Blackhouse

Cover

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel «L’Île des chasseurs d’oiseaux/The Blackhouse» bei Éditions de Rouergue, Paris.

 

Redaktion Elisabeth Raether

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Februar 2011

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung any.way, Barbara Hanke, Cordula Schmidt

Coverabbildung Ashley Cooper/Corbis

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-30451-2

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-30451-2

Dies ist das Land der Zufriedenheit,

Ich seh es nur zu klar,

Unbeschwerte Wege weit und breit,

Heute find ich sie nicht mehr.

Aus: «BLAU ERINNERTE BERGE»

VON A. E. HOUSMAN

 

Tri rudan a thig gun iarraidh:

an t-eagal, an t-eudach ’s an gaol.

(Drei Dinge, die von selber kommen:

Furcht, Liebe und Eifersucht)

EIN GÄLISCHES SPRICHWORT

Für Stephen, mit dem ich auf jenen unbeschwerten Wegen gegangen bin

Aussprache Ein paar einfache Hinweise zur Aussprache gälischer Namen und Wörter im Buch – die Betonung wird hier jeweils durch einen Akzent gekennzeichnet:

Fionnlagh

Fiónlach

Marsaili

Márschali

An Sgeir

An Skerr

Ceit

Keit

Seonaidh

Schónei

Iain

Jan

Sine

Schíne

Eilidh

Eilei

Ruadh

Rúag

Coinneach

Cóinjach

Eachan

Jáchan

Mairead

Máired

Seoras

Schóress

Gaelic

Gálick

Slainthe mhath

Sleindsch i wah

Mamaidh

Mämi

Eilean

Jéilän

Beag

Beg

Dubh

Du

Niseach

Níeschatsch

Uilleam

William

Machair, ausgesprochen macher, ist das gälische Wort für den fruchtbaren Sandboden in den Küstenregionen der Western Isles of Scotland. Der Ausdruck ist im Zuge der problematischen «Machair-Erosion» international zu einem Begriff geworden. Ein beträchtlicher Teil des Machair wird nach und nach von der See abgetragen.

PROLOG

Sie sind fast noch Kinder. Sechzehn Jahre alt. Vom Alkohol und vom bevorstehenden Sonntag beflügelt, fiebern sie der Dunkelheit entgegen.

Es herrscht ein ungewöhnlich leichter Wind, und ausnahmsweise ist er lau, wie Atem schmeichelt er auf der Haut. Ein zarter Dunstschleier am Augusthimmel verdeckt die Sterne, dafür wirft ein Dreiviertelmond sein bleiches, blutleeres Licht über den festen, feuchten Sand, den die Ebbe hinterlassen hat. Das Meer schwappt sacht an die Küste, silberne Schaumbläschen platzen auf goldenem Grund. Dem jungen Pärchen, das auf der geteerten Straße aus dem Dorf zum Meer hinunterrennt, pulsiert das Blut wie Wellenschlag im Kopf.

Im winzigen Hafen links von ihnen bricht sich das Mondlicht auf dem Wasser. Sie hören das Knarren der kleinen Boote, die an ihren Tauen zerren, das dumpfe, hohle Geräusch ihrer hölzernen Rümpfe, die sich in der Dunkelheit kabbeln und den knapp bemessenen Platz einander streitig machen.

Uilleam hält ihre Hand und spürt ihren Widerstand. Er hat den angenehmen Alkoholduft in ihrem Atem geschmeckt und das Verlangen in ihrem Kuss, er weiß, dass sie sich ihm heute Nacht hingeben wird. Doch ihnen bleibt nicht viel Zeit. Der Tag des Herrn rückt näher, ein verstohlener Blick auf die Uhr, bevor sie das Licht der Straßenlaternen hinter sich lassen, sagt ihm, dass sie gerade noch eine halbe Stunde haben.

Ceit keucht. Nicht vor dem Sex hat sie Angst, sondern vor dem Vater, der jetzt am Torffeuer sitzt und in die Aschenglut starrt, die – präzise bemessen – gegen Mitternacht verlöschen wird. Die Ungeduld, die Wut, die mit jedem Ausschlag des Zeigers größer wird, während er dasitzt und auf ihre Rückkehr vor Anbruch des Sonntags wartet, kann sie fast mit Händen greifen. Wie ist es nur möglich, dass sich auf dieser gottesfürchtigen Insel so wenig verändert hat?

Gedanken stürmen auf sie ein, kämpfen mit der Begierde, die sich im Alkoholnebel bislang ungehemmt ihren Weg bahnen konnte. Als sie vor wenigen Stunden den Gemeindesaal betraten, erschien ihr der bevorstehende Samstagabend wie eine halbe Ewigkeit. Doch wenn die Zeit knapp bemessen ist, vergeht sie im Flug. Und jetzt ist die Frist fast abgelaufen.

Als sie auf dem Kies oberhalb der Tiefgangsmarke an einem alten, umgekippten Fischerboot vorüberhuschen, pocht ihr eine Mischung aus Panik und Verlangen in der Brust. In der offenen Hälfte des Bootshauses aus Beton ist durch die unverglasten Fensterrahmen der Strand dahinter zu sehen. Das Meer scheint von innen her zu leuchten. Uilleam lässt ihre Hand los und öffnet die Holztür gerade so weit, dass sie sich durch den Spalt winden können. Er schiebt sie hinein. Drinnen ist es dunkel, wie das schale Parfüm von überhastetem, pubertärem Sex liegt ein widerwärtiger Geruch nach Diesel, Salzwasser und Tang in der Luft. Über ihnen ragen die dunklen Umrisse eines Boots auf einem Anhänger in die Höhe, dahinter gewähren zwei kleine rechteckige Fenster wie Gucklöcher einen Ausblick auf den Strand.

Er drückt sie an die Wand, im selben Moment spürt sie seinen Mund, seine Zunge, die sich zwischen ihre Lippen drängt, den festen Griff seiner Hände an ihren Brüsten. Es tut weh, und sie schiebt ihn von sich. «Nicht so grob.» Ihr Atem scheint in der Dunkelheit zu tosen.

«Keine Zeit.» Seine Stimme klingt angespannt, halb fordernd, halb ängstlich. Und ihr kommen Zweifel. Hat sie sich ihr erstes Mal wirklich so vorgestellt? Ein paar schäbige Minuten im Dunkel eines schmutzigen Schuppens?

«Nein.» Sie schiebt ihn von sich und wendet sich zum Fenster und zur frischen Luft. Wenn sie sich beeilen, können sie immer noch vor Mitternacht zurück sein.

Sie spürt die dunkle Gestalt, bevor sie aus dem Schatten taucht. Weich, kalt und schwer. Unwillkürlich schreit sie auf.

«Mein Gott, Ceit!» Uilleam ist hinter ihr, und da er zu allem Übel ausrutscht, als sei er auf Eis getreten, gesellt sich zu seiner Angst und seinem Verlangen eine kalte Wut. Er schlägt heftig mit dem Ellbogen auf, ein stechender Schmerz zuckt ihm durch den Arm. «Mist!» Auf dem Boden scheint eine Diesellache zu sein. Er merkt, wie sie ihm feucht durch den Hosenboden dringt. Die Flüssigkeit klebt an seinen Händen. Ohne nachzudenken, kramt er sein Feuerzeug aus der Tasche. Es ist einfach zu dunkel hier drinnen. Erst als er mit dem Daumen am Rädchen dreht und die Flamme entzündet, wird ihm bewusst, dass er gerade dabei ist, sich zu einer lodernden Fackel in Brand zu stecken. Doch da ist es schon zu spät. Als plötzlich der Lichtstrahl in das Dunkel fällt, erschrickt er und macht sich aufs Schlimmste gefasst. Doch die Dieseldämpfe fangen kein Feuer, die Stichflamme bleibt aus. Stattdessen trifft ihn ein so entsetzlicher Anblick, dass er zunächst einmal nichts begreift.

Der Mann hängt an den Sparren des Dachfirsts. Über einem ausgefransten Nylonseil ist ihm der Kopf in einem unmöglichen Winkel vornübergekippt. Der Mann ist groß und schwer. Er ist splitterfasernackt; das bläulich weiße Fleisch hängt ihm wie ein viel zu großer Anzug in Falten an der Brust. Aus einem breit grinsenden Mund quer über den Bauch quillt etwas schmierig Glänzendes und baumelt ihm zwischen den Beinen. Im Licht der Flamme tanzt der Schatten des Toten an den zerkratzten und graffitibeschmierten Wänden gleich Gespenstern, die einen Neuankömmling willkommen heißen. Hinter ihm sieht Uilleam Ceit – ihre dunklen, entsetzensstarren Augen, das bleiche Gesicht. Eine Sekunde lang ist er absurderweise davon überzeugt, dass es sich bei der Lache, in der er steht, um landwirtschaftlich genutzten Treibstoff handelt, den das Finanzamt rot eingefärbt hat, um ihn als steuerfrei kenntlich zu machen – dann endlich begreift er, dass es Blut ist, klebriges, dickflüssiges Blut, das ihm bereits bräunlich an den Händen trocknet.

KAPITEL EINS

Es war spät, draußen war es schwül. Fin konnte sich nur mühsam konzentrieren. Er hatte ein Gefühl, als ob ihn die Dunkelheit in seinem kleinen Arbeitszimmer mit zwei großen Händen auf den Stuhl niederdrückte. Der Lichtkegel seiner Schreibtischlampe zog ihn wie eine Motte magisch an, blendete ihn jedoch zugleich und brannte ihm in den Augen, sodass die Notizen vor seinem Blick verschwammen. In der Stille war nur das leise Surren des Computers zu hören, und am Rande seines Gesichtsfelds flackerte der Bildschirm. Er hätte schon vor Stunden schlafen gehen sollen, doch er musste unter allen Umständen seine Hausarbeit fertigstellen. Die Fernuniversität war seine einzige Alternative, und er hatte die Abgabe vor sich hergeschoben. Idiotischerweise.

Er hörte, wie sich in der Tür hinter ihm etwas bewegte, und fuhr gereizt auf seinem Drehstuhl zu Mona herum. Doch der Vorwurf blieb ihm im Halse stecken. Anstelle von Mona sah er ungläubig zu einem Mann auf, der so groß war, dass er nicht aufrecht stehen konnte und den Kopf schief legen musste, um nicht an die Decke zu stoßen. Nicht dass die Räume besonders hoch waren, doch dieser Mann musste zwei Meter vierzig sein. Er hatte sehr lange Beine und trug eine dunkle Hose mit Gürtel, die sich in Falten um seine schwarzen Stiefel legte. Er hatte ein Karohemd an, darüber einen offenen Anorak mit aufgeschlagenem Kragen und Kapuze. Seine langen Arme baumelten aus viel zu kurzen Ärmeln. Dem faltigen, finsteren Gesicht und den dunklen, ausdruckslosen Augen nach schätzte ihn Fin auf etwa sechzig. Sein fettiges silbergraues Haar hing ihm bis unter die Ohren. Im Licht der Schreibtischlampe schienen die Schatten in den Zügen des Mannes wie in Stein gemeißelt. Er sagte nichts, sondern starrte Fin nur an. Was zum Teufel hatte der Kerl hier zu suchen? Fin stellten sich die Nackenhaare auf, und er merkte, wie ihn die Angst packte. Dann auf einmal hörte er seine eigene Stimme in der Dunkelheit wimmern wie ein Kind. «Komischer Ma-ann … Ma-ann.» Der Mann starrte ihn weiter unverwandt an. «Da ist ein komischer Ma-ann …»

«Was ist los, Fin?», fragte Mona. Sie schüttelte ihn besorgt an der Schulter.

Doch selbst nachdem er die Augen geöffnet und ihr erschrockenes, vom Schlaf verquollenes Gesicht gesehen hatte, hörte er sich immer noch heulen: «Komischer Ma-ann …»

«Gott nochmal, was hast du?»

Er legte sich auf den Rücken, um tief Luft zu holen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. «Hab nur geträumt. Schlecht geträumt.» Doch das Bild dieses Mannes in seinem Arbeitszimmer stand ihm wie ein Kinderalbtraum vor Augen. Er sah auf die Nachttischuhr. Der Digitalanzeige nach war es sieben nach vier. Er versuchte zu schlucken, doch sein Mund fühlte sich trocken an, und er wusste, dass er nicht wieder einschlafen konnte.

«Du hast mich zu Tode erschreckt.»

«Tut mir leid.» Er schlug die Decke zurück und schwang die Füße über die Kante. Er schloss die Augen und massierte sich das Gesicht, doch der Mann war immer noch da, als sei er ihm in die Netzhaut eingebrannt. Er stand auf.

«Wo willst du hin?»

«Aufs Klo.» Er tappte leise über den Teppich und öffnete die Tür zum Flur. Das Mondlicht fiel, von den pseudo-georgianischen Fensterrahmen in geometrische Muster gegliedert, in die Diele. Auf halbem Weg kam er an der offenen Tür zu seinem Arbeitszimmer vorbei. Drinnen war es pechschwarz, und er schauderte. Wie deutlich und nachhaltig das Bild haftenblieb! An der Badezimmertür blieb er stehen, wie seit fast vier Wochen jede Nacht, und richtete den Blick wie gebannt auf die Tür am Ende des Flurs. Die Tür war halb geöffnet, und in dem Zimmer dahinter war es mondhell. Die Gardinen, die eigentlich zugezogen sein sollten, waren offen. Das Zimmer war leer. Fin wandte sich mit einem schrecklichen Gefühl in der Herzgegend ab und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn.

Das plätschernde Geräusch von Urin, der ins Wasser trifft, hatte etwas Beruhigendes, Normales. Seine Depressionen setzten immer in der Stille ein. Aber diese Nacht fühlte er sich nicht leer. Er hatte ja Besuch von diesem Kerl im Anorak. Fin überlegte, ob er ihn vielleicht kannte, ob ihm dieses lange Gesicht mit dem zotteligen Haar vertraut erschien, und plötzlich erinnerte er sich an die Beschreibung des Mannes im Auto, die Mona der Polizei gegeben hatte. Er sei um die sechzig gewesen, mit langem, fettigem grauem Haar.

 

 

Auf der Busfahrt in die Stadt huschten die Greystone-Mietshäuser wie die flimmernden Bilder eines körnigen, alten Schwarzweißfilms an seinem Fenster vorbei. Er hätte mit dem Wagen fahren können, doch in Edinburgh setzte man sich nicht unbedingt gern hinters Lenkrad. Als er die Princes Street erreichte, brach die Wolkendecke auf, und die Sonne legte sich in Wellen über die grüne Fläche der Gärten unterhalb des Schlosses. Um eine Gruppe Straßenkünstler, die Feuer schluckten und mit Keulen jonglierten, hatte sich eine Menschentraube gebildet. Auf den Stufen der Kunstgalerien spielte eine Jazzband. Fin stieg an der Waverley Station aus und ging zu Fuß über die North und die South Bridge in die Altstadt, dann Richtung Süden an der Universität vorbei, um schließlich nach Osten abzubiegen, der im Schatten der Salisbury Crags lag. Das Licht fiel schräg auf die grünen Hänge der Klippen, die oberhalb des Polizeipräsidiums mit der Abteilung A emporragten.

In einem der oberen Stockwerke nickte man ihm im Flur zu. Jemand legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: «Mein tief empfundenes Beileid, Fin.»

Kriminaloberinspektor Black sah nur kurz von seinen Papieren auf und deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Er hatte ein hageres Gesicht sowie einen käsigen Teint und wühlte mit nikotinverfleckten Fingern in seinen Unterlagen. Als er schließlich zu Fin aufsah, erinnerte sein Blick an den eines Falken. «Wie läuft das Fernstudium?»

Fin zuckte die Achseln. «Ganz gut.»

«Ich hab Sie nie gefragt, wieso Sie überhaupt die Uni geschmissen haben. Glasgow, oder?»

Fin nickte. «Weil ich jung war, Sir. Und dumm.»

«Wieso sind Sie zur Polizei gegangen?»

«Das war damals das Nächstliegende, wenn man von den Inseln kam, keine Arbeit und nichts gelernt hatte.»

«Dann kannten Sie jemanden in dem Laden?»

«Ich kannte da einige Leute.»

Black sah ihn nachdenklich an. «Sie sind ein guter Cop, Fin. Aber Sie hätten lieber was anderes gemacht?»

«Es ist mein Beruf.»

«Nein, das war es bis vor einem Monat. Und was passiert ist, nun, das war eine Tragödie. Aber das Leben muss weitergehen, ob wir es wollen oder nicht. Alle haben Verständnis dafür, dass Sie Zeit brauchen. In diesem Geschäft bekommen wir weiß Gott genug vom Tod zu sehen, um das zu verstehen.»

Fin betrachtete ihn mit einer beinahe feindseligen Miene. «Sie haben keine Ahnung, wie es ist, ein Kind zu verlieren.»

«Nein, das ist wohl wahr.» Blacks Ton ließ nicht die Spur von Mitgefühl erkennen. «Aber ich habe Menschen verloren, die mir nahestanden, und ich weiß, dass man einfach irgendwie damit fertigwerden muss.» Wie zum Gebet legte er die Hände aneinander. «Aber an nichts anderes mehr zu denken, Fin, das ist … das tut nicht gut. Das ist morbid.» Er schürzte die Lippen. «Es wird Zeit, dass Sie eine Entscheidung treffen. Darüber, was Sie mit Ihrem Leben jetzt anfangen wollen. Und bis dahin möchte ich Sie wieder bei der Arbeit sehen, es sei denn, es gäbe einen zwingenden Grund, der dagegen spricht.»

Er wusste, dass man von ihm verlangte, seinen Dienst wieder aufzunehmen. Mona wollte es, die Kollegen, auch seine Freunde. Und da er wusste, dass er nie wieder der Mensch sein würde, der er vor dem Unfall gewesen war, hatte er sich dagegen gesträubt.

«Wann?»

«Jetzt, gleich heute.»

Fin erschrak. Er schüttelte den Kopf. «Ich brauch noch ein bisschen Zeit.»

«Die hatten Sie, Fin. Entweder Sie kommen zurück, oder Sie kündigen.» Black wartete keine Antwort ab. Er beugte sich vor, nahm einen braunen Schnellhefter von einem gezackten Stapel und schob ihn Fin hinüber. «Sie erinnern sich bestimmt an den Mord auf dem Leith Walk im Mai?»

«Ja.» Fin schlug die Akte nicht auf. Nicht nötig – die nackte Leiche, die zwischen der verregneten Pfingstkirche und der Bank an einem Baum gehangen hatte, war ihm auch so gegenwärtig. An der Mauer hatte auf einem Plakat gestanden: Jesus bringt die Erlösung. Und Fin erinnerte sich auch noch an seinen ersten, spontanen Gedanken: dass die Installation wie eine Reklame für die Bank aussah, wobei es dann besser geheißen hätte: Die Bank of Scotland bringt Erlöse.

«Es hat noch so einen Mord gegeben», sagte Black. «Derselbe Modus Operandi.»

«Wo?»

«Oben im Norden. Nördliche Gendarmerie. Kam auf dem HOLMES rein. Es war sozusagen der Geistesblitz unseres Computers, den Fall Ihnen zu übertragen.» Er zwinkerte mit den langen Augenwimpern und musterte Fin mit einem skeptischen Blick. «Sie haben das Kauderwelsch hoffentlich noch nicht verlernt?»

Fin war erstaunt. «Gälisch? Seit ich von der Isle of Lewis weg bin, habe ich kein Gälisch mehr gesprochen.»

«Dann wird es Zeit, dass Sie es ein bisschen aufpolieren. Das Opfer stammt aus Ihrem Heimatdorf.»

«Aus Crobost?» Fin traute seinen Ohren nicht.

«Ein paar Jahre älter als Sie. Hieß …» Er suchte auf dem Dokument, das vor ihm lag, nach dem Namen. «… Macritchie. Angus Macritchie. Haben Sie sich gekannt?»

Fin nickte stumm.

 

 

Die Sonne, die schräg durchs Wohnzimmerfenster einfiel, war wie ein stummer Tadel für ihren Kummer. Kleine Staubkörnchen schwebten in der abgestandenen Luft. Von draußen waren Kinder zu hören, die auf der Straße Fußball spielten. Noch vor wenigen Wochen war Robbie dabei gewesen. Das Ticktack der Uhr auf dem Kaminsims skandierte die Stille. Mona hatte zwar rote Augen, doch die Tränen waren getrocknet und der Wut gewichen.

«Ich will nicht, dass du gehst.» Dies war bei ihrem Dauerstreit der Refrain geworden.

«Heute Morgen wolltest du noch, dass ich zur Arbeit gehe.»

«Aber ich wollte, dass du wieder nach Hause kommst. Ich will nicht, dass du mich wochenlang allein lässt.» Zitternd atmete sie. «Mit meinen Erinnerungen. Mit … mit …»

Vielleicht hätte sie nie die Worte gefunden, um ihren Satz zu Ende zu bringen, doch Fin half aus. «Deinen Schuldgefühlen?» Er hatte nie gesagt, dass er ihr Vorwürfe machte, doch er konnte es nicht leugnen. Auch wenn er sich Mühe gab. Sie warf ihm einen so schmerzerfüllten Blick zu, dass er den Gedanken augenblicklich bereute. «Ist ja nur für ein paar Tage», sagte er und strich sich durchs üppig gelockte Haar. «Glaubst du etwa, ich bin scharf darauf? Ich hab achtzehn Jahre lang alles drangesetzt, nicht zurückzugehen.»

«Und jetzt kann’s dir nicht schnell genug gehen. Abzuhauen. Von mir wegzukommen.»

«Also, jetzt hör doch auf.» Aber er wusste, sie hatte recht. Wusste, dass er nicht nur vor Mona weglaufen wollte, sondern vor allem hier. An einen Ort zurück, an dem das Leben einmal einfach gewesen war. Die Rückkehr in die Kindheit, in den Mutterleib. Wie leicht war es auf einmal, zu ignorieren, dass er als Erwachsener all die Jahre genau das umgangen hatte. Wie leicht war es, zu vergessen, dass er als Jugendlicher nur das eine Ziel hatte, von dort wegzukommen.

Er erinnerte sich auch, wie leicht es gewesen war, Mona zu heiraten. Aus den denkbar falschen Gründen. Um eine Beziehung zu haben. Als Entschuldigung, nicht zurückgehen zu müssen. Doch in diesen vierzehn Jahren hatten sie sich miteinander eingerichtet, indem jeder von ihnen in seinem Leben für den anderen Platz gemacht hatte. Diesen Platz hatten sie miteinander ausgefüllt, aber nie wirklich geteilt. Sie waren Freunde gewesen. Sie mochten sich, kein Zweifel, doch er bezweifelte, dass sie sich je geliebt hatten. Wirklich geliebt. Wie so viele Menschen hatten sie sich in ihrem Leben mit dem Zweitbesten zufriedengegeben. Robbie war das Band zwischen ihnen gewesen. Doch Robbie war nicht mehr da.

Mona sagte: «Hast du auch nur den leisesten Schimmer, wie ich mich in den letzten Wochen gefühlt habe?»

«Ich denke schon.»

Sie schüttelte den Kopf. «Hast du nicht. Du musstest nicht jede Minute mit jemandem zusammen sein, dessen Schweigen ein einziger Schrei des Vorwurfs ist. Ich weiß, dass du mir die Schuld gibst, Fin. Aber was auch immer du mir vorwirfst, ich werfe es mir zehnmal vor. Und auch ich habe jemanden verloren. Er war auch mein Sohn.»

Jetzt stiegen ihr erneut die Tränen in die Augen. Er brachte kein Wort heraus. «Ich will nicht, dass du gehst.» Der Refrain.

«Ich hab keine Wahl.»

«Natürlich hast du die Wahl. Es gibt immer eine Wahl. Wochenlang hast du dich dafür entschieden, nicht zu gehen. Sag ihnen einfach, du machst es nicht.»

«Das geht nicht.»

«Fin, wenn du morgen in diesen Flieger steigst …» Er wartete auf das Ultimatum, während sie allen Mut zusammennahm, um es auszusprechen. Doch es blieb aus.

«Was, Mona? Was passiert, wenn ich morgen in diesen Flieger steige?» Er forderte sie heraus. Doch sie schwieg.

Sie wandte den Blick ab und biss sich auf die Unterlippe, bis sie Blut schmeckte. «Erwarte einfach nicht, dass ich noch hier bin, wenn du wiederkommst, das ist alles.»

 

Die kleine, zweimotorige Maschine wackelte im Wind, als sie sich zur Seite neigte, um in einem weiten Bogen über dem Loch a Tuath zum Landeanflug auf die kurze, windgepeitschte Piste des Flughafens Stornoway anzusetzen. Als sie aus der dicken, tiefen Wolkendecke tauchten, blickte Fin auf eine schiefergraue See hinab, die sich an den schwarzen Felsnasen der Halbinsel Eye brach, diesem zerklüfteten Fleckchen Erde, das als «Point» bekannt war. Er sah die in die Landschaft geschnittenen vertrauten Muster, die den Schützengräben des Zweiten Weltkriegs ähnelten, auch wenn diese hier nicht zu kriegerischen, sondern zu Heizzwecken entstanden waren. Über Jahrhunderte hatten die Torfstecher in der ansonsten einförmigen, endlosen Weite des Marschlands ein auffälliges Narbengeflecht hinterlassen. Fin hatte vergessen, welcher Wind hier über fünftausend Kilometer Atlantik hereinbrauste. Hinter dem schützenden Hafen von Stornoway gab es auf der Insel kaum einen Baum.

Während des einstündigen Flugs hatte er versucht, an nichts zu denken – weder an die bevorstehende Rückkehr zu seinem Geburtsort noch an die entsetzliche Stille, in der er von zu Hause aufgebrochen war. Mona hatte die Nacht in Robbies Zimmer verbracht. Während er seine Sachen packte, hatte er sie am anderen Ende des Flurs weinen gehört. Am Morgen war er ohne ein Wort gegangen, und als er die Tür hinter sich zuzog, wusste er, dass ein Kapitel zu Ende ging.

Als er jetzt am Rollfeld unter sich die vertrauten Nissenhütten und in der Ferne den neuen Fährhafen schimmern sah, war er plötzlich aufgeregt. Es war so lange her, und längst vergessene Erinnerungen stürmten auf ihn ein.

KAPITEL ZWEI

Ich habe erlebt, dass Menschen, die in den fünfziger Jahren geboren wurden, ihre Kindheit in Brauntönen beschreiben. Eine Welt in Sepia. Ich bin in den Sechzigern und Siebzigern aufgewachsen, und meine Kindheit war lila.

Wir wohnten in einem sogenannten Whitehouse knapp tausend Meter außerhalb eines Dorfs namens Crobost. Es gehörte zu der Gemeinde, die Ness genannt wurde und an der äußersten Spitze der Isle of Lewis lag, der nördlichsten Insel der Äußeren Hebriden. Die Whitehouses wurden in den zwanziger Jahren aus Stein und Kalk oder auch aus Betonstein errichtet und die Dächer mit Schiefer gedeckt, manche auch mit Wellblech oder mit Teerpappe. Sie wurden als Ersatz für die alten Blackhouses gebaut. Die Blackhouses hatten Wände aus Bruchstein mit Reetdächern, Mensch und Vieh wohnten darin. In der Mitte des Hauptraums brannte im Fußboden Tag und Nacht ein Feuer aus Torf. Diesen Raum nannte man daher Feuerzimmer. Es gab keine Schornsteine, vielmehr sollte der Rauch durch ein Loch im Dach entweichen. Natürlich war das nicht sehr effizient, und so waren diese Häuser immer verqualmt. Kein Wunder, dass die Lebenserwartung der Bewohner niedrig war.

Die Überreste des Blackhouse, in dem meine Großeltern mütterlicherseits wohnten, standen in unserem Garten, einen Steinwurf von unserem Zuhause entfernt. Es hatte kein Dach mehr, und die Wände waren eingefallen, doch es eignete sich wunderbar zum Versteckenspielen.

Mein Vater war ein praktisch veranlagter Mensch. Er hatte dichtes schwarzes Haar und scharfe blaue Augen. Seine Haut war wie Leder, das im Sommer, wenn er sich die meiste Zeit im Freien aufhielt, dunkler wurde. Als ich noch klein war, bevor ich in die Schule kam, nahm er mich zum Strandgutsammeln mit. Damals verstand ich es noch nicht, doch später erfuhr ich, dass er zu dieser Zeit arbeitslos war. Die Fischereiindustrie erlitt einen Rückgang, und das Boot, auf dem er Kapitän war, wurde verschrottet. Also hatte er viel Zeit, und wir standen bei Morgengrauen auf, um die Strände nach allem abzusuchen, was in der Nacht angespült worden war. Nutzholz. Eine Menge Nutzholz. Einmal erzählte er mir, er kenne einen Mann, der sein ganzes Haus aus Schwemmholz gebaut habe. Er selbst hatte das meiste Holz, mit dem er unsere Dachkammern gebaut hatte, aus dem Meer. Das Meer gab uns viel. Es nahm uns auch viel. Kaum ein Monat verging, in dem wir nicht von irgendeinem bedauernswerten Menschen hörten, der ertrunken war. Ein Unfall beim Fischen. Ein Badeurlaub, bei dem jemand von einer Unterströmung hinausgezogen wurde. Ein Sturz von den Klippen.

Von diesen Strandausflügen schleppten wir alles Mögliche heim. Stricke, Fischernetze, Aluminiumbojen, die mein Vater an die Kesselflicker verkaufte. Nach einem Sturm fielen die Funde sogar noch reichlicher aus. Als sich einmal ein solches Unwetter verzogen hatte, fanden wir das Zweihundert-Liter-Fass. Auch wenn sich der Sturm gelegt hatte, peitschte immer noch ein scharfer Wind wütend über die Küste. Über uns fegten zerfetzte Wolkenknäuel mit hundert Stundenkilometern am Himmel. Dazwischen tauchte die Sonne das Land in helle, wechselnde Muster aus Grün, Purpur und Braun.

Zwar war das Fass nicht gekennzeichnet, dafür aber voll und schwer, und mein Vater war über unseren Fund richtig aufgeregt. Es war zur Hälfte im Sand vergraben und zu schwer, um es zu zweit zu tragen. Also organisierte er einen Traktor mit Anhänger und ein paar Männer zum Helfen, und am Nachmittag stand es sicher in einem Nebengebäude des kleinen Hofs. Es ließ sich mühelos öffnen, darin war Farbe. Hellviolette Anstrichfarbe – weshalb in unserem Haus schon bald jede Tür, jeder Schrank und jedes Regal, jedes Fenster und jede Diele lila gestrichen war.

Meine Mutter war eine hübsche Frau mit blondgelocktem Haar, das sie sich streng zu einem Pferdeschwanz zurückband. Sie hatte helle, sommersprossige Haut und glänzende braune Augen, und ich entsinne mich nicht, sie je mit Make-up gesehen zu haben. Sie war ein freundlicher Mensch mit sonnigem Gemüt, jedoch hatte sie ein feuriges Temperament, und man erwischte sie besser nicht auf dem falschen Fuß. Sie bewirtschaftete den kleinen Hof. Er verfügte nur über knapp zweieinhalb Hektar Land und erstreckte sich in einem langen, schmalen Streifen vom Haus bis zur Küste hinunter – fruchtbarer Machair-Boden, der sich bestens als Weideland für Schafe eignete und den größten Teil der Einkünfte durch Regierungssubventionen einbrachte. Außerdem zog sie Kartoffeln und Rüben sowie etwas Getreide und verkaufte Gras für Heu und als Silofutter. Denke ich an sie, sehe ich sie in ihrem blauen Overall mit den schwarzen Gummistiefeln auf ihrem Traktor vor mir, wie sie verlegen einem Fotografen des Lokalblatts entgegenlächelt, weil sie bei der Landwirtschaftsschau von Ness einen Preis gewonnen hat.

Als ich in die Schule kam, hatte mein Vater in der Ölraffinerie Point Arnish in Stornoway Arbeit gefunden, und so brach er zusammen mit einigen anderen Männern aus dem Dorf frühmorgens in einem weißen Kleintransporter zu der langen Fahrt in die Stadt auf. Daher musste mich meine Mutter in unserem verrosteten alten Ford Anglia zu meiner Schuleinführung fahren. Ich war aufgeregt. Mein bester Freund war Artair Macinnes, der sich genauso auf die Schule freute wie ich. Wir waren im Alter nur einen Monat auseinander, und der Bungalow seiner Eltern war von unserem Hof aus das nächste Haus. Daher verbrachten wir in den Jahren bevor wir in die Schule kamen, viel Zeit miteinander. Allerdings waren seine und meine Eltern nicht eben dicke Freunde. Wahrscheinlich auch deshalb, weil sie nicht derselben Schicht angehörten. Artairs Vater war Lehrer an der Schule von Crobost, wo nicht nur die ersten sieben Grundschuljahrgänge, sondern auch die ersten beiden der Mittelschule unterrichtet wurden. Er gab Mathematik und Englisch an der Mittelschule.

Ich weiß noch, dass es ein kühler, stürmischer Septembertag war, bei dem die schweren Wolken fast den Boden zu berühren schienen. Es roch nach Regen. Ich hatte einen braunen Anorak mit einer Kapuze an, dazu eine kurze Hose, die mir, falls sie nass wurde, die Haut aufscheuern würde. Die schwarzen Gummistiefel klatschten mir gegen die Waden, und ich schwang mir die steife, neue Leinenschultasche mit Strandschuhen und Lunchpaket über die Schulter. Ich konnte es kaum erwarten loszufahren.

Meine Mutter rangierte gerade den Anglia aus dem Holzschuppen, unserer Garage, als wir eine Hupe hörten. Ich drehte mich um und sah, wie Artair und sein Vater mit ihrem leuchtend orangefarbenen Hillman Avenger vorfuhren. Es war ein Gebrauchtwagen, aber wie neu, sodass unser Anglia sich dagegen alt und schäbig ausnahm. Mr. Macinnes ließ den Motor laufen, während er ausstieg und mit meiner Mutter sprach. Kurz darauf kam er zu mir, legte mir die Hand auf die Schulter und sagte, er und Artair würden mich mitnehmen. Erst als wir losfuhren und ich mich zu meiner Mutter umdrehte, die dastand und winkte, wurde mir bewusst, dass ich mich nicht von ihr verabschiedet hatte.

Inzwischen weiß ich, wie es für die Eltern ist, wenn das Kind zum ersten Mal in die Schule geht. Man hat Verlustängste und ist sich darüber im Klaren, dass etwas unwiderruflich zu Ende geht. Heute weiß ich, was meine Mutter empfand. All das und die Enttäuschung darüber, irgendwie den großen Moment verpasst zu haben, standen ihr ins Gesicht geschrieben.

 

Die Schule von Crobost lag in einer Senke unterhalb des Dorfs, im Schatten der Kirche, die die Gemeinde überragte, während sich ein Stück weiter nördlich Port Ness anschloss. Die Schule war inmitten offener Weideflächen, und in der Ferne konnte man so eben den Leuchtturm am Butt ausmachen. An manchen Tagen sah man hinter dem Minch am fernen Horizont die Umrisse der Berge auf dem Festland. Die Leute behaupteten, wenn man das Festland sehen könne, gebe es bald schlechtes Wetter. Und tatsächlich war es meistens so.

Auf die Grundschule von Crobost gingen hundertdrei Kinder, auf die Mittelschule achtundachtzig. Mit mir kamen an diesem Tag elf neue Gesichter dazu, und wir saßen in zwei Reihen mit je sechs Bänken hintereinander.

Unsere Lehrerin, eine dünne, grauhaarige Frau, die wahrscheinlich viel jünger war, als sie wirkte, hieß Mrs. Mackay. In meinen Augen war sie ein Urgestein. Im Grunde war Mrs. Mackay eine freundliche, wenn auch strenge Dame, die zuweilen ein wenig sarkastisch sein konnte. Als Erstes fragte sie die Klasse, ob jemand kein Englisch könne. Natürlich hatte ich schon Englisch gehört, aber bei uns wurde von jeher nur Gälisch gesprochen, und mein Vater duldete keinen Fernseher im Haus; so kam es, dass ich keine Ahnung hatte, was sie sagte. Artair zeigte mit einem vielsagenden Grinsen auf mich. Ich hörte meinen Namen, und die ganze Klasse drehte sich zu mir um. Man brauchte kein Genie zu sein, um zu raten, was Artair ihr offenbart hatte. Ich merkte, wie ich rot anlief.

«Nun, Fionnlagh», sagte Mrs. Mackay auf Gälisch, «offenbar waren deine Eltern nicht so umsichtig, dir Englisch beizubringen, bevor du in die Schule kommst.» Ich war plötzlich wütend auf meine Eltern. Wieso konnte ich kein Englisch? Wussten sie denn nicht, wie demütigend das war? «Du hättest wissen müssen, dass wir in dieser Klasse nur Englisch sprechen. Gälisch ist eine schöne Sprache, aber so ist es nun mal. Und wir werden bald wissen, wie schnell du lernst.» Ich starrte unverwandt auf den Tisch. «Geben wir dir zunächst deinen englischen Namen. Kennst du ihn vielleicht?»

Mit dem Mut der Verzweiflung hob ich den Kopf. «Finlay.» Das wusste ich, weil Artairs Eltern mich so nannten.

«Gut. Und da ich heute als Erstes eure Namen ins Klassenbuch eintrage, kannst du mir auch gleich sagen, wie du mit Nachnamen heißt.»

«Macleod.» Ich sprach meinen Namen gälisch aus, sodass er ungefähr wie Maclodge klang.

«Macleod», korrigierte sie mich. «Finlay Macleod.» Damit wechselte sie zu Englisch und ging die anderen Namen durch. Macinnes, Macdonald, Murray, Macritchie, Maclean, Pickford … Aller Augen richteten sich auf den Jungen, der Pickford hieß, und Mrs. Mackay sagte etwas zu ihm, worüber die Klasse kicherte. Der Junge wurde rot und murmelte etwas Unverständliches zur Antwort.

«Er ist Engländer», flüsterte mir von der nächsten Bank aus eine Stimme auf Gälisch zu. Erstaunt sah ich mich um und blickte einem hübschen kleinen Mädchen ins Gesicht – mit blondem Haar, das zu zwei Zöpfen geflochten war, mit je einer blauen Schleife am Ende. «Er ist der Einzige, dessen Name nicht mit m anfängt, weißt du. Also muss er Engländer sein. Mrs. Mackay hat geraten, dass er der Sohn des Leuchtturmwärters ist, weil das immer Engländer sind.»

«Worüber tuschelt ihr beide?» Mrs. Mackays Ton war streng, und dass sie gälisch sprach, machte sie noch furchterregender, weil ich sie verstand.

«Bitte, Mrs. Mackay», sagte das Zöpfchen. «Ich übersetze nur für Finlay.»

«Ach ja, du übersetzt?» Es lag ein gespieltes Staunen in Mrs. Mackays Stimme. «Das ist ein großes Wort für ein kleines Mädchen.» Sie schwieg, um im Klassenbuch nachzusehen. «Ich wollte euch gerade in alphabetischer Reihenfolge umsetzen, aber da du so eine Sprachkennerin bist, Marjorie, bleibst du wohl besser neben Finlay sitzen und … übersetzt für ihn.»

Marjorie überhörte offenbar den Unterton der Lehrerin und lächelte stolz. Mir konnte es recht sein, neben einem hübschen Mädchen mit Zöpfen zu sitzen. Als ich zu Artair hinübersah, merkte ich, dass er mir wütende Blicke zuwarf. Ich dachte, er sei enttäuscht, weil er mit mir zusammensitzen wollte. Inzwischen weiß ich, dass er eifersüchtig war.

In der Pause knöpfte ich ihn mir auf dem Schulhof vor. «Wieso hast du gepetzt, dass ich kein Englisch kann?»

Aber er gab sich blasiert. «Hätten die doch sowieso rausgekriegt, oder?» Er zog einen kleinen, blauweißen Inhalator aus der Hosentasche, schob sich das Mundstück zwischen die Lippen und atmete tief ein, während er auf den Zufuhrschlauch drückte. Ich dachte mir nichts dabei. Er hatte so einen Schnaufer, seit ich ihn kannte. Er hatte Asthma, hatten meine Eltern mir erklärt, was mir damals nicht viel sagte. Ich wusste nur, dass er manchmal schwer Luft bekam und sich schnell wieder gut fühlte, wenn er an seinem Schnaufer sog.

Ein großer rothaariger Junge riss ihm das Gerät aus der Hand. «Was ist das?» Er hielt es ans Licht, als könne er so seine innersten Geheimnisse erkennen. Es war meine erste Begegnung mit Murdo Macritchie. Er war größer und kräftiger gebaut als die anderen Jungen und hatte dichtes karottenrotes Haar. Später erfuhr ich, dass sie ihn Murdo Ruadh nannten. Ruadh ist das gälische Wort für rot. Wörtlich hieß er Rot Murdo. Damit unterschied man ihn von seinem Vater, der ebenfalls Murdo Macritchie hieß. Er hatte jedoch schwarzes Haar und wurde Murdo Dubh genannt. Alle bekamen früher oder später Spitznamen ab, weil so viele den gleichen Vor- und Nachnamen hatten. Murdo Ruadh hatte einen Bruder, Angus, der ein paar Jahre älter war als wir. Sie nannten ihn Angel, weil er in seiner Klasse der Rüpel war, und Murdo Ruadh schien fest entschlossen, in seine Fußstapfen zu treten.

«Gib her!» Artair versuchte, sich seinen Schnaufer zurückzuerobern, doch Murdo Ruadh hielt ihn so hoch, dass er nicht drankam. So kräftig Artair war, gegen den großen Murdo zog er den Kürzeren. Der warf den Inhalator einem anderen Jungen zu, und der warf ihn wieder zurück zu Murdo. Murdo Ruadh hatte, wie ein Scheißhaufen die Fliegen, bereits seine Anhänger um sich geschart, unterbelichtete Jungen, die aber schlau genug waren, sich auf die Gewinnerseite zu schlagen.

«Dann hol’s dir doch, Röchelgesicht», rief Murdo Ruadh, und sobald Artair danach schnappte, warf er das Ding der nächsten Schmeißfliege zu.

Als Artair seinem Schnaufer hinterherjagte, hörte ich dieses unverwechselbare Rasseln in seiner Brust, da die Mischung aus Panik und Demütigung ihm die Atemwege blockierte. Ich schnappte mir einen der Speichellecker und wand ihm den Inhalator aus der Hand. «Hier.» Ich gab ihn meinem Freund zurück. Artair sog ein paarmal daran. Ich spürte eine Hand am Kragen, die mich gegen die Mauer rammte. Der Rauputz schürfte mir den Hinterkopf blutig. «Was zum Teufel sollen die Spielchen, gälischer Tölpel?» Murdo Ruadh beugte sich so dicht zu mir vor, dass ich seinen schlechten Atem roch.

«Lass ihn in Ruhe!» Es war die Stimme eines kleinen Jungen, doch es lag so viel Autorität darin, dass sie das Johlen der Rüpel augenblicklich zum Verstummen brachte, die gespannt waren, was Murdo mit mir anstellen würde. Auf Murdo Ruadhs großes, hässliches Gesicht legte sich ungläubiges Staunen. Innerhalb einer Minute zweimal in Frage gestellt! Er musste etwas unternehmen. Er ließ meinen Kragen los und drehte sich um. Der Junge war nicht größer als ich, doch irgendetwas an seiner Haltung verwies Murdo Ruadh in die Schranken. Einen Moment lang war außer dem Wind nur noch das Lachen der Mädchen zu hören, die am anderen Ende des Schulhofs Seil sprangen. Alle starrten auf Murdo. Er wusste, dass sein Ruf auf dem Spiel stand.

«Wenn du nochmal Ärger machst … hol ich meinen großen Bruder.»

Ich musste mich beherrschen, um nicht loszuprusten.

Der andere Junge durchbohrte Murdo Ruadh mit seinem Blick, und man sah Murdo an, dass er verunsichert war. «Wenn du zu deinem großen Bruder rennen willst …» Der Junge spuckte die Worte groß und Bruder im Tonfall der Verachtung aus, «… dann muss ich es eben meinem Vater sagen.»

Murdo erbleichte unter diesem Schopf borstigem rotem Haar. «Also, also … komm mir einfach nicht in die Quere.» Es war eine billige Retourkutsche, das wusste jeder. Er bahnte sich einen Weg durch die Gruppe und machte sich über den Schulhof davon. Seine Gefolgschaft trottete hinterher und fragte sich, ob sie vielleicht doch aufs falsche Pferd gesetzt hatte.

«Danke», sagte ich zu dem Jungen, als sich die Gruppe verlief.

Doch er zuckte nur die Achseln, als sei die Sache nicht der Rede wert. «Kann solche verdammten Schläger nicht ausstehen.» Das war das erste Mal, dass ich jemanden fluchen hörte. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und schlenderte Richtung Anbau davon.

«Wer ist das?», fragte ich Artair.

«Weißt du das denn nicht?», fragte Artair ungläubig zurück. Ich schüttelte den Kopf. «Das ist Donald Murray.» Er sprach in ehrfürchtigem Ton. «Der Sohn des Pfarrers.»

In dem Moment läutete es, und wir kehrten alle in die Klasse zurück. Es war reiner Zufall, dass ich genau in dem Augenblick an der Tür des Direktors vorbeikam, als er sie aufmachte und den Flur nach einem passenden Kandidaten absuchte. «Du da.» Er zeigte mit dem Finger auf mich. Ich blieb stehen, und er drückte mir einen Umschlag in die Hand. Ich hatte keine Ahnung, was er als Nächstes sagte, und stand nur mit wachsender Panik da.

«Er spricht kein Englisch, und Mrs. Mackay hat gesagt, ich soll für ihn übersetzen.» Marjorie stand wie ein Schutzengel plötzlich hinter mir. Als ich mich zu ihr umdrehte, schenkte sie mir ein entwaffnendes Lächeln.

«Ach, hat sie das? Übersetzen, ja?» Der Direktor musterte uns und zog in gespieltem Ernst die Stirn in Falten. Er war groß und kahlköpfig und trug eine Halbmondbrille sowie einen grauen Tweedanzug, der ihm eine Nummer zu groß war. «Dann begleitest du ihn wohl am besten, junge Dame.»

«Ja, Mr. Macaulay.» Es war erstaunlich, dass sie jeden mit Namen zu kennen schien. «Komm, Finlay.» Sie hakte sich bei mir unter und manövrierte uns wieder nach draußen auf den Schulhof.

«Wo gehen wir hin?»

«Dieser Zettel, den du da hast, das ist eine Bestellung für die Crobost Stores, um den Imbissstand aufzufüllen.»

«Imbissstand?» Ich hatte keine Ahnung, was sie meinte.

«Du weißt aber auch gar nichts, Dummi. Am Imbissstand kaufen wir in der Schule Süßigkeiten und Chips und Limonade und so, damit wir nicht auf der Straße zum Laden laufen müssen und uns vielleicht überfahren lassen.»

«Ach so.» Ich nickte und rätselte, woher sie das alles wusste. Erst einige Zeit später erfuhr ich, dass sie eine Schwester in der sechsten Klasse hatte. «Dann sollen nur wir uns überfahren lassen?»

Sie kicherte. «Der alte Macaulay muss dich für einen vernünftigen Jungen gehalten haben.»

«Da hat er sich getäuscht.» Ich musste an meine Konfrontation mit Ruadh denken. Sie kicherte wieder.

Crobost Stores war ein Eckladen an der Hauptstraße, ungefähr einen Kilometer entfernt. Er war in einer alten Scheune aus Stein untergebracht, hatte zwei Schaufenster, die immer leer zu sein schienen, und eine schmale Tür dazwischen, die in den Laden führte. Wir konnten das Gebäude schon von ferne neben einem steinernen Schuppen mit einem rostbraunen Wellblechdach sehen. Die schmale, lange und gerade Straße hatte keine Bürgersteige und war durch Zaunpfosten aus faulendem Holz markiert, die schief in alle Richtungen ragten. Der Zaun war von der Aufgabe überfordert, die Schafe von der Straße zurückzuhalten. Die hohen Gräser, die den Graben säumten, waren braun verkohlt und vom Wind zu Boden gedrückt, die Heide schien fast tot. Am Hang dahinter waren die Häuser die Hauptstraße entlang wie Perlen an einer Schnur aufgereiht, und kein Baum, kein Strauch störte die Symmetrie. In der unmittelbaren Umgebung war allerdings nur ein Wirrwarr an Zäunen und verrottenden Skeletten von Autowracks und ausrangierten Traktoren zu sehen.

«In welcher Gegend von Crobost wohnst du denn?», fragte ich Marjorie.

«Gar nicht. Ich wohne auf der Mealanais Farm. Das ist etwas über drei Kilometer von Crobost entfernt.» Und sie senkte ihre Stimme, sodass ich sie bei dem Wind kaum noch hören konnte. «Meine Mutter ist Engländerin.» Es war, als ob sie mir ein Geheimnis anvertraute. «Deshalb spreche ich Englisch ohne gälischen Akzent.»

Ich zuckte die Achseln und fragte mich, wieso sie mir das erzählte. «Kann ich nicht beurteilen.»

Sie lachte. «Natürlich nicht.»

Es war kalt und fing zu regnen an. Ich zog mir die Kapuze über den Kopf und schielte dabei zu dem Mädchen mit den Zöpfen hinüber. Sie flatterten hinter ihr in der Luft, und sie schien den schneidenden Wind im Gesicht zu genießen. Ihre Wangen waren leuchtend rot. «Marjorie.» Ich redete lauter, um das Tosen zu übertönen. «Das ist ein schöner Name.»

«Ich hasse ihn.» Sie sah mich finster an. «Das ist mein englischer Name. Aber niemand nennt mich so. Mit richtigem Namen heiße ich Marsaili.» Wie bei Marjorie betonte sie die erste Silbe und verschliff das s zu einem weichen gälischen sch, eine Ausspracheregel, die die Insel von den Wikingern übernommen hatte, nachdem diese hier zweihundert Jahre geherrscht hatten. «Marsaili.» Ich sagte ihren Namen, als wollte ich ausprobieren, wie er mir über die Zunge ging, und mochte den Klang. «Das ist sogar noch schöner.»

Sie warf mir einen scheuen Blick zu, sodass ich einen Moment in ihre sanften blauen Augen sehen konnte, dann blickte sie wieder geradeaus. «Und wie gefällt dir dein englischer Name?»

«Finlay?» Sie nickte.

«Ich mag ihn nicht.»

«Dann nenne ich dich eben Fin. Wie findest du das?»

«Fin», sagte ich. Kurz und bündig. «Ist okay.»

«Gut.» Marsaili lächelte. «Dann bist du ab jetzt Fin.»

Und so kam es, dass Marsaili Morrison mir den Namen gab, den ich für mein ganzes Leben behalten sollte.

 

Damals waren die Erstklässler einige Wochen lang nur bis mittags in der Schule. Wir aßen und gingen dann nach Hause, und Artair und ich waren an diesem Morgen zwar mit dem Auto gebracht worden, mussten aber zu Fuß nach Hause laufen. Es waren nur ungefähr anderthalb Kilometer. Artair wartete am Tor auf mich. Ich war aufgehalten worden, da Mrs. Mackay mich zu sich gerufen hatte, um mir für meine Eltern eine Nachricht mitzugeben. Ich sah, dass Marsaili uns auf derselben Straße schon ein Stück voraus war. Sie ging allein. Auf dem Rückweg vom Laden waren wir vom Regen vollkommen durchnässt worden, und so hatten wir den restlichen Morgen zusammen auf einer Heizung gesessen, um unsere Kleider zu trocknen. Für den Augenblick hatte der Regen aufgehört.

«Mach schon, ich hab auf dich gewartet.» Artair hatte es eilig, nach Hause zu kommen. Er wollte in den Felsmulden unterhalb seines Hauses nach Krabben suchen.

«Ich nehme den Weg über Mealanais Farm», sagte ich. «Das ist eine Abkürzung.»

«Was?» Er sah mich an, als sei ich verrückt. «Das dauert Stunden!»

«Nein. Über die Cross Skigersta Road ist es wesentlich kürzer.» Ich hatte zwar keine Ahnung, wo das war, doch Marsaili hatte gesagt, das sei der schnellste Weg von Mealanais nach Crobost.

Ich wartete nicht einmal seinen Protest ab, sondern rannte voraus hinter Marsaili her. Als ich sie einholte, war ich außer Atem. Sie warf mir ein vielsagendes Lächeln zu. «Ich dachte, du wolltest mit Artair nach Hause gehen.»

«Ich dachte, ich geh mit dir über Mealanais», sagte ich beiläufig. «Das ist eine Abkürzung.»

Sie sah mich mit einem zweifelnden Blick an. «Für eine Abkürzung ist es aber ziemlich weit.» Sie zuckte die Achseln. «Aber wenn du mit mir gehen willst, kann ich dich nicht davon abhalten.»

Ich grinste heimlich und musste mich beherrschen, nicht siegesbewusst in die Luft zu boxen. Ich blickte mich um und sah, wie Artair uns finster hinterherschaute.

Nachdem wir die Kreuzung passiert hatten, an der die Straße Richtung Crobost von der Hauptstraße abgeht, bogen wir in den Weg ein, der zur Farm führte. Er wandte sich mit den gelegentlichen Ausweichbuchten in südöstlicher Richtung über das Torfmoor, das bis zum Horizont reichte. Doch das Gelände war hier höher, und wenn man zurückblickte, konnte man die Linie der Straße bis nach Swainbost und Cross verfolgen. Dahinter brach sich an der Westküste das Meer weiß schäumend unter dem Grabsteinwald des Friedhofs von Crobost, der trostlos in den Himmel ragte. Der nördliche Teil der Insel Lewis war flach, sodass Wind und Wetter vom Atlantik über den Minch ungehindert walten konnten. Daher sah es jedes Mal anders aus – Licht und Dunkel wechselten sich ab, warfen bewegliche Muster; Regen, Sonne, schwarzer Himmel, blauer Himmel. Und Regenbogen. In meiner Kindheit habe ich viele gesehen. So einem schauten wir an diesem Tag dabei zu, wie er über dem Torfmoor in glühenden Farben vor dem schwarzblauen Himmel Gestalt annahm. Worte waren überflüssig.

Danach führte der Weg einen sanften Hang hinab bis zu einem Gehöft mit verschiedenen Gebäuden in einer sanften Mulde. Hier waren die Zäune besser instand, und auf den Weiden grasten Rinder und Schafe. Es gab eine hohe, rotgedeckte Scheune und ein großes weißes Bauernhaus inmitten einiger Nebengebäude aus Stein. An einem weißgestrichenen Tor blieben wir stehen. Dahinter führte ein Feldweg bis zum Haus.

«Willst du auf eine Limonade reinkommen?», fragte Marsaili.

Doch inzwischen machte ich mir Sorgen. Ich wusste nicht, wo ich war und wie ich nach Hause kommen sollte. Und ich wusste, dass ich viel zu spät dran war. Ich spürte schon jetzt den Zorn meiner Mutter. «Besser nicht.» Ich sah auf die Uhr und gab mich unbekümmert. «Ich komme ein bisschen zu spät.»

Marsaili nickte. «Das kommt davon, wenn man Abkürzungen nimmt. Man kommt immer zu spät.» Sie strahlte mich an. «Du kannst Samstagmorgen zum Spielen kommen, wenn du willst.»

Ich trat mit meinem Gummistiefel gegen einen Grasbüschel und zuckte gleichmütig die Achseln. «Mal sehn.»

«Also, wie du willst.» Damit drehte sie sich um und hüpfte den Weg hinunter zu dem großen weißen Haus.

 

Mir ist bis heute schleierhaft, wie ich es an diesem ersten Schultag geschafft habe, nach Hause zu kommen, weil sich die Straße hinter Mealanais in einem steinigen Weg verlor. Mit wachsender Verzweiflung war ich dort eine Weile entlanggelaufen, als ich am Horizont das Dach eines Wagens vorbeifahren sah. Ich rannte den Hang hinauf und kam auf eine Straße, bei der es sich wohl um die Cross Skigersta handelte, von der Marsaili gesprochen hatte. Die Straße schien in beiden Richtungen im Moor zu verschwinden. Ich wusste nicht, ob nach links oder nach rechts. Ich hatte Angst und war den Tränen nahe. Irgendeine schützende Hand musste mich dazu gebracht haben, nach links zu gehen, denn wäre ich nach rechts gegangen, wäre ich nie nach Hause gekommen.