Botho Strauß

Leichtes Spiel

Neun Personen einer Frau

Ein Theaterstück

 

Mein Leben, leichtes Spiel dem Todeswind,

hängt federleicht auf meinem Handrücken.

T. S. Eliot, Ein Lied für Simeon

1 PANIKTAG

(Die Ängstliche)

Supermarkt. Einkaufsregal mit Haushaltswaren, zum Teil leergekauft. Die junge Mutter, das Baby um den Oberkörper gewickelt, schiebt ihren halbgefüllten Einkaufswagen am Regal entlang. Zu ihr tritt der linkische Mann, mit einer Sammelpackung Apfelsaft unter dem Arm.

 

DER LINKISCHE MANN Ich habe keinen Wagen mehr bekommen. Darf ich meine Sachen mit in Ihren Wagen legen?

 

Die junge Mutter, etwas ratlos, will weitergehen. Doch der linkische Mann hält den Wagen auf.

 

DIE JUNGE MUTTER Wie soll das gehen?

DER LINKISCHE MANN Nur bis zur Kasse.

Warum kaufen wir das alles?

DIE JUNGE MUTTER Weil irgendeine Krise ausgebrochen ist und ich ein kleines Kind habe.

 

Sie nimmt Windeln und Wischtücher aus dem Regal, sucht nach irgendeiner anderen Ware.

 

DER LINKISCHE MANN Wie heißt der Laden? Rewe?

DIE JUNGE MUTTER (stutzt) Nein … Das ist doch Spar hier.

DER LINKISCHE MANN Es ist also eine Krise ausgebrochen.

Welche?

Ich habe heute früh keine Nachrichten gehört.

DIE JUNGE MUTTER Ich weiß nicht. Vielleicht ein Attentat. Oder ein Börsenkrach.

Am schlimmsten wäre Seuchenalarm.

DER LINKISCHE MANN Ich habe keine Alarmsirene gehört.

Alles ist still auf den Straßen.

Die Leute sind wie die Heuschrecken über die Geschäfte hergefallen.

DIE JUNGE MUTTER Nein, wie die Hamster. Es muß irgend etwas ganz plötzlich passiert sein.

Meine Nachbarin sagte: Mach schnell, kauf ein.

Bevor es zu spät ist. Denk an den Kleinen.

DER LINKISCHE MANN Wir scheinen hier die Letzten zu sein.

Die Regale sind schon ziemlich geplündert.

DIE JUNGE MUTTER Topflappen gibt es noch jede Menge.

Aber Wäscheklammern sind keine mehr da.

DER LINKISCHE MANN Ich saß zu Hause über meinen Büchern.

Vollkommen abgeschirmt. Auf einmal ergriff mich eine diffuse Unruhe. Ich sprang auf und rannte auf die Straße.

Bei Aldi gab es keine Getränke mehr. Das sieht nach einer Massenpsychose aus.

 

Während sie miteinander sprechen, packen sie immer mehr Waren in den Wagen, bald ganz ohne zu wählen.

 

DIE JUNGE MUTTER Haben Sie was mit Medizin zu tun?

DER LINKISCHE MANN Nein.

DIE JUNGE MUTTER Klingt, als hätten Sie was mit Medizin zu tun.

DER LINKISCHE MANN Wenn Sie wollen, trage ich Ihnen nachher die Einkaufstüten nach Hause.

DIE JUNGE MUTTER (bleibt stehen, mustert den linkischen Mann) Können Sie eventuell eine kaputte Jalousie reparieren?

DER LINKISCHE MANN Kommt drauf an. Ich bin nicht gerade der Typ Heimwerker.

DIE JUNGE MUTTER Es ist so eine Art Lamellenjalousie.

DER LINKISCHE MANN Hängt sie bloß schief oder –?

DIE JUNGE MUTTER Hängt schief, ja. Klemmt. Läßt sich nicht mehr ziehen.

DER LINKISCHE MANN Ich meine: Hängt sie oben? Kann man sie nicht mehr runterlassen?

DIE JUNGE MUTTER Genau. Sie geht nicht mehr runter.

Ich kann tagsüber nicht aufs Klo.

Man sieht alles vom Nachbarblock.

DER LINKISCHE MANN Haben sich die Strappen – die Strippen, das, woran man zieht – sind die verdrillt?

DIE JUNGE MUTTER Verdrillt?

DER LINKISCHE MANN Verwickelt, verdreht 

DIE JUNGE MUTTER Sie sprechen manchmal wie mein Mann.

Der will auch alles pitzelgenau wissen.

DER LINKISCHE MANN Warum repariert Ihr Mann nicht die Jalousie?

DIE JUNGE MUTTER Mein Mann … ist Arzt. Aber zu was Praktischem nicht zu gebrauchen.

Gegenwärtig ist er auf einem Fortbildungsseminar.

Haben Sie die Haferflocken reingetan?

DER LINKISCHE MANN Erwarten Sie, daß er zu Ihnen zurückkehrt?

DIE JUNGE MUTTER (mustert den linkischen Mann) Nein.

DER LINKISCHE MANN Ich bin wahrscheinlich im Haus genauso ein Nichtsnutz wie er.

Aber die Jalousie kriege ich hin.

DIE JUNGE MUTTER Er ist ein Genie. Ein blitzgescheiter Mensch.

DER LINKISCHE MANN Ist das Kind von ihm?

DIE JUNGE MUTTER Darius heißt er. Darius heißt auf persisch: nur Gutes!

Ein Kind braucht im Durchschnitt fünftausendachthundert Windeln, bis es trocken ist.

Wußten Sie das?

DER LINKISCHE MANN Überall Kameras. Absurd. Wir sind hier mitten im Film.

Die Letzten mit den Resten.

DIE JUNGE MUTTER Man traut eigentlich niemandem mehr.

DER LINKISCHE MANN Irgendwo findet sich immer ein guter Onkel, der einem zu Hause etwas in Ordnung bringt.

DIE JUNGE MUTTER Sind Sie sicher?

DER LINKISCHE MANN Sicher? Worin?

DIE JUNGE MUTTER Daß Sie ein – guter Mensch sind?

DER LINKISCHE MANN Wie kann man da sicher sein?

DIE JUNGE MUTTER Sehen Sie.

DER LINKISCHE MANN Manchmal genügt ein Blick auf die eigenen Fußspitzen, und man starrt ins Bodenlose.

DIE JUNGE MUTTER (mustert den linkischen Mann) Es fallen einem tausend Horrorgeschichten ein, wenn man dran denkt, daß ich Sie mit nach Hause nehme, obwohl wir uns doch erst eben zufällig kennengelernt haben.

DER LINKISCHE MANN Hören Sie, Sie sind doch eine gescheite Frau –

DIE JUNGE MUTTER (brüllt plötzlich) Gescheit?! Was heißt da gescheit?!

DER LINKISCHE MANN (legt ihr die Hand auf den Mund)

Psst! … Der Kleine.

Wenn Sie mich etwas genauer ansähen, dann wüßten Sie, an wen Sie geraten sind.

DIE JUNGE MUTTER Was tun Sie? Was machen Sie denn?

Beruflich?

DER LINKISCHE MANN An mir können Sie die Beobachtung machen, daß ein Mensch noch senkrecht vor Ihnen steht, während er in Wahrheit bereits kopfüber in die Tiefe saust.

DIE JUNGE MUTTER Ich bin nicht fähig, Ihnen länger zuzuhören.

Ich platze vor Angst.

DER LINKISCHE MANN Ich werde Sie nicht quälen. Aber Sie hängen ja an meinen Lippen –

DIE JUNGE MUTTER Tun Sie nicht so. Nehmen Sie Ihre Sachen aus dem Wagen.

DER LINKISCHE MANN Wie soll das gehen?

DIE JUNGE MUTTER Die jungen Mütter sitzen abends auf ihren Balkonen.

Sie sitzen nach der Arbeit reihenweise auf ihren Balkonen und heulen, heulen haltlos in den Abend hinein.

DER LINKISCHE MANN Warum heulen sie denn?

DIE JUNGE MUTTER Sie heulen – weil sie heulen müssen! Fünf junge Männer überfallen im Hausflur eine Schwangere und ziehen sie aus.

Sie sehen ihren vorquellenden Nabel und werfen mit Dartspitzen nach ihrem Nabel!

Und alle treffen ins Schwarze! Der Nabel ist rund mit Pfeilen gespickt.

DER LINKISCHE MANN Das gibt es nicht. Das geht doch gar nicht!

DIE JUNGE MUTTER Ach so? Das geht gar nicht? Na!

 

Eine Frau mit leerem Einkaufswagen nähert sich aus einiger Entfernung.

 

DIE JUNGE MUTTER Meine Schwester! … Gott sei Dank!

DIE SCHWESTER (schroff) Wer ist das? Bist du verückt geworden?

DIE JUNGE MUTTER Ich weiß nicht … Wie heißen Sie?

DER LINKISCHE MANN (leise, wird überhört) Jörg Bruhns.

DIE SCHWESTER Du läßt dich mit einem wildfremden Mann ein.

Weißt du nicht, was passiert ist?

Hast du komplett die Kontrolle verloren?

DER LINKISCHE MANN Was ist denn passiert? Ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen.

DIE JUNGE MUTTER Der Mann will nur meine Jalousie auf dem Klo reparieren.

DIE SCHWESTER Ich höre wohl nicht richtig.

(wendet sich an den linkischen Mann) Sie ist Physiotherapeutin. Ihr Chef zahlt nicht.

Er meint, sie soll ihre Überstunden abbummeln.

Jetzt rennt sie den ganzen Tag im Supermarkt herum und weiß nichts mit sich anzufangen.

(zu ihrer Schwester) Kattrin! Nimmst dir fremde Männer mit nach Haus!

Und das Kind? Du mußt doch wenigstens spüren, daß dieser Mann eine Gefahr für dein Kind sein könnte.

Soviel Instinkt muß doch selbst eine dumme Maus wie du besitzen!

DIE JUNGE MUTTER Gut, daß du rechtzeitig gekommen bist.

DIE SCHWESTER Zufall! Der pure Zufall.

Und was, wenn nicht? Kattrin!

DER LINKISCHE MANN Wir haben bloß zusammen eingekauft.

Ich bekam draußen keinen Einkaufswagen mehr.

DIE SCHWESTER Wie heißen Sie?

DER LINKISCHE MANN (murmelt, wird wieder überhört)

Jörg Bruhns.

DIE SCHWESTER Ich sage euch, die Stadt ist wie ausgestorben.

Vom Treidelplatz bis zum Albrechtsdamm die reine Geisterzone.

DER LINKISCHE MANN Aber die Menschen werden sicher bald wiederkommen.

DIE SCHWESTER Kein Mensch kommt. Kein einziger weit und breit.

Da hättest du brüllen können wie am Spieß. Niemand wäre dir zu Hilfe gekommen.

Kein Mensch. Jedes Kind weiß, daß man einen wildfremden Mann nicht mit nach Hause nimmt, und du hast ein Kind und bringst es trotzdem in Gefahr.

DIE JUNGE MUTTER Es ist ja weiter nichts passiert.

DIE SCHWESTER (zum linkischen Mann) Mit ihr hätten Sie leichtes Spiel gehabt.

DER LINKISCHE MANN Ich glaube, es ist heute der sechste oder der siebte April.

Jedenfalls ein Dienstag. Wahrscheinlich wird er schon morgen der Schwarze Dienstag genannt.

DIE SCHWESTER Und was machen Sie sonst so um diese Zeit?

DER LINKISCHE MANN Na, ich esse einen Happen bei Subway, und anschließend mache ich einen kleinen Spaziergang im Ostpark.

DIE SCHWESTER Dann kommen Sie. Essen wir einen Happen bei Subway und machen anschließend einen kleinen Spaziergang im Ostpark.

DER LINKISCHE MANN Beruhigen wir uns doch alle erst einmal.

DIE SCHWESTER Sie ist meine Schwester. Sie will es so.

Sag, daß du es so willst. Kattrin!

DIE JUNGE MUTTER Ich will es so.

 

Die Schwester und der linkische Mann wenden sich zum Gehen.

 

DIE SCHWESTER Es gibt Menschen, die können nicht einmal danke sagen.

DIE JUNGE MUTTER Danke.

 

Die beiden ab. Die junge Mutter bemerkt die Waren des linkischen Manns in ihrem Wagen und ruft leise hinter ihm her.

 

DIE JUNGE MUTTER Ihre Sachen … Jörg Bruhns … Ihre Sachen.

Darius, mein Kleiner. Deine Mutter hat sich wieder mal dumm angestellt.

Aber du mußt auch ein bißchen aufpassen auf mich.

Du weißt doch besser als ich, wer gut ist und wer nicht.

Wildfremde Menschen gehen uns beide nichts an. Obwohl sie im Prinzip ganz nett sind. Nur Gutes. Nur Gutes.