechseln mit deren erstarrter Pose, noch mit einem standpunktlosen à-la-mode-Gebaren des jeweiligen Zeitgeists. Man sollte, und das ist jetzt ein vielleicht etwas hochfahrendes, vor allem aber durchaus nicht leicht zu praktizierendes Lebens- wie Kunstprogramm, seiner eigenen Wahrnehmung und ihrer Differenz zur Gesellschaft auf der Spur bleiben, als einem höchst persönlichen, unverdrossen jugendlichen Avantgardeprozeß, jenseits aller literaturwissenschaftlichen Einordnungen, auf den es nicht allein, aber besonders im Leben eines Schriftstellers im Ernstfall ankommt: ein stetes, individuelles Nachjustieren der einmal für sich entdeckten Formen und Stoffe, möglichst ohne Angst um guten Ruf, Geschäft, Applaus.

Im zweiten Teil soll es darum gehen, wie sich mir unter diesem Blickwinkel meine eigene literarische Entwicklung darstellt.

Bevor ich aber anhand einiger Beispiele auf meine eigene Entwicklung eingehe, möchte ich das bisher Gesagte noch einmal bündeln.

Literatur ist für den Schriftsteller die präziseste Weise, sich auszudrücken. Genauer: seine spezielle Perspektive auf die Wirklichkeit zu rekonstruieren, indem er den Ab- und Eindruck, den sie in ihm hinterläßt, formuliert, also seine eigene, seinen Erlebnissen entsprechende Wirklichkeit in die Gegenwart stemmt. Er erwehrt sich durch diese, nach seiner Meinung richtigere Welt der kolportierten, in die er hineingeboren wurde und die ihm ständig als eine übermächtige auf der Haut juckt.

Einfach gesagt: Das Schreiben ist seine Art, die allgemeinen Vereinbarungen über Dinge und Gesellschaft zu korrigieren. Er arbeitet an der Errichtung einer Gegenwelt. Die Sprache mit ihren allerdings vielfältigen Möglichkeiten ist das einzige Mittel, das ihm dafür zur Verfügung steht. Sie ist, nach dem vorangestellten Zitat aus Jandls Gedicht, stärker unerwünschten assoziativen Belastungen ausgesetzt als die Töne der Musiker, die Farben der Maler, die Plastiken der Bildhauer, die Figuren der Tänzer, die Gebäude der Architekten.

Denn: Sprache ist zunächst Medium für alle.

Literatur benutzt die Sprache jedoch nicht, wie das üblicherweise jedermann von früh bis spät für seine Zwecke tut. Sie ist Sprache.

So weit, so hoffentlich klar. Der Haken ist nur: Diese Sprache ist nicht die der Begriffe. Im Gegenteil. In der Literatur wird deren Pragmatik ständig aufgelöst. Sie zersetzt Pauschalisierungen, Subsumierungen durch Konkretheit. Literatur argumentiert nämlich, wie alle künstlerischen Disziplinen, über die Gestalt, hier: die der Sprache.

Deren Eigenheit ist aber, daß sie flimmert. Sie ist nicht eindeutig wie der Begriff es zumindest anstrebt zu sein, sondern vieldeutig. Sie changiert, und zwar mit Absicht. Die Gestalt vereinfacht die Sachverhalte nicht, sie differenziert, wenn auch nicht im Sinne von Spitzfindigkeit. Der Autor schärft sein Instrument durch eine Palette von Tönungen, durch das kalkulierte Stiften neuer Assoziationen, gelegentlich durch Dialekt, Kindersprache, altertümliche Wörter, Neologismen und durch das Schaffen ungewohnter Zusammenhänge. Literatur ist nicht praktikabel, sie ist aufsässig, gelegentlich, wenn sie nicht ideologisch angelegt ist, auch gegenüber ihrem Autor.

Im Extremfall kann gerade das Verbiegen der Wörter bis hin zum Lallen der Protagonisten, kann die scheinbare Unlogik ihres Verhaltens die exakteste Kontur um sie ziehen.

Des Schriftstellers Moral besteht zuallererst in dem Versuch, unser Leben und wie wir uns per Sprache darüber verständigen, vor den überall und jederzeit waltenden Klischees zu retten, vor den schrecklichen Simplifizierern, vor Verstümmelung, Verarmung, Verschleiß von Wörtern und Weltbildern – was mich als Prosaistin natürlich speziell interessiert –, d.h. keine allgemein verbindliche Oberfläche zu bieten, statt dessen rigoros subjektiv zu sein. Das jedoch ist etwas, was einem nicht in den Schoß fällt, nur den Kindern und Irren, da sie keine Wahl haben. Erwachsene müssen es wieder lernen und trainieren, immer neu. Das Modewort »authentisch« ist übrigens die Klischeeversion des Gesagten, um nicht zu sagen, dessen Perversion. Auch der O-Ton muß in funktionierende Organisation, muß in poetische Gesamtkonstruktion übersetzt werden.

Die Gesetze der Ästhetik, auch wenn oder gar weil sie kein direktes Fundament in der materiellen Welt haben, sind streng, sowohl ihre objektiven, wie die vom Autor für sich selbst erlassenen. Diese allerdings sind von Fall zu Fall wandelbar.

Das habe ich natürlich nicht alles von Anfang an gewußt! Nichts habe ich gewußt. Ich erinnere mich nur mehr oder weniger dunkel an eine Empfindung, an eine Faszination durch Anblicke und eine Bezauberung durch Geschichten, beides in wehrlosem Überwältigtsein. Von manchen Bildern, die für mich beim Hinsehen lebendig wurden, war ich, bis zur Absence, so gefesselt, daß ich das eigene Weiterleben beinahe vergaß. Ich spreche hier vom frühen Kindesalter.

Umso wichtiger die von anderen nachgelieferte Reportage über die inzwischen abgelaufenen äußeren Geschehnisse. Die Reportage half mir, den Anschluß an die Wirklichkeit wiederherzustellen. Ich kriegte oft, vertieft etwa in das Wassergestrudel um einen toten Katzenkörper, der sich zwischen zwei Steinen im Bach verfangen hatte, nur halbwegs mit, was zwischendurch um mich herum passierte. Meist war es meine Mutter, die dann erzählend den leeren Zeitraum füllte, mich verbal an der Hand durch die Dunkelheit führte und wieder in den sogenannten objektiven Vorkommnissen verankerte.

Sie tat das auf so glänzende Art, daß ich nie das Gefühl hatte, etwas während meiner Trance versäumt zu haben. Spielte sich nicht gerade erst dann, wenn ich ihre Schilderung hörte, durch ihre Erzählung das viel Sensationellere ab? Die Dinge wurden plastisch und aufregend. Die Ereignisse hatten Ordnung und Klarheit, Anfang und Ende, einen spannenden Aufbau bis zum Höhepunkt und immer eine Pointe. Die Menschen waren charakteristisch. Was sie sagten, war bedeutsam wie niemals in meiner Gegenwart.

Drei schockartige Ereignisse, so ist es mir einige Erkenntnisse später erschienen, haben in mir den prägenden Eindruck eines jederzeit möglichen plötzlichen Abrisses der Wirklichkeit und ihrer notwendigen erzählenden Rekonstruktion befestigt. Ich berichte kurz davon aus einem Grund, den ich dann noch nennen werde:

Mit drei Jahren, wir wohnten damals in Strobl am Wolfgangsee, beobachtete ich so hingerissen, wie die Steine, die ich von einem Bootssteg ins Wasser warf, die Sonnenkringel veränderten, daß ich mich, ohne Wahrnehmung des Übergangs, plötzlich in einem gewaltigen Wogen wiederfand, eigentlich nicht wiederfand, sondern gefunden wurde, kurz vor dem Ertrinken.

Mit gut vier Jahren ging ich allein auf der Strobler Hauptstraße, als schlagartig die Luft bebte und die Erde zu donnern anfing. Ohne Vorwarnung von allen Seiten ein Einbruch eiserner Maschinen in die Dorfwelt, kein Mensch zu meiner Rettung vor dem kreischenden Metall in der Nähe. Die Erwachsenen wußten: Es handelte sich um die diszipliniert hintereinander herrollenden Panzer der amerikanischen Befreier.

Mit sieben Jahren, als ich, ganz wie ich es gelernt hatte, auf dem Bürgersteig wartete, bis die Straße, diesmal eine in Bochum im Ruhrgebiet, frei sein würde zum Überqueren, geriet ich aus dem Stand in eine dröhnende schwarze Kammer, am hellichten Tag. Die Erklärung: Ein Lastwagen war umgekippt und hatte mich, ohne größere Verletzungen zu verursachen, unter sich begraben.

Vermutlich hätte ich, in allen drei Fällen ohne eigene Außensicht, jede Form der Erläuterung akzeptieren müssen. Ich war ja, da sich die Welt als keineswegs kontinuierlich stabile zeigte, darauf angewiesen.

Es gab aber im Laufe der Zeit eine viel gravierende Erfahrung. Wenn ich tatsächlich Augenzeuge eines Ereignisses war, stellte ich nach und nach fest, daß die Realität nicht allein hinter den Ausmalungen meiner Mutter zurückblieb. Sie wich auch stark davon ab. Nur durch den Mund meiner privaten Meistererzählerin erhielten die Dinge Farbe und Dramatik. Was zunächst vage, amöbisch, undurchsichtig und unstrukturiert war, formte sie zu faszinierenden Geschichten um. Ich begann, darauf zu achten, wie sie das machte, wie sie sich bedenkenlos entfernte von dem, was ich selbst beobachtete und erlebte. Sie beherrschte, wie ich später begriff, unbewußt das gesamte Stilisierungsrepertoire gekonnten Erzählens, und ich registrierte dann irgendwann auch, daß ihre mündliche, betörende Literatur Muster über die Wirklichkeit warf, die nicht mit den Vorgängen, wie sie mir widerfuhren, kongruent waren, sondern mein eigenes Erleben deformierten, überstülpten, vielleicht auslöschten oder sogar vorherbestimmten.

Ich begann, mich aufs Zuhören jeder Art von Erzählen, auch auf das anderer Leute, zu konzentrieren, auf die Kniffe und Techniken, um unterhaltsam, spannend, bewegend zu sein. Mehr oder weniger raffiniert benutzten alle, eventuell ohne es zu wissen, solche Tricks, ein offenbar angeborenes Handwerkszeug.

Jetzt war es für mich vorbei mit dem andächtig gläubigen Lauschen, was nicht heißt, die konventionelle Geschichtendramaturgie, die genuine Talente aus dem Effeff beherrschen, hätte für mich damit ihren Zauber verloren. Durchaus nicht, ich ahmte sie ja, da mir die mündliche Begabung dazu eher fehlte, schriftlich nach, nette kleine Textchen über dies und das, für die man mich lobte. Allerdings, so habe ich das einmal ausgedrückt, konnte ich mir, etwas älter werdend, nicht verhehlen, daß mir immer öfter wesentliche Happen bei dieser Methode vom Besteck fielen und unter den Tisch, vielleicht sogar die interessantesten Sachen. Anders gesagt: Wollte ich etwa stets in vorfabrizierten Kleidern herumlaufen, bei denen zwar die Stoffe, aber nicht die Schnitte variierten?

Von der anderen Seite lockten, da war ich längst Gymnasiastin, ohnehin die aggressiven Zweifel der Moderne an Plot, intaktem Ich, eindeutigem Charakter. Kurzum, ich befand mich, ehrgeiziger in meinem Schreiben geworden, in einer Zwickmühle zwischen der Verführungskraft der alten Geschichten und dem Unglauben gegenüber ihrer Wahrheitskraft. Es war eine ratlose Haßliebe.

Erst nach Jahren zeigte sich mir eine erste Lösung, die auch, das ist jetzt nicht zu hoch gegriffen, eine Erlösung war. Ich weiß nicht, ob sich annähernd nachempfinden läßt, was die kurzen Geschichten meines ersten Buches für mich bedeuteten: den von keiner Tradition, keiner Autorität, keinem Einflüsterer diktierten oder zumindest vorgeschneiderten Ausdruck meiner Sicht auf das, was der Fall ist. Den theoretischen Hintergrund resümierte ich ziemlich missionarisch im Klappentext. Hier ein Auszug:

»Das, was wir erleben, sind keine Geschichten, die Realität ist anders. Ohne Zweifel! Das, was sich die Leute im Bus erzählen, hat Anfang und Ende, Höhepunkt und Pointe, das, was wir automatisch tun, wenn uns etwas zustößt, ist das Herausputzen der Details zu Symptomen, das Herstellen einer Geschichte. Was dabei entsteht, ist nicht die Realität. Ohne Zweifel! Das Zurechtlegen jedoch auf Sinn, Zusammenhang, Hierarchie der Fakten hin ist eine Realität, zweifellos. (…) Wir haben eine natürliche Affinität zu den Ordnungsweisen der Geschichten, natürlich, wie unser Bedürfnis nach Sinn, Perspektive, Ziel.«

Die Titel der Geschichten lauteten z.B. Sechs Gefühle in drei Schritten, Fünf Möglichkeiten in die Stadt und wieder herauszukommen. Es handelte sich um Seriengeschichten mit einem beträchtlichen Register an klassischen Gefühlen. Ich konnte mir eine breite Skala von literarisch eingeführten Emotionen leisten, weil ich sie zugleich technisierte. Ich sperrte sie demonstrativ in die Mechanik, in die Zwanghaftigkeit eines bestimmten Ablaufs.

Eins war inzwischen klar, und es gilt bis heute: Von der Wirklichkeit konnte ich nur erzählen über unseren Umgang mit ihr. Es ist gerade nicht so – wie manchmal unterstellt –, daß ich das Artifizielle liebe, vielmehr drängt sich mir, ob ich will oder nicht, die Künstlichkeit in unserem zwischenmenschlichen Verkehr und unserem Kontakt mit den Dingen, am wenigsten noch mit denen der Landschaft, blitzschnell auf. Der gemütlichen und immer so grundsympathischen, wenn auch zusammengeflunkerten Idee einer spontanen, echten Natürlichkeit galt es leider für immer Lebewohl zu sagen.

Es versteht sich auch, daß Autobiographien in dieser Hinsicht eine fruchtbare Lektüre für mich waren, und das wegen ihres schlagenden Kontrastes. In sogenannten Lebensgeschichten von eigener Hand wird, mal brillant, mal stoffelig, das ganze Repertoire der tradierten Erzählkunst samt Vernetzung der Motive und ihren vor Kontingenz schützenden Magien eingesetzt. Es soll sich aber, Suggestion und Autosuggestion, um das echte, eigene, unmittelbar wiedergegebene Leben dabei handeln.

Auch in meinem zweiten Roman Rita Münster gibt es einen längeren Schnelldurchlauf von Kindheit und Jugend in Einzelepisoden, zwar unter einer anderen, aber ebenfalls alle Details bestimmenden Perspektive. Der Lebensstoff läßt sich erstaunlich leicht zu diversen, jeweils absolut glaubhaften Beweisgängen überreden, auch in spot lights auf einzelne Dinge zu einer Lebensgeschichte aneinanderreihen, wie ich es 2008 in Die Kleider der Frauen gemacht habe.

Zunächst aber galt meine gesamte Anstrengung der Konzeption meines ersten Romans, eines größeren epischen Gebäudes also, in dem ich alles, was ich über Literatur und Lebenspraxis bis dahin wußte, unterbringen wollte, genauer: Es sollte eine unauflösliche Durchdringung von Stoff und Form geben, und wirklich, Frau Mühlenbeck im Gehäus, dreißig Jahre alt inzwischen, ein Roman, um den ich mit Unterbrechung zehn Jahre gekämpft hatte – auch mittels Durchforstung von Kriminal- und Schauerromanen nach spannungsfördernden Wendungen, vor allem nach wuchtigen Satzanfängen und mit dem Anlegen entsprechender Listen –, Frau Mühlenbeck ist trotz oder wegen der beinernen Programmatik Basis aller weiteren Romane geblieben.

Hier der Anfang von Frau Mühlenbecks erstem Monolog.

»Absolute Finsternis ist etwas Grausames. Mein Vater war ein jähzorniger Mann, aber schon damals stellte er uns Kindern, wenn wir uns im Dunkeln fürchteten, ein Öllichtchen ins Schlafzimmer. Das kostete fast nichts und half so (…). Vor nichts, vor keinem Menschen habe ich in meinem Leben Angst gehabt, nur vor dem Dunkeln. ›thcin tfälhcs tetüheb hcid reD‹: ›Der dich behütet schläft nicht‹ stand auf dem Leinentuch entlang dem Bett, in dem wir alle einmal schliefen. Wir alle wußten es rückwärts auswendig.«

Als Abwehr gegen dieses gefürchtete Dunkel, aber auch zur Belehrung entrollt die Frau, eine bravouröse Erzählerin, vor einer jungen Frau in Beispielen ihren Lebensfaden, freilich ganz nach Gusto. Belehrend nicht nur durch bestimmte Weisheiten, die anekdotisch exemplifiziert werden, sondern vor allem in der Art und Weise, wie sie erzählt: pointiert, zielstrebig, ideologisch. Es sind private Mythen, stilisierte Lebensaugenblicke als weltanschaulicher Beleg, beginnend zur Zeit des Ersten Weltkriegs, über Nazideutschland und Nachkriegszeit bis in die siebziger Jahre. In einem zweiten Erzählstrang berichtet sie, in entsprechender Manier, Ereignisse aus dem Kleinkrieg ihrer Gegenwart.

Dem Zauber und der Diktatur der Mühlenbeckschen Literarisierungen und wundertätigen Lebensreliquien ist die zweite weibliche Person ausgesetzt, die zu ihrer Verzweiflung Lehrerin sein muß, hier im Haus aber eher Tochter oder Schülerin ist.

Ich bin sicher, Sie haben die, nun stilisierte, Grundkonstellation als bereits vorhin in leicht abweichender Besetzung geschilderte, nämlich in ihrer live-Version (Mutter/Tochter), identifiziert.

Die zweite Person kommt ebenfalls in zwei monologisierenden Erzählsträngen zu Wort, die aber gekennzeichnet sind durch organisatorische Hilflosigkeit, anders gesagt: durch eine diffus leidende, unvoreingenommene Offenheit in alle Richtungen. Sie unterliegen jedoch in schrittweisem Prozeß einer Änderung, verengen, verfestigen sich von Kapitel zu Kapitel. Am Ende kann die junge Person, durch Frau Mühlenbecks Schule gegangen, ihren Problemen wie scharf umrissenen Gegnern gegenübertreten, diszipliniert und gerettet für die Normalwelt, in ihrer Eigentümlichkeit aber besiegt, während die mit Urteilen und Parteinahmen gepanzerte Frau Mühlenbeck nur in einer schwachen Sekunde ihre Ichbarrikade öffnet und eine von ihr selbst nicht einkalkulierte Wunde mit schnell unterdrücktem Grausen offenbart. Man weiß nicht recht, ob man ihr zu ihrem Heil mehr wünschen sollte. Begreift sie überhaupt, und wenn, in welchem Maß, wie manisch, über Grille und Spleen hinaus, sie sich ihr Leben zurechtgelegt hat?

Das Problematische an dieser, in vielem bewundernswerten Frau, die plaudernd ihrem Lebenslauf und Charakter so resolute Konturen gibt, ist die über die eigene Person verhängte, allerdings vor Anfechtungen bewahrende Unmöglichkeit zur Alternative, die sich aus der Verwechslung der Wirklichkeit mit ihren Maximen und Interpretationsmustern ergibt. Das wird nirgends resümierend ausgesprochen. Wer es formuliert, allerdings schon fast penetrant, ist allein die Konstruktion.

Nach so viel selbstverordneter Enthaltsamkeit schien mir der Boden für eine schrittweise Annäherung an die archaischen und kultivierten Zaubermittel der Literatur bereitet, ohne deren Zwiespältigkeit, wenn man sie naiv oder einfach routiniert einsetzt, leugnen zu müssen. Mit meinem 2000 erschienenen Roman TeufelsbrückFrau Mühlenbeck