Buchinfo

 

Stell dir vor, dich hat noch nie jemand liebevoll in den Arm genommen, noch nicht einmal deine Eltern. Oder du wünschst dir nichts sehnlicher, als ein einziges Mal friedlich mit der ganzen Familie an einem Tisch zu sitzen. Oder endlich einmal deinen Geburtstag zu feiern.

Das gibt es nicht, sagst du? Beate Dölling erzählt genau davon. Echte Schicksale von jungen Menschen, die so einen Teufelskreis der Hoffnungslosigkeit durchbrochen haben – aus eigener Kraft, mit Unterstützung von Freunden, Lehrern oder Mitarbeitern der Arche.

 

Geschichten, die dich bewegen und nicht mehr loslassen.

 

 

»Ich bin für Fair Play, nicht nur auf dem Platz.« Lukas Podolski

Autorenvita

 

Autor

 

© privat

 

Beate Dölling, 1961 in Osnabrück geboren, ist Autorin zahlreicher Kinder- und Jugendromane, die mehrfach ausgezeichnet wurden. Außerdem schreibt sie für Deutschlandradio Kultur und gibt Schreibwerkstätten.

www.beatedoelling.com

IT

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

als Profifußballer weiß ich: Ohne Fair Play geht auf dem Platz nichts. Wenn ich möchte, dass der Gegner fair mit mir umgeht, muss ich auch fair spielen. Und wenn eine Mannschaft bei einem Spiel von Anfang an mehr Spieler auf dem Platz hätte, wäre das extrem ungerecht. Aber sollten partnerschaftliches Verhalten und gleiche Ausgangsbedingungen nicht immer und überall gelten, nicht nur auf dem Platz und im Sport?

Das wäre schön. Aber von gleichen Startbedingungen können manche Kinder und Jugendliche nur träumen. Sie wachsen unter problematischen Verhältnissen auf, das Geld fehlt an allen Ecken und Enden. Dass es Armut gibt, weiß ich schon lange. Ich hatte als Kind weder Markenklamotten noch tolle Fußbälle, sondern habe mit einem alten, kaputten Ball angefangen zu spielen.

Vielen Kindern und Jugendlichen fehlt es nicht nur an einem Ball, sondern am Nötigsten: einer eigenen Matratze zum Beispiel, einem Frühstück am Morgen und oft auch an Zuneigung oder Geborgenheit. Könnt ihr euch vorstellen, dass es in eurer unmittelbaren Umgebung Kinder oder Jugendliche gibt, die noch nie Geburtstag gefeiert haben oder von ihren Eltern umarmt wurden?

Aber niemand hat es verdient, wegen seiner Armut ins Aus geschossen zu werden. Zum Glück bin ich nicht der Einzige, der das so sieht und auch was dagegen tut. Bernd Siggelkow hat in Berlin die Arche gegründet. Hier finden Kinder und Jugendliche genau die Zuwendung und Unterstützung, die sie brauchen, um ihre Talente entfalten zu können. Gemeinsam geht vieles leichter!

Das finde ich total wichtig und deshalb unterstütze ich die Arche gern mit der Lukas-Podolski-Stiftung und setze mich als Arche-Botschafter für diese wichtige Arbeit ein.

Denn ohne Unterstützung kämpft man auf verlorenem Posten – im Leben wie im Fußball. Manchmal reicht auch schon ein bisschen Toleranz und Verständnis füreinander. Packen wir’s an!

 

Lukas Podolski,

Arche-Botschafter

23:50 Uhr, der Mond scheint. Lilly steht vor der Haustür. Gut, dass sie nicht so eine Mutter hat wie Bille, die kontrolliert, wann man nach Hause kommt. Mama macht da keinen Stress. Lilly kann auch unter der Woche so lange wegbleiben, wie sie will.

Das Klingelschild ist frisch übersprüht, diesmal in Rot. Sie steckt den Schlüssel ins Schloss, die Tür geht auf.

Dauert mal wieder ewig, bis der Fahrstuhl kommt. Im Treppenhaus Fernsehstimmen, sonst ist es still, niemand brüllt herum, niemand knallt eine Tür, kein Kindergeschrei. Die letzten Meter stottert der Fahrstuhl. Das erinnert sie an Thorben, aus ihrer Klasse. Der stottert auch. Wenn sie den nachäfft, wird er ganz rot und kann gar nicht mehr sprechen. Voll witzig.

Im Fahrstuhl riecht es nach Urin und Pommes. Kann auch Pizza sein. Fettig halt. Irgendwas aus dem Ofen. Letztens hat sie auch in den Fahrstuhl gepinkelt. Nicht aus Not, nur so aus Spaß, sie war das einzige Mädchen. Mief und Struzzi und noch zwei Kumpels waren dabei und haben sich schiefgelacht. Sie hat im Stehen gepinkelt, wie die Jungs, einfach ihre kurze Hose und die Unterhose ein bisschen zur Seite geschoben. Sogar einen Bogen hat sie hingekriegt, bis an die Tür. Da staunten die Jungs aber. Der Kumpel von Struzzi wollte dann bei ihr mal anfassen, da wo der Strahl rauskam, aber sie lässt sich doch nicht von dem befummeln! Was denkt der sich denn! Ist der blöd, oder was?

 

Schade, dass man die Fahrstuhltür nicht zuknallen kann. Das würde jetzt schön durchs Haus hallen. Sollen ruhig alle hören, dass sie kommt.

Mama trifft sie schon im Flur. Nanu?

»Hallo mein Schatz!« Mama ist total gestylt, hat glasige Augen und Besuch. Herrenbesuch, sonst würde sie nicht so strahlen, sondern längst auf dem Sofa liegen und ratzen, mit vollem Aschenbecher vor sich auf dem Boden. Morgens stolpert sie dann drüber und kickt die Kippen bis unters Sofa. Da liegen sie dann bis zum Sankt Nimmerleinstag. Das ganze Sofa riecht nach kalter Asche.

»Dit is meine Große«, ruft Mama ins Wohnzimmer und bläst Rauch knapp an ihrem Gesicht vorbei. »Nu jeh ma hin und sach Hallo«, flüstert Mama ihr zu und fängt an zu husten. Sie muss meistens husten, wenn sie leise spricht. Rumbrüllen reinigt die Lunge.

Meine Große! – Das hat sich ein bisschen stolz angehört, wie Mama das gesagt hat. Lilly rührt sich nicht. Möchte es noch mal hören: »Schatz« oder »Große«.

Mama hat sich voll geschminkt. Blauer Lidschatten, Wimperntusche, roter Lippenstift, jede Menge Make-up, was ihr schon am weißen Kragen klebt. Wo hat sie überhaupt die weiße Bluse her, und dann noch gebügelt? Sie haben nicht mal ein Bügeleisen. Die Haare sehen auch ganz anders aus, hochgesteckt und lockig. Sowas kriegt sie nie allein hin. War sie etwa beim Frisör?

»Nu jeh endlich ins Wohnzimmer und sach Hallo!«

Warum ist sie denn so ungeduldig? Mama wischt ihr mit dem Daumen was von der Wange. Lilly zieht den Kopf weg. Mama checkt kurz, was sie anhat, und sagt, sie könne die Schuhe ruhig anlassen. Sie weiß ja, dass Lilly zwei verschiedene Socken trägt, mit Löchern. Lilly hat überhaupt keine Socken, die zusammenpassen. Stört Mama doch sonst auch nicht.

»Wolfgang, bleib da, sie kommt gleich!«, ruft sie laut ins Wohnzimmer und kichert. Lilly schätzt, dass sie mindestens schon eine Flasche Sekt und vier Feiglinge intus hat. Kann auch noch Bier dazugekommen sein, aber Bier trinkt Mama meistens nur in der Kneipe, weil der Sekt da zu teuer ist.

Die Asche fällt von der Zigarette. Mama trippelt in die Küche. Sie trägt schwarze High Heels. Die sind auch neu. Ihre Knie scheuern bei jedem Schritt aneinander. Mama hat X-Beine und mit Stöckelschuhen sieht man das erst richtig. Sie versenkt die Kippe in einer halb leeren Kaffeetasse. Es zischt. Dann streicht sie sich den Rock zurecht. Den hat Lilly auch noch nie gesehen.

 

Lilly geht ins Wohnzimmer, will sich den Spacko doch mal angucken. Er sitzt im Fernsehsessel, breitbeinig, Arme auf den Lehnen, Kopf im Nacken. Kurze, gegelte Haare, strahlend weiße Zähne. Wow, wo hat Mama den denn aufgegabelt? Sieht original aus wie Dieter Bohlen.

»Das ist Lilly, meine Große.« – Ja, da schwingt tatsächlich ein bisschen Stolz mit. Lilly wird warm im Bauch. Am liebsten würde sie die Worte festhalten.

»n’Abend«, sagt sie. So förmlich war sie schon lange nicht mehr. Dieter Bohlen strahlt sie mit hellblauen Augen an. Mann, was für Augen! Wie ein Husky. Sie hätte ja so gern einen Hund, aber Mama sagt, das kommt gar nicht inne Tüte.

»Ick bin der Wolfgang«, sagt er. »Und du bist also die Lilly.« Sie beißt sich auf die Lippen, nickt. Das erste Mal, dass Mama sie offiziell »Lilly« nennt. Sie hatten vor ein paar Wochen ausgemacht, sie nicht mehr Amanda oder Mändi zu nennen, weil Mama diesen Scheiß-Namen einfach nicht mehr über die Lippen kriegte. War voll ausgerastet, von einer Minute auf die andere, hatte sie angeguckt, als sei sie ein Alien. »Ab jetzt heißt du Lilly.« – Lilly ist ihr zweiter Name. Von ihr aus konnte Mama sie nennen, wie sie wollte, Hauptsache, sie beruhigte sich wieder und guckte sie nicht mehr so hasserfüllt an. Bis auf ein paar Versprecher hatte es auch ganz gut geklappt. Mama war viel fröhlicher dabei. Warum sind sie bloß nicht früher auf die Idee gekommen, sie Lilly zu nennen, den Namen, den Mama für sie ausgesucht hatte.

 

Wolfgang hat einen Bauch, eine ziemliche Kugel sogar, die er geschickt unter der Anzugjacke versteckt. Aber sonst rank und schlank der Mann! Und dann dieser Anzug! Anthrazitfarben nennt man das. Obwohl, wenn man richtig hinguckt, glänzt der Stoff irgendwie speckig und am Jackett fehlt der untere Knopf. Das weiß-blau gestreifte Hemd spannt über seiner Wampe.

Hinter ihr gackert Mama. Macht Scheibenwischerbewegungen vor dem Gesicht. Das sieht Lilly gerade noch, als sie sich umdreht. Der Mann gackert mit. Was soll das denn jetzt? Sind die schon so hacke, oder was? Besser, sie verzieht sich. Aus dem Kinderzimmer kommen keine Geräusche mehr. Die Kleinen schlafen. Gut. Dann kann sie gleich in ihre »Kajüte«.

Die »Kajüte«. Das ist der Wandschrank im Flur. Den hat sie sich letzten Winter mit einem Kumpel ausgebaut, weil sie nicht länger bei ihren Geschwistern im Zimmer schlafen wollte auf einer Matratze, zwischen Stockbett und Gitterbettchen. Mama schläft auf dem Ausziehsofa im Wohnzimmer und hat das Gitterbettchen nur im ersten Jahr bei sich gehabt. »Irjendwann muss ick och ma Feierabend haben, schließlich halt ick hier den Laden am Loofen!«, hatte sie gesagt, und von da an war Lilly nachts für die Zwillinge zuständig. Als sie zwei wurden, hat sie sich den Wandschrank auf dem Flur ausgebaut.

In Lillys Kajüte ist es eng, aber gemütlich, der einzige Platz, den sie ganz allein für sich hat und wo sie die Tür zumachen kann. Sie hat Bindfäden an den Türknauf geknotet und zieht sie von innen zu. Von der Schaumstoffmatratze musste sie ein Stück abschneiden, damit sie reinpasst. Sie liegt auf zurechtgesägten Palettenteilen, genau zwischen den Wänden eingepasst. Okay, sie kann neuerdings die Beine nicht mehr ausstrecken, wenn sie auf dem Rücken liegt, aber das muss sie auch nicht. Entweder stemmt sie die Beine schräg hoch, gegen die Wand, oder schläft auf der Seite, mit angewinkelten Knien. Oben in der Schranktür sind Luftschlitze. Hat sie selbst reingesägt. Da fallen jetzt Lichtstreifen durch. Vielleicht wird sie später mal Tischlerin.

 

Kurz nach halb zwei rummst es. Irgendwas ist im Wohnzimmer umgefallen. Wahrscheinlich die Stehlampe. Die fliegt immer als Erstes, später können Flaschen, Aschenbecher, Gläser folgen, je nach Temperament des Typs, den Mama anschleppt. Einer ihrer letzten Ex’, Tom, hatte die Stehlampe noch repariert, bevor er den Abgang gemacht hat. Hat sogar einen neuen Lampenschirm besorgt. Tom war ein richtiger Kontrollfreak. Wenn der einen Krümel entdeckt hat, wo er nicht hingehörte, rastete er gleich aus. Einmal hat er ihrem Bruder Micky eine gedröhnt, weil er seine Schuhe mitten im Flur stehen gelassen hatte und Tom drübergestolpert war. Aber sonst war er relativ friedlich. Nichts gegen den Vater der Zwillinge. Der hat Mama vermöbelt, wenn ihm gerade danach war. Gut, dass sie den endlich los sind, diesen Arsch! Hat ja lange genug gedauert, bis Mama den Absprung geschafft hat.

Worüber Mamas Neuer wohl ausrastet? Im Durchschnitt dauert es zwei bis drei Wochen, bis sich die Männer eingelebt haben und hemmungslos werden.

 

So, wie sich das anhört, geht drüben im Wohnzimmer gerade was ganz anderes ab. Das Sofa quietscht, Mama kichert, hustet und stöhnt. Lilly hält sich die Ohren zu. Irgendwann schläft sie ein und dann klingelt auch schon ihr Wecker. Aus dem Wohnzimmer ist nichts zu hören, nur aus dem Kinderzimmer der Fernseher. Seitdem Mama den neuen Flachbildschirm hat, haben Micky, Ramona und die Zwillinge den alten gekriegt.

Shaleen und Shirley sind also schon wach. Das ist nichts Neues, sie schlafen immer nur für ein paar Stunden und dann krabbeln sie vor die Glotze. Am liebsten würde Lilly einfach liegen bleiben, aber das gibt nur Ärger. Mama hält ihr dann wieder vor, dass sie zu nichts zu gebrauchen sei, wenn sie nicht mal ihre kleinen Geschwister morgens fertig machen könne.

»In deinem Alter musste ich schon ganz andere Verantwortung übernehmen«, kriegt sie dann zu hören. Mama hatte sieben Geschwister, die sie versorgen musste, sie war die Älteste. Jetzt will sie auch mal was vom Leben haben, sie ist ja noch nicht mal dreißig!

Lilly quält sich aus der Kajüte. Morgens ist sie immer so steif. Sie geht ins Bad, bisschen kaltes Wasser ins Gesicht lassen, dann ins Kinderzimmer. Sie kriegt kaum die Tür auf. Mein Gott, wie sieht es hier schon wieder aus! Auf dem Boden ein Meer von Plüschtieren, Puppen, Klamotten, Kissen, leere McDonald’s-Schachteln, Süßigkeitenpapier und Happy-Meal-Spielzeug. Shaleen und Shirley sitzen wie jeden Morgen keinen Meter von der Mattscheibe entfernt. Sie können allein aus ihrem Kinderbett klettern. Es ist eh viel zu klein für zwei dreijährige Kinder und das Gitter hängt an einer Seite auf der Erde.

Shaleen hat die Windel so voll, dass ihr die Kacke aus dem Kragen wieder rausquillt. Hätte sie die Kleinen gestern Abend doch noch frisch gewickelt. Fliegen krabbeln über den eingetrockneten Brei, der auf einem Unterteller auf dem Boden steht. Irgendjemand ist in eine matschige Banane getreten und hat sie auf dem blauen Spannteppich verteilt. Lilly kriegt kaum Luft, macht das Fenster auf. Shaleen haut Shirley gerade mit einer Fernbedienung auf den Kopf. Shirley kreischt los wie eine Sirene. Lilly tut es in den Ohren weh. Und wie kriegt sie nur die Kacke von Shaleen? Um sie zu duschen, reicht die Zeit nicht. Es ist ja schon zwanzig nach sieben. Wenn keiner zur Schule geht, rastet Mama wieder aus und gibt ihr die Schuld. Dann kriegt Lilly wieder zu hören, was ihre Mutter in ihrem Alter schon alles machen musste.

Mama war 14, keine zwei Jahre älter als Lilly jetzt, als sie mit ihr schwanger wurde, 15, als sie auf die Welt kam. Zuerst hatte Mama versucht, sie abzutreiben, aber das ist ihr leider nicht gelungen.

»Du warst vielleicht ma ’n zähes Stück!«, sagt sie dann und manchmal hört es sich an, als wäre sie ein bisschen stolz darauf, dass Lilly ein »zähes Stück« war.

Gleich nach dem Schwangerschaftstest hatte Mama sich selber ganz doll in den Bauch geboxt. Hat aber nichts genützt, dann eine Überdosis Abführmittel geschluckt, wovon ihr nur tagelang grottenschlecht war und sie nicht vom Klo runterkam. Auch die acht Stockwerke alle Stufen einzeln runterzuspringen, mit geschlossenen Füßen, brachte nicht die gewünschte Wirkung. »Du bist sogar noch drei Wochen länger im Bauch dringeblieben und hast mich damals schon von innen gequält.« Wenn Mama das sagt, lacht sie gleich hinterher; Lilly beißt sich auf die Lippen, hält die Luft an, weil jetzt das Schönste kommt: »Aba ick hab dir trotzdem jeliebt. Mann, warst du süß! So knuddelig. Und so ein ruhijet Baby. Dich konnte man überall mit hinnehmen und ablegen, sogar inne Kneipe. Du hast nie jeschrien. Jott nee, warst du süß …«

Wenn Mama von ihr als Baby schwärmt, wird ihre Stimme leise, ohne dass sie husten muss, und ihr Blick weit. Lilly spürt genau, dass Mama sie jetzt als Baby vor sich sieht, und sie über alles liebt! Das wärmt Lillys Herz auf. Wie ein Heizstrahler von innen. Und der Herzschlag verteilt die Wärme im ganzen Körper. Wie gern würde Lilly diese Schwärm-Minute ausdehnen, auf drei Minuten oder zehn Minuten oder sogar auf eine halbe Stunde. Eine halbe Stunde sich so zu fühlen wie in diesen seltenen Minuten: warm, rund und glücklich – alles würde sie dafür tun! Am liebsten möchte sie dann gleich in Mamas Arme, aber meistens ist Mama bereits zurück von der Schwärmerei – ein tiefes Seufzen und schon ist alles vorbei, guckt Mama nicht mehr in die Ferne, sondern auf ihre 12-jährige Tochter Amanda, mit Zweitnamen Lilly, von der sie sich schnell abwendet, bevor Ekel und Wut wieder hochkommen, Wut auf Lillys Vater, von dem sie nur den Spitznamen kennt: Keule. Er hatte damals darauf bestanden, sie Amanda zu nennen. Mama bereut heute noch zutiefst, sich darauf eingelassen zu haben. Dieser Dreckskerl! Wenn sie nur an ihn denkt, könnte sie schon kotzen! Dann kriegt sie einen gekräuselten Mund und diesen vernichtenden Blick, mit dem sie Lilly anschaut, und es ist, als würde der Heizstrahler sie von innen verbrennen.

Lilly versteht nicht, warum bei ihrer Mutter Zuneigung so schnell umkippen kann in Ablehnung und dass sie nur als Baby süß und liebenswert war. Micky und Ramona ernten nie solche bösen Blicke. Zu denen ist sie auch nicht so abweisend. Micky und Ramona haben einen anderen Vater als sie. Den kann Mama zwar auch nicht mehr ausstehen, aber er ist längst nicht so ein Abschaum wie ihr Vater, mit dem alles Elend für Mama begann.

Micky und Ramona dürfen ihren Vater jeden zweiten Samstag besuchen, in Lichtenberg. Lilly würde auch gern mal ihren Vater besuchen, aber Mama verrät ihr weder, wo er wohnt noch seine Telefonnummer. Lilly weiß, dass er harte Drogen genommen hat und vielleicht auch gar nicht mehr am Leben ist. Das würde sie zu gern selbst herausfinden, aber sie hütet sich davor, Mama auf ihn anzusprechen.

Hoffentlich wird es jetzt besser, wo sie nun Lilly heißt.

 

Micky und Ramona schlafen noch. Ramona oben im Etagenbett, Micky unten. Micky hat wieder ins Bett gepinkelt. Lilly tippt an seinen Arm. »Aufstehen!« Micky dreht sich einfach wieder um und zieht die Decke über den Kopf.

Lilly wickelt die Zwillinge, schmeißt die vollen Windeln in den Mülleimer. Sie stinken bestialisch. Es sind nur noch drei frische Windeln da. Mama muss unbedingt neue einkaufen und größere. Die letzten waren viel zu klein. Hoffentlich hat sie noch Geld dafür oder dieser Wolfgang kann ihr was geben. Er scheint ihr ja auch die neuen Klamotten gekauft zu haben. Die beiden liegen noch im Wohnzimmer und ratzen.

Kurz vor acht. Lilly scheucht Ramona aus dem Bett, zerrt Micky die Bettdecke weg. Dafür kriegt sie von Micky eine Kopfnuss von oben verpasst, sie packt seinen Fuß und zieht ihn aus dem Bett. Er krallt sich am Rahmen fest, an der Matratze, das Laken reißt ab, er plumpst, Hintern zuerst, aus dem Stockbett, knapp neben Shirley, die bei der ganzen Action wenigstens aufgehört hat zu schreien. Knallrot vor Wut schlägt Micky um sich. Irgendwann landet ihre Faust auf seiner Nase. Die blutet jetzt. Das hat er nun davon. Was macht er auch so ein Theater!

Jetzt weint er. Och je! Das sollten mal seine Kumpels auf dem Spielplatz sehen, so ein Weichei! Draußen immer eine große Klappe und die Kleinen verhauen, aber hier weint er wie ein Baby und pinkelt sich voll.

»Hühühü«, äfft Lilly ihn nach. Ihr brennt der Kopf, die Hände, und am Oberschenkel, wo Micky sie getreten hat, ist es ganz heiß. Wenn er nicht gleich aufhört, kassiert er noch eine Schelle. Hoffentlich kriegt Mama nicht noch mehr Kinder! Sie nimmt ja die Pille, aber irgendwie wirkt sie bei ihr nicht.

 

Zum Frühstück gibt es für jeden eine schwarz gepunktete Banane. Brot ist keins mehr da, Aufschnitt auch nicht.

»Hör auf zu meckern«, sagt Lilly zu Micky, der sich aufregt, weil es wieder mal nichts Richtiges zu essen gibt. »Du kannst ja nachher einkaufen gehen.« Ramona summt vor sich hin. Micky geht aufs Klo. Dort kann er stundenlang sitzen. Lilly versteht echt nicht, warum er dann ins Bett pinkelt.

Die Zwillinge sind ins Wohnzimmer gelaufen, stehen vor der schlafenden Mutter am Sofa und bestaunen den Mann, der halb auf ihr drauf liegt, unter der blauen Wohnzimmerdecke. Er schnarcht. Shaleen – mutiger als Shirley – schüttelt Mamas Arm, will sie wecken, aber Mama brummt nur und dreht sich zur Seite. Wolfgang rutscht dabei fast vom Sofa. Die Zwillinge finden salzige Erdnüsse auf dem Boden und picken sie auf.

»Aber nicht wieder Kippen essen, klar!?«, sagt Lilly. Shaleen wäre vor einem Jahr beinahe daran gestorben, als sie fast zwei war. Das war eh eine schlimme Zeit! Kurz danach war Shirley auf die Fensterbank geklettert und beinahe aus dem achten Stock gefallen, wenn Tom – Mamas letzter fester Ex nicht zufällig ins Wohnzimmer gekommen wäre. Er hatte Shirley im letzten Moment an den Füßen gepackt und wieder reingezogen. Stand da, mit dem kopfüber hängenden Kleinkind, das sich die Lunge aus dem Hals schrie. Lilly und Mama haben gar nicht so schnell kapiert, was da beinahe passiert wäre.

»Du hast das Fenster aufgelassen. Bist du denn total bescheuert, du alte Schlampe?!«, schrie er Mama an und rastete so aus, wie Lilly es nur beim Vater der Zwillinge erlebt hat. Tom schmiss Shirley aufs Sofa, als wäre sie eine Puppe, und beschimpfte Mama mit Wörtern, die Lilly noch nicht mal auf dem Spielplatz gehört hat. Lilly war völlig erstarrt, wollte zu Shirley, die schreiend auf dem Sofa lag, wollte Shaleen an die Hand nehmen, die schreiend zu ihrer Zwillingsschwester gelaufen war, wollte Tom stoppen, damit der endlich seine Schnauze hielt. Mama fing dann auch noch an rumzukeifen und dann ging alles ganz schnell. Tom holte nur einmal aus und schlug Mama mit der flachen Hand aufs Ohr, mit so einer Wucht, dass sie über die Sessellehne taumelte, voll gegen die Schrankwand knallte und zu Boden rutschte. Lilly hörte nur noch, wie Tom was von »Saustall« brüllte, von dem er endgültig die Schnauze voll hätte. »Schließlich sind das nicht meine Blagen!« Dann schnappte er sich die Stehlampe und verließ die Wohnung. Als Lilly sich vor lauter Schreck wieder bewegen konnte, hat sie zuerst das Fenster zugemacht, dann Mama aufgeholfen.

Mamas Trommelfell war geplatzt. Sie lag damit ein paar Tage im Krankenhaus. Eine Frau vom Jugendamt kam vorbei und sagte, dass sie die Zwillinge mitnehmen wollte. Lilly hatte auf sie eingeredet, dass das nicht ginge. Und dass alles in Ordnung sei. Mama wäre nur über das Kabel der Stehlampe gestolpert und mit dem Ohr auf die Sessellehne geknallt. Es war das erste Mal, dass jemand kam und die Zwillinge holen wollte. Es war auch das erste Mal, dass Lilly den Haushalt übernahm und ihre Geschwister versorgte, weil Mama, als ihr Ohr wieder gesund war, Depressionen bekam. Da wurde Lilly gerade 11. Und sie bemühte sich jedes Mal, dass die Wohnung gut aussah, wenn die Frau vom Jugendamt das nächste Mal zur Kontrolle vorbeischaute.

 

Depressionen sind klebrige, schwarze Gespenster, die von hinten auf einen zufliegen und einen zudecken, sodass man nichts mehr sieht und keine Luft mehr kriegt. So hatte Lilly es damals Ramona und Micky erklärt, die neue Krankheit von Mama, aber in Wirklichkeit war sie noch viel schlimmer als klebrige, schwarze Gespenster, die über einen herfielen. Es war, als wäre Mama zusätzlich von einem Vampir gebissen worden, der alles Blut ausgesaugt hatte, so schlapp war sie.

 

Micky sitzt noch auf dem Klo. Er soll sich jetzt echt mal beeilen! Lilly schaut noch mal ins Wohnzimmer. Wolfgangs Hintern ragt halb aus der Decke. Er hat ein Bein über Mamas Beine gelegt. Sieht aus, als wären sie nur untenrum nackt, bis auf seine schwarzen, löcherfreien Socken.

Mama sieht schön aus im Schlaf, wie eine Schauspielerin. Selbst die verschmierte Schminke steht ihr gut. Vielleicht weil sie glücklich ist. Mama ist immer glücklich, wenn sie einen neuen Freund hat. Lilly will dieses Glück nicht zerstören, obwohl es schon zwanzig nach acht ist. Wenn Mama glücklich ist, kriegt sie vielleicht später eine von ihren »guten Minuten« ab. Also lässt sie sie schlafen. Pünktlich zur Arbeit schafft sie es sowieso nicht mehr. Kann sich ja nachher krankschreiben lassen.

Über Wolfgangs Hintern krabbelt eine Fliege, fliegt hoch, setzt sich wieder und fängt an, sich zu putzen. Eine zweite Fliege kommt dazu, schleckt mit ihrem Rüssel über die milchig-gelbe Haut. Lilly wird übel. Sie ruft nach den Zwillingen. Höchste Zeit, dass sie aus dem Haus kommen.

Halb neun. Micky muss Shaleen und Shirley in den Kindergarten bringen. Er mault. Seine Nase ist geschwollen. Das Blut hat er sich aus dem Gesicht gewaschen.

»Wenn du sie nicht bringst, erzähl ich deinen Kumpels, dass ich dich verhauen habe, klar?«

Micky beißt sich auf die Lippe. Sie weiß, dass er nur auf den Tag wartet, bis er sie endlich vermöbeln kann. Zum Glück ist er klein für seine neun Jahre. Da braucht er schon noch ein Weilchen, bis er ihr auf den Kopf spucken kann. Ramona mit ihren acht Jahren ist jetzt schon einen halben Kopf größer als er und lässt sich trotzdem alles von ihm gefallen. Sie hat auch Angst, allein zur Schule zu gehen. Manchmal macht Lilly einen Umweg und bringt sie bis zum Tor, aber heute geht das nicht. Lilly ist gestern und vorgestern schon zu spät gekommen. Sie will wenigstens zur zweiten Stunde pünktlich sein.

 

»Amanda? Wo warst du in der ersten Stunde?« Frau Flega hat das Klassenbuch vor sich und sieht Amanda über ihre Brille hinweg an. Sie ist groß und schlank und alt.

»Mir war schlecht«, sagt Amanda. In ihren Schläfen sticht es. Struzzi und Mief grinsen. Sie guckt weg.

»Und jetzt geht es dir besser?« Frau Flega hat eine schöne Stimme. Fest aber weich. Eine Stimme, die zwar fragt, aber nicht bohrt. Nur blöd, dass sie sie vor der ganzen Klasse fragt.

»Ja.«

»Hast du was gefrühstückt?« Frau Flega schiebt ihre Brille auf den Kopf und schaut sie eindringlich an.

»Ja.«

Frau Flega ist kürzlich sogar bei ihr zu Hause vorbeigekommen. Seitdem fragt sie Lilly andauernd, wie es ihr gehe, den Geschwistern, der Mama … Lilly hat Frau Flega gar nicht erst in die Wohnung gelassen, nur an der Tür gesagt, dass alles in Ordnung sei, überzeugend und auch ein bisschen patzig, sodass die Lehrerin nur noch genickt hat und dann zum Glück abmarschiert ist. Wie peinlich, wenn sie gesehen hätte, wie es bei ihnen aussieht. Damals, als Mama noch nicht diese Medikamente gegen Depressionen hatte, sah es noch schlimmer aus. Und damit meint Lilly nicht, dass die Toilettenbrille monatelang neben dem Klo lag und man sie erst auf die Schüssel legen musste, wenn man sich hinsetzen wollte. Das hat Lilly nie gestört, immerhin hat sie so Pinkeln im Stehen gelernt. Aber dass überall schmutzige Sachen, Geschirr, Klamotten und volle Windeln rumlagen, dass es stank wie die Pest, im Kinderzimmer lauter Käfer unterwegs waren und sie fast nur von Toastbrot mit Ketchup gelebt hatten, das muss man nun wirklich keinem unter die Nase reiben, erst recht keiner Lehrerin. Gut, dass Mama sich wieder aufgerappelt hat. Der leere Kühlschrank von heute hat nichts zu bedeuten. Das ist nur, weil Micky, Ramona und sie vergessen haben, einzukaufen.

»Gut. Dann holt mal euer Deutschbuch raus«, sagt Frau Flega. »Wer liest vor, Seite 47?« Lilly meldet sich und wird auch gleich drangenommen. Lesen kann sie gut, besonders schön betonen. Sie liest den Zwillingen manchmal vor. Dann kuscheln sich die beiden an sie und atmen ganz laut, weil Zuhören so anstrengend ist. So mit den Kleinen auf dem Teppich zu liegen, wärmt sie fast so schön von innen wie eine von Mamas guten Minuten und dauert sogar länger. Obwohl, in letzter Zeit werden die Zwillinge schon nach fünf Minuten unruhig, wollen lieber vor den Fernseher oder an die Spielkonsole. Vielleicht sollte sie nach der Schule mal in die Bibliothek gehen und sich nach neuen Bilderbüchern umschauen. Die drei, die sie zu Hause haben, bringen’s eh nicht mehr.

 

Lilly liest, laut und deutlich, aber nicht zu laut. Frau Flega hat ihr gesagt, man muss mit der Stimme sparsam umgehen, sonst geht einem die Puste aus. Ein paar Kinder hören ihr zu. Ein paar haben den Kopf auf den Tisch gelegt und schlafen. Thorben, der Stotterer, lächelt selig. Jemand wirft ihr von hinten ein Radiergummi an den Kopf. Bestimmt Struzzi oder Mief. Sie hört auch jemanden kichern. Lilly zuckt nicht zusammen. Das wollen sie ja nur. Sie konzentriert sich auf die Sätze wie eine Seiltänzerin auf ihr Seil, gleitet Satz für Satz weiter in den Text, kann nach ein paar Sätzen etwas mehr ausatmen, sodass ihre Stimme nicht so gepresst klingt, sondern ganz leicht, wie eine Feder. Sie gleitet über die Seite und Frau Flega lobt sie.

»Danke, Amanda. Das hast du wirklich gut gemacht. Dafür gebe ich dir eine Eins.«

Lilly hat noch die ganze Stunde das Gefühl, sie gleite dahin, weil sie eine Eins gekriegt hat, in Deutsch! In Musik knurrt ihr laut der Magen. In Mathe, als ihr Kopf zur Seite kippt, merkt sie, dass sie eingenickt war. Und ausgerechnet jetzt nimmt Frau Böger sie dran. Sie soll doch bitte mal an die Tafel kommen und die Aufgabe lösen. Frau Böger ist immer gestresst und hat auch nichts Nettes in der Stimme wie Frau Flega.

Sie steht auf und Nico Kraskowski schiebt genau in dem Moment seinen Rucksack in den Weg, als sie vorbeigeht. Sie stolpert und fällt der Länge nach hin. Ohrenbetäubendes Gelächter. Die Knie stechen, vor ihren Augen tanzen grüne Punkte. Im Nu ist sie auf den Beinen und hat Nico am Kragen, reißt ihn vom Sitz und drischt auf ihn ein, immer wieder mit der Faust ins Gesicht. Wie das patscht und knackt. Hände versuchen, sie von Nico wegzuzerren, aber sie hat sich festgebissen; es ist nicht das erste Mal, dass ihr das passiert.

 

Lilly sitzt im Lehrerzimmer. Sie zittert. Ihr ist kalt. Zum Glück ist Frau Flega da und macht ihr einen Tee. Die anderen Lehrer gucken sie an, als wäre sie eine Nacktschnecke, auf die man schon draufgelatscht ist. Frau Flega legt ein Pausenbrot auf den Tisch, direkt vor sie. »Kannst du gern haben, ich hab noch zwei«, sagt sie.

Lilly starrt auf das Brot. Ihr Herz rast, die Knie und die Fäuste brennen. Noch hat sie sich von dem Kampf nicht erholt. Aber was heißt Kampf? Nico hat sich nicht mal gewehrt. Sein Auge ist dicht und seine Nase blutet. Natürlich hat er die Tasche mit Absicht vor ihre Füße geschoben. Er behauptet, gar nicht. Nico, die alte Schlange!

Lilly starrt auf das Brot. Wasser läuft ihr im Mund zusammen, ihr Magen rumort. Wenn sie es jetzt nimmt, denkt Frau Flega bestimmt, bei ihr ist zu Hause nicht alles in Ordnung, und kommt wieder vorbei oder noch schlimmer: Sie schickt jemanden vom Jugendamt. Lilly hat Angst, dass man ihnen die Zwillinge wegnimmt. Das darf auf keinen Fall passieren!

Das Brot riecht gut. Es ist ein altmodisches Butterbrot, zusammengeklappt, an der Seite lappt ein Stück Käse über, aus den Ritzen quillt Butter. So ein Brot hat sie noch nie in echt gesehen, kennt sie nur aus dem Fernsehen, wenn so eine Oma mit Dutt ihrem blonden, über alles geliebten Enkelkind eine Stulle schmiert, mit »guter Butter«. Plötzlich platzt es aus Lilly heraus. Sie kann die Tränen nicht zurückhalten. Dabei hat sie schon so lange nicht mehr geweint! Wo kommen nur all die Tränen her? Ein Wasserfall sprudelt aus ihr heraus und ihr Körper zuckt und schüttelt all das Wasser aus ihr heraus. Sie schnappt nach Luft. Dann drückt sich jemand an sie. Frau Flega. Lilly schubst sie weg und wischt sich die Tränen ab.

Frau Böger drängt sich vor ihr Gesicht und reicht ihr etwas. »Amanda. Diesen Brief möchte ich morgen von deiner Mutter unterschrieben zurückhaben. Und für die Stunde, die du heute Morgen gefehlt hast, brauche ich auch noch eine Entschuldigung. Hast du das verstanden?«

Lilly will »Ja«, sagen, aber es kommt nur ein Schluchzer aus ihrer Kehle. Frau Böger guckt Frau Flega mit zusammengepressten Lippen an, aber Frau Flega schaut einfach weg, zu Lilly. Es tut Lilly leid, dass sie sie eben weggeschubst hat. Am liebsten möchte sie Frau Flegas Hand nehmen und ihre Wange reinlegen, aber sie traut sich nicht.

»Und nun geh zu Nico und entschuldige dich«, sagt Frau Böger. »Er ist bei der Sekretärin im Krankenzimmer.«

 

Sich entschuldigen ist ganz einfach. Man geht hin, guckt dem anderen auf die Stirn – bloß nicht in die Augen! –, streckt die Hand aus, sagt seinen Spruch auf, dreht sich um und geht wieder. Schon ist man erlöst. Lilly versteht wirklich nicht, warum die Lehrer so scharf auf Entschuldigungen sind. Man spürt direkt, wie erleichtert sie sind, wenn die Entschuldigung ausgesprochen ist. Dabei ist sie mit Nico längst nicht fertig. Der wird sich noch wundern!

In Englisch kann Lilly an nichts anderes mehr denken als an Frau Flegas Pausenbrot, aus dem die Butter quoll und der Käse lappte. Ob es noch auf dem Tisch im Lehrerzimmer liegt? Es verschwimmt vor ihren Augen wie eine Fata Morgana und taucht dann umso deutlicher wieder auf. Ihr ist übel vom vielen Spucke runterschlucken. Der Magen sagt schon nichts mehr. In der Pause hat sie mit ein paar Kumpels auf dem Schulhof Fußball gespielt, um sich vom Magenknurren abzulenken, hat sogar ein Tor geschossen. Anschließend Stotter-Thorben in den Hintern getreten. Das hat sich so ergeben. Was läuft er auch direkt an ihr vorbei? Auf der Toilette hat sie dann Wasser getrunken. Den Magen randvoll angefüllt. Gut gegen Hunger. Sie darf bloß jetzt nicht zwei Stufen auf einmal runterhüpfen, sonst kommt es ihr wieder hoch. Leider verdaut man Wasser so schnell und das Pausenbrot taucht wieder vor ihren Augen auf. Warum hat sie es nicht genommen? Wieso hat sie angefangen zu heulen? Sowas von peinlich! Obwohl es bei Lehrern eigentlich nie schadet, wenn man mal ein bisschen Schwäche zeigt. Scheiß Pausenbrot! Wenn sie nach Hause kommt, backt sie Pfannkuchen. Mehl und Margarine sind ganz sicher noch da. Eier auch. Und heute Morgen war die Milchtüte noch halb voll, nachdem sie Shaleen und Shirley einen Becher voll eingeschenkt hat.

Hmm, ja, Pfannkuchen. Sie wird zwei Eier in eine Schüssel hauen und eine Prise Salz dazugeben, dann ordentlich Zucker und Mehl und schön cremig rühren, bis keine Klumpen mehr da sind. Die Prise Salz ist ganz wichtig. Das hat sie mal im Fernsehen gesehen, in einer dieser Kochsendungen, in dem fünf Leute auf einmal ihr Lieblingsgericht kochen. Lauter komplizierte Sachen, von denen sie noch nie was gehört hat, die aber übelst lecker aussahen. Aber dann hat sie vom Angucken nur Hunger und schlechte Laune gekriegt und umgeschaltet auf eine Talkshow, in der ein fettes, gepierctes Mädchen erzählte, dass sie ihren Freund betrügt, weil er sie auch betrogen hat.

Auf dem Nachhauseweg laufen ihr Struzzi und Mief wieder hinterher. Schmeicheln sich ein, weil sie Nico Kraskowski eins auf die Fresse gegeben hat. Sollen bloß aufpassen, sonst kriegen sie auch gleich eins aufs Maul. Sie ist gerade richtig in Fahrt. Auch wenn sie das doppelt und dreifach zurückkriegen würde, egal. Hauptsache, sie kann was austeilen. Ihre Wut befreit ungemein und lenkt vom Hunger ab. Sie hebt einen Stein auf und wirft ihn über die Straße. Fast wäre er an ein Auto geknallt. Sie hätte Lust, mal wieder eine Fensterscheibe einzuschlagen, nur um zu hören, wie laut das kracht und scheppert und klirrt.

 

Im Treppenhaus Gekeife. Wahrscheinlich aus dem dritten Stock. Da ist seit Wochen was los. Mama sagt, die Trajilovic wird ihren Kerl nicht los. Jedenfalls nicht richtig. Erst schmeißt sie ihn raus, dann kommt er wieder angekrochen, zwei Tage ist Ruhe im Karton, dann geht alles von vorne los. Und das seit drei Monaten!

Türen knallen. Das hallt tierisch laut durchs Treppenhaus. Aus dem Fahrstuhl kommen ihr Evelyna und Babette aus dem Fünften entgegen. Sie sehen aus wie Brathähnchen, die in eine Glitzertruhe gefallen sind, riechen nach süßem Aldi-Parfüm. Der ganze Fahrstuhl stinkt danach.

»Na, allet schick?«, fragt Evelyna und drückt sich eine vom Haarspray steif gesprühte Strähne zurecht. Dabei soll man natürlich ihre amerikanisch gestylten Fingernägel bewundern. Wo die jetzt wohl hingehen? Wenn sie eine Arbeit hätten, wüsste Lilly das, von Mama. Die weiß immer, wer im Haus Hartzi ist. Hoffentlich hat Mama heute Morgen die Kurve gekriegt und ist wenigstens noch zum Arzt gegangen. Ohne Krankschreibung fliegt sie. Hatten sie alles schon zur Genüge. Sie arbeitet seit zwei Wochen bei KiK an der Kasse und hätte diese Woche Frühschicht. Dann muss sie um 9 Uhr anfangen. An der Frühschicht sind schon die meisten Jobs gescheitert.

 

Als Lilly in die Wohnung kommt, riecht sie gleich, dass Mama noch da ist. Es riecht nach ausgedünstetem Alkohol und kaltem Rauch. Im Wohnzimmer ist es stockfinster, weil die Rollos noch nicht hochgezogen sind.

»Mama?«, ruft Lilly und lugt vorsichtig um die Ecke. Mama liegt eingekuschelt auf dem Sofa. Dieter Bohlen ist weg, hat seinen Schlips vergessen, der hängt noch über der Sessellehne. Die Sektflasche auf dem Tisch ist umgefallen und liegt in einer Lache. Mama macht die Augen auf, stöhnt.

»Wie spät ist es?«, fragt sie und muss husten, setzt sich hin und hustet erst mal richtig ab. Lilly gibt ihr ein leeres Glas zum Reinspucken und zieht die Rollos hoch.

»Kurz nach 12. Bei uns ist Sport ausgefallen.«

»Was?« Mama rauft sich die Haare. »Scheiße, dann ha ick voll verpennt.« Sie schlägt die Decke auf und setzt sich hin. Sie ist nackt, ihre Brüste ragen aus der Decke, die Brustwarzen sind gepierct. Lilly würde auch gern ein Piercing haben, aber nicht in den Brustwarzen. Lieber einen Knopf in der Wange. Das haben nicht alle und sieht so geil aus!

»Mann Mann Mann, war dit jestarn lustig«, sagt Mama und zündet sich eine Zigarette an. »Du findest Wolfgang doch ooch jut, oda?«

»Kenn den doch gar nicht.«

»Nun fang ma nich jleich wieda an zu nörjeln!«

»Ich nörgel ja gar nicht.«

»Tuste doch! Und wieso haste mir nich jeweckt, als de zur Schule jejangen bist?«

»Du hast so schön geschlafen.«

»So schön jeschlafen? Ick komm dir jleich. – So schön jeschlafen. Wat is ’n mit die Kleenen. Haste die wenigstens inne Kita jebracht.«

»Hat Micky gemacht.«

»Micky? Wieso denn Micky? Kannste nich eenmal wat selba machen?« Mama kneift die Augen zusammen und holt tief Luft. »Mann, is det hell hier!«

Lilly nimmt die ausgelaufene Sektflasche und noch zwei leere Feigling-Fläschchen mit und geht in die Küche.

»Ich mach uns Pfannkuchen«, ruft sie ins Wohnzimmer. Mama brummelt vor sich hin und schlurft durch den Flur, ins Bad. Lilly nimmt die letzten drei Eier aus dem Kühlschrank und schlägt sie in eine Schüssel, gibt die restliche Milch dazu, Zucker und rührt den Teig mit dem Mixer. Beinahe hätte sie die Prise Salz vergessen. Die Pfanne riecht noch nach Fischstäbchen. Sie wäscht sie schnell aus, der Geruch geht nicht ganz weg. Auch egal. Herdplatte auf sechs, Margarine rein und dann den Teig. Sie beobachtet, wie er am Pfannenrand zuerst fest wird und sich kräuselt. Es brutzelt in der Pfanne, knuspert und knackt, sie dreht den Pfannkuchen um. Goldgelb! Für die andere Seite kann sie nicht mehr so lange warten. Sie schiebt ihn auf einen Teller, kann sich kaum beherrschen, den zweiten zu backen, weil sie am liebsten sofort über den ersten herfallen würde, aber sie kriegt beides hin: den ersten nebenbei zu essen, während der zweite vor sich hin brutzelt. Eigentlich ist es ein Schlingen. Sie schafft es nämlich nicht, mehr als dreimal auf einem Stück herumzukauen. Warm, süß und fettig rutscht es direkt in den Magen und breitet sich wie eine Decke in ihr aus. Als sie den zweiten auf den Teller schiebt, kommt Mama in die Küche.

»Willst du Kaffee?«, fragt Lilly.

»Logisch will ick Kaffee. Was issn dit für ’ne Frage – willste Kaffee? Also echt mal!«

Wenn Mama so spitzfindig drauf ist, muss Lilly aufpassen. Das ist genau das Gegenteil von ihren guten Minuten, dann kräuselt sich der Mund und die Augen sind Schlitze, woraus sie böse Blicke schießt, die Lilly wie spitze Pfeile direkt ins Herz treffen. Da tut es jedenfalls weh und dann fließt der Schmerz durch den ganzen Körper. Schlimmer als Finger einzuklemmen und andauernder als ein blaues Auge.

Den dritten Pfannkuchen reicht sie Mama. »Mach dir doch noch Zucker drauf«, sagt Lilly. Ihr Herz klopft schon, bereit die Pfeile abzuwehren, aber da kann es noch so poltern und pochen, die Pfeile kommen überall durch. Wieso ist Mama so feindselig, nach so einer Nacht?

»Ick nehm mir schon, wenn ick Zucker will.« Mama rührt den Pfannkuchen nicht an. Lillys Finger zittern, als sie Kaffeepulver in den Filter löffelt. Mama zündet sich eine neue Zigarette an und inhaliert tief, gleich noch mal. Ihre Augen weiten sich, die Mundwinkel entspannen, der Blick geht an Lilly vorbei, aus der Küche heraus, wahrscheinlich zu Wolfgang. Lilly weiß, wenn Mama so guckt, träumt sie von einem Mann.

 

Etwas später sitzen sie zusammen am Küchentisch, Mama trinkt Kaffee schwarz und raucht dazu. Lilly darf die ganzen Pfannkuchen aufessen, auch Mamas noch, sie hätte lieber einen kleinen Schnaps als all das Süße.

Einen Moment ist es so, wie Lilly es sich manchmal vorstellt, wie in der Werbung, wenn sie glückliche Familien zeigen, nur nicht mit diesem dämlichen Grinsen und natürlich nicht mit so bescheuerten Leuten. Aber alle sind fröhlich und tun was, was sie fröhlich macht. Und dann reden sie drüber und lachen viel. So wie Mama jetzt. Sie raucht und guckt dabei an die Decke und schwärmt davon, aufs Land zu ziehen, mit Wolfgang.

»Der ist Lagerleiter, irjendwo in McPomm. Wohnt da bei seine Mutti. Die is steinalt, aba noch fit. Wenn die mal die Löffel abjibt, jehört dit Haus ihm. Mann, ey, stell dir dit ma vor. En eijenet Haus. Wie die Zwillinge da spielen können und Micky wird dann ooch von janz allene jrößer, von die jute Luft da draußen, inne Natur. Ey, und denn pflanz ick Jemüse an und Ramona kriegt so’n kleenet Kaninchen. Is doch viel robuster als so’n oller Hamster, wat se sich ums Verrecken wünscht.«

Und ich will einen Hund! – Lilly bleibt der Satz im Halse stecken. Mama verstummt, guckt sie so komisch an. Gleich sagt Lilly es ihr, was sie sich wünscht: einen Hund, auf dem Land. Aber Mama guckt durch Lilly hindurch, keine Schießstand-Blicke und doch lässt sie Pfeile ab. Braucht nicht mal zu zielen, sie treffen trotzdem, voll ins Herz. Solche Pfeile aus dem Hinterhalt sind die schlimmsten.

 

Zum Glück hat Doktor Kraus heute auch nachmittags Sprechstunde. Sie gehen zusammen aus dem Haus. Lilly soll schon mal zu Netto düsen, zwei Tüten nach Hause bringen, und dann treffen sie sich für die zweite Fuhre bei Aldi. Dieser Wolfgang scheint Geld lockergemacht zu haben, hat ihr auch die Bluse gekauft, weil Mama sich für eine Stelle im Büro bewerben soll, in derselben Firma, in der er arbeitet. Nun muss sie erst mal eine Bewerbung schreiben, dann macht Wolfgang ihr einen Vorstellungstermin. »Nu jeht’s aufwärts!«, hat Mama gesagt und schon von »ihrem« Büro geschwärmt. Lilly fragt sich, wie Mama in einem Büro klarkommen will. Hat ja nicht mal den Hauptschulabschluss. Sie schreibt »spülen« mit »h« und »spielen« mit »sch«, Lilly hat mit ihr schon öfter Rechtschreibung geübt, aber in letzter Zeit hatte Mama keinen Nerv mehr dazu. Hat sie das letzte Mal angeschrien, dass sie ein Streber sei, das Blatt zusammengeknüllt und ihr an den Kopf geworfen, dann zwei Feiglinge gekippt und sich ins Wohnzimmer vor die Glotze gesetzt, während Lilly die Zwillinge gewickelt und mit Brei gefüttert hat. Mama will unbedingt, dass Lilly Nützliches zu Hause lernt und nicht nur in der Schule verblödet.

»Ich verblöde doch nicht in der Schule!«

»Gloob ja nich, dass du dir ewich uff die Schulbanke vors Leben drücken kannst! Wenn du den Hauptschulabschluss hast, jehste orntlich arbeeten, damit ick mir och mal zurücklehnen kann.«

Dabei möchte Lilly am liebsten aufs Gymnasium. Frau Flega hatte ihr schon in der Sechsten eine Empfehlung geschrieben, die hat Mama aber sofort in den Mülleimer geworfen. Hoffentlich kann sie wenigstens ihren Mittleren Schulabschluss machen. Bestimmt sieht Mama das gechillter, wenn sie erst mal im Büro arbeitet und mit diesem Wolfgang glücklich ist. Dann wird es für alle leichter.

 

Es dauert ewig, bis Mama zu Aldi kommt. Handy am Ohr, Zigarette im Mund, trippelt sie in ihrer Leoparden-Jeggings und den coolen neuen High Heels quer über den Parkplatz. Klimpert mit dem Schlüssel in der Hand. Das macht sie immer, damit die Leute denken, sie hätte ein Auto.

Mama ist gut drauf, weil sie heute mit zu Wolfgang nach McPomm fährt. Er holt sie ab, gleich nach seiner Arbeit. Sie will sich sein Haus doch mal angucken.

»Einen Abend wirste den Laden ja wohl mal alleene schmeißen, wa?«

Lilly hat »den Laden« schon öfter »geschmissen«, und nicht nur einen Abend. Sie soll eine Pizza in den Ofen schieben und morgen früh selbst die Zwillinge in die Kita bringen. Micky soll zusammen mit Ramona in die Schule gehen. Das wäre ja gelacht, wenn das nicht klappte. In ihrem Alter hätte sie neben der Schule längst mitverdienen müssen. Lilly will nicht wieder hören, dass Mama schon mit acht Autos gewaschen und für alte Omas in Charlottenburg eingekauft hat. »Ey, weeßte übahaupt, wo Charlottenburg is? Da fährste ne jute Stunde, ein Weg!!«

Lilly war noch nie in Charlottenburg. Sie weiß nur, dass es da ein richtiges Schloss gibt, mit goldenen Spiegeln und goldenen Tapeten. Das würde sie ja gern mal sehen.

Sie packt einen Stapel Fertigpizza, zwei Packungen Bockwürstchen, Käse, drei Liter H-Milch, Äpfel, Bananen, eine Kokos-Schokolade und eine Dauersalami in den Einkaufswagen. Mama steht bei den Spirituosen und nimmt zwei Flaschen Wodka aus dem Regal, zögert, greift noch nach einer Flasche Sekt. Dafür packt sie später die Schokolade wieder aus und legt die billigen Bonbons in den Wagen. Ramona ist von den Dingern schon die ganze vordere Zahnreihe abgefault und ihre zweiten Zähne hatten auch schon sieben Löcher. Lilly achtet zwar drauf, dass alle sich abends die Zähne putzen, aber Ramona schmuggelt immer noch ein paar Bonbons mit ins Bett.

An der Kasse fehlen Mama trotzdem noch 1 Euro 96. Sie sucht in allen Taschen, findet aber nur noch 30 Cent. Stößt Lilly an, ob die noch ein bisschen Kleingeld hat. Woher?

Peinlich, wie die Leute gucken, nicht, als hätten sie das noch nie gesehen, sondern irgendwie genüsslich, schadenfroh, als würden sie sagen: Ach guck mal an, bei Belmigas ist das Geld mal wieder knapp, und das schon in der ersten Monatshälfte. Mama lässt sich nicht beirren. Sie tut überfröhlich, lacht, sagt: »Na jut, denn müssen wir wohl zwee Tüten Milch zurückjeben«, und nimmt zwei von den drei Tüten aus dem Wagen. Fehlen aber immer noch 24 Cent. Die Leute hinter ihnen – zwei wohnen im Nachbarblock – verdrehen die Augen, weil es nicht vorwärtsgeht.

»Herrjottnochma!« Mama knallt die Salami auf das Laufband zurück, dass es knallt, bekommt 1 Euro 97 wieder.

»Wollen Sie die Milch dafür wiederhaben?«, fragt die Kassiererin.

»Nee!«, sagt Mama. »Ick lass mir doch nich verarschen!« Sie packt hastig die Sachen ein und geht raus. Die beiden Wodkaflaschen und die Sektflasche stoßen bei jedem Schritt aneinander.

Draußen zündet sie sich erst mal eine Zigarette an, hustet, spuckt aus, schaut Lilly entschlossen in die Augen und hebt die Zigarettenhand. »Eens lass dir gesacht sein. Verlier niemals deinen Stolz! Bei nüscht, vastehste! Bei jar nüscht!«

Sie geht mit erhobenem Haupt an den beiden Frauen aus dem Nachbarblock vorbei, die die Köpfe zusammengesteckt haben und tuscheln.

 

Am nächsten Tag hat Lilly keine Entschuldigung und auch der Brief ist nicht unterschrieben. Einen Moment lang hatte sie dran gedacht, Mamas Unterschrift nachzumachen. Das wäre nicht schwer gewesen, Mama schreibt wie ein kleines Kind, aber Frau Böger hatte schon bei der letzten Unterschrift gedacht, dass Lilly sie gefälscht hätte, weil sie so groß und krumm war. Das kam aber nur daher, weil Mama beim Schreiben die Zigarette nicht aus der Hand genommen hatte und ihr deshalb Rauch ins Auge gekommen war.

Es tue ihr leid, sagt Lilly zu Frau Böger, sie habe es vergessen. Wenn sie sagt, dass Mama gestern Abend nicht da war und heute Morgen noch nicht wieder zurück von ihrem neuen Freund, dann ruft Frau Böger bestimmt das Jugendamt an. Außerdem hat Lilly es ja wirklich vergessen.

»Letzte Chance«, sagt Frau Böger mit strengem Blick. »Morgen ist beides unterschrieben, sonst komm ich persönlich bei euch vorbei.«

Bloß das nicht! Frau Böger ist genauso nervig wie das Jugendamt.

Lilly verspricht es, hat Mühe, sich auf die Matheaufgaben zu konzentrieren, dabei mag sie Mathe. Zahlen machen sie froh. Sie sind so klar und ehrlich und man kann sich jederzeit auf sie verlassen. Langsam kommt sie doch rein. Sie rechnet und rechnet und ist sogar vor dem Klingeln fertig. Frau Böger lobt sie. Lilly atmet tief durch. Sie darf schon gehen.

Der Schulhof ist leer, durch die Bäume rauscht der Septemberwind. Sie muss jetzt dringend mal rennen und ein paar Luftsprünge machen.

 

Kurz nach eins, ihr Magen knurrt. Die Sonne scheint. Aber es ist niemand da, mit dem sie ein bisschen rumbolzen könnte. Dann geht sie eben erst mal nach Hause, vielleicht ist Mama schon zurück und hat eine schöne Nacht mit Wolfgang gehabt. Dann ist bestimmt gute Stimmung. Als Lilly die Wohnungstür aufschließt, hört sie Gelächter und Fernsehstimmen aus dem Wohnzimmer. Mama und Reni. Reni ist Mamas beste Freundin. Sie war schon lange nicht mehr da, weil sie sich gestritten hatten, aber jetzt scheint alles wieder in Butter zu sein. Sie sitzen auf dem Sofa, nebeneinander, rauchen, trinken den Aldi-Sekt und gucken hoch, als sie ins Wohnzimmer kommt.

»Hallo!«, sagt Lilly und legt Mama sofort die Briefe hin, zum Unterschreiben. Mama schiebt sie weg. »Jetzt nicht.«